IV. Die ABLÖSUNG des Christentums vom Judentum

A. Warum die Christen nicht Juden geblieben sind

B. Der Ausschluss der Christen aus der Synagoge

C. Monotheismus und Trinitätslehre?

 

"Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft" (5Mose 6,5) Dies ist das größte und erste Gebot. Das zweite ist ihm gleich(wertig): "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (3Mose 19,18). In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten (Mt 22,37; Mk 12,30f).


 

A. Warum die Christen nicht Juden geblieben sind

1. Der Prozess der Ablösung des Christentums vom Judentum
 2. Die Stellung des Paulus zum Judentum und zur Tora
 3. "
Die Juden" im Johannesevangelium
 4. Die Bedeutung des Judeseins Jesu im Johannesevangelium
 5. 
„Die unauflösbare Schrift“ (Joh. 10,35)
 6. Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons


 

1. Der Prozess der Ablösung des Christentums vom Judentum

(1) Die historische Entwicklung
 
(a) Jesu Botschaft und Wirken
 (b) Die Jünger und die neugewonnenen Anhänger waren Juden unter Juden
 (c) Die Stephanusgruppe wurde aus Jerusalem vertrieben
 (d) Die Katastrophe des Jahres 70
 (e) Bewusste und konsequente Trennung nach 70

(2) Die inneren Gründe
 
(a) Die Auffassung von der Verwirklichung des verheißenen Heils
 (b) Die Stellung der Tora
 (c) Die Einschätzung der Person Jesu
 (d) Die im Christentum sich vollziehende Transformation des Denkens

F. Hahn (1996)


 

(1) Die historische Entwicklung: Der Prozess der Ablösung hat sich in der Zeit zwischen den 30er und den 90er Jahren des 1. Jh. ergeben, um die Wende vom 1. und 2. Jh war die Trennung vollzogen. Die sog. Großkirche hat sich vom 2. Jh. an unabhängig vom Judentum weiterentwickelt (20).


 

(a) Jesu Botschaft und WirkenJesus war Jude und seine Botschaft ist nur unter Rückbezug auf das Alte Testament und im Zusammenhang mit der frühjüdischen Tradition zu verstehen. Sein Grundanliegen war jüdisch und er wusste sich zu dem Gottesvolk Israel gesandt. Jesu Verkündigung war eine Weiterführung der Verheißungsbotschaft der Propheten Israels, verbunden mit dem Anspruch, dass mit ihm das verheißene Heil seinen Anfang nehme und dass die Nähe Gottes erfahren werden könne. Es ging nur indirekt um seine Person, vielmehr um Gottes eigenes Handeln und Wirken, das er proklamierte (20f). 

Jesus wollte den ursprünglichen Willen Gottes gegenüber aller menschlichen Überlagerung aufdecken (Mk 7,6-13). Zu scharfen Auseinandersetzungen ist es dadurch gekommen, dass Jesus bisweilen den Wortlaut der Tora einer Kritik unterzogen hat, z.B. bei den Bestimmungen über die Ehescheidung in Dtn 24, die er als eine Konzession des Mose gegenüber Gottes wahren Willen ansah (Mk 10,2-9). Der eigentliche Grund zur Verurteilung Jesu ist dem Stichwort Blasphemie, Gotteslästerung zu entnehmen. Dieser Vorwurf (Mk 2,7; 14,64; Mt 9,3; 26,65; Lk 5,21; Joh 10,33) ist darin begründet, dass Jesus nach Auffassung seiner Gegner mit der Vergebung von Sünden in das Hoheitsrecht Gottes eingegriffen und dass er mit der provokativen Übertretung des Sabbats sich nach Num 25,27-36 eines todeswürdigen Vergehens schuldig gemacht hatte (vgl. Ex 31,12-17).

Jesu Botschaft und Wirken beruhte auf dem Tenach und war bei aller Eigenständigkeit durch und durch jüdisch. Nur so ist es zu verstehen, dass er neben einer Gruppe von Gegnern eine große Anzahl von Anhängern im jüdischen Volk gefunden hatte, die ihn als überzeugenden Exponenten ihrer eigenen Tradition und Religion anerkannten. Gleichwohl waren in der Haltung Jesu Elemente enthalten, die eine eigenständige Weiterentwicklung ermöglichten (22f). 

 

(b) Die Jünger und die neugewonnenen Anhänger waren Juden unter Juden Jesu Botschaft wurde weiterverkündigt. Sie wurde von vielen angenommen. Sie war jetzt verbunden mit der Kunde von seiner Auferweckung, was als Legitimation seines Wirkens durch Gott angesehen worden ist. Damit rückte die Person Jesu stärker in den Mittelpunkt, aber nach wie vor ging es um Gottes Heils- und Rettungshandeln.

Die zu Jesu Lebzeiten entstandenen Auseinandersetzungen gingen weiter und wurden verschärft durch die immer deutlicher artikulierte Auffassung, dass Jesus der erwartete Heilbringer gewesen sei. War einerseits die Tatsache umstritten, dass Jesus seinen Jüngern die Vollmacht zur Sündenvergebung übertragen hatte und sie in gleicher Freiheit handelten, so war es andererseits ihre Verkündigung „im Namen Jesu“, die Anstoß erweckte, zumal es dabei um einen Gekreuzigten ging, der nach Dtn 21,23 unter dem Fluch stand. 

Stephanus war Repräsentant der ‚Hellenisten‘, der aus der Diaspora stammenden Juden bzw. Judenchristen. Er hat in einer konsequenteren Weise als die ‚Hebräer‘ (die palästinensischen Judenchristen) Jesu Kritik an Tora und Kult aufgegriffen und in diesem Sinn das Evangelium verkündigt. Der damit provozierte Angriff auf die Gültigkeit der Tora wurde seitens der jüdischen Oberinstanz mit einem Prozess beantwortet, der mit der Steinigung des Stephanus (Apg 6f) endete. Damit war es erstmals zu einem grundsätzlichen Konflikt zwischen Juden und Jesusanhängern gekommen. Noch ging es hier um eine innerjüdische Auseinandersetzung (23).

 

(c) Die Stephanusgruppe wurde aus Jerusalem vertriebenEs muss eine relativ große Gruppe gewesen sein, denn sie zerstreuten sich und trieben Mission in Samarien, im phönizischen Küstenland, auf der Insel Zypern und im westlichen, dem hellenisierten Syrien. Die syrische Großstadt Antiochia wurde das neue Zentrum dieser Hellenisten (Apg 8,4; 11,19f). Es handelte sich um eine griechisch sprechende judenchristliche Gemeinde, um ein hellenistisches Judenchristentum der Frühzeit. Hier ging es anfangs um die Verkündigung des Evangeliums unter denen, die zum Gottesvolk Israel gehörten. Die Zugehörigkeit zum Judentum wurde nicht aufgegeben. Gleichwohl haben sich diese Judenchristen bei allem Zusammengehörigkeitsbewusstsein mit der jüdischen Synagoge doch als eigenständige Gemeinschaft abgehoben, denn hier kam die Bezeichnung ‚Christianoi‘ (Christen) auf und damit wurde der Unterschied zu den ‚Joudainoi‘ (Juden) erstmals begrifflich zum Ausdruck gebracht (Apg 11,26) (24). 

Der Grund für diese Verselbstständigung lag darin, dass in Antiochia bald das Evangelium nicht nur unter Juden, sondern auch unter Heiden verkündigt worden ist. Die Zahl der Heidenchristen in Antiochia nahm spürbar zu, so dass sich, da sie Vollmitglieder der christlichen Gemeinde waren, ein nicht unerheblicher Strukturwandel vollzog. Hinzu kam, dass Barnabas, der Leiter der christlichen Gemeinde von Antiochia, nach einigen Jahren Paulus in das syrische Antiochia holte. Es war Paulus, der mit aller Entschiedenheit die Unmittelbarkeit des Zugangs zu dem im Evangelium verkündigten Heil vertrat und daher auch die Freiheit der Heidenchristen von der Tora forderte. Diese gesetzesfreie Mission hat sehr bald zu innerchristlichen Auseinandersetzungen zwischen Jerusalem und Antiochia geführt. Barnabas und Paulus sind zu dem sog. Apostelkonvent nach Jerusalem gezogen, um dort mit dem Herrenbruder Jakobus und den Aposteln Petrus und Johannes eine Grundsatzentscheidung zu treffen. Es wurde beschlossen (Gal 2), dass für Judenchristen die Bindung an das Gesetz bestehen bleibt, dass aber für Heidenchristen keine Verpflichtung auf die Tora erfolgen soll. Die antiochenische Missionspraxis wurde somit anerkannt (24f). 

War dies ein erheblicher Schritt zur beginnenden Ablösung vom Judentum, so blieb die Rückbindung an die Geschichte des Volkes Israel und an die Heilige Schrift Israels erhalten. Freiheit von Beschneidung und Tora hieß nicht Preisgabe der jüdischen Tradition. Die christlichen Gemeinden standen noch weitgehend in Verbindung zum jüdischen Synagogenverband. Paulus hat bei seinen Missionsreisen mit der Verkündigung in den Synagogen begonnen. Die Zusammengehörigkeit mit der jüdischen Glaubensgemeinschaft war für ihn unaufgebbar. Auf der anderen Seite zeigten die Berichte der Apg über die Mission des Paulus in Kleinasien, in Mazedonien und in Griechenland, dass es sehr häufig zu Auseinandersetzungen in den Synagogengemeinden über seine Predigt kam, dass er deswegen auch Synagogenstrafen und Verfolgung auf sich nehmen musste (2Kor 11,24f). Das führte dann meist zu einer von der Synagoge unabhängigen Mission. Paulus hat in Korinth (Apg 18,1-17) zuerst in der Synagoge gepredigt, wurde aber vertrieben, hat danach in dem der Synagoge benachbarten Haus des Gottesfürchtigen Titius Justus seine Verkündigung fortgesetzt und dort eine überwiegend heidenchristliche Gemeinde gesammelt. Schließlich wurde er von strenggläubigen Juden vor dem Statthalter Gallio angeklagt, der ihn aber freisprach (25). 

Die Situation in der Mitte des 1. Jhs.: Auf der einen Seite gibt es eine zunehmende Tendenz zur Verselbstständigung der christlichen Gemeinden. Das hängt schon damit zusammen, dass man seit den Tagen der Urgemeinde neben der Synagoge und dem Synagogengottesdient eigene Versammlungsorte hatte, in denen das Herrenmahl gefeiert wurde, so dass sich das gottesdienstliche Zentrum mehr und mehr verlagerte. Hinzu kam die Aufnahme unbeschnittener Heiden in die christlichen Gemeinden, was zu einer Absonderung von dem Judentum führen musste. Viele Synagogenmitglieder schlossen sich der christlichen Gemeinschaft an, besonders die zahlreichen Gottesfürchtigen, die in der Synagoge nicht integriert waren, solange sie sich nicht beschneiden ließen (25f).

 

(d) Die Katastrophe des Jahres 70: Für Juden wie Christen war mit der Zerstörung Jerusalems der gemeinsame Ausgangspunkt verloren. Die judenchristliche Gemeinde hatte die Stadt schon im Jahr 68 verlassen und sich in Pella im Ostjordanland angesiedelt. Für das Judentum war es vor allem die Zerstörung des Tempels und das Aufhören des Opferkultes, was einen tiefen Einschnitt im Bewusstsein und Leben der Gemeinschaft verursachte (26). 

Die christlichen Gemeinden im Mittelmeerraum hatten sich bereits vorher von dem Judenchristentum Jerusalems gelöst. In dem Verlust der Jerusalemer Muttergemeinde sah man eine Erfüllung des Tempelwortes Jesu und damit ein Urteil über die ungläubigen Juden. Das besagt, dass die Katastrophe des Jahres 70 nun als Zeichen für die Trennung von Judentum und Christentum angesehen worden ist. Die definitive Loslösung vom Judentum wurde durch dieses Ereignis erheblich gefördert. Man war faktisch selbstständig geworden, existierte vielfach auch ganz unabhängig von der Synagoge (26). 

Anders sah es im Judentum jener Zeit aus. Der äußere und weithin auch innere Zusammenbruch, der durch den verlorenen Jüdischen Krieg verursacht war, erforderte eine tiefgreifende Reform und Reorganisation. Es waren strenggläubige Pharisäer, die unter Führung Jochanan ben Zakkais von Jabne aus eine Erneuerung einleiteten. Diese bestand einerseits darin, dass die genuin jüdische Tradition bewahrt und weitergeführt werden sollte, gereinigt von aller hellenistischen und synkretistischen Überfremdung. Sie bestand einerseits darin, dass alle Gruppen, die zur inneren Auflösung des Judentums beigetragen hatten, ausgeschieden werden sollten. Das Reformwerk nahm in den 80er und 90er Jahren Gestalt an und setzte sich durch. Mit ihm konnte auch der Verlust Jerusalems und des Tempels verkraftet werden, weil entsprechende Formen des Ritus an die Stelle des Kultes traten. Das jüdische Bewusstsein hat durch die Ausbildung von Mischna und Talmud seine bleibenden Konturen erhalten (26f). 

Für die Christen hat diese Reform erhebliche Konsequenzen gehabt, sie waren ausgegliedert. Die Einführung der ‚birkat ha-minim‘ in das Achtzehnbittengebet hat dieser Tatsache im Synagogengottesdienst Ausdruck verliehen. Das spiegelt sich im Neuen Testament darin, dass die Christen aus dem Synagogenverband ausgeschlossen waren (Joh 16,2) (27).


 

(e) Bewusste und konsequente Trennung nach 70, die von den Vertretern des reorganisierten Judentums auch innerhalb des Gottesdienstes vollzogen wurde. Fortan hat es das Judentum und das Christentum nur noch als je eigene Religionsgemeinschaften gegeben, was für die Christen zur Folge hatte, dass sie nicht mehr mit den Juden als Vertreter einer ‚religio licita‘ einer anerkannten Religion angesehen wurden, sondern nun hin und wieder staatlichen Verfolgungen ausgesetzt waren (27).


 

(2) Die inneren Gründe, durch die es bei der vorhandenen Verwurzelung des Christentums im und der anfänglichen Bindung an das Judentum zu einer Verselbstständigung gekommen ist. 

(a) Die Auffassung von der Verwirklichung des verheißenen Heils: Dass das von den Propheten verheißene Heil in der Gegenwart bereits anbricht, ist Grundthema der christlichen Verkündigung geblieben. Dass es eine Gegenwart des Heils im Sinn der Vorwegverwirklichung endzeitlichen Heils gibt, ist gemeinsame christliche Auffassung. Das bedeutet, dass endzeitliches Heil sich in der noch bestehenden Welt verwirklicht, ohne dass schon die verheißene Erneuerung allen Lebens und der gesamten Welt sichtbar wird. Es geht um eine anfängliche, weithin noch verborgene Realisierung des Heils. Dass Jesus Exorzismen durchgeführt und Menschen aus ihrer Besessenheit befreit hat, wurde nicht bestritten, aber es wurde ihm vorgeworfen, dass er dies in der Macht Beelzebuls, des Obersten der Teufel, tue, während es für ihn selbst ein Hinweis auf den Anbruch der Herrschaft Gottes war (Mk 3,22-27parr, Lk 11,20) (28). 

Dass Jesus gekreuzigt wurde und sein Kreuz Offenbarung des Heils der Rettung der Menschen sein soll, gehört in denselben Sachzusammenhang. Paulus hat in seinen Briefen immer wieder darauf hingewiesen, dass gerade in der Niedrigkeit und im Verborgenen Gottes Heilszuwendung erfahren wird. Seine theologia crucis ist Ausdruck der Gewissheit, dass die verheißene endzeitliche Heilsverwirklichung mitten in unserem Leben und in unserem Leiden sich vollzieht. Die Frage nach einer schon gegenwärtigen Heilsverwirklichung wird von Christen und Juden unterschiedlich beantwortet, so sehr wir im Blick auf die Heilsvollendung im Sinne der prophetischen Verheißung miteinander verbunden blieben (28f). 

 

(b) Die Stellung der Tora: Jesus hatte stärker als alle jüdische Tradition vor ihm das Doppelgebot der Liebe zum Ausgangspunkt gemacht und er hat auch Kritik an der Tora geübt, ohne ihre Gültigkeit insgesamt in Frage zu stellen. Unter Berufung darauf ist es im hellenistisch-judenchristlichen und im heidenchristlichen Bereich zu einem freien Umgang mit der Tora gekommen. Ist im Liebesgebot die ganze Tora zusammengefasst, so kann nach Überzeugung der christlichen Gemeinden auch vom Liebesgebot her ohne Bindung an Einzelvorschriften der Tora der Wille Gottes erfüllt werden. Es gilt, wie Paulus (Röm 12,2) sagt, selbst zu erkennen, was der Wille Gottes im Einzelfall ist, „das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene“. So kam es zu einer nur paränetischen Rezeption der Tora. Die Tora ist Anleitung und Hilfe zum rechten Handeln. Der Tora wurde eine unmittelbare Relevanz für das Heil abgesprochen. Die „Werke des Gesetzes“ können zum Heil nichts beitragen. Alles ist gegründet auf den Glauben, an das durch Christus verwirklichte Heil. Nur aus diesem Glauben heraus hat das Tun des Menschen eine heilsrelevante Funktion. Es ist „der Glaube, der durch die Liebe wirksam ist“ (Gal 5,6). Jüdische Tradition konnte diese Beurteilung der Tora nicht mitvollziehen. Daran wird deutlich, dass sich auch an dieser Stelle ein innerer Ablösungsprozess vollzog, der auf die Dauer nicht ohne Konsequenzen bleiben konnte (29f). 

 

(c) Die Einschätzung der Person Jesu: Es ist für Juden nicht schwer, in Jesus einen jüdischen Lehrer zu sehen oder sogar einen Propheten. Dagegen ist es für Juden kaum möglich, andere Hoheitsbezeichnungen Jesu, wie sie im Neuen Testament vorliegen, zu übernehmen. Was veranlasste die Jünger Jesu und die älteste christliche Gemeinde, mehr über ihren Meister auszusagen, als was mit Lehrer und Prophet zum Ausdruck kommt? Anfangs sind es ausschließlich Juden gewesen, die als Anhänger Jesu und der Evangeliumsbotschaft höhere Aussagen über Jesu Person gemacht haben. „Wer ist dieser“? Unter seinen Jüngern hat es schon vor Ostern Versuche gegeben, seine Aufgabe näher zu umschreiben, was aber vorläufig blieb, weil Jesu Leidensweg auf totales Unverständnis stieß (Mk 8,27-33 parr). Bei seinem Tod kam es daher zunächst auch zu einem Auseinanderfallen der Jüngerschar: „wir hofften doch, er sollte Israel erlösen“ sagen die Emmausjünger, die noch nichts von dem Neuanfang ahnen (Lk 24,21). Es war das Widerfahrnis des Ostertages, die Erkenntnis und Gewissheit, dass Jesus nicht im Tod geblieben, sondern von Gott auferweckt worden ist, die die Jünger wieder zusammenbrachte und alsbald zur Konstituierung einer Gemeinschaft mit vielen neuen Anhängern führte. Die Erwartung einer Auferweckung der Toten durch Gott war (abgesehen von den Sadduzäern) weitverbreitet unter den damaligen Juden (Dan 12,1f). Dass diese Auferweckung sich bereits im Vorgriff ereignet, war ein Novum und stieß nicht nur auf Anerkennung, sondern ebenso auf Ablehnung (30f). 

Wo diese Erkenntnis akzeptiert wurde, da erschien Jesu Leben und Sterben in einem veränderten Licht. Die Frage: wer war/ ist er? konnte nur beantwortet werden unter Rückbezug auf die biblische Tradition. So waren es die Gestalten des Gottesknechtes, des messianischen Königs oder des Menschensohnes, die eine Rolle dabei spielten. Die biblisch vorgegebenen Traditionen verhalfen dazu, Jesu Person und Funktion zu verstehen, aber umgekehrt hat Jesu eigene Gestalt diesen Traditionen und Auffassungen ganz neue Konturen verliehen (31).

Es ging darum Jesu einzigartige Vollmacht, die er von Gott empfangen hatte und die ihn nach Meinung der Urgemeinde über alle bisherigen Lehrer und Propheten hinaushob, zu verdeutlichen. Vor allem lag der Urgemeinde daran, die Botschaft von der anbrechenden endzeitlichen Gottesherrschaft mit der Funktion Jesu in eine unauflösliche sachliche Verbindung zu bringen. Jesus wurde nicht nur als Zeuge der jetzt schon anbrechenden Gottesherrschaft verstanden, sondern als deren Bringer und Repräsentant. In diesem Sinn wurde von ihm als dem vollmächtigen Menschensohn gesprochen, der auf Erden wirkte, der litt, starb und auferweckt wurde und der am Jüngsten Tag in Vertretung Gottes Gericht halten wird. Ähnlich wurde von Jesus als Messias gesprochen, der auf Erden leiden musste und sein königliches Amt erst noch antreten wird, wenn die Vollendung des Heils gekommen ist. Dass diese Botschaft unter den Juden auch Gegnerschaft hervorrief, kennzeichnet die Frühgeschichte des Christentums, so sehr diese Christologie unter jüdischen Voraussetzungen entwickelt worden war (31).

 

(d) Die im Christentum sich vollziehende Transformation des Denkens: Im hellenistischen Bereich des frühen Christentums wurden andere Denkvoraussetzungen aufgegriffen. Auf diese Weise erfolgte eine nicht unerhebliche Transformation der Verkündigung und der christlichen Theologie. Hier wurden unter anderem auch göttliche Prädikate auf Jesus übertragen. Es wurden Denkvoraussetzungen übernommen, die aus dem hellenistischen Judentum stammten, das seinerseits hellenistisches Denken bereits integriert und der biblischen Überlieferung angeglichen hatte. Alles urchristliche Denken ist in der jüdischen Tradition verwurzelt, wenn nicht in der Tradition des palästinischen, so doch in der des hellenistischen Judentums (31f). 

Hatte man im hellenistischen Judentum in der Weisheit Salomos oder in den Werken Philos, stärker mit göttlichen Zwischenwesen gerechnet, so bot dies eine Möglichkeit, auch christologische Aussagen in diesem Sinn zu konzipieren. Was im hellenistisch-jüdischen Bereich über die Funktion der Weisheit bei der Schöpfung und in der Geschichte ausgesagt wurde, das konnte auf Christus übertragen werden. Man wollte die Unmittelbarkeit Jesu zu Gott, seine unablässige Bindung an Gottes Willen, die Einheit seines Handelns mit dem Handeln Gottes des Vaters zum Ausdruck bringen. Unter dieser Voraussetzung wurde von Jesus als dem Sohn Gottes gesprochen. Auch wenn das unter den Bedingungen hellenistisch-jüdischer Denktradition geschah, so ist doch die Entfernung zum genuin jüdischen Denken gewachsen und hat immer stärker zum Gegensatz zwischen Judentum und Christentum beigetragen. Das verstärkte sich dadurch, dass bei der Reorganisation des Judentums die Tradition der hellenistisch-jüdischen Gemeinden ausgeschieden wurde.

Warum Christen nicht Juden geblieben sind, ist aus der historischen Entwicklung ebenso zu entnehmen wie aus diesen Verschiedenheiten, die sich von Anfang an abgezeichnet haben und fortan maßgeblich geblieben sind (32f).


 


 

2. Die Stellung des Paulus zum Judentum und zur Tora

(1) Paulus als Missionar der Heiden
 (2) Das neue Verständnis der Tora
 (3) Die bleibende Verheißung für Israel

F.Hahn (1996)

(1) Paulus als Missionar der Heiden: Der entscheidende Aspekt für Paulus als Missionar der Heiden war die Unmittelbarkeit eines jeden Menschen zu Gott (88).

Blieb für Juden die Erwählungsgeschichte und die Bindung an die Tora die notwendige Voraussetzung, so konnte die Verpflichtung der Heiden auf die jüdisch verstandene Tora nur ein Zwang und eine Versklavung sein. Paulus hat sich daher mit Entschiedenheit gegen alle judaisierenden Bestrebungen innerhalb seines Missionsgebiets gewehrt, wie vor allem aus dem Gal hervorgeht. Es ging ihm um die „Wahrheit des Evangeliums“ (Gal 2,5.14), die in der Ausschließlichkeit und Uneingeschränktheit des Heilszuspruchs besteht. Das Gesetz darf keinen Vorrang vor dem schon im AT verheißenen Evangelium haben (Röm 1,2), nicht einmal mit diesem gleichgestellt werden, weil nur so der Gnadencharakter des im Glauben ergriffenen Heils gewahrt bleibt. Der Mensch wird ohne jede Bedingung und Vorleistung von Gott durch das Evangelium gerechtgesprochen. Das wird in Röm 4,3-21 an der Gestalt Abrahams aufgezeigt, der der Vater der Beschnittenen wie der Unbeschnittenen ist und dem seinerseits, als er noch unbeschnitten war, aufgrund seines Glaubens die Rechtfertigung zuteil geworden ist (vgl. Gal 3,6-18).

Der Heilszuspruch des Evangeliums gilt jedem Menschen, der an den Gott glaubt, „der den Gottlosen gerecht macht“. Daher wird das Wort auf Gen 15,6, dass Abraham Gott glaubte und ihm das zu Gerechtigkeit angerechnet wurde, von Paulus in dem Sinn erläutert, dass der Glaube als die einzig wahre Haltung vor Gott anerkannt wird, womit dem Glaubenden Gerechtigkeit und Heil widerfährt (Röm 4,3-5). Glaube ist nichts anderes als das rückhaltlose Vertrauen auf die Zusage Gottes und zwar in der Radikalität, dass „gegen alle Hoffnung voll Hoffnung geglaubt wird“, ohne jeden Zweifel und in der Überzeugung, „dass Gott die Macht besitzt zu tun, was er verheißen hat“ (Röm 4,18-21) (88).

Wenn Paulus sich mit aller Entschiedenheit gegen Bestrebungen zur Wehr gesetzt hat, die den Heidenchristen nachträglich den Gesetzesgehorsam auferlegen wollten, so lag ihm andererseits doch alles an der Zusammengehörigkeit von Juden- und Heidenchristen. Es kam deshalb auch in Antiochien zu einem Streit mit Petrus und Barnabas, nachdem die gemeinsame Tischgemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen aufgehoben worden war (Gal 2,11-14). Die Einheit der Kirche war durch den unterschiedlichen Zugang zum Heil und durch die verschiedene Haltung gegenüber der Tora für Paulus nicht in Frage gestellt. Die Heidenchristen wurden nach urchristlichem Verständnis in die Gemeinschaft der Judenchristen und damit indirekt auch in die jüdische Gemeinschaft aufgenommen (88f).

 

(2) Das neue Verständnis der Tora: Gegensätzliche Aussagen des Paulus über das Gesetz: Angesichts des Heilszuspruchs im Evangelium kann Paulus im Blick auf sich und die anderen Judenchristen in Gal 2,16 sagen: „Weil wir aber erkannt haben, dass der Mensch nicht durch Werke des Gesetzes gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir dazu gekommen, an Christus Jesus zu glauben, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus“. In Gal 2,19f fügt er hinzu: „Ich aber bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich für Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt worden. Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“. In Phil 3,7f kann er seine frühere Gesetzesobservanz als „Verlust“ oder „Dreck“ bezeichnen, die er zugunsten der alles übertreffenden Erkenntnis Jesu Christi preisgegeben habe. In Röm 10,4 begegnet die Aussage über Christus als das „Ende des Gesetzes“.

Dem stehen Aussagen gegenüber, die von der bleibenden Bedeutung der Tora sprechen. Die Tora hat ihrerseits nicht nur Verheißungscharakter (Röm 3,21), sie wird vielmehr „aufgerichtet“ durch den Glauben (3,31). Ihre Forderung soll „erfüllt“ werden und sie kann erfüllt werden, wenn der Glaube durch die Liebe wirksam wird (Röm 8,4; 13,8-10; Gal 5,6b.14).

Die negativen Aussagen über das Gesetz sind nur zu verstehen, wenn man zweierlei beachtet: Die Tora hat nicht den Rang des Evangeliums, daher darf sie das Evangelium nicht überlagern oder einschränken; die Tora hat schon gegenüber der Heilsverheißung, die ihr im AT vorgeordnet ist (Gal 3,15-18) und erst recht gegenüber dem Evangelium eine untergeordnete Stellung. Ferner geht es Paulus um die Abwehr jener falschen Haltung gegenüber dem Gesetz, die davon ausgeht, aufgrund von Werken und einem untadeligen Gesetzesgehorsam, das Heil finden zu können (89).

Die Ablehnung der Gesetzeswerke“: Christus ist das „Ende“ einer auf die Tora konzentrierten Frömmigkeit, bei der der Mensch meint, Gottes heilstiftende Gerechtigkeit durch Gesetzesobservanz erlangen zu können, aber in Wahrheit nur seine eigene Gerechtigkeit dabei aufrichtet (10,3). Bei allem „Eifer um die Tora“ geschieht das „ohne Erkenntnis“ (10,2), ohne die Erkenntnis der von Gott in Christus offenbarten und gewährten Gerechtigkeit. In diesem Sinn ist Christus das „Ende“ einer nur am Gesetz orientierten Frömmigkeit (90).

Die heilschaffende Gerechtigkeit kann nur im Glauben empfangen werden, „ohne die Werke des Gesetzes“, nur als Geschenk, nicht im Sinn eines verdienten Lohnes (Röm 4,3-5). Die „Gesetzeswerke“, wie Paulus sie versteht, stehen im Zusammenhang mit dem eigenen „Ruhm“ (3,27). Deshalb stehen für Paulus alle, die sich um solche „Werke des Gesetzes“ bemühen, unter dem in Dtn 27,26 angedrohten „Fluch“ (Gal 3,10f).

Die „Gesetzeswerke“ sind nicht deshalb verwerflich, weil es um ein Tun der Forderungen der Tora geht, sondern weil dieses Tun unlösbar verstrickt ist mit der menschlichen Sünde (Röm 3,9). Der Ausdruck „Gesetzeswerke“ bei Paulus ist nur verständlich, wenn man beachtet, dass er damit eine Form der Gesetzesobservanz bezeichnet, bei der der sündige Mensch sich um seine eigene Rechtfertigung bemüht. Wegen dieser speziellen Bedeutung der Wortverbindung spricht Paulus im Zusammenhang mit der wahren Erfüllung der Tora aufgrund der von Christus bewirkten Befreiung von der Sünde nicht von „Werken“, sondern von „Früchten“ (Gal 5,22-25) (90).

Die Aufrichtung“ des Gesetzes: Die Tora steht auch für den Christen Paulus unverrückbar fest. Sie ist „heilig“, ihr Gebot ist daher „heilig, gerecht und gut“ (Röm 7,12). Sie ist „geistlich“, d.h. vom göttlichen Geist bewirkt (7,14). Ihr Gebot ist daher ein „Gebot zum Leben“, was besagt, dass es zum Leben führt bzw. führen soll (7,10) (91).

Aus diesem Grund kann Paulus sagen, dass die Tora durch den Glauben an Christus nicht außer Kraft gesetzt, sondern „aufgerichtet“ wird (Röm 3,31). Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass es keinen Gegensatz zwischen dem Christusgeschehen und der Grundordnung des alten Bundes gibt. Die Gerechtigkeitstat Gottes in Christus ist sowohl von der Tora als auch von den Propheten bezeugt (Röm 3,21) und die Tora selbst ist Ausdruck des Willens Gottes (2,18).

Die Verwirklichung der Forderung der Tora“: Die Verstrickung des Menschen in die Sünde kann von Seiten des Menschen nicht überwunden werden. Selbst wenn erkannt wird, dass das Gesetz „gut“ ist und wenn ein Ringen um die Verwirklichung des Guten vorhanden ist, bleibt der Mensch „verkauft unter die Sünde“, ist abhängig von der „in ihm wohnende Sünde“. Das Gute zu wollen und letztlich doch immer wieder nur Böses zu wirken, ist das Geschick des Sünders (Röm 7,14-24).

Ein Tun des Guten und ein Verwirklichen dessen, was das Gesetz will, gibt es erst dort, wo der Mensch durch Gottes heilstiftendes Wirken von der Sünde befreit ist. Durch die Sendung Jesu Christi und seine Hingabe in den Tod hat Gott die Sünde „verurteilt“ und ihre Macht gebrochen (Röm 8,3b; vgl. Gal 3,13f). Das, wozu die Tora allein „unfähig“ war (Röm 8,3a), ist auf diese Weise verwirklicht worden. Daher kann nun auch die „Forderung der Tora“ erfüllt werden, von denen, die sich vom Geist Gottes leiten lassen (Röm 8,4), in denen darum nicht mehr die Sünde, sondern der Heilige Geist „wohnt“ (Röm 7,17; 8,9) (91).

Die Erfüllung des Gesetzes“: Wo der Mensch von der Sünde befreit ist, hat die Tora eine neue Funktion. War sie zunächst erlassen „um der Übertretungen willen, bis der Nachkomme käme, dem die Verheißung gilt“ (Gal 3,19a), so hatte sie die Bestimmung, die Sünde einzuschränken, aber zugleich eine darüberhinausweisende Funktion (Gal 3,23-25). Die Zusage, dass die gehorsame Erfüllung der Gebote Leben schaffen könne (Dtn 30,15-20; Röm 7,10), besitzt Gültigkeit, wenn nicht für die Zeit der Sünde, so für die Zeit des Heils (92).

Ging es z.Zt der Sünde um die korrekte Einhaltung der Gebote, so ist mit der Freiheit von der Sünde ein neues Verhältnis zur Tora begründet. Sie ist Offenbarung des göttlichen Willens und hat ihre bleibende Funktion als Orientierung für das Leben des Menschen vor Gott und in der menschlichen Gemeinschaft. Aber die wahre Erfüllung erfolgt nicht in einer peniblen Observanz, sondern in der Freiheit und der Liebe (Gal 5,1.14). Hier gilt der Grundsatz: „Bleibt niemand etwas schuldig, nur die Liebe schuldet ihr einander immer; wer den anderen liebt, der hat das Gesetz erfüllt“ (Röm 13,8). So ist der Glaube als Vertrauen auf die Befreiung von der Sünde zugleich die Kraft der Liebe, die ihrerseits das wahre und entscheidende Kriterium für die Erfüllung der Tora ist (Gal 3,13f; 5,6.14).

Das Gesagte gilt nicht nur für die an das Gesetz gebundenen Judenchristen, sondern ebenso für die Heidenchristen. Paulus hat in Röm 2,14f davon gesprochen, dass die Heiden eine ihnen ins Herz geschriebene Grundkenntnis der Tora und des göttlichen Willens haben. So wenig die Heiden an die Tora als Heilsbdingung gebunden sind, so sehr ist auch für sie die Tora eine Weisung „zum Leben (Röm 7,10). Nicht nur die atl Verheißung, auch das atl Gesetz gewinnt für sie Bedeutung. Für sie gilt, dass die „Forderung des Gesetzes“ erfült werden soll und kann (Röm 8,4) und dass im Tun der aus dem Glauben resultierenden Liebe die Tora tatsächlich erfüllt wird (Röm 13,8-10) (92).

 

(3) Die bleibende Verheißung für Israel: Die Ablehnung Jesu Christi: Für Paulus steht fest, dass die Juden in besonderer Weise von Gott erwählt wurden und in ihrer Geschichte die Träger der Verheißung waren und sind (Röm 3,1). Diese Zusage Gottes ist nicht hinfällig geworden (Röm 9,6). Den Juden gilt daher „zuerst“ das Handeln Gottes in Jesus Christus und die Heilsbotschaft (Röm 1,16f u.ö.). Paulus steht vor der Tatsache, dass diejenigen, denen das Handeln „zuerst“ gilt, zu einem großen Teil die Botschaft von Jesus Christus ablehnen. Durch Israel geht insofern eine Spaltung, die alle, die Jesus Christus verwerfen, von denen trennt, die ihn als den Messias und Offenbarer Gottes anerkennen (93).

Angesichts der Ablehnung eines Großteils der Juden sieht Paulus die Verheißung aus Hos 2,25 verwirklicht, dass Gott ein Volk beruft, das nicht sein Volk war (Röm 9,24-26). Paulus ist zugleich damit konfrontiert, dass die Verkündigung des Evangeliums unter den Heiden von Juden bestritten, ja massiv behindert wird. So kommt es zu seinen scharfen Aussagen im 1Thess 2,15f: „Sie haben Jesus, den Herrn und die Propheten getötet und uns verfolgt. Sie missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen; sie hindern uns daran, den Heiden das Evangelium zu verkündigen und ihnen so das Heil zu bringen. Dadurch machen sie unablässig das Maß der Sünden voll, aber der Zorn (Gottes) ist über sie gekommen...“. „Der Zorn ist über sie gekommen bis zum Ende“. Es handelt sich um eine Befristung, innerhalb der die Juden, die Christus ablehnen, an dem Heil noch nicht partizipieren (Röm 11,25-27) (93).

Der getrennte Weg von Juden und Christen: Angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der Juden die Botschaft des Evangeliums ablehnt, greift Paulus den seit Jes 7,3; 10,21f bekannten Rest-Gedanken auf: Nur ein „Rest“ aus Israel hat bisher die Heilsbotschaft angenommen, die Mehrheit verharrte dagegen im Unglauben (Röm 11,1-6). Paulus kann von einer „Verstockung“ reden (11,7); die ungläubigen Juden haben gemäß der Aussage von Jes 29,10 einen „Geist der Betäubung“ empfangen (11,8). Aber das bedeutet nicht, dass sie verworfen sind, sondern dass ihnen ein von Gott vorherbestimmter Weg zugewiesen ist. Zwar gibt es nach Röm 9,10-13.14-21 auch eine definitive Verwerfung, aber das gilt dort nicht, wo die Zusage Gottes aufgrund seines Erwählungshandelns feststeht. So kann Paulus sagen: „Sind sie etwa gestrauchelt, damit sie zu Fall kommen? Keineswegs! Vielmehr kam durch ihr Versagen das Heil zu den Heiden, um sie selbst eifersüchtig zu machen“ (11,11). Ihr Versagen schließt die Gültigkeit der an sie ergangenen Heilsverheißung nicht aus (11,12). Vielmehr sind sie auf einen eigenen Weg gestellt, der das Ziel der Heilsteilhabe noch vor sich hat. Wenn Paulus dabei vom „Eifersüchtigmachen“ spricht, dann in der Hoffnung, dass wenigstens „einige von ihnen“ jetzt schon gerettet werden (11,14) (93f).

Paulus verwendet in Röm 11,16b-24 das Gleichnis vom Ölbaum, bei dem es herausgebrochene und neu eingepfropfte Zweige gibt. Für die herausgebrochenen Zweige gibt es die Möglichkeit, wieder eingepfropft zu werden. Und für die neu eingepfropften Zweige ist die gemeinsame Wurzel entscheidend (Röm 11,16b). Das bedeutet für die Heiden, dass sie nicht unabhängig von Israel das Heil empfangen haben. Sie sind als wilde Zweige in den edlen Ölbaum eingepfropft worden (11,17) und haben damit Teil an der Geschichte der Erwählung und des verheißenen Heils. So sind nun die Heiden, die zum Glauben gekommen sind, ebenfalls an den Ort und auf den Weg gestellt, der für Israel bestimmt ist. Auch ihnen gilt das Gnadenhandeln, das in der Erwählung Abrahams und Isaaks manifest geworden ist.

So gibt es nun eine Glaubensgemeinschaft, zu der ein „Rest“ aus Israel und die wachsende Zahl der Heiden gehört. Daneben steht die „Mehrheit“ aus Israel, die Jesus Christus nicht anerkennt, die aber weiterhin die gültige Verheißung der Rettung besitzt. D.h. dass es in der Geschichte fortan zwei getrennte Wege des einen Gottesvolkes gibt. Gemeinsam ist der Glaube an den einen Gott, gemeinsam ist die Erwählung und die Verheißung sowie die Hoffnung auf die endzeitliche Heilserfüllung. Unterschiedlich ist die Auffassung vom bereits gekommenen Messias (94).

Die endzeitliche Umkehr des ungläubigen Israel: Für Paulus steht fest, dass Gott sein Volk, das er erwählt hat, nicht verstößt (Röm 9,6; 11,1). Gottes Gnadengaben und seine Berufungen sind unumstößlich (11,29). Die Israeliten sind und bleiben „Geliebte um der Väter willen“ (11,28). Paulus ist voller Trauer und würde selbst wünschen, verflucht zu sein, wenn es keine Hoffnung für Israel gäbe (Röm 9,1-3). Er verkündet daher in prophetischer Vollmacht ein „Geheimnis“: „Verstockung liegt auf einem Teil Israels, bis die Vollzahl der Heiden das Heil erlangt hat, dann wird ganz Israel gerettet werden“ (11,25f).

Ganz Israel wird gerettet“: Zunächst geht es um die Frage, wer mit „Israel“ gemeint ist: Handelt es sich um das alte Gottesvolk oder um das Gottesvolk aus Juden und Heiden? Nach Röm 9-11 kann nur das alte Gottesvolk gemeint sein.

Die endzeitliche Rettung ganz Israels wird bei der Wiederkunft Christi erfolgen, wenn sich das Schriftwort aus Jes 59,20 erfüllt: „Der Retter wird aus Zion kommen, er wird alle Gottlosigkeit von Jakob entfernen“ (Röm 11,26b). Zion ist hier die Himmelsstadt, aus der Jesus als der Messias herabkommen wird (vgl. Gal 4,26-28; Phil 3,20f; 1Thess 1,10; Hebr 12,18-24). Hinzugefügt wird aus Jes 27,9: „Das ist der Bund, den ich ihnen gewähre, indem ich ihre Sünden hinwegnehme“ (Röm 11,27). Gottes Erbarmen ergeht über sie, so wie sein Erbarmen den Heiden zuteil wurde (11,31f) (95f).

Heil ist für Paulus gleichbedeutend mit Rechtfertigung (9,30 - 10,21). „Rechtfertigung“ heißt, dass der Mensch in die ihm angemessene Stellung vor Gott versetzt wird. Was ihm durch eigenes Tun unmöglich ist, wird ihm von der „Gerechtigkeit Gottes“, die ein heilstiftendes göttliches Handeln ist, gewährt. So haben die Heiden, die von Gottes Gerechtigkeit nichts wussten und sie nicht erstrebten, „Gerechtigkeit erlangt“, während Israel, das nach ihr strebte, das „Gesetz der Gerechtigkeit“, nämlich die die göttliche Gerechtigkeit bezeugende Tora, verfehlt hat (Röm 9,30f). Aber am Ende der Zeiten wird „ganz Israel“ diese Gerechtigkeit erfahren und sich im Glauben ihr „unterordnen“ (vgl. 10,3). Die „Verstockung“ Israels steht in Beziehung zum Unglauben Israels (11,7-10). Diese Verstockung ist befristet und wird aufgehoben, „wenn die Fülle der Heiden eingegangen ist“ (11,25c). Und wie Gott Heiden und Juden im Ungehorsam zusammengeschlossen hat, so will er sich aller erbarmen und diesen Ungehorsam aufheben (11,32). „Ungehorsam“ ist dabei gleichbedeutend mit „Unglaube“; der Unglaube soll überwunden und beseitigt werden. Angesichts des wiederkommenden Christus wird mit dem sich verwirklichenden endzeitlichen Heil Glaube und Vertrauen für „ganz Israel“ begründet (96).

Rechtfertigung und Glaube werden sich angesichts des sich offenbarenden Christus ereignen. Seine endzeitliche Erscheinung erfolgt zum Heil und Gericht. Heil ist für Paulus vom Glauben des Menschen als einer vertrauenden, rückhaltlosen Selbstpreisgabe an den sich erbarmenden Gott unablösbar. Er rettet „allein aus Gnaden“, aber der Gnadentat Gottes korrespondiert das „allein aus Glauben“. Jesus ist der von Israel erwartete Messias, dafür sollen den jetzt ungläubigen Israeliten die Augen noch geöffnet werden (96f).

Es bleibt die Erwartung, dass Christen und Juden gemeinsam den von Gott bestimmten Messias erkennen und anerkennen (98).




3. „Die Juden“ im Johannesevangelium

(1) Für das JohEv ist die endgültige Trennung der Christen vom Judentum bereits vollzogen
 (2) Eine zweite Linie in der Verwendung von „
die Juden
 (3) Die dritte Linie
 (4) An vielen Stellen im JohEv hat die Bezeichnung „
die Juden“ einen negativen Klang

F.Hahn (1996)

Jede pauschale Beurteilung des Begriffes „die Juden“ im JohEv führt zu groben Fehldeutungen der eigentlichen Aussageabsicht dieser ntl Schrift (119).


 

(1) Für das JohEv ist die endgültige Trennung der Christen vom Judentum bereits vollzogen. Die entstandene Konfrontation von Synagoge und Kirche hat einen deutlichen Niederschlag gefunden. Hinzu kommt: das Judentum selbst hat sich erheblich gewandelt. An die Stelle der verschiedenen Gruppen und des vielgestaltigen Erscheinungsbildes z.Zt. Jesu und der Apostel ist nach der Katastrophe des Jahres 70 n.Chr. die Reorganisation des Judentums unter ausschließlich pharisäischer Führung getreten. Das Judentum steht nun in viel stärkerem Maß als Einheit der Kirche gegenüber, sodass fließende Übergänge nicht mehr vorhanden sind (Hinweise auf die synagogale Exkommunikation: Joh 9,22; 12,42; 16,2). Aussagen von äußerster Schärfe gegen „die Juden“ dürfen nicht zum alleinigen hermeneutischen Schlüssel gemacht werden. Es bliebe dann unverständlich, was demgegenüber die positiven Stellen zu bedeuten haben (119f).

Linien, die die Verwendung des Begriffs die Juden“ im JohEv kennzeichnen: Wo von den „Festen der Juden“ die Rede ist (5,1; 6,4; 7,2; 2,13; 19,42), geht es um Spezifika einer bestimmten religiösen Gemeinschaft, die in den jeweiligen Festfeiern ihren Ausdruck finden. Dasselbe gilt, wenn von „euren“ bzw. „ihrem Gesetz“ gesprochen wird (7,22; 8,17; 10,34). Jeweils handelt es sich um wesensbestimmende Elemente der religiösen Tradition. Derartige Aussagen sind nicht von vornherein polemisch verstanden, da auch Jesus sich an den Feste beteiligt und auf die Tora berufen hat (2,13; 5,1; 7,2ff; 10,22f; 11,55ff). Die Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinschaft der Juden ist für Jesus wie für seine Jünger eine selbstverständliche Gegebenheit, bis es dann zu seiner Verwerfung und der Verwerfung der Jünger (16,1-4) kommt. Die Trennung steht nicht am Anfang und die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft ist als solche keineswegs negativ qualifiziert. Weil das Heil von den Juden kommt (4,22b), darf auch bei einer äußeren Trennung die Rückbindung an die Gemeinschaft, die Träger der Verheißung und Ursprungsort der Heilsverkündigung war, nicht preisgegeben werden (120f).

Das gilt auch dann, wenn die Juden diese Tradition für sich beanspruchen und in ihrem Sinn auslegen. Die Spannung und Gegensätzlichkeit wird dort erkennbar, wo sich die Juden (5,39-47) auf das Gesetz beziehen, aber von einem Verständnis dieses Gesetzes ausgehen, das dessen Verheißungscharakter verkennt. Auch wenn sie unter Inanspruchnahme ihres Gesetzes Jesus verwerfen, werden sie dennoch durch das Gesetz und die prophetischen Schriften auf das eschatologische Heil verwiesen. Deshalb wird auch Mose, auf den sie sich berufen, im Gericht Gottes ihr „Ankläger“ sein. So stoßen wir an diesen Stellen auf einen Sprachgebrauch, der für das Selbstverständnis der Christen im Gegenüber zum Judentum bezeichnend ist, weil hiermit die gemeinsame Herkunft und die unterschiedliche Grundhaltung gleichzeitig zum Ausdruck kommen, ohne dass damit eine prinzipielle Polemik verbunden ist (121).

 

(2) Eine zweite Linie in der Verwendung von „die Juden“: Es ist in der Darstellung des Evangelisten durchweg vorausgesetzt, dass die zur ‚Menge‘ gehörenden Menschen Juden sind. Das wird in 12,9 ausdrücklich gesagt, ist in Joh 5 und 7 aufgrund des Kontextes eindeutig, gilt aber auch für die ‚Menge‘ bei der Brotvermehrung „jenseits des Meeres“ (Joh 6), weil die Absicht, den, der „wahrhaft der in die Welt gekommene Prophet ist“, zum „König“ zu machen, nur aus der messianischen Erwartung des Judentums verständlich ist. Kennzeichnend für diese zur ‚Menge‘ gehörenden Menschen ist es, dass sie durch Jesu Wort und Wirken betroffen, aber noch nicht abschließend festgelegt sind. So kann es von ihnen auch heißen, dass sie darüber streiten, ob Jesus der verheißene Heilbringer ist (Joh 7,12.31.40f.43). Nicht nur im Blick auf die ‚Menge‘ kann gesagt werden, viele Menschen seien zum Glauben an Jesus gekommen (7,31; 2,23; 11,48), sondern dass auch direkt formuliert wird, „Juden“ seien gläubig geworden (8,31; 11,45; 12,11; 12,42). Der Evangelist zeigt auch, wie schwer es für einen „Lehrer Israels“ wie Nikodemus sein kann, die Botschaft Jesu zu akzeptieren (3,1-12). Der Begriff „die Juden“ ist nicht einseitig negativ festgelegt. Auch mit dieser Bezeichnung wird zum Ausdruck gebracht, dass die in Jesus sich ereignende Offenbarung all denen gilt, die zur jüdischen Gemeinschaft gehören und dass sie gerufen sind, sich Jesus glaubend anzuschließen. Die Berufung des Nathanael am Anfang des JohnEv (1,35-51) ist Höhepunkt der Nachfolgeerzählung. Er erkennt im Zusammenhang mit Gesetz und Propheten, wer Jesus ist und wird deshalb von diesem als „wahrer Israelit“ angesprochen (122f).

 

(3) Die dritte Linie: Der Evangelist verwendet die Bezeichnung „die Juden“, wenn es sich speziell um die gegen Jesus einschreitenden jüdischen Autoritäten handelt. Die offiziellen Repräsentanten des Judentums sind es, die ihn zur Rede stellen, sie betreiben seine Verhaftung und schließlich seine Verurteilung. Der Hohepriester Kajafas gibt den letzten Ausschlag (11,47-52). Der Evangelist hat nicht vergessen, dass es eine bestimmte Gruppe von Juden war, die die Beseitigung Jesu vorbereitet und veranlasst hat (124).

Z.Zt Jesu und der Apostel war Jerusalem mit seinem Tempel der Mittelpunkt und Sitz der obersten jüdischen Instanz, des Synedriums. In der Zeit nach der Katastrophe von 70 n.Chr. war nicht mehr Jerusalem, wohl aber immer noch Judäa mit Jabne als neuem Zentrum maßgebend für alles, was das Judesein betraf. An vielen Stellen des JohEvs sind bei der Verwendung von „die Juden“ die offiziellen Vertreter des Judentums gemeint. Im Zusammenhang mit Jesu Wirken ist es fraglich geworden, ob die Inhaber amtlicher Funktionen als Repräsentanten des Judentums zu Recht reden und handeln und zwar noch abgesehen von seinem göttlichen Auftrag und Anspruch, sondern allein schon im Blick auf die Glieder der jüdischen Gemeinschaft, die sich zu einem großen Teil Jesus bereits angeschlossen haben und nicht mehr jenen Autoritäten zu folgen bereit sind. Diese offiziellen Vertreter repräsentieren in keiner Weise mehr das atl Gottesvolk als ganzes. Es ist durch das Wirken Jesu zu einer Scheidung gekommen. Wer sich zu Jesu Person und Wort hält, wird als „wahrer Israelit“ bezeichnet, wer sich den Autoritäten unterordnet, gehört zu jenen „Juden“, die Jesus und damit das Heilsangebot Gottes ablehnen. Wo Gesetz und Glaubenstradition lediglich dazu dienen, den Unglauben zu legitimieren und Jesus zu verurteilen, ist die Chance der Umkehr vertan, dort gilt das Wort aus Jes 6,9f (Joh 12,39f). Die Autoritäten repräsentieren nur einen Teil des jüdischen Volkes, jene Gruppe, die Jesus verwirft und damit zugleich ein Judentum konstituiert, das aus der Feindschaft gegen Jesus und seine Jünger lebt und wegen dieser Feindschaft unter das Gerichtswort gestellt ist (124f).

Die äußere Trennung zwischen dem sich neuformierenden Judentum und den Christen war gerade deswegen unumgänglich geworden, weil eine Großzahl von Gliedern des atl Gottesvolkes jetzt in der Kirche lebte. Dass die Trennung von den Juden ausgegangen ist, lässt das JohEv klar erkennen (9,22; 12,42; 16,2). Es war seitens der Vertreter des Jesus verwerfenden Judentums eine Bewältigung jener Krise im 1.Jh.n.Chr., die nicht allein durch den Jüdischen Krieg samt Zerstörung Jerusalems und des Tempels hervorgerufen worden war, sondern ebenso tiefgreifend durch Jesu Wirken und die christliche Mission verursacht gewesen ist, denn die vielen Judenchristen ließen sich nicht mehr in die von Pharisäern geleiteten Synagogen zurückholen (125f).

 

(4) An vielen Stellen im JohEv hat die Bezeichnung die Judeneinen negativen Klang. Es geht um die Angehörigen eines Judentums, die eine eigene kultische und rituelle Ordnung vertreten, die nicht mehr bereit sind, auf Jesu Wort und Ruf zum Glauben zu hören und die sich ihren Autoritäten, von denen Jesus und seine Jünger verworfen und verfolgt werden, unterordnen. Für sie ist die Frage, wer Jesus ist, entschieden. Sie können in ihm nicht den Offenbarer und Heilbringer Gottes sehen, sind daher der Auffassung, dass er besessen sei und mit seinem Anspruch, Sohn Gottes zu sein, Gotteslästerung begehe (8,48f.52; 10,20f; 10,33). Für den Evangelisten konstituiert sich damit eine neue religiöse Gemeinschaft, die sich ebenfalls auf die atl Tradition beruft, aber aus der Ablehnung der Person und Botschaft Jesu heraus ihr Selbstverständnis gewinnt. In gewissem Sinn kann man sagen, dass der 4. Evangelist die Auffassung vom fortan „gespaltenen Gottesvolk“ vertritt. Für ihn geht es hierbei um Glaube und Unglaube (126).

Am Offenbarungsanspruch Jesu fällt eine Entscheidung, die das alte Gottesvolk in eine Krisis hinein führt. Der vom Vater beauftragte Sohn will nichts anderes als die Verheißung Israels zu ihrem Ziel führen. Ihm hat der Vater alles in die Hand gegeben (13,3; 18,3), durch ihn soll sich das Heil über Israel hinaus für die ganze Welt erfüllen (4,1-42). Aber die Träger der Verheißung verschließen sich zu einem Teil dem Offenbarunsanspruch und stellen dem einen nomistischen Absolutheitsanspruch gegenüber. Für den Evangelisten enthüllt sich darin das eigentliche Wesen des Unglaubens, sofern hier unter Berufung auf Gott und auf das Zeugnis der Schrift die Heilszuwendung Gottes verworfen und eine eigene Frömmigkeit vertreten wird. Der Unglaube in Israel ist nicht ein bloßes Beispiel für den Unglauben der Welt, sondern im Unglauben Israels wird erkennbar, was letztlich Unglaube ist, sofern unter Berufung auf Gott Gottes Anspruch nicht gehört wird und Menschen sich in ihrer Verblendung Gott gegenüber verschließen (127).

Unter diesen Voraussetzungen wird verständlich, warum die Juden in Joh 8,30-59 Repräsentanten des ungläubigen Kosmos sind. Die Berufung auf Abraham wird in dem Augenblick hinfällig, wenn die „Werke Abrahams“ nicht getan und der Wahrheitsanspruch in Jesu Wort und Wirken nicht anerkannt wird. Wer sich durch Todfeindschaft gegen Jesus außerhalb der Abrahamskindschaft stellt, hat kein Recht mehr, sich auf Gott als Vater zu berufen. Er ist einem anderen Vater verfallen, dem Teufel (8,44). Hier stehen nicht nur Glaube und Unglaube, sondern ebenso Wahrheit und Lüge einander gegenüber. Wo Jesu Anspruch verkannt wird, ist die Wahrheit Gottes, für deren Bezeugung Jesus in die Welt gesandt wurde (18,37), den Menschen verschlossen. Sie bleiben ihrem eigenen Sein und Tun verhaftet, das von Sünde und Lüge gekennzeichnet ist. Wo die Tür, die durch Jesu Offenbarung der Wahrheit eröffnet worden ist, nicht glaubend und vertrauend durchschritten wird, der Mensch vielmehr im Unglauben verharrt, bleibt er der Macht des Bösen ausgesetzt, die zutiefst Feindschaft gegen Gott ist (8,44). Die Schärfe der Anklage von 8,30-59 liegt darin, dass gerade diejenigen, die sich auf Abraham berufen, die die Geschichte Gottes mit Israel und seine Verheißungen kennen, den Offenbarungsanspruch Jesu nicht annehmen (127f).

Der Evangelist ist mit seiner Gemeinde am Ende des 1.Jh. einem sich neuformierenden Judentum konfrontiert, das die christliche Botschaft radikal verwirft. Es bejaht die getroffene Entscheidung gegen Jesus und bekräftigt sie in Auseinandersetzungen mit den Gliedern der christlichen Gemeinde (128).


 

4. Die Bedeutung des Judeseins Jesu im Johannesevangelium

(1) Die Problemstellung
 (2) Der jüdische Prophet als Retter der Welt
 (3) Josephs Sohn aus Nazareth als Messias aus Davids Geschlecht
 (4) Der Gekreuzigte als König von Israel
 (5) Auswertung

T. Söding (2000)

(1) Die Problemstellung: Das Johannesevangelium formuliert die schärfste Kritik an 'den Juden', die das Neue Testament kennt, zugleich ist es auch das Evangelium mit der stärksten Betonung des Judenseins Jesu: Die Herkunft Jesu aus Nazareth, seine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, seine Wirksamkeit in Galiläa und Judäa, seine Sendung als Messias Israels in Prophetien und Selbstoffenbarungen, in Anklagen und Verteidigungen Jesu zieht sich dieses Motiv durch das Evangelium: von der Berufung der ersten Jünger (1,38-51) bis zur österlichen Begegnung mit Maria Magdalena (20,16), vom Dialog mit der Frau am Jakobsbrunnen (4,41f) bis zum Pilatusprozess (18,28-19,16a), von der Auseinandersetzung mit seinen Brüdern (7,1-12) bis zur Bitte der gottesfürchtigen Griechen, die in der letzten Paschawoche Jesus begegnen wollen (12,20-26) (21f). 

Jesus in typisch jüdischen Rollen

- als Rabbi, der sich, obwohl er nicht studiert hat (7,15), in der Synagoge und im Tempel, privatim (3,1-21) und coram publico (18,20) als Meister der Lehre (3,2), besonders der Schriftauslegung (6,35f; 7,15), erweist. 

- als Pilger, der kaum eines der großen Jerusalemer Feste versäumt (vgl. 2,13; 4,45; 5,1; 7,2.8-11.14; 10,22; 11,55 gegen 6,4) und sich auch vom drohenden Martyrium nicht abhalten lässt, die heiligen Stätten zu besuchen (vgl. 11,56; 12,12). 

- als Prophet, der die Wahrheit der Menschen und des Willens Gottes ans Licht bringt (4,19.44; 6,14; 7,40.52; 9,17), 

- als Märtyrer, der 'für das Volk stirbt', wie es Kaiaphas kraft des Geistes prophezeit (11,45-53; vgl. 18,14),

- als der messianische König Israels, der als er schon von Nathanael (1,49) angeredet und dann beim Einzug in Jerusalem von der Volksmenge begrüßt wird (12,12,-18), als den ihn Pilatus verurteilt (18,33-37.39; 19,3-14f) und die Kreuzesinschrift auf Hebräisch, Lateinisch und Griechisch öffentlich ausweist (22f). 

Jede dieser unverwechselbar jüdischen Rollen hat auf spezifische Weise mit der Sendung Jesu zu tun, Gott als Vater und sich selbst als den eingeborenen Sohn Gottes zu offenbaren (1,17f), den Gott aus Liebe zur Welt 'gegeben' hat, um die Glaubenden zu retten (3,16). 

Christologische Leitfragen zum Judentum Jesu

- „Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen“ fragt Nathanael (1,46), um dann zu bekennen: „Rabbi, du bist der Sohn Gottes, der König von Israel“ (1,49). 

-„Wie kannst du (Jude) mich (Samariterin) um etwas zu trinken bitten“ (4,9) lautet die Frage am Jakobsbrunnen, die zum Anlass eines Glaubensgesprächs über Jerusalem, Garizim und die Anbetung Gottes in Geist und Wahrheit wird. 

-„Kommt denn der Messias aus Galiläa? Hat die Schrift nicht gesagt: Der Messias kommt aus dem Geschlecht Davids und aus dem Dorf Bethlehem, wo David lebte“ (7,41f), so fragen am letzten Tag des Laubhüttenfestes die Skeptiker aus dem Volk, nachdem Jesus seinen Anspruch formuliert hat, das Leben Gottes zu vermitteln. 

- „Bin ich denn ein Jude? Dein eigenes Volk und die Hohenpriester haben dich mir ausgeliefert“ (18,35), sagt Pilatus und gibt damit sein Scheitern an der Wahrheitsfrage zu erkennen, während Jesus sich als der König offenbart, der für die Wahrheit Zeugnis ablegt (23). 

 

(2) Der jüdische Prophet als Retter der Welt: Die jüdische Rolle Jesu im Gespräch mit der Samaritanerin: In der Begegnung mit der samaritanischen Frau am Jakobsbrunnen tritt Jesus betont als jüdischer Prophet auf. Das Kapitel ist ein Programmtext, der zum einen die genuine Universalität des Heilswerks Jesu sichtbar macht (4,31-38; vgl. 18,20) und zum anderen am Beispiel der Samaritanerin zeigt, wie Jesus auch Nicht-Juden zum Glauben führt. Die Bitte Jesu um Wasser führt die Samaritanerin zur anfänglichen Abweisung Jesu, die sie mit der Abweisung der Samaritaner durch die Juden begründet: Juden gehen doch nicht mit Samaritanern um (4,9f). Am Ende heißt es im Munde der gläubig gewordenen Samaritaner: „Wir wissen: Er ist wahrhaftig der Retter der Welt“ (4,42). Die Anbetung Gottes in Geist und Wahrheit bedeutet eine neue Qualität der Gottesverehrung, die den traditionellen Gegensatz zwischen Samaritern und Juden überwindet (24f). 

Wie die Frau betont, sind auch die Samaritaner Kinder Jakobs (4,12); Jakob hat ihnen sogar den Brunnen geschenkt, der ihnen Wasser zum Leben spendet (4,12); Jesus selbst attestiert den Samaritanern, große Beter zu sein (4,22a). Überdies weckt er in der Samaritanerin das Bekenntnis ihrer Hoffnung auf den Messias (4,25). Gleichzeitig erinnern die Topoi Garizim und Jerusalem (4,20f) an den Dissens zwischen Samaritanern und Juden. In ihrer Geschichte und Religiosität sind sie einerseits eng miteinander verbunden und andererseits scharf voneinander getrennt (25f). 

Im zentralen Gesprächsteil wird der Unterschied zwischen Juden und Samaritanern auch im Munde Jesu zum theologischen Thema dadurch, dass er auf die Not und Hoffnung der Frau eingeht. Sie fragt, wo sie beten könne: „Unsere Väter haben an diesem Ort angebetet und ihr sagt, dass in Jerusalem der Ort ist, da man anbeten muss“ (4,20). 

Jesu Verheißung der Anbetung von Juden und Samaritanern „in Geist und Wahrheit“ ist nicht an den Garizim noch an den Tempel in Jerusalem, sondern an Jesus gebunden (4,21ff). „Ihr betet an, den ihr nicht kennt, wir beten an, den wir kennen, denn das Heil kommt von den Juden“ (4,22). Jesu Judesein prägt das gesamte Kapitel; er nimmt hier die Rolle als Jude an, die ihm die Frau zugeschrieben hat, weil sie der historischen und der theologischen Realität entspricht. Nun unterscheidet Jesus zwischen 'ihr' und 'wir'. Jesus schließt sich mit seinem Volk zusammen: Wir Juden beten an, den wir kennen. Damit markiert Jesus ein theologisches Plus Israels, das die Voraussetzung bildet, die Trennung zu überwinden (26f). 

Das theologische Plus der Juden besteht darin, dass sie wissen, was sie anbeten, während die Samaritaner zwar auch Gott verehren, aber ihn nicht wirklich kennen (vgl. 2Kön 17,24-41). Der Wissensvorsprung der Juden ist für Johannes vor allem durch die Heilige Schrift begründet und zwar nicht nur durch die Mose-Tora, die den Samaritanern gleichfalls als Kanon gilt, sondern auch durch die Propheten. Die Schrift ist für Johannes Wort Gottes, das durch das (geschriebene) Wort des Propheten ergeht (1,45; 9,29; vgl 1,23; 12,38ff). Die Schrift dokumentiert nach Johannes wesentliche Stationen der Geschichte Israels, besonders den Exodus mit dem Manna-Wunder (vgl. 6,32ff) und der Gesetzgebung (1,77; 7,19), vor allem bezeugt sie die Einzigkeit Gottes (vgl. 5,44) und die Gotteskindschaft der Israeliten (10,34; Ps 82,6). Sie zeugt vom 'Eifer' des Gerechten für das Haus Gottes (2,17/Ps 69,10), aber auch vom Verrat des Gerechten durch einen der Seinen (13,18/Ps 41,10) und von der Demütigung durch seine Feinde (19,24/Ps 22,19). Sie redet von der umfassenden Belehrung des Gottesvolkes durch Gott (6,45/Jes 54,13; 31,33ff), aber auch von der Verstockung Israels (12,38ff/Jes 53,1 LXX; 6,9f). Sie begründet die Hoffnung auf den Messias (7,42/Mi 5,1), den 'König Israels' (12,15/Jes 40,9; Sach 9,9) und auf das 'Brot vom Himmel' (6,31/Ps 78,24; Ex 16,4), im ganzen zeugt sie von der Verheißung des Lebens in Fülle (7,38; vgl. 5,39), vom Schutz des Gerechten durch Gottes Gnade (19,36/Ex12,46; Ps 34,21) und vom Schauen auf den Durchbohrten als einem Inbild des Gerichts und des unendlichen Heils (19,37/Sach 12,10). Auch Mose und das Gesetz werden von Johannes auf diese Linie seiner christologischen Schrift-Hermeneutik gebracht. Zuletzt ist es der Täufer Johannes, jener „Mensch, von Gott gesandt“ (1,6), der durch seine Taufe am Jordan (1,28; vgl. 3,23) und sein Zeugnis für Christus das Licht der Wahrheit nach Israel trägt (1,6ff; 15,19-38; 3,23-36) (27f). 

Der Wissensvorsprung, den die Juden durch die Schrift, durch das Gesetz, durch Mose und die Propheten haben, zeigt sich auch darin, dass sie nicht am Garizim, sondern im Tempel zu Jerusalem anbeten. Die Tempelaustreibung, die Johannes an den Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu in Jerusalem stellt (2,13-22), ist hingeordnet auf die Anbetung Gottes 'in Geist und Wahrheit' (4,23); aber sie ist kein Ausdruck der Abwendung, sondern der radikalen Hinwendung Jesu zum Tempel: der ist für Jesus das „Haus meines Vaters“, das als solches heilig ist und nicht zu einer Markthalle verkommen darf (2,16). Die Qualifizierung des Jerusalemer Tempels als Haus Gottes durch Jesus verifiziert im Kontext des JohEvs den Satz der Samariterin: „… ihr sagt, dass in Jerusalem der Ort ist, da man anbeten muss“ (4,20) (28f). 

Die Realisierung der Heilsuniversalität: Schrift und Tempel, die beiden zentralen Instanzen jüdischer Identität, werden nach Johannes durch Jesu Werk zugleich Instanzen jüdisch-christlicher Identität. Die Schrift ist nach Johannes das Zeugnis für den Messias, der nach Israel kommt, um Gottes Heilswahrheit dem ganzen Kosmos zu bringen. Genau darum geht der Streit mit den Pharisäern. Ihnen wird zwar attestiert, dass sie „in den Schriften forschen“, weil sie meinen „in ihnen das ewige Leben zu haben“ (5,39). Das führt bei ihnen, weil sie verstockt sind, nicht zum (christologischen) Verstehen (5,39). Sie erkennen nicht, inwiefern die Schriften das ewige Leben haben und dass sie aufgrund des Willens Gottes von Anfang an auf das Kommen des Messias angelegt sind, der allen Menschen das Licht Gottes bringt. Wer die den Juden gegebene Schrift Johannes zufolge in der Dynamik des Offenbarungshandelns Gottes an seinem Volk Israel liest, entdeckt sie als Zeugnis der Verwirklichung des universalen Heils. Das jedoch kann nur erkennen, wer – unter christologischem Vorzeichen – die Heilige Schrift Israels liest (29). 

Zum Wissen um Gott und zur Verehrung Gottes gehört im john Sinn entscheidend auch, dass Gott, weil er seinen Geist gibt, den Messias sendet, der die ganze Welt retten wird. Wenn Jesus der Samaritanerin sagt: „Wir wissen, wen wir anbeten“ (4,22), setzt er sich von der pharisäischen Schriftauslegung ab und redet über dass Glaubenswissen derer, die ihres wahren Judentums inne geworden sind: wie die Schwestern des Lazarus, wie die Magdalenerin oder wie Nathanael, zu dem Jesus sagt: „Siehe, ein wahrer Israelit, an dem kein Falsch ist“ (1,47). Mit diesen Juden, die für Johannes, die Juden nach dem Herzen Gottes sind, schließt sich der Jude Jesus zum ‚wir‘ von Joh 4,22 zusammen (30).

Der Dienst des Propheten Jesus zur Rettung der Welt: Sowohl das theologische Plus der Juden als auch die Realisierung der Heilsuniversalität werden von Johannes christologisch identifiziert. Jesus ist der jüdische Prophet (vgl. 7,40f; 9,17), der als solcher der Retter der Welt ist. Prophet kann er nur als Jude sein (vgl. 7,52). Jüdische Prophetie, wie Johannes sie voraussetzt, ist durch die von Gott verliehene Fähigkeit inspirierter Rede gekennzeichnet, die dem Volk Gottes den Willen Gottes offenbart. Das geschieht in unüberbietbarer Weise durch Jesus. Er ist d e r Prophet schlechthin und als solcher ist er der Messias. Er ist der Gesandte des Vaters. Als der eingeborene Sohn, der Mensch geworden ist (1,14-18), kann er an der Stelle des Vaters und in der Autorität Gottes die Wahrheit Gottes offenbaren. Nur weil er als der präexistente Logos (1,1ff) Gott selbst gesehen hat (1,18) und als irdischer Offenbarer fortwährend sieht (5,19f), kann er prophetisch verkünden, wer Gott wirklich ist und was Gott wirklich will. Diese Offenbarung Gottes durch den Propheten Jesus ist nicht nur die Ankündigung, sondern die Realisierung des universalen Heilshandelns Gottes. Jesu Offenbarung i s t das eschatologische Heilsgeschehen, das 'Werk', das Jesus aufgetragen ist und das er vollbringt (4,34) (30f). 

'Retter der Welt' (4,42) ist Jesus in der Universalität seines Heilswirkens (vgl. 3,17; 6,33; 12,47), die schon der Prolog vorzeichnet (1,1-5). Jesus rettet die Menschen indem er ihnen das Licht der Wahrheit Gottes bringt, das er in Person ist (1,4f.9). Das 'Kommen' dieses Lichts (1,9) vollendet sich in der Hingabe seines Lebens aus Liebe zu den Seinen (13,1ff); denn Gottes Wahrheit ist seine Liebe, deshalb kann über die Wahrheit nicht nur informiert werden, sie muss geschenkt werden – mit dem ganzen Leben (vgl. 3,14-21). Weil Jesus auf Leben und Tod mit der Rolle als jüdischer Prophet verwachsen ist, begründet er die Anbetung Gottes in Geist und Wahrheit, die der Gottesdienst aller wahren Gotteskinder ist. Als jüdischer Prophet ist Jesus der Retter der Welt; und Retter der Welt kann Jesus nur als jüdischer Prophet sein, als der Messias (7,40f) (31f).

 

(3) Josephs Sohn aus Nazareth als Messias aus Davids Geschlecht:Die Messianität des Juden Jesus ist das zentrale Thema der Diskussion, die er nach Joh 7 – 8 beim Laubhüttenfest in Jerusalem führt. Johannes schildert, wie es im jüdischen Volk (7,15.20.25ff.31.35.40-42), aber auch im Hohen Rat (7,45-52) zu einer Spaltung kommt, bevor Jesus dann gegenüber den Pharisäern (8,12-20), den 'Juden' (8,21-29) und seinen potentiellen Anhängern (8,30-59) endgültige Klarheit schafft. Positive und negative Urteile über Jesus, hoffnungsvolles Fragen und entschiedene Ablehnung stehen einander gegenüber. Streitpunkt ist durchgehend der messianische Anspruch, den Jesus erhebt (32).

Was im Urteil vieler Juden für Jesus spricht, sind die Zeichen, die er tut (7,31) und die Worte, die er spricht (7,40; vgl. 7,26.46). Ebenso deutlich werden in Joh 7 auch die Argumente, die aus jüdischer Sicht gegen Jesu Messinität sprechen. Das Grundmotiv: Es ist die natürliche Abkunft, es ist sein geschichtliches Menschsein (vgl. 5,18; 10,33). Es ist auch sein gelebtes Judentum, das dem Anspruch Jesu zu widersprechen scheint, er sei der Prophet, der die Lehre Gottes selbst verbreitet (7,16) und der Messias, der Gesandte Gottes (7,28f), der das ewige Leben bringt (7,38f). Der innere Monolog 'einiger Jerusalemer', die rätseln, weshalb ihre Mächtigen Jesus nicht arretieren, gipfelt in dem Urteil: „Von diesem wissen wir, woher er ist. Der Christus aber – wenn er kommt, weiß niemand, woher er ist“ (7,27). „Kommt denn der Messias aus Galliläa? Hat die Schrift nicht gesagt: Der Messias kommt aus dem Geschlecht Davids und aus dem Dorf Bethlehem, wo David lebte“ (7,41bf)? (32f)

Die Unbekanntheit des bekannten Jesus: Joh 7,27 ist ein 'Dogma' biblischer Messianologie. Die Skeptiker unter seinem jüdischen Publikum wissen, wer Jesus ist: der Mann aus Nazareth. Das Wissen um seine geschichtliche Herkunft wird ihnen von Jesus bestätigt (7,28): „Ich bin nicht von mir selbst gekommen, sondern es ist wahrhaftig der, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt“. Das Problem der Skeptiker besteht darin, dass sie glauben, die ihnen bekannte familiäre Abstammung Jesu spreche gegen seine Messianität (vgl. 6,42). Johannes zufolge gilt es gerade umgekehrt, den messianischen Gottessohn als den Juden Jesus zu erkennen, dessen Herkommen bekannt ist. Indem die Skeptiker mit ihren richtigen Bemerkungen zur Bekanntheit der Herkunft Jesu und zur Unbekanntheit der Herkunft des Messias den christlogischen Anspruch Jesu ablehnen, bestätigen sie ihn. Sie wissen, woher Jesus stammt; sie wissen, dass die Herkunft des Messias niemand kennt, weil er von Gott kommt. Aber sie wissen nicht, dass Jesus von Gott stammt und deshalb als ihr Bekannter der unbekannte Messias ist. Sie wissen es nicht, weil sie Jesus auf seine geschichtliche Herkunft festlegen und deshalb das Geheimnis seines Ursprungs in Gott nicht wahrhaben wollen. „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (1,26). Das 'mitten unter euch' signalisiert die Zugehörigkeit des Juden Jesus zum jüdischen Volk. Das 'ihr kennt nicht' signalisiert die Wahrheit seines Anspruchs, der verkannt wird, weil er alles sagt, was es von Gott zu sagen gibt (33f). 

Das Kommen des Davidssohns aus Nazareth: Jesus kommt aus Nazareth in Galiläa. Damit kommt er als Messias nicht in Betracht, denn der „Messias kommt aus dem Geschlecht Davids und aus dem Dorf Bethlehem, wo David lebte“ (7,41f; vgl Mi 5). Die „unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35) ist der Kernsatz john Bibel-Hermeneutik. Erstens: Der Messias kommt aus Bethlehem; er ist der Davidssohn (vgl. 2 Sam 7; 1 Sam 20,6; Ps 89,4f). Nazareth wird in der Schrift nicht erwähnt – also kann aus Nazareth, wie Nathanael denkt, nichts Gutes kommen (1,46). 

Zweitens: Jesus kommt aus Nazareth (1,46). Galiläa ist seine Heimat (4,44). Sein Vater ist Joseph (1,45; 6,42). Das ist ein historisches und ein theologisches Faktum. Johannes baut den Widerspruch auf, um ihn christlogisch auszuwerten. „Kein Prophet hat Ehre in seiner Vaterstadt“ (4,44). Indem Jesus als Nazarethaner wirkt, geht er den Weg des Leidens, den jeder wahre Prophet im sündigen Gottesvolk gehen muss (Neh 9,26), um Gott die größere Ehre zu geben und allein darin seine eigene Ehre zu finden. Gleichzeitig provoziert dieses Auftreten Jesu als Sohn des Joseph aus Nazareth in Galiläa die Frage, wer der wahre Vater Jesu ist. Dies geschieht, wie es dem john Krisismotiv entspricht, gerade durch die Aufdeckung und Überwindung des Widerspruchs gegen die konkrete Form des Offenbarungshandelns Gottes. In Jerusalem halten (unmittelbar im Anschluss an die Diskussion von Joh 7) kritische Pharisäer Jesus entgegen: „Wer ist dein Vater“ (8,19), um dadurch den Anspruch Jesu zu durchkreuzen, der wahre Zeuge Gottes zu sein. In Galiläa wird Jesus zuvor schon von den Menschen, denen er die Brote vermehrt hatte, mit der kritischen Rückfrage konfrontiert: „Ist das nicht Jesus der Sohn Josephs? Kennen wir nicht seinen Vater und seine Mutter“(6,42), um seinen Anspruch, das wahre Lebensbrot zu sein, abzulehnen. Es gilt zu erkennen, dass der eingeborene Sohn Gottes als Sohn des Joseph und der Maria wahrhaft Mensch geworden ist (35f).

Daraus folgt: Die Ablehnung Jesu als Nazarethaner, die mit Berufung auf die Messiashoffnung der Schrift geschieht, weist ihn gerade als den wahren Propheten und den unbekannten Christus aus – und gibt den Blick frei auf die Passion. Der Prophet kann nicht aus Galiläa kommen – aber das gilt es gerade als Argument für die Messianität Jesu zu erkennen, weil er von Gott kommt und durch den Widerspruch der Menschen hindurch den Weg des Leidens bis ans Kreuz geht.

Sichtbar wird dies denen, die dem Berufungswort Jesu folgen: Wer kommt und sieht (1,39), kann die Wahrheit Jesu erkennen, weil er wahrnehmen kann, wo Jesus 'wohnt' – nämlich (bis seine Stunde des Hinübergangs zum Vater 13,1f gekommen ist) bei den 'Seinen' in Israel. Jesu geschichtliche Identität als Jude aus Nazareth i s t in der Logik der Inkarnation seine theologische Identität als Messias Gottes – wie es Philippus zur Sprache bringt, wenn er zu Nathanael sagt: „Den Mose im Gesetz und die Propheten beschrieben haben, den haben wir gefunden: Jesus, den Sohn des Joseph aus Nazareth“(1,45). Der Gottessohn, der als Lamm Gottes die Sünde der Welt wegträgt (1,29,36), kann nur als „Sohn des Joseph aus Nazareth“ gefunden werden; denn dies ist die geschichtliche Rolle, die ihm um seiner Sendung willen in Fleisch und Blut übergegangen ist. Weil er den Menschen Gott offenbart, ist er dieser Mensch aus Fleisch und Blut geworden (1,4). Er wahrt sein messianisches Incognito, indem er als einfacher Jude lebt. Er schafft dadurch die Voraussetzung für die messianische Offenbarung, um die menschlichen Widersprüche gegen das Heilshandeln Gottes aufzudecken und sie an ihrer Wurzel zu überwinden: der Anerkennung der Ehre Gottes. Damit führt sein Weg in die Passion. Sein Tod am Kreuz ist die Vollendung seines Werkes (36). 

 

(4) Der Gekreuzigte als König von Israel :Die Sinnlinien des Judentums und der Messianität Jesu verknoten sich im Pilatus-Prozess. Schon in der ersten Verhörszene (18,33-38a) wird der Titel 'König der Juden' eingeführt, der zum Leitmotiv der gesamten Passionsgeschichte wird. 

Das Königtum Jesu knüpft zum einen an die atl und frühjüdischen Traditionen an, dass der Messias als neuer König aus dem Geschlecht Davids auftritt, um der Herrschaft Gottes zum Sieg zu verhelfen. Johannes hat in Joh 7 auf seine Weise bei seiner Schilderung des Einzugs Jesu in Jerusalem die Melodie auf den Grundton der sacharjanischen Friedenstheologie gestimmt (12,12-19; vgl Sach 9,9). Im Pilatus-Prozess nutzt er die Dissonanzen der Anklage, Verspottung und Verurteilung Jesu aus, um den leidenden Gerechten als den wahren König Israels zu präsentieren: „Seht den Menschen“ (19,5) – „Seht euren König“ (19,15). Der Vierte Evangelist nutzt das Königsmotiv, um die Passion Jesu als Vollendung seines Heilswerks darzustellen und dieses Heilswerk, die Offenbarung Gottes, auf die Leidesgeschichte des Menschen Jesus zurückzubeziehen, die in der john Logik des Prologs angelegt ist (36f). 

Zum anderen wirft das Königs-Motiv die Macht-Frage auf, die im Verhältnis zwischen Juden und Römern besonders sensibel ist nach der Niederschlagung des jüdischen Aufstandes. Angst um seine Macht wird Pilatus schließlich zur Verurteilung führen (19,12-16a). Umgekehrt nimmt Jesus für sich in Anspruch, gerade dadurch „König“ zu sein, dass er von der Wahrheit Zeugnis ablegt (18,35); er verhilft der Herrschaft Gottes zum Sieg, indem er bis in den Tod hinein die Wahrheit sagt, damit aber die Autorität der Wahrheit zum Zuge kommen lässt, die in der Offenbarung des Vaters liegt (37). 

Das Judentum Jesu: Das Judesein Jesu gewinnt im Pilatus-Prozess von zwei Seiten aus seine Konturen. Auf der einen Seite wird Jesus als Jude im Gegenüber zum Römer Pilatus porträtiert. Pilatus repräsentiert als Richter den Kaiser; damit repräsentiert er auf seine Weise den Kosmos, der Jesus den Prozess macht, während in Wahrheit Jesus dem Kosmos den Prozess macht. Im Gegenüber zu Pilatus repräsentiert Jesus das leidende, verfolgte, unterworfene Judentum, das von einer Hoffnung und einem Glaubenswissen lebt, dessen Kraft stärker ist als die des römischen Staates, weil sie die Kraft Gottes ist (37). 

Auf der anderen Seite wird Jesus als Jude auch im Gegenüber zu den Juden porträtiert, die ihn anklagen und Pilatus schließlich zum Todesurteil bewegen. Die treibenden Kräfte sind die „Hohenpriester und ihre Diener“ (19,6; vgl 18,28f; 19,15). Anstößig ist, dass sie an zahlreichen Stellen als 'die Juden' erscheinen (18,31.38b, 19,7.12.14). Das geschieht nicht, um pauschal 'die Juden' der Zeit Jesu oder gar aller Generationen zu denunzieren, sondern um zu betonen, dass der Jude Jesus von Mitgliedern seines eigenen Volkes ausgeliefert worden ist, die glauben, als die berufenen Repräsentanten Israels zu handeln und Gott einen Dienst zu erweisen (vgl 16,2). Im Gegenüber zu den Hohenpriestern repräsentiert Jesus den leidenden Gerechten als den wahren Juden, dessen Leiden zu einem Zeugnis für die Wahrheit wird, der Gott selbst Geltung verschaffen wird, um alle Glaubenden zu retten (38). 

 

(5) Auswertung: Erstens: Das Judentum Jesu, das Johannes in seinem Ev imaginiert, ist ein 'orthodoxes' Judentum, das seine Identität aus seinem Wissen um die Einzigkeit Gottes, aus seiner Abrahamskindschaft, aus dem Exodus, aus der Gesetzgebung, aus der Jüngerschaft des Mose, vor allem aus der Heiligen Schrift und auch aus dem Tempel in Jerusalem zieht. Es ist ein Judentum, dessen Herz an der Synagoge und am Tempel hängt, das vor allem von der Prophetie lebt und von der Hoffnung auf den Messias, der als König aus Davids Geschlecht erwartet wird und am deutlichsten im Bild des sacharjanischen Friedensfürsten aufleuchtet (Sach 9,9). Es ist ein Judentum, das von Gott her im Zeichen der Messias-Erwartung den Gegensatz zu den Samaritanern überwindet, ohne ihn zu leugnen (4,31-38) und sich den Griechen öffnet, ohne seine jüdische Identität preiszugeben (12,20-26). Es ist das Judentum derer, die ihren Bruder Jesus als den Sohn Gottes erkannt haben. 

Zweitens: Die Dialektik zwischen der Verwurzelung Jesu in Israel und seiner Heilsbedeutung für die ganze Welt ist ein Grundzug ntl Theologie. Er ist im Grundgeschehen des Todes Jesu von Nazareth 'für die Vielen' angelegt, der durch seine Auferweckung zu eschatologischer Gültigkeit gelangt. Die Herausstellung des Judeseins Jesu ist angewandte Inkarnationschristologie. Dass Jesus Jude ist, erweist sich als essentieller Ausdruck seines Menschseins, an dem nach Johannes die eschatologische Heilsbedeutung Jesu hängt (39f). 

Der Prolog liefert den Schlüssel: Die Erschaffung der Welt, die Gott durch den Logos vornimmt (1,3.10), ist von vornherein auf das ewige Leben angelegt. Deshalb leuchtet durch den Logos das Licht Gottes in der Dunkelheit. Die Reaktion der Menschen aber ist es, die Finsternis mehr zu lieben als das Licht (vgl 3,19). Die Reaktion Gottes darauf ist nicht die Zurückstoßung der Welt in den Tod, sondern das Kommen des Logos, seines eingeborenen Sohnes, als Messias zu den Seinen, d.h. zum Volk Israel (1,10f). Denn Israel ist das Eigentumsvolk Gottes, die Gemeinschaft der Abrahamskinder (8,37). Israel ist die Schrift und durch Mose das Gesetz geschenkt. Israel ist das Volk des Messias aus dem Geschlecht Davids (7,41) (39f). 

Das Heil kommt von den Juden“ (4,22) erweist sich als Kernsatz john Soteriologie. Joh 4,22 verweist nicht nur auf das Judesein Jesu, sondern ordnet es auch in die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel ein, die von Anfang an (1,1-18) durch das Gericht hindurch als Hoffnungsgeschichte für die ganze Welt angelegt ist. Die Betonung des Judeseins Jesu resultiert aus der john Einsicht in die Einzigkeit, die Größe und Herrlichkeit Gottes, in seinen Heilswillen und in die Treue Gottes zu seinen Verheißungen. Weil die john Christologie so hoch ansetzt, betont sie das Judesein Jesu als Ausdruck des geschichtlichen Menschseins (40f). 

Drittens: Das john Potrait Jesu als des Jude gewordenen Gottessohnes zeigt, dass die scharfe und pauschale Kritik an den Juden, die den Glauben an Jesus verweigern, im Sinn des Evangelisten nicht antijüdisch, sondern projüdisch zu deuten ist. Sie ist nicht einfach die Reaktion auf eine Unterdrückung der john Gemeinde durch eine jüdische Majorität in ihrer Umwelt. Dann bliebe die Rede von 'den Juden' Ressentiment, sie wäre theologisch obsolet. Sie gehört aber in das john Krisis-Motiv: dass Jesu Kommen gerade bei den 'Seinen' alle menschlichen Widerstände gegen Gott aufdeckt – zu dem einzigen Zweck, das „Leben in Fülle“ zu bringen. Die Polemik gegen 'die Juden' spiegelt die Zugehörigkeit Jesu zu seinem Volk und den darin begründeten Einsatz seines Lebens zur Rettung aller Menschen. Sie erweist sich als Streit um das wahre Judentum, den Johannes im Interesse Jesu, im Interesse der Juden, im Interesse der Samaritaner und der Griechen nicht verloren gibt. 

Das JohEv antwortet auf die Frage des Nathanael („Was kann aus Nazareth schon Gottes kommen“): Der König von Israel, der Davidssohn, als Retter der Welt, der Jude Jesus als der menschgewordene Gottessohn, der allen Gotteskindern die Wiedergeburt zum ewigen Leben schenkt (1,12f; 3,3ff) (41).


 

5. „Die unauflösbare Schrift“ (Joh. 10,35)

(1) Die john Schrifttheologie
 (2) Die unauflösbare Schrift in der Theologie des vierten Evangeliums

K. Scholtissek (2003)


 

(1) Die johan Schrifttheologie: Die nachösterliche Hermeneutik des Johannesevangeliums

Die john Sehweise erwächst aus einem nachösterlichen pneumatischen 'Sehen' und 'Erkennen'. In dieser nachösterlichen Sehweise wird die Schrift Israels als auf das Christusgeschehen zulaufend interpretiert; sie wird zum vorgängigen Zeugnis für das Heilsgeschehen der Sendung, Erhöhung und Verherrlichung Jesu Christi (166f).

Das Christuszeugnis der Schrift (Joh 5,37-40)

Und der Vater, der mich gesandt hat, jener hat Zeugnis abgelegt für mich. Weder seine Stimme habt ihr jemals gehört, noch habt ihr seine Gestalt gesehen (38) und sein Wort habt ihr nicht bleibend in euch, weil ihr an diesen, den jener gesandt hat, nicht glaubt. (39) Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen ewiges Leben zu haben, aber jene legen Zeugnis ab für mich. (40) Aber ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr (das) Leben habt“.

Joh 5,37-40 rekurriert auf 'die Schriften' als eine von vier Zeugen für Jesus (vgl. den Kontext 5,31-47):

-Johannes der Täufer (5,31-35)

- die 'Werke' Jesu (5,36)

- der 'ihn sendende Vater' (5,36-38) und

-'die Schriften' (5,39f.46f)

Alle vier Größen „legen Zeugnis ab für mich“ (5,32.36.37.39.46). „Die Schriften erforschen“ (vgl. 7,52) in der Annahme, „in ihnen ewiges Leben zu haben“ (5,39), ist in john Sicht dann wertvoll, wenn die christologische Verweisfunktion der Schrift wahrgenommen wird, da es „die Schriften“ sind, „die Zeugnis über mich ablegen“ (5,38d). Geschieht dies jedoch nicht, weil der Glaube an den Gesandten Gottes fehlt (5,38c.40), kann das Schriftstudium nicht fruchtbar sein, d.h. es führt nicht zur Immanenz des Wortes Gottes in den 'Suchenden' (5,38a; 8,31.37) bzw. zum „ewigen Leben“ (5,39bf). Nach 5,38a führt die Glaubensverweigerung gegenüber Jesus dazu, dass „ihr sein Wort nicht in euch habt“ – ein Wort, das vom christologischen Bekenntnis her formuliert ist (vgl. 8,31.37; 15,7). „Das Wort des Vaters“, das sich in den „Schriften“ ausspricht (vgl. das „unauflösbare Wort Gottes“, das zu „den Juden“ gesprochen wurde; 10,35), haben die Gegner Jesu nicht „bleibend in sich“, weil sie dem Gesandten Gottes nicht glauben. Erst der Glaube an Jesus, seine „Aufnahme“ (5,43f), das „Zu-ihm-Kommen“ (5,40 vgl. 1,39; 6,35), führt zur Immanenz des Wortes Gottes (im john Kontext des Logos Gottes vgl. 1,1-18) in den Menschen (167f).

5,39 spricht von der 'Meinung', „ewiges Leben in den Schriften zu haben“. Jesus überführt diese Auffassung durch den Hinweis auf das Zeugnis eben dieser Schriften „für mich“ und auf den Unwillen seiner Hörer, zu ihm zu kommen (5,39f): „(Ewiges) Leben zu haben“ ist nur christologisch möglich. Die Lebens-Suche der Menschen (vgl. 1,35-51; 5,39.44; 6,24-26), die sich zu Recht auf die Schriften richtet, findet ihre Erfüllung erst im Glauben an Jesus, von dem die unauflösbare Schrift (10,35) Zeugnis ablegt. Das Ziel des Studiums der Schriften, „in ihnen ewiges Leben zu finden“ (5,39; vgl. 1,45.48), erfüllt sich dann, wenn erkannt wird, dass diese für den Sohn Zeugnis ablegen, denn allein der Vater und durch ihn der Sohn „hat ewiges Leben in sich“ (5,26; vgl. 1,4; 5,24.42). Ort und Mittler des „Lebens in Fülle“ (10,10) ist allein Jesus, auf den das Zeugnis der Schrift weist (5,45-47) (168).

Die john Schrift-Theologie betont und erkennt Gottes ergangenes Wort an Israel ausdrücklich an (vgl. 2,22; 4,22; 10,35) – mit der Gewissheit, dass dieses ergangene Wort Gottes auf das fleischgewordene Wort Gottes vorausweist, da Gott sich selbst nicht widerspricht. Von daher ist es keineswegs zwingend, den Vorwurf Jesu in 5,37c, seine Gegner hätten die Stimme Gottes niemals gehört, noch seine Gestalt gesehen (auch Dtn 4,11f wendet sich gegen eine unmittelbare Gottesbegegnung; vgl. Joh 1,18), als antijüdisches Programm auszulegen. Auch dem biblisch-jüdischen Theologoumenon der lebensvermittelnden Schrift (vgl. Ps 119,25.40.149; Dtn 30,16-20; 32,47; Spr 4,4; 19,16) wird durch 5,39 nicht widersprochen, die Schrift wird freilich als Christuszeugnis, das solchermaßen zum Leben führt, neu interpretiert. Nur so kann Mose auch zum Zeugen bzw. 'Ankläger' gegen 'die Juden' werden (vgl. 5,45-47). Unglaube gegenüber Mose (vgl. 5,46) und 'Murren' gegen Gott setzen sich fort im Unglauben und Murren 'der Juden' und der Jünger gegenüber Jesus (vgl. 5,46; 6,41.43.61) (169).

Im Sinne des vierten Evangeliums legt die Schrift Zeugnis ab für Christus, in dem allein das wahre Leben zu finden ist – und eben nicht schon in den Schriften selbst (vgl. 5,39c). Bezüglich der john Hermeneutik ist festzuhalten, dass die Schriften auf Christus hin zu lesen und zu befragen sind. Erst durch diese Perspektive kommen die Schriften zu ihrer wahren Entfaltung, da die ihnen zugedachte und die in ihnen liegende Fülle im Zeugnis von Christus ansichtig wird (169).


 

Denn von mir hat Mose geschrieben“ (Joh. 5,46)

5,45: „Meint nicht, dass ich euch anklagen werde beim Vater. Der euch Anklagende ist Mose, auf den ihr gehofft habt. (46) Denn wenn ihr Mose glauben würdet, würdet ihr (auch) mir glauben, denn jener hat von mir geschrieben. (47) Wenn ihr aber seiner Schrift nicht glaubt, wie werdet ihr dann meinen Worten glauben“ ?

Johannes betont die christologische Pointe der Schrift: Nach 5,46 hat Mose in seinem gesamten Werk (1,45), von Jesus Christus 'geschrieben'. Das bis zur Fleischwerdung des Logos verborgene Thema mosaischer Verkündigung ist nach dem Zeugnis des john Jesus in 5,45 er selbst. Wie die christologische Selbstverkündigung Jesu im JohEv insgesamt, so zielt auch die gesamte Schrift auf die soteriologische Christologie, in der und durch die allein der Zugang zum Vater und damit alles Heil begründet ist (vgl. 14,6). Mit dieser christologischen Schriftinterpretation entwindet Jesus seinen Gegnern in der Kontroverse eines ihrer Hauptargumente: Die Schrift (bzw. das 'Gesetz') , die fachgerecht und autoritativ auszulegen sie selbst für sich beanspruchen (vgl. 7,15.48f.52; 9,34), spricht nicht für, sondern gegen sie. Johannes formuliert das pragmatische Ziel seines Evangeliums: „der Schrift zu glauben und dem Wort bzw. den Worten Jesu“ (vgl. 2,22; 5,47). Beides, die in der Schrift bezeugte Heilsgeschichte Gottes mit Israel und die Sendung und Verkündigung des Gottessohnes, sieht Johannes in seiner grundsätzlichen Kontinuität (vgl. 1,16; „Gnade um Gnade“ und den Parallelismus in 1,17 eine grundsätzliche Überbietung: „Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“) (170).

Wie Mose in 5,45-47 (vgl. 7,22-24; 9,28f) werden auch Abraham nach 8,56-58 und Jesaja nach 12,41 zu Zeugen der christologischen Fokussierung der Heilsgeschichte im JohEv und damit der christologischen Schriftauslegung. Abraham „jubelte, dass er meinen Tag sehen sollte; und er sah (ihn) und freute sich“ (8,56). Auch Jesaja „sah seine (Jesu Christi) Herrlichkeit“ und hat „von ihm gesprochen“ (12,41; vgl. 12,38-40 und Jes. 53,1; 6,10) (171).

 

Die Geltung der unauflösbaren Schrift (Joh. 10,34-36)

Jesus antwortete ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: Ich habe gesagt: ihr seid Götter (Ps 82,6)? (35) Wenn er jene Götter nannte, zu denen das Wort Gottes erging – und die Schrift kann nicht aufgelöst werden -, (36) (dürft) ihr (dann) sagen zu dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: Du lästerst Gott‘, weil ich gesagt habe: 'Sohn Gottes (bin) ich“

Jesu Wort von der 'unauflösbaren Schrift' (10,35c) steht der john Chronologie folgend inmitten seines letzten Aufenthaltes im Jerusalemer Tempel anlässlich des Tempelweihfestes (vgl 10,22-39). Die auch in den vorausgehenden Streitszenen thematisierte Frage nach der messianischen Identität Jesu wird hier erneut aufgenommen (vgl. 10,24) und durch zwei Spitzensätze der christologischen Selbstoffenbarung Jesu strukturiert und zugespitzt:

Ich und der Vater, wir sind eins“ (10,30) und „… damit ihr erkennt und wisst: Der Vater (ist) in mir und ich (bin) im Vater“ (10,38). Beide Selbstaussagen Jesu erfüllen in den Augen „der Juden“ den Tatbestand der Blasphemie, die mit dem Tod zu bestrafen ist (10,31.33.39; vgl. 5.17f; 7,1.25; 8,20.59). Gegen diesen massiven Vorwurf (in 10,33) wendet sich Jesus mit einem wörtlichen Schriftzitat aus Ps 82,6. Der john Jesus schließt in seiner Entgegnung von der Anrede derer, „an die das Wort Gottes erging“, durch ein von Gott gesprochenes Wort „Ihr seid Götter“! auf die Rechtmäßigkeit seiner Selbstbezeichnung: „Sohn Gottes bin ich“. Damit ist für den john Jesus die Schriftgemäßheit des Gottessohnesprädikats erwiesen, mithin der Vorwurf der Blasphemie gegenstandslos (171f).

In der Schlussfolgerung Jesu (a minori ad maius; vgl. 7,22f) ist die Wendung „und die Schrift kann nicht aufgelöst werden“ (10,35) eingeschaltet (vgl. in 7,23 die ähnliche Formulierung: „damit nicht das Gesetz des Mose aufgelöst wird“). Insgesamt beruft Jesus sich in 10,32-38 einerseits auf „die Werke seines Vaters“ (10,32.37f), andererseits auf das „Gesetz“, die „unauflösbare Schrift“ (10,34-36). Dabei wird die Schriftkontroverse von dem Hinweis Jesu auf seine „Werke“ gerahmt. In dieser Rahmung insistiert Jesus darauf, die „Werke“, die er vollbringt, zum Maßstab für die angemessene Beurteilung seines Hoheitsanspruchs zu machen. Das Zeugnis der Schrift darf als verbindliches „Wort Gottes“ nicht angetastet bzw. entwertet werden. Denen, die das Wort Gottes empfangen haben (10,35b; vgl. das passivum divinum in 1,17a), gilt die (hier als Erwählung interpretierte) Zusage aus Ps 82,6. In 10,35b bekennt sich Jesus zu dem an Israel ergangenen Wort Gottes, dessen Verbindlichkeit allen Auslegern vorgegeben ist und bleibt. Dieses von Israel empfangene „Wort Gottes“ kann nach john Verständnis nur dann in seiner inneren Dynamik bewahrt und ausgelegt werden, wenn Gottes endzeitliche Offenbarung in den „Werken“ und der Sendung Jesu, dem inkarnierten Logos (vgl 1,1-18), wahr- und angenommen wird. Die Einheit des Sprechens, Erwählens und Handelns Gottes wird durch die Verwendung von Logos als christologischem Hoheitstitel in 1,1-18 und von absolut verwendetem 'Wort Gottes', das in „der Schrift“ aufbewahrt ist (10,35), festgehalten (172f).


 

(2) Die unauflösbare Schrift in der Theologie des vierten Evangeliums: Die dem JohEv eigene nachösterliche Sehweise interpretiert die Schrift als auf das Christusgeschehen zulaufend. So werden die Schriften Israels zum vorgängigen Zeugnis für das Heilsgeschehen der Sendung, Erhöhung und Verherrlichung Jesu Christi. Die Grundfigur der christologischen Fokussierung der Schriften Israels im JohEv behauptet den einen Logos Gottes als Zielpunkt und Offenbarungsmitte der gesamten Heilsgeschichte. Dazu wird die Geschichte Israels in ihrem Offenbarungsanspruch gegenüber den Synoptikern grundsätzlich als authentisch und gültig vorausgesetzt. Die hohe, gegenüber den Synoptikern vorangetriebene christologische Konzentration des JohEv führt jedoch nicht zu einer 'Entwirklichung' der Heilsgeschichte ante Christum natum. Das JohEv rechnet mit einer Zielführung des offenbarenden und sammelnden Wirkens Gottes: Die Offenbarung Gottes in der Geschichte Israels findet in Jesus Christus ihren erfüllenden Zielpunkt (vgl. 10,10) (174).

Diese christologische Fokussierung des JohEv ist zugleich Stärke und Schwäche: Sie dient der Durchdringung und Erschließung des in Jesus Christus geschenkten Heils. Zugleich wird sie aber in ihrer christlichen Binnenperspektive und der polemischen Verteidigung des christlichen Glaubens den jüdischen Gesprächspartnern, die diesen Glauben zurückweisen in ihrem eigenen Selbstverständnis nur unzureichend gerecht. Das JohEv zielt darauf, den Glauben der Glaubenden zu wecken, also innerchristliche Überzeugungskraft des Evangeliums leuchtend vor Augen zu stellen. Juden und Christen sind gemeinsam und doch unterscheidend an die Schriften Israels gebunden. An der Schrift als gemeinsamer Grundlage entfalten sich Argumentation, Selbstdefinition und auch Separation (174f).

Das JohEv betreibt seine neue Interpretation der Schrift aus der ihm eigenen nachösterlichen Sehweise. Als neuer 'Referent' einzelner Schriftworte wird das Christusereignis eingeführt. In der Analyse und Interpretation der john Schriftzitate und –anspielungen lässt sich eine differenzierte Matrix von typologischen Auslegungen erkennen, die auf drei Voraussetzungen ruht:

- der Geltung der Heilsgeschichte Israels,

- der eschatologischen Offenbarung des Gottes Israels in Jesus Christus und

- der Einheit des Heilshandelns Gottes.

Im JohEv ist nicht die Autorität des Schriftzeugnisses umstritten, nicht die in der Schrift bezeugte Heilsoffenbarung Gottes, nicht das unverrückbare 'zuerst' der Berufung und Erwählung Israels (vgl. 1,31; 4,22; 10,35), sondern die Frage, ob der Gott Israels in der Sendung Jesu Christi eschatologisch verbindlich gehandelt hat oder nicht, und ob im Glauben an diese endzeitliche Herrlichkeitsoffenbarung Gottes die Schrift neu gelesen und verstanden werden darf (und muss) (175f).

Die umfangreiche Schriftrezeption im JohEv verdankt sich dem Bemühen, das Christusereignis nicht zu isolieren und abzukoppeln, sondern es einzuschreiben und zu deuten im Horizont der biblischen Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem erwählten Volk. In diesem Sinn thematisiert das JohEv die Sendung Jesu zum Gottesvolk Israel (vgl. 11,11 – 13,31) und reflektiert die dramatische Ablehnung dessen, der obwohl er „in sein Eigentum kommt“, „von den Eigenen nicht aufgenommen wird“ (1,11-13). Gegenüber der Sendung Jesu betont das JohEv eine Kontinuität in der Ablehnung, eine Glaubensverweigerung auf der ganzen Linie: die Zeugnisse des Täufers, die Werke Jesu, des Vaters und der Schrift werden unisono abgewiesen (vgl. 5,31-47). Die Schriftgelehrten als Opponenten Jesu erweisen sich in der john Darstellung als schlechte Vertreter ihres Faches: Als wahrer „Lehrer Israels“ (vgl. 3,10) erweist sich der john Jesus, der immer wieder neu zeigt, das seine Verkündigung schriftgemäß, schriftverheißen und schriftvollendend ist (176).

Die Schriftauslegung und –theologie des JohEv bleibt mit einem eigenen, profilierten Beitrag anschlussfähig an die (in der neueren gesamtbibeltheologischen Diskussion angezielte) 'kanonische Dialogizität' der beiden Testamente, die die eigene vorgängige Autorität der Schrift Israels neu gewichtet. Die im JohEv reklamierte und festgehaltene Einheit des Offenbarungswortes Gottes stellt die Heilige Schrift Israels und das JohEv in eine 'spannungsvolle' Einheit aus gegenseitiger Verwiesenheit und befindet sich damit in der Mitte des ntl Kanons (177).


 

6. Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons

(1) Das Neue Testament als Kriterium der kanonischen Geltung des Alten Testaments
 (2) Schrift, Sprache, Monotheismus
 (3) Die Sprache der Christusverkündigung

A.H.J. Gunneweg

(1) Das Neue Testament als Kriterium der kanonischen Geltung des Alten Testaments

Ist die Religion des ATs nicht als Fremdreligion zu betrachten, so ist sie immerhin vor-christlich und – ohne Christus – unchristlich. Über Geltung und Nichtgeltung kann nur vom Christlichen her, also auf Grund und anhand des NTs entschieden werden. Von daher wird deutlich, dass die Suche nach einer theologischen Mitte des ATs aussichtslos ist, weil in einer so verschiedenartigen und vielgestaltigen Literatursammlung kaum eine Mitte zu erwarten ist. Eine solche Suche ist theologisch verfehlt, weil sie beim AT statt beim NT ansetzt. Nur anhand eines christlichen Kriteriums kann entschieden werden, was christlich ist und als christlich Gültigkeit beanspruchen kann (184f).

Ob die Bannung von im heiligen Jahwekrieg gefangen Feinden oder ein Gebet um Rache wie Ps 109 oder das Vergeltungsdogma (Chronik) mit dem christlichen Ethos der Bergpredigt übereinstimmt, ist nicht eine Frage des Glaubens. Diese Unterschiede kann jeder beobachten und aus diesen Beobachtungen die Folgerung der Unvereinbarkeit ziehen (185).

Ist der Gott, der Josua und den Israeliten in blutigen Schlachten voran marschiert, der die Feinde zu „bannen“ befiehlt, der Gott Jesu Christi? Es hieße das AT auf ein einziges Gottesbild (Hos 2,21f;  11,8f;  Jes 66,13) festlegen, wollte man überhaupt von dem Gott des ATs sprechen. Dieser Gott hat viele Namen und so unterschiedliche Eigenschaften, dass die Rede von dem Gott des ATs in der Gefahr steht, zu einer Leerformel zu werden. Die Rede von dem Gott des ATs, der der Vater Jesu Christi sei, überspringt das hermeneutische Problem und setzt voraus, was erst noch begründet werden muss. Die Begründung kann nur vom NT her erfolgen. Diesen Maßstab an das AT anlegen heißt nicht, dass AT christlich auszulegen. Was nicht chrislich ist, kann auch nicht christlich ausgelegt werden. Christliche Auslegung dessen, was nicht christlich ist, ist falsche Auslegung. Rechte Auslegung ist bemüht, das AT sein eigenes Wort sagen zu lassen (186).

Das NT ist der Maßstab für die Kanonizität des ATs. Eine für alle Teile gleichermaßen gültige Entscheidung über die christliche Kanonizität des alt Kanonteiles kann nicht getroffen werden. Allein eine differenzierende Sicht entspricht der Uneinheitlichkeit, der Vielgestaltigkeit, dem Reichtum sowohl als auch der mehrdeutigen Ambivalenz der im AT gesammelten Schriften. Eine gesamtbiblische Theologie kann als christliche nur vom NT her entworfen werden (186f).

 

(2) Schrift, Sprache, Monotheismus:Der Vielgestaltigkeit und Ambivalenz der im AT enthaltenen Schriften entspricht es, dass sie im NT immer schon nach dem Auswahlprinzip des Christlichen herangezogen werden. Wenn nur von Fall zu Fall und von Text zu Text über die christliche Geltung entschieden werden kann, so entspricht dieses Vorgehen der Art und Weise, wie schon im NT mit dem AT umgegangen wird. Das in die griechische Sprache der Ökumene übertragene AT liefert die Sprachmittel für die Verkündigung des Christusgeschehens. Die christliche Verkündigung schafft sich selbst eine neue Sprache, die der eschatologischen Neuheit des Christusgeschehens würdig ist, aber sie tut das, indem sie auf die Sprache des ATs zurückgreift. Darin, dass die Anfangsverkündigung von Jesus Christus diese Sprache aufgriff und in diese Sprache einging, liegt die Kanonizität atl Texte begründet (187f).

Die Kirche übernahm eine Sammlung von Schriften. Für diese Sammlung war der Monotheismus eine Selbstverständlichkeit. Die Beibehaltung der Schrift bedeutet Wahrung des Monotheismus und der Geschöpflichkeit von Welt und Mensch. Die Verkündigung des in Jesus Christus erschienenen Heils predigt dies Ereignis als Handeln des einen Gottes, den das AT meint, wenn es von dem Schöpfer und Herrn Israels und der Welt spricht. Das Christusereignis stellt diesen Gott des ATs nicht in Frage. Es wird als sein endgültiges Werk verkündigt. Als endgültige Tat Gottes stellt es alles andere Wirken desselben Gottes in den Schatten. Im Licht der Christusoffenbarung kann auch fragwürdig werden, ob alle im AT Gott zugeschriebenen Taten und Eigenschaften wirklich göttliches Handeln und göttliche Wesensart waren. Auch Kritik nach dem Kriterium des Christlichen und gemäß der Bergpredigt-Antithese („Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist, ich aber sage euch“!) stellt nicht den konkreten Monotheismus in Frage. Die christliche Verkündigung verstand sich darum auch nie anders denn als Predigt vom Handeln des einen Gottes, außer dem kein Gott ist (190f).

Wo das AT zitiert wird, ist aus Jahwe der Kyrios geworden. Kyrios ist aber auch Jesus Christus (1Kor 12,3;  Phil 2,11) und ursprünglich auf Jahwe bezogene Aussagen gelten nunmehr von Jesus Christus: im Anschluss an Jes 45,3, wo vom Herrsein Jahwes gesprochen wird, heißt es nun im Christushymnus von Phil 2,10f, dass alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Kyrios sei (Röm 10,12;  1Kor 1,2;  Apg 2,36). Gott der Herr und sein endzeitlicher Heilbringer Jesus Christus als Herr gehören so eng zusammen, dass beide denselben Hoheitstitel tragen können (Mt 11,25;  Lk 10,21;  Mt 9,38;  1Tim 6,14f;  Apg 17,24 2,36), weil Gott der Herr dem Herrn Christus alle Macht auf Erden gegeben hat (Mt 28,18;  1Kor 15,28) (191f).

 

(3) Die Sprache der Christusverkündigung: Kritik des sog. Weissagungsbeweises

Die Art und Weise, wie prophetische und quasi-prophetische Stellen als messianische Weissagungen zitiert werden, ist heute nicht mehr möglich. Die jungfräuliche Geburt Jesu wird mit Jes 7,14 belegt (Mt 1,23), der Kindermord in Bethlehem mit Jer 31,15 (Mt 2,17f), Jesu Heilungswunder mit Jes 53,4 (Mt 8,17), die dreißig Silberlinge des Judas mit Sach 11,12f (Mt 27,9). In allen diesen Fällen gewinnen die ntl Schriftsteller nicht neue Erkenntnisse aus den atl Texten, sondern sie lesen aus ihnen heraus bzw. in sie hinein, was sie schon wissen. Diese Methode, Weissagung zu finden, gibt den atl Text der Willkür preis (175f).

Gilt die Schrift als das Zeugnis von dem einen Gott, dem Schöpfer und Erlöser, so musste sie auch von dem Christusgeschehen Zeugnis ablegen, und darum musste Christus die Schrift erfüllen. Die Schrift legt dieses Christuszeugnis ab, indem sie mit der Sprache die sprachlich geformten Inhalte liefert, mit deren Hilfe das Christuszeugnis nunmehr formuliert wird. Darum wird der Christus aus einer Jungfrau (Js 7,14;  Mt 1,23;  Lk 1,35) geboren. Er erblickt das Licht der Welt in Bethlehem (Mi 5,1;  Mt 2,1;  Lk 2,4) und muss nach Ägypten (Hos 11,1;  Mt 2,15.18) fliehen, damit die Weissagung erfüllt werde, dass Gott seinen Sohn aus Ägypten gerufen habe (Mt 1,23;  2,1;  Lk 2,1-7;  Mt 2,15.18;  Jes 7,14;  Mi 5,1;  Hos 11,1;  Jer 31,15). Er selbst verkündet bei seiner Antrittspredigt in Nazareth, dass in ihm die Schrift sich erfüllt habe (Lk 4,16-21). Zu seiner grundlegenden Predigt besteigt er wie Mose, dessen Gesetz er erfüllt und überbietet, einen Berg (Mt 5,1). Die Leidensgeschichte Jesu ist mit Hilfe atl Zitate gestaltet. Jesus zieht gemäß Sach 9,9 in Jerusalem ein, auf zwei Reittieren reitend, weil es der Prophet so geweissagt haben soll (Mt 21,4). Judas verrät ihn um dreißig Silberlinge, weil das Sach 11,12f geschrieben steht (Mt 27,3-9). Ansonsten folgt die Darstellung dem Detail von Ps 22. Sie will dartun, dass und wie bis in Einzelheiten hinein die Schrift erfüllt wurde (196f).

Die Unmöglichkeit solchen Schriftgebrauchs ist heute einhellig. Das Christusgeschehen wird erzählerisch so dargestellt, dass es als Erfüllung der Schrift gelten kann: Die Darstellung lässt den Christus als Davidssohn und Messias in Bethlehem aus einer Jungfrau geboren werden, nach Ägypten fliehen, wo er sich gewiss nie aufgehalten hat; lässt ihn auf zwei Lasttieren auf einmal reiten, damit sein Geschick sich als schriftgemäß erweise. Solcher Weissagungsbeweis ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Eine Historiographie, die mit solchen Mitteln eine Vita Jesu darstellen will, ist noch weniger akzeptabel. Aber geht es hier um eine Vita des historischen Jesus? In Gestalt einer Leben-Jesu-Darstellung ergeht Christusverkündigung, die darum als Christusverkündigung gelesen und verkündigt werden soll. Diese Christusverkündigung ergeht in der Sprache, die das AT als das Zeugnis von dem einen und einzigen Gott bereitstellte, und die in die Christusverkündigung des NTs einging. Verkündigung und Glaube sind und bleiben (sola scriptura) gebunden an das Ursprungszeugnis des NTs. Dies spricht weitgehend die Sprache der alten Schrift und setzt deren Geltung als Zeugnis von dem einen und selbigen Gott voraus (197f).

L.M.: Die Sprache der Christusverkündigung muss kulturbedingt zwangsläufig verschieden sein. Ein mess. Jude wird auf Jesu Frage: "Für wen haltet ihr mich?" nicht in der griechisch philosophischen Sprache der Trinitätslehre antworten. Das ist auch nicht meine Sprache. Die Sprache der Christusverkündigung kann man nicht diktieren. Die allen Jüngern Jesu gemeinsame 'Sprache' ist der Lebenswandel in der Nachfolge Jesu.







B. Der Ausschluss der Christen aus der Synagoge


 

W. Schmithals

Der Vorgang

Das Judentum hatte sich im hellenistischen Zeitalter in erheblichem Maß äußeren Einflüssen geöffnet. Dadurch entstanden u.a. auf dem linken Flügel die verschiedenen Ausprägungen des hellenistischen Diasporajudentums. Zahlreiche unbeschnittene Heiden hatten sich als Gottesfürchtige diesen Synagogen angeschlossen, sofern in ihnen der liberale Grundsatz galt: “Beschneidung ist nichts und Unbeschnittensein ist nichts, sondern das Halten der Gebote Gottes“ (1Kor 7,19) (169f).

Das alle Juden Verbindende war die Verehrung des einen Gottes der Väter. Deshalb waren die Juden schon seit Cäsar (59 v.Chr.) von der Teilnahme am Herrscherkult befreit und es wurde ihnen zugestanden, stattdessen täglich im Tempel zu Jerusalem zwei Opfer für den Kaiser darzubringen. Die Tempelsteuer, die alle Juden vom 20. Lebensjahr an und auch die Gottesfürchtigen entrichteten, befreite von der Pflicht, am Kaiserkult teilzunehmen. Dadurch wurde die Zahlung der Tempelsteuer, von der die Kosten für die genannten Opfer in Jerusalem bezahlt wurden, zum Ausweis der Zugehörigkeit zum Judentum. Die Grenze der inneren Toleranz wurde für das Judentum erst dann überschritten, wenn man die jüdische Exklusivität bestritt, also das Judentum als solches preisgab. Dies bekamen die Hellenisten um Stephanus zu spüren, für die es wie für Paulus “in Christus“weder Jude noch Grieche gab (170f).

Die Folgen

Mit dem Ausschluss aus der Synagoge verloren die Judenchristen das Privileg, vom Kaiseropfer befreit zu sein. Damit begann die Verfolgungszeit. Die heidenchristlichen Gemeinden hatten schon zuvor auf dieses Privileg verzichten müssen. Diese Gemeinden waren klein, nicht sehr zahlreich, loyal (Röm 13,1-7) und politisch unauffällig. Es bestand kein Grund für Rom, friedliche Bürger und gute Steuerzahler unter Druck zu setzen. Auch die aus der Synagoge ausgeschlossenen Judenchristen würden die Aufmerksamkeit der Behörden nicht auf sich gezogen haben, wären sie nicht von Seiten der Synagoge denunziert worden (172).

Die Synagoge hatte ein vitales Interesse daran, sich von diesen ihren ehemaligen Angehörigen öffentlich zu distanzieren, bei denen es sich in der Optik der Außenstehenden weiterhin um Juden und Judengenossen handelte. Als solche mussten sie die Synagoge in den Verdacht der Illoyalität bringen, weil sie, ohne weiterhin dazu befugt zu sein, das Kaiseropfer verweigerten. Die Verfluchung der Minim im Achtzehngebet war auch ein demonstrativer politischer Akt der Synagoge gewesen. Es ist vielfach bezeugt, dass die Christenverfolgungen in der frühen Zeit von der Synagoge ausgingen. Es wäre unverständlich, hätten die jüdischen Gemeinden in der Diaspora nicht alle Mittel ausgeschöpft, um sich von den Christen zu distanzieren, die unter der Etikette 'Israel' eine ernste Gefährdung der Rechtsbasis der jüdischen Gemeinden heraufbeschwören konnten (172f).

Lukas stellt – die Situation seiner eigenen Zeit vor Augen – die Juden als Ankläger der Christen dar (Apg 13,50; 14,2.5.19; 17,5-9; 18,12-17) und er appelliert an die Obrigkeit, den jüdischen Verleumdungen keinen Glauben zu schenken (Apg 23,25ff; 24,1ff; 25,7f u.ö.) (173f).

  1. Der Synagogenausschluss im Johannes-Evangelium

  2.  “ in der Spruchüberlieferung Q

  3.  “ im Hebräerbrief

  4.  “ im Mt-Evangelium


 

1. Der Synagogenausschluss im Joh Evangelium

Rückprojektion der Gemeindesituation um 85 n. Chr. in das Leben Jesu


 

(1) Das distanzierte Verhältnis der john Gemeinde zum Judentum
 (2) Der Ausschluss aus der Synagoge als gegenwärtiges Problem der Gemeinde
 (3) Die Folgen des Ausschlusses
 (4) Die theologische Begründung des Ausschlusses der Christen
 (5) Zusammenfassung
 (6) Die Funktion der christologischen Hoheitsaussagen im Joh Ev
 (7) Das Gebot, einander zu lieben
 (8) Gottes Liebe zur Welt (Joh 3,16)

K. Wengst

(1) Das distanzierte Verhältnis der john Gemeinde zum Judentum: Die Schriften, Mose und das Gesetz sind (Juden)christen und Juden gemeinsam, aber ihre Deutung ist heftig umstritten. “Es ist einer, der euch verklagt: Mose, auf den ihr hofft. Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir, denn er hat von mir geschrieben“ (5,45f) (46).

Obwohl Jesus selbst Jude ist, spricht er doch von 'eurem Gesetz' (8,17; 10,34; 15,25), als wäre er kein Jude und nennt die Wüstengeneration 'eure Väter' (6,49). Das 'Passa der Juden' (2,13; 11,55; 6,4), das 'Fest der Juden' (5,1), die 'Reinigung der Juden' (2,6): Das Judentum erscheint als eine abgegrenzte Gemeinschaft gegenüber Jesus und der an Jesus glaubenden Gemeinde (46f).

Es muss von Feindschaft gesprochen werden: “Der Vater, der mich gesandt hat, hat von mir Zeugnis gegeben. Ihr habt niemals seine Stimme gehört noch seine Gestalt gesehen und sein Wort habt ihr nicht in euch wohnen, denn ihr glaubt dem nicht, den er gesandt hat“ (5,37f). “Ihr kennt weder mich noch meinen Vater. Wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr auch meinen Vater“ (5,37f; 8,19.55). “Ihr seid von unten her, ich bin von oben her. Ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt“ (8,23). “Ihr habt den Teufel zum Vater und nach eures Vaters Gelüste wollt ihr tun. Der ist ein Mörder von Anfang an und steht nicht in der Wahrheit, denn die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er Lügen redet, so spricht er aus dem Eigenen, denn er ist ein Lügner und der Vater der Lüge“ (8,44) (47).

Der john Jesus meint mit seinem Vater keinen anderen Gott als den Gott der Juden, er bringt keinen neuen Gott. Daran wird festgehalten. Die Abweichung wird durch den christlichen Anspruch markiert, dass dieser Gott in Jesus als seinem Gesandten begegnet und dass er nur in ihm und nicht abgesehen von ihm erkannt wird. Die Feindschaft hat einen aktuellen Grund in Pressionen von seiten des Judentums, die die john Gemeinde fundamental getroffen haben (47).

 

(2) Der Ausschluss aus der Synagoge als gegenwärtiges Problem der Gemeinde

Am Abend des ersten Tages der Woche, als die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie...“ (20,19) Die Jünger sind selbst Juden (48).

Die Eltern des Blindgeborenen antworten den Pharisäern: “Wir wissen nicht, wieso er nun sehend ist und wer ihm seine Augen aufgetan hat. Fragt ihn, er ist alt genug; lasst ihn für sich selbst reden. Das sagten seine Eltern, denn sie fürchteten sich vor den Juden. Denn die Juden hatten sich schon geeinigt: wenn jemand ihn als den Christus bekenne, der solle aus der Synagoge ausgestoßen werden“ (9,20-22). In diesem Kontext werden dieselben Leute zuerst als Pharisäer und dann als Juden bezeichnet und erscheinen als 'Behörde'. Hier tritt ein pharisäisch bestimmtes Judentum in behördlicher Machtstellung auf. Diese 'Behörde' zitiert die Eltern des Geheilten herbei und verhört sie über ihren Sohn. Der Geheilte wird nach seinem indirekten Bekenntnis zu Jesus ausgeschlossen (9,30-34): “Du bist ganz in Sünden geboren und lehrst uns? Und sie stießen ihn hinaus“. Die Juden erscheinen an dieser Stelle als behördliche Macht, die rigoros gegen potentielle Abweichler im eigenen Bereich vorgeht (48f).

Dennoch glaubten auch viele von den Oberen an ihn (Jesus). Aber wegen der Pharisäer bekannten sie es nicht, damit sie nicht aus der Synagoge ausgeschlossen würden“ (12,42). Hier wird den Pharisäern eine Machtstellung zugesprochen, die sie z.Zt. Jesu nicht hatten (49).

Sie werden euch aus der Synagoge ausstoßen“ (16,2). “Das habe ich zu euch gesagt, damit ihr nicht Anstoß nehmt“ (16,1), “Das habe ich euch gesagt, damit, wenn ihre Stunde kommt, ihr euch erinnert, dass ich es euch gesagt habe“ (16,4). Die john Gemeinde sieht sich aufgrund ihres Bekenntnisses zu Jesus Hass ausgesetzt. Der Evangelist versucht sie damit zu trösten, dass die Bedrängnisse schon von Jesus angekündigt und deshalb notwendig sind. Der Grund für das Handeln der Bedränger: “Sie haben nicht den Vater erkannt noch mich“ (16,3) (49f).

Darüber hinaus nennt 16,2 als Steigerung eine zweite Maßnahme: “Es kommt die Stunde, dass jeder, der euch tötet, meint, Gott damit einen Dienst zu erweisen“. Das Töten von Judenchristen erscheint als vermeintlicher Gehorsam gegenüber Gott. Urbild solchen Handelns ist der Eiferer Pinehas (Nm 25,6-13) (50f).

Sind die Juden als eigentliche Vollstrecker gemeint, dann kann es sich nach 70 nur um Akte von Lynchjustiz handeln. Die sind aber nur da möglich, wo sie behördlich toleriert werden (51).

 

(3) Die Folgen des Ausschlusses: Hinter dem Joh Ev steht eine jüdisch-judenchristliche Kontroverse. Als konkreten Hintergrund vermutet man die Einfügung der 'Ketzerverwünschung' in das Achtzehngebet. Das Achtzehngebet ist das jüdische Gebet schlechthin. Es musste dreimal täglich gebetet werden und es war auch Bestandteil der synagogalen Liturgie (53): “Die Nazarener und Minim (Häretiker) mögen plötzlich zugrunde gehen. Sie mögen ausgewischt werden aus dem Buch des Lebens und mit den Gerechten nicht hineingeschrieben werden“. Diese Ketzerverwünschung hat ihren Ort in der Geschichte des Judentums erst, als sich der Pharisäismus nach der Katastrophe der Tempelzerstörung 70 n.Chr. als Orthodoxie etablierte (54).

Die Ketzerverwünschung gehört in den Zusammenhang der Bemühungen des pharisäischen Judentums nach 70, sich als normatives Judentum durchzusetzen und alle anderen jüdischen Gruppen und Richtungen auszuschalten. In diesem Kontext ist die Einfügung der Ketzerverwünschung als ein Mittel zur 'innerjüdischen Frontbegradigung' zu verstehen, das sich gegen alle Juden richtete, die von der vom pharisäischen Rabbinat vorgezeichneten Linie abwichen (55).

Wo die Ketzerverwünschung Bestandteil des Achtzehngebetes war und wo die Judenchristen als Ketzer galten, war es ihnen unmöglich, weiterhin am Synagogengottesdienst teilzunehmen. Diese 'Frontbegradigung' hielt Abweichler fern und stellte Schwankende vor die Entscheidung, entweder ebenfalls fernzubleiben oder durch die Teilnahme am Synagogengottesdienst mit der jetzt zu Ketztern erklärten Gemeinschaft zu brechen (56f).

Die Entwicklung des Judentums nach 70 mit der Herausbildung einer pharisäischen Orthodoxie, die gegen andere Gruppen und Richtungen vorgeht, macht die Darstellung der Juden im Joh Ev verstehbar als Rückprojektion aus dieser Zeit in die Zeit Jesu (57).

Die Brandmarkung der Judenchristen als Ketzer hatte ihren Ausschluss aus der Synagoge zur Folge. Der Ausschluss hatte Auswirkungen auf die ökonomische Basis: Man verkauft nicht an Häretiker, man kauft nicht von ihnen, man macht keine Geschäfte mit ihnen, man lehrt ihre Söhne kein Handwerk. Gegenüber Ketzern wurden wirtschaftliche Boykottmaßnahmen verhängt und ihre Söhne wurden faktisch einem Ausbildungsverbot unterworfen (58).

Die schwerwiegenden sozialen Folgen, die der Ausschluss für die Betroffenen mit sich brachte, hatte seine Wirkung nicht verfehlt: “Viele von den Oberen glaubten an ihn (Jesus), aber wegen der Pharisäer bekannten sie sich nicht, damit sie nicht aus der Synagoge ausgeschlossen würden. Sie liebten nämlich die Ehre der Menschen mehr als die Ehre Gottes“ (12,42f). Die Oberen, Angehörige der führenden und sozial privilegierten Gesellschaftsschicht riskierten, ihren sozialen Status zu verlieren, wenn sie sich offen als Christen bekannten (59).

Das Instrument des Synagogenausschlusses schaffte eine Atmosphäre der Angst, in der Menschen sich scheuten, auch nur indirekt mit dem Christentum in Zusammenhang gebracht zu werden (9,22). Josef von Arimathia war “ein heimlicher Jünger Jesu aus Furcht vor den Juden“ (19,38). Nikodemus “kommt nachts zu Jesus“ (3,1f) (60).

Die antijüdischen Aussagen des Joh Ev sind aus ihrer historischen Situation heraus verstehbar, sie sind zugleich auch von ihr begrenzt (60).

 (4) Die theologische Begründung des Ausschlusses der Christen : Die Herausbildung der pharisäischen Orthodoxie nach 70 erfolgte in der Orientierung am Gesetz: “Wir sind Jünger des Moses. Wir wissen, dass Gott mit Mose geredet hat“ (9,28f). “Wir haben aus dem Gesetz gehört...“ (12,34); “Wir haben ein Gesetz ...“ (19,7) “...das Volk, das nichts vom Gesetz weiß, verflucht ist es“ (7,49). Auf Mose und die Schriften beruft sich auch die john Gemeinde. Für die Christen ist ihre Stellung zum Gesetz entscheidend bestimmt durch ihre Stellung zu Jesus, durch den Anspruch, den sie für ihn erheben. Die gegnerischen Angriffe konzentrieren sich im Joh Ev auf die Behauptung, in Jesus seien die jüdischen Messiaserwartungen erfüllt. Nach 9,22 werden die Judenchristen deshalb aus der Synagoge ausgeschlossen, weil sie Jesus als den Messias proklamieren bzw. sie sich offen zu Jesus bekennen (12,42) (62f).

Jüdische Einwände gegenüber Jesus sind: “Wir haben aus dem Gesetz gehört, dass der Gesalbte ewig bleibt. Wieso sagst du, dass der Menschensohn erhöht werden muss?“ (12,34). Das bezieht sich auf den Ausspruch Jesu: “Wenn ich von der Erde erhöht worden bin, werde ich alle zu mir ziehen“ (12,32). “Das aber sagte er, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde“. Das schmähliche Ende Jesu am Kreuz widerlegt den für ihn erhobenen Anspruch, er sei der Messias (63f).

Nicht nur der Tod Jesu am Kreuz ist ein jüdisches Argument gegen die für Jesus beanspruchte Messianität gewesen, sondern auch dass Jesus von Judas, aus dem engsten Anhängerkreis heraus, verraten worden ist. In 13,18f stellt Jesus zunächst fest, dass er weiß, welche er erwählt hat. Die Wahl des Verräters Judas war kein Missgriff, sondern erfolgte in voller Absicht – zur Erfüllung der Schrift. Der Verrat wird den Jüngern schon im Voraus mitgeteilt, damit sie bei seinem Eintreffen nicht verunsichert werden, sondern glauben (6,64.70f; 13,11). Die Vorhersage als Mittel zur Glaubensstärkung ist verständlich, wenn der Evangelist sich hier auf ein jüdisches Argument gegen die Messianität Jesu bezieht (65f).

Einige sprachen: Dieser ist der Gesalbte. Andere aber sagten: Soll der Christus aus Galiläa kommen? Sagt nicht die Schrift: aus dem Geschlecht Davids und aus dem Ort Bethlehem, wo David war, soll der Christus kommen“ (7,41f)? “Was kann aus Nazareth Gutes kommen“ (1,46)? Den beiden in der Schrift begründeten Kriterien, seine Herkunft aus dem Geschlecht Davids und die Geburt in Bethlehem (Micha 5,1), entspricht Jesus offensichtlich nicht. Von der Bethlehemgeburt Jesu weiß der Evangelist nichts. Statt des Messias wird in 7,52 der Prophet genannt: “Forsche und sieh. Aus Galiläa geht der Prophet nicht hervor“. Diese Erwartung bezieht sich auf die Verheißung eines Propheten wie Mose von Dtn 18,15.18. Sein Auftreten ist mit der Wüste verbunden. Rabbinische Stellen bezeugen die Erwartung, dass der Mose redivivus in der Endzeit 'aus der Wüste' kommt. Jesus erfüllt dieses Kriterium des Auftretens aus der Wüste nicht. Er stammt aus Galiläa und ist auch von dorther aufgetreten (67f).

Von diesem wissen wir, woher er ist. Wenn jedoch der Gesalbte kommt, weiß niemand, woher er ist“ (7,27). Das Motiv von der Verborgenheit des Messias hat im Judentum verschiedene Ausformungen erfahren, nach denen der Messias schon irgendwo unerkannt als gewöhnlicher Mensch lebt, bis Elias kommt und ihn salbt (68f).

Die Herkunft Jesu ist bekannt, nicht aber die des aus himmlischer Verborgenheit am Ende der Zeit in Erscheinung tretenden Messias. Deshalb kann Jesus nicht der Messias sein (70).

Ist das nicht Jesus, der Sohn Josefs, dessen Vater und Mutter wir kennen? Wieso sagt er jetzt: Vom Himmel bin ich herabgestiegen“ (6,42)? An der Herkunft des Sohnes Josefs ist nichts Geheimnisvolles; seine Eltern sind allgemein bekannt. Das führt die in Bezug auf ihn erhobenen Ansprüche ad absurdum (70).

Wieso kennt dieser die Schrift, obwohl er nicht studiert hat“ (7,15)? Vom Messias wird das Studium des Gesetzes und die Unterweisung in ihm erwartet. Jesus ist nicht einmal bei einem Rabbi in die Lehre gegangen. Er verletzt sogar das Gesetz: “Dieser Mensch ist nicht von Gott, denn er hält den Sabbat nicht“ (9,16). Wie sollte er da der Messias sein können (71)?

Um eines guten Werkes willen steinigen wir dich nicht, sondern um der Gotteslästerung willen, denn du bist ein Mensch und machst dich selbst zu Gott“ (10,33). “Darum trachteten die Juden noch viel mehr danach, ihn zu töten, weil er nicht allein den Sabbat brach, sondern auch sagte, Gott sei sein Vater und machte sich selbst zu Gott“ (5,18). Auf Gotteslästerung steht die Todesstrafe. So sagen 'die Juden' zu Pilatus: “Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz muss er sterben, weil er sich zum Sohn Gottes machte“ (19,7). Nicht nur ist der Tod Jesu als solcher ein gravierender Tatbestand, der der behaupteten Messianität widerspricht, sondern die Todesstrafe ist an Jesus auch völlig zu Recht vollzogen worden, weil er ein Gotteslästerer war (71).

Die jüdischen Argumente führten dazu, dass auch Gemeindemitglieder den für Jesus erhobenen Anspruch als ein 'hartes Wort' (6,60) empfanden. Zusammen mit der Maßnahme des Synagogenausschlusses haben diese Argumente offensichtlich zu einer Abfallbewegung geführt: “Von da an wandten sich viele seiner Jünger ab und gingen hinfort nicht mehr mit ihm“ (6,66). Sie geben die Gemeinschaft auf und wenden sich zum Judentum zurück. “Da fragte Jesus die Zwölf: Wollt ihr auch weggehen“ (6,67)? Die Situation der Gemeinde war so, dass ihre Existenz auf dem Spiel stand. In diese Situation hinein lässt der Evangelist Petrus als Sprecher der Zwölf das Bekenntnis sagen: “Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens und wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist“ (6,68f). Das Petrusbekenntnis ist hier ein Beispiel für treues Ausharren bei Jesus angesichts großen Abfalls. Der Evangelist will die Gemeinde zum 'Bleiben' bewegen (72f).

Für eine vorwiegend judenchristliche Gemeinde in einer jüdisch bestimmten Umwelt ist der Ausschluss aus der Synagoge ein ernsthaftes Problem (76).

Als Ursprungsort des Joh Ev wird eine kleine Gemeinde an der Grenze zwischen Syrien und Palästina angenommen, eine Gemeinde, die abseits vom großen Strom der Entwicklung lebte (A 296).

 

(5) Zusammenfassung: Das Joh Ev ist ca. 85 n.Chr. geschrieben. Die john Gemeinde bestand aus verstreuten Minderheiten. In ihr bildeten Judenchristen eine Mehrheit. Diese hatten sich noch nicht vom Synagogenverband gelöst (97).

Eine Loslösung wurde z.Zt. des Joh Ev von seiten des pharisäischen Judentums mit aller Macht betrieben. Dieses Judentum etablierte sich von dem neuen Zentrum Jabne (Jamnia südlich von Joppe) aus als Orthodoxie und versuchte, alle anderen Strömungen und Richtungen als Ketzer hinauszudrängen.

Theologisch wurden von der jüdischen Messiasdogmatik her gegen die Behauptung der Christen, Jesus sei der erwartete Messias, Tatsacheneinwände erhoben, die diese Behauptung als falsch erweisen sollten.

Agitation und Pression der jüdischen Orthodoxie waren erfolgreich. Es kam zu einer Abfallbewegung in der john Gemeinde. In dieser Situation wurde das Joh Ev geschrieben. Der Evangelist wollte seine Leser zum 'Bleiben' veranlassen und ihnen klarmachen, was sie an Jesus haben. Er wollte ihnen Gewissheit darüber verschaffen, dass Jesus der Messias, der Sohn Gottes, ist (20,31) (97).

Die Gemeinde des Joh Ev ist von ihrer Situation her in fundamentaler Weise in Frage gestellt: “Jeder, der euch tötet, wird meinen, Gott damit einen Dienst zu tun“ (16,2). Die bloße Zugehörigkeit zur Gemeinde versetzte in sehr reale Ungesichertheit. Von solcher existentiellen Erfahrung her war es der Gemeinde ungewiss geworden, was sie an Jesus hatte. Die Gegner kehrten die glanzlose Herkunft Jesu und sein schmähliches Ende hervor (99).

Jüdische Einwände gegen die Messianität Jesu waren: Jesus ist der Sohn Josephs und Marias, er war vor seinem öffentlichen Auftreten nicht verborgen, er stammt aus Galiläa, er ist kein Davide und ist nicht in Bethlehem geboren, er wurde aus dem engsten Anhängerkreis heraus verraten und er starb eines elenden Todes. Der Evangelist bestreitet keineswegs diese jüdischen Einwände. Weder macht er Jesus zu einem Daviden, noch lässt er ihn in Bethlehem geboren sein, noch verfällt er auf die Vorstellung der Jungfrauengeburt. Alle genannten Tatsachen werden von ihm anerkannt (100f).

Die Vorstellungen der Davidsohnschaft und der Geburt in Bethlehem sind als Ausdrucksmittel des Glaubens an Jesus zu werten. Vom Glauben her, Jesus sei der in der Schrift verheißene Messias, wurde gefolgert, dass er dann auch selbstverständlich die 'Bedingungen' dieser Messianität erfüllen würde (A 320).

 (6) Die Funktion der christologischen Hoheitsaussagen im Joh Ev: Der Evangelist hält alle in den Einwänden gegen Jesus angeführten Tatsachen für richtig, dennoch behauptet er: Genau der durch diese Tatsachen zutreffend gekennzeichnete Mensch Jesus ist der Messias, der Sohn Gottes in einzigartiger Weise. Um das zum Ausdruck bringen zu können, bedient er sich der Hoheitsaussagen (101).

Dieser Absicht dient bereits der Prolog des Evangeliums. Der Evangelist macht von vornherein unmissverständlich klar, dass es bei der Darstellung der Geschichte Jesu um nichts weniger als um Gott selber geht und dass nur in dieser Geschichte Gott erkennbar wird: “Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort“ (1,1). “Niemand hat Gott je gesehen; der einzigborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt“ (1,18). Diese beiden Verse stellen die Exklusivität der Begegnung Gottes in Jesus heraus. Jesus ist Gottes einziger 'Exeget'. Das wird einer Gemeinde gesagt, die durch ihre schlimmen Erfahrungen dabei war, nicht mehr recht zu begreifen, das in Jesus wirklich Gott gehandelt hat. Der Evangelist gibt der Gemeinde mit dem Prolog die Leseanweisung, dass in Jesu Wort Gott spricht und dass im dort erzählten Schicksal des Menschen Jesus Gott handelt. Damit hält er fest, dass in dem erniedrigten und erhöhten Jesus, den die Verfolger der Gemeinde als schändlich Hingerichteten verspotten, Gott ist (102f).

Vom Prolog spannt sich ein Bogen bis zum Bekenntnis des Thomas: “Mein Herr und mein Gott“(20,28). In der Linie dieses Bogens liegen die christologischen Hoheitsaussagen des Evangeliums, z.B. dass Jesus von Gott gekommen ist und wieder zu Gott geht, dass er und der Vater eins sind. Diese Aussage von der Einheit Jesu mit dem Vater (10,30; 17,11) begegnet in einer Vielfalt von Formulierungen. So wird von dieser Einheit her in 5,17-20 das Handeln Jesu als dem Handeln Gottes entsprechend beschrieben. Gott vollzieht sein Handeln im Handeln Jesu (103f).

Ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe...“ (16,7). Diese Versicherung erfolgt auf dem Hintergrund des zuvor angekündigten Hasses der Welt (15,18 – 16,4). Damit ist gesagt, dass der Hass der Welt, den die Gemeinde so stark erfährt und dessen Wirklichkeit der Evangelist nicht verschweigt, nicht die letztlich entscheidende Wirklichkeit ist, sondern dass es durch den Weggang Jesu etwas gibt, das stärker ins Gewicht fällt und mehr zählt. “Wenn ich nicht weggehe, kommt der Paraklet nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden“ (16,7). Wenn Jesu Tod kein Unglücksfall ist, sondern ihnen nützt, weil an diesen Weggang die Sendung des Parakleten gebunden ist, dann ist der Paraklet nicht bloßer Ersatz für Jesus, sondern dann muss seine Gegenwart von solcher Art sein, dass sie über die Gegenwart des irdischen Jesus hinausgeht. Der Weggang Jesu zu dem, der ihn gesandt hat (16,5), nützt den Jüngern (112f).

Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht“ (14,1.27)! In 16,20-22 kündigt Jesus ihnen für die Zeit bis zu seinem Wiederkommen im Parakleten Weinen, Klagen und Trauern an. Genau das kennzeichnet die Situation der Gemeinde des Evangelisten. Er parallelisiert deren Trostlosigkeit mit der Situation der geängsteten Jünger vor und bei Jesu Tod. Der Evangelist lässt Jesus den Jüngern sagen, dass sie Frieden und Freude haben werden (114).

Der john Gemeinde wird deutlich gemacht, dass ihre Zeit, die jenseits der Situation des Abschieds Jesu liegt, bereits die Zeit seiner neuen Gegenwart ist, dass der den Jüngern verheißene Trost für ihre Gegenwart schon gilt. Der Evangelist will seiner Gemeinde Trost zusprechen, gerade in ihrer schwer erträglichen Gegenwart. Genau diese Intention ist es, die den Evangelisten in ganz einseitiger Weise das gegenwärtige Heil betonen lässt. Die in der Welt lebende Gemeinde hat Drangsal (16,33). Das hat er Jesus in 15,18 – 16,4 ankündigen lassen. Indem er der Gemeinde in Jesu Weggang den Grund ihrer Existenz aufweist, macht er ihr klar, dass ihr in und trotz aller Drangsal nicht Furcht und Klagen eigentümlich sind, sondern Frieden und Freude (114).

Der Abschnitt 16,29-32 handelt vom verfrühten Glauben der vorösterlichen Jünger. Sie sind zu der Überzeugung gekommen, dass Jesus alles weiß. Daraus schließen sie auf seine göttliche Herkunft und deshalb glauben sie (1,48ff; 4,17ff; 4,39ff). Jesus bezweifelt den von den Jüngern ausgesprochenen Glauben: “Schon glaubt ihr“ (16,31)? Der Glaube der Jünger hat den Tod Jesu noch nicht im Blick. Die Frage von Glaube und Unglaube stellt sich erst und nur angesichts des Gekreuzigten: “Siehe es kommt die Stunde und sie ist gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in seine Heimat und mich lasst ihr allein“ (16,32). Das Motiv der Jüngerflucht bei Jesu Passion zeigt, dass die Jünger Jesu vor der Passion nicht wirklich glauben können. D.h. dass für die Gemeinde des Evangelisten das Durchhalten des Glaubens gerade angesichts dessen gilt, den ihre Gegner aufgrund seines Endes am Kreuz verspotten (114f).

Gerade mit dem in den Tod gehenden Jesus, den die Jünger verlassen, ist Gott (16,32b). Der Glaube der Jünger ist ungenügend, weil er sich da von Jesus abwendet, wo Gott in Jesu Tod seine Wirklichkeit zeigt (115f).

Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben“ (20,29)! Jesu Gesprächspartner fordern ein Wunder: “damit wir sehen und dir glauben“ (6,30). Es gibt nicht mehr zu sehen, als was schon gesehen worden ist: Jesus selbst: “Ihr habt mich gesehen und glaubt doch nicht“ (6,36). Die Entscheidung des Glaubens stellt sich angesichts der Person Jesu und seines Geschicks. Darüber hinaus gibt es nichts zu sehen (116).

Daran nehmt ihr Anstoß? Wenn ihr nun den Menschensohn hinaufsteigen seht, wo er vorher war...“ (6,61f). Wenn das Wort Anstoß provoziert, dann ist klar, dass es hier nicht um einen offenbaren Aufstieg in Herrlichkeit gehen kann. Was die Jünger sehen werden, ist die Kreuzigung Jesu. Dass aber gerade hier Gott auf den Plan tritt, bringt die Redeweise vom Aufstieg des Menschensohnes zum Ausdruck. Sie signalisiert die Überwindung des Anstoßes. “Die nicht gesehen haben und (doch) zum Glauben kommen“ (20,29) sind diejenigen, die den Gekreuzigten sehen und in ihm Gott erkennen. “Von jetzt an erkennt ihr ihn (Gott) und habt ihn (Gott) gesehen“ (14,7). “Wer mich (Jesus) gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (14,9; 12,45). “Von jetzt an“ , d.h. von Beginn der 13,1 genannten Stunde an, die die Stunde der Passion und des Todes Jesu ist, tut Jesus keine Wunder mehr, sondern er geht den Weg ans Kreuz. Gerade im Blick darauf wird Erkennen und Sehen Gottes ausgesagt. Es gibt kein Sehen Gottes, keine Gottesschau (1,18; 5,37; 6,46), abgesehen vom Sehen Jesu, dessen Weg ans Kreuz führt (116f).

 

(7) Das Gebot, einander zu lieben: Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit auch ihr tut, wie ich euch getan habe“ (13,15). Es geht um ein Tun entsprechend dem hier exemplarisch dargestellten Tun Jesu. Sein Vorbild weist die Jünger ein in den gegenseitigen Dienst gleicher Brüder (121).

Wer entsprechend dem Tun Jesu handelt, lässt sich damit auf die Wirklichkeit Gottes selbst ein, die im Kreuz Jesu als Liebe offenbar geworden ist. Der weggehende Jesus hinterlässt den Jüngern sein Vermächtnis: “Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebt. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (13,34) (122).

Die john Forderung der Bruderliebe wird oft als Einschränkung gegenüber der vom synoptischen Jesus geforderten Nächsten- und Feindesliebe verstanden. Das neue Gebot bezieht sich nur auf die Bruderliebe. Die Existenz des Jüngerkreises stand fundamental in Frage. Die Gemeinde wurde von außen durch Pressionen einer feindlichen Umwelt aufs Schwerste bedrängt. Das hatte im Innern eine Abfallbewegung zur Folge. In diese Situation hinein lässt der Evangelist Jesus das Gebot sagen, einander zu lieben. Diese Aufforderung zur Solidarität der Brüder ist für die john Gemeinde eine Notwendigkeit, will sie als Gemeinde überleben. Als Einzelner, unter Aufgabe der Zugehörigkeit zur Gemeinde, hätte sich jeder besser durchschlagen können, weil ihm dann Nachteile erspart geblieben wären. Wer dem Gebot nachkommt und so auch materiell seine Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde bekundet, setzt sich der Gefährdung aus. Deshalb belassen es auch viele von den Oberen lediglich bei heimlicher Sympathisantenschaft (12,42) (123f).

Es geht darum, dass sich die Liebe in einer Gemeinde solidarischer Brüder manifestiert. Das Lieben der Ehre der Menschen (12,43) ist das bewusste Mitmachen oder auch stille Mitprofitieren auf seiten der Mächtigen und Unterdrücker, es ist die Verweigerung der praktischen Solidarität mit den Ohnmächtigen und Unterdrückten, einer Solidarität, die auch das Risiko des eigenen sozialen Status bedeutet. Aber gerade um diese Solidarität geht es der Ehre Gottes (124).


 

 (8) Gottes Liebe zur Welt (Joh 3,16): Das JohEv spricht trotz der außerordentlich scharfen Kontroverse, in der es steht, trotz seiner harten Urteile über 'die Juden' als die die Gemeinde bedrängende konkrete Welt ausdrücklich von der Liebe Gottes zur Welt und davon, dass Gott die Welt retten will (3,16f). Das Motiv von der Liebe Gottes zur Welt ist eine Eigentümlichkeit von Joh 3,16 und darum dem Evangelisten zuzuschreiben, der damit herausstellt, dass sich Gottes Heilswille auf die Welt richtet (125f).

Die Frage des Nikodemus nach der Geistgeburt (3,10-21): Der erste Teil (10-13) stellt die Legitimität Jesu heraus, zu diesem Thema zu reden: Er kann über die Geburt 'von oben' sprechen, weil er selbst 'von oben' kommt. Der zweite Teil (14-17) legt den eigentlichen Grund der Geistgeburt dar: Sie beruht auf der Liebe Gottes zur Welt, die er in der Sendung des Sohnes erwiesen hat. Der dritte Teil (18-21) beschreibt die Folgen der Zuwendung Gottes zur Welt, wie sie sich im Gegenüber von Glaubenden und Nicht-Glaubenden zeigt (126f).


 


 


 

  1. Der Synagogenausschluss in der Spruchüberlieferung Q : 


Die Spruchüberlieferung geht auf einen eigenen Trägerkreis zurück, dem Christologie und Passionskerygma fremd sind. Nach Schmithals kam es in unmittelbarer Folge des Synagogenausschlusses zu einer Begegnung zwischen dem Trägerkreis dieser Überlieferung und der christlichen Gemeinde, in deren Verlauf die Spruchüberlieferung durch eine abschließende christologische Redaktion gleichsam getauft wurde, um ihre Tradenten in die christliche Gemeinde zu integrieren (181f).

Die Pharisäer erscheinen in jener autoritativen Stellung, die sie nach der Tempelzerstörung im Verlauf der Restauration der Synagoge gewinnen konnten. Die drei Weherufe Lk 11,45-52 werden durch vier Weherufe gegen die Pharisäer Lk 11,39-44 zu einer Reihe von sieben Weherufen ergänzt, in der nun auch die Gesetzeslehrer als pharisäische Lehrer begegnen. An der Spitze (Mt 23,6) steht ein Weheruf gegen den Führungsanspruch der Pharisäer, den auch Markus aufgenommen hat (Mk 12,38) und der in der von Lukas aus der Spruchquelle aufgenommenen Fassung lautet: “Wehe euch Pharisäer! Ihr liebt den ersten Platz in den Synagogen und lasst euch gern auf den Märkten grüßen“ (Lk 11,43) (182).

Die pharisäische Synagoge ist eine Institution mit rechtlichen und organisatorischen Befugnissen. Sie ist sowohl normatives Lehrhaus als auch Ort des Gerichts und des Strafvollzugs. Die Pharisäer streben in dieser Synagoge den Vorsitz an; sie wollen bestimmen. Matthäus hat hinzugefügt, dass die Pharisäer von den Menschen 'Rabbi' genannt werden wollen (Mt 23,7), eine Anrede, die sich nach dem Jahr 70 für die schriftgelehrten Autoritäten in der Synagoge einbürgerte. Die von Markus vorgenommene Ergänzung (Mk 12,39) hat nicht eine Ehrenstellung im Blick, sondern die Aufsicht über die Beachtung der rituellen Vorschriften (183).

Die beiden Weherufe gegen die Pharisäer (Lk 11,39par.42par) wenden sich gegen die pharisäische Gesetzlichkeit. Es wird nicht mehr der moralische Vorwurf erhoben, die Pharisäer beachteten selbst die von ihnen auferlegten Gesetze nicht, sondern die Gesetzlichkeit als solche wird gegenüber den sittlichen Werten von Barmherzigkeit, Treue und Rechtschaffenheit abgewertet. Der Weheruf Lk 11,44par vergleicht die Pharisäer mit den unkenntlich gewordenen Gräbern, an denen man sich unwissend verunreinigt: Eine schroffe Aufforderung, sich mit ihnen auf keinen Fall einzulassen. Aus diesen Weherufen wird deutlich, dass die Tradenten der Spruchüberlieferung nicht bereit waren, sich der pharisäischen Restauration der Synagoge zu unterwerfen. Sie verfielen damit dem Synagogenausschluss (183).

Der Ausschluss wird in dem Makarismus Lk 6,22f (Mt 5,11f) ausdrücklich genannt: “Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen, euch ausstoßen, schmähen und verwerfen euren Namen als böse um des Menschensohnes willen. Freut euch an jenem Tage und springt vor Freude, denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel. Denn das gleiche haben ihre Väter den Propheten getan“. Der Zusatz: “wenn die Menschen euch hassen“ fehlt in Mt 5,11. Er wurde von Lukas hinzugefügt. Er erweitert die von der Synagoge ausgehenden feindseligen Aktivitäten auf den Hass, den die Menschen den Christen gegenüber erzeigen. Das entspricht der z.Zt. des Lukas fortgeschrittenen Verfolgungssituation (183f).

Da sich in der Spruchquelle an Lk 6,22f der Abschnitt von der Feindesliebe (6,27-38) angeschlossen haben wird, dürfte dem Makarismus unmittelbar die Mahnung gefolgt sein: “ich aber sage euch...: Liebt eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen; segnet die, die euch verfluchen: bittet für die, die euch misshandeln“ (6,27f). Wir stoßen also auch in der Spruchquelle auf die birkat ha-minim, die synagogale Verfluchung der Ketzer. Die folgenden Verhaltensregeln angesichts der konkreten Misshandlungen lassen die durch den Synagogenausschluss eingetretene Rechtlosigkeit erkennen (Lk 6,29f): “Wer dich auf die eine Backe schlägt, dem halte auch die andere hin. Und wenn dir jemand das Obergewand abnimmt, dann überlass ihm auch das Untergewand. Jedem, der bittet, gib, und wenn dir jemand dein Eigentum wegnimmt, so fordere es nicht zurück“. Diese Verse fordern nicht zu aktiven Liebeserweisen auf, sondern empfehlen eine passive Hinnahme des Unrechts, die angesichts dessen, dass hinfort weder die Synagoge noch die staatlichen Behörden Rechtsschutz gewähren, der beste Weg ist zu bestehen. Da die Situation der Rechtlosigkeit zuvor nicht gegeben war, dürften diese Empfehlungen erst der Zeit des Synagogenausschlusses angehören (184f).

In der Dublette der Spruchüberlieferung Lk 12,11f (sowie Mk 13,9-11;Lk 21,12-15;Mt 10,17-20) wird die eingetretene Verfolgungssituation näher beschrieben. Die Verfolgten stehen einerseits vor den synagogalen Gerichten (Mk 13,9: “Sie werden euch den Gerichten übergeben und in den Synagogen werdet ihr gegeißelt werden“; Lk 12,11: “Sie werden euch in die Synagogen führen“), andererseits werden sie vor die staatlichen Machthaber gestellt (Mk 13,9: “vor Statthalter und Könige werdet ihr gestellt werden“; Lk 12,11: “vor Behörden und vor die Obrigkeit“). Damit stoßen wir auf das früheste Zeugnis für die beschriebene Situation: Die Synagoge nutzt ihre Rechtsmitttel, um die Ketzer zu disziplinieren und denunziert ihre ehemaligen Mitglieder bei den öffentlichen Gerichten (185).

Es lässt sich nicht entscheiden, ob die Worte der Spruchüberlieferung vom Bekennen und Verleugnen (Lk 12,9par), vom Erhalten und Verlieren des Lebens (Lk 17,33par) sowie die Mahnung vor Verführung zum Abfall (Lk 17,1fpar) erst in die Situation des Synagogenausschlusses gehören. Hier erhalten sie jedenfalls eine brennende Aktualität (185).

 

  1. Der Synagogenausschluss im Hebräerbrief 

Der Verfasser wendet sich an solche Leser, die unter den Folgen des Synagogenausschlusses zu leben und zu leiden haben. Er bemüht sich, in dieser Situation die Existenz der Gemeinde zu bewahren. Der Blick auf diese aktuellen Bedrängnisse bestimmt durchgehend die in 10,19 einsetzende Paränese. Zwar haben die Leser noch keine Martyrien erleiden (12,4), wohl aber Gefängnis und Folter ertragen (13,3) und anscheinend auch die Konfiskation ihres Eigentums hinnehmen (13,5-7) müssen. Der durch die eingetretenen Verfolgungen ausgelöste Abfall (3,12-19; 6,5) hat die Mahnrede (13,22) veranlasst. Es geht darum, Jesus nicht abzuweisen (13,25), am Bekenntnis fest- (4,14) und bis zum Ende durchzuhalten (3,14; 6,11) (189).

Der Verfasser zählt das für die gottesfürchtigen Heiden in der Synagoge Wesentliche am Judentum auf: Einerseits die Bekehrung von den Götzen hin zu dem Bekenntnis zu dem einen Gott, andererseits die eschatologische Erwartung der Totenauferstehung und des Gerichts nach den Werken und das den gottesfürchtigen Heiden an ritueller jüdischer Lebensweise Zuzumutende. Diese Gottesfürchtigen hatten sich in der judenchristlichen Gemeinde taufen lassen und waren von den Fundamentallehren fortgeschritten zur “festen Speise“ der christlichen Botschaft. Ihr Weg führt sie, sofern sie dem Druck der aktuellen Verfolgung nachgeben, nicht in das Heidentum, sondern unter Preisgabe des christlichen Bekenntnisses zurück in die Geborgenheit der Synagoge, wo sie den Schutz einer religio licita genießen konnten, die aber nur das Veraltete bieten kann. Der Abtrünnige handelt wie Esau, der um einer Mahlzeit willen sein Erstgeburtsrecht verkaufte (12,16) (190).

Der Sinn der Mahnrede 13,9-14 erschließt sich, wenn man sie als Summe des Briefes und in Rücksicht auf das Gegenüber vom veraltet und neu, von Schatten und Wesen, von nutzlos und heilvoll liest. Es ist gut (13,9), dass das Herz fest wird durch Gnade “nicht durch Speisevorschriften, in denen zu wandeln man keinen Nutzen hat“. Vorgeschrieben ist im alten Gesetz, dass der Priester mit dem Blut der Opfertiere das Allerheiligste besprengt und dass die Tierleiber “außerhalb des Lagers“ vollständig verbrannt werden, damit nicht von dem auf dem Altar Geopferten gegessen wird (13,10f). Dem entgegen haben die Christen (4,14f; 6,19; 8,1; 10,19) einen Altar, von dem zu essen den Dienern des alten Bundes verwehrt ist (“keine Vollmacht haben die dem Zelt dienen“). Das Heil ist nur in der christlichen Gemeinde bzw. bei Jesus, nicht aber in der Synagoge zu finden (190f).

Neben den Gesichtspunkt, dass von dem Opfer am Großen Versöhnungstag nichts verzehrt werden darf, tritt der Gesichtspunkt, dass Jesus entsprechend dem, dass das Opfer “außerhalb des Lagers“ verbrannt wurde, “außerhalb des Tores“ gelitten hat, um “das Volk durch sein eigenes Blut zu heiligen“. “Deshalb lasst uns hinausgehen zu ihm außerhalb des Lagers und seine Schmach tragen“ (13,13). Die Gemeinde hat das “Alte“ verlassend und dem “Neuen“ verbunden, Jesu Weg “aus dem Lager“ mitzugehen und seine Schmach auf sich zu nehmen. Der Ausschluss aus der Synagoge ist zu akzeptieren und seine Folgen sind zu tragen. Diese Aufforderung ist die Summe des Mahnschreibens, das darauf gerichtet ist, den Rückfall der Leser in die Synagoge zu verhindern. Schon in 11,26 hatte der Verfasser die Misshandlungen, die Mose mit seinem Volk zu erdulden hatte, “die Schmach Christi“ genannt. Auch in 10,33 sind “die Schmähungen“ Teil der durch die Verfolgung den Christen auferlegten Leiden (191f).

Die Verse 12f beschreiben parallel jeweils ein historisches Geschehen: V 12 das, “vorbildliche“ Ereignis der Vergangenheit, den Tod Jesu vor den Toren von Jerusalem, V 13 das “nachfolgende“ Ereignis der Gegenwart, die ungeborgene Existenz der Christen außerhalb der Schutz gebenden Synagoge. Das abschließende Bild: “Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die kommende suchen wir“ (13,14), bezieht sich auf konkrete Aufenthaltsorte, zwischen denen das wandernde Gottesvolk unterwegs ist: Aus der Synagoge als einer sicheren Bleibe ausgewiesen, ist die Gemeinde unter Bedrängnissen unterwegs “zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem“ (vgl.12,22: “Ihr seid gekommen... zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem und den vielen Tausenden von Engeln, der Festversammlung“) (192f).

  1. Der Synagogenausschluss im Mt Evangelium

Synagoge und christliche Gemeinde sind deutlich getrennt. Matthäus spricht von “ihren Synagogen“ (10,17; 12,9; 23,34; vgl.4,23; 9,35; 13,54). In den Synagogen haben die Pharisäer, die den Titel “Rabbi“ für sich beanspruchen (23,7f), das bestimmende Wort. Das Matthäus sich ausschließlich mit der pharisäisch gewordenen Synagoge auseinandersetzt, lässt erkennen, dass seine Gemeinde in der Synagoge zu Hause gewesen war (193).

Mit dem Ausschluss aus der Synagoge hat die Zeit der Verfolgung begonnen, die von der Synagoge ausgeht. Matthäus verstärkt, präzisiert und aktualisiert entsprechende Aussagen aus dem Mk-Ev und der Spruchquelle (vgl.5,11f; 10,22; 24,9). In 10,17 und 23,34 wird die in der Synagoge vollzogene Geißelstrafe, in 23,34 auch die Verfolgung “von Stadt zu Stadt“ ausdrücklich erwähnt und in 10,23 der Rat gegeben, ggf. von einer Stadt in die andere zu fliehen. Wir begegnen der Verfolgungssituation, wie sie auch Lukas in der Apg 14,5f.19; 17,13 vor Augen hat. Die Synagoge ist eine die römische Ökumene umgreifende rechtliche Institution, die ihre ausgewiesenen Mitglieder noch belangen will und kann (193).

Die Synagoge ist bemüht, nicht nur durch den Druck der Verfolgung möglichst viele Christen zum “Sauerteig der Pharisäer“ (16,6.11f) hinüberzuziehen, sondern sie setzt auch alles in Bewegung, um durch missionarische Bemühungen Gottesfürchtige und Heidenchristen zu Proselyten zu machen (23,15: “Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler, weil ihr umherzieht über das Meer und das Land, um einen Proselyten zu machen, und wenn er es geworden ist, macht ihr ihn zu einem Sohn der Hölle doppelt mehr als ihr“!). “Falsche Propheten“ machen ihren Einfluss unter den Christen geltend (7,15-23; 24,10-12.24; vgl. 23,27). Diese “falschen Propheten“ versuchen die Glaubenden zum Abfall zu verführen (13,41; 18,6-9; 24,10). Den Weheruf gegen die Verführer (18,7) hat Matthäus gebildet. Die Verführung (24,4f.11.24) zielt auf die Rückkehr in die Synagoge; eine andere Frontstellung kennt Matthäus nicht (193f).

Die theologische Auseinandersetzung zwischen christlicher Gemeinde und Synagoge dient nicht dem Gespräch, sondern der Polemik und der Apologetik. Mt 23,3 (“Alles, was sie euch sagen, das tut und haltet, aber nach ihren Werken sollt ihr nicht handeln, denn sie sagen's, aber tun's nicht“) dient als Widerlager zu dem oft wiederholten Vorwurf, die Pharisäer hielten sich mit ihren Taten nicht an ihre eigenen Gebote (16,12) (194).

Streitpunkte sind einerseits die Christologie (vgl. 27,62-66; 28,11-15 sowie die Erfüllungszitate), andererseits das Gesetzesverständnis. Die Tora wird keineswegs durch die kasuistische Gesetzlichkeit der Pharisäer “erfüllt“ (5,17), wie diese behaupten (23,1-36), sondern durch Jesu Lehre des radikalen Gehorsams gegenüber dem Doppelgebot der Liebe (5,17-48; 22,34-40 u.ö.), in der jedes “Häkchen“ der Tora zur Geltung gebracht ist (5,18f) (194).

Die zuvor gezahlte Judensteuer: Die Legende (17,24-27) dürfte von Matthäus selbst stammen. Ungefragt erklärt Jesus mit einem Bildwort, dass die “Söhne“ (die der Synagoge nicht mehr angehörenden Christen) von der Zahlung der Tempelsteuer ebenso frei sind wie die “Söhne“ eines Königs von der Entrichtung der Steuern und Zölle. Wenn dabei das Volk des Königs im Unterschied von den unterworfenen und zahlungspflichtigen Völkern “Söhne“ genannt wird, unterwandert die Sachhälfte (die Bezeichnung der Christen als Kinder Gottes) die Bildhälfte, wie 17,26b deutlich zeigt: “so sind die Kinder frei“. Obwohl die Christen, seit sie außerhalb der Synagoge leben, von der Pflicht der Zahlung befreit sind, zahlen sie den fiscus Judaicus, um kein Ärgernis zu erregen. Sie werden die Doppeldrachme nicht ungern gezahlt haben, blieb ihnen doch auf diesem Wege vorerst der Schutz erhalten, der den Angehörigen der Synagoge gewährt wurde (195f).


 


 


 


 


 


 


 

C. Monotheismus und Trinitätslehre?

1. Präexistenzchristologie im Neuen Testament?

2. Vom Vater Jesu zum 'Mysterium' der Trinität

 

1. Präexistenzchristologie im Neuen Testament?

(1) Die arämäisch sprechende Urgemeinde in Jerusalem
 (2) Die Tradition des hellenistischen Judenchristentums (Phil 2,6-11)
 Anhang Röm 9,5: Ein Loblied auf Christus als Gott?
 (3) Der Brief nach Kolossä (1,15-20)
 Warum man die Präexistenz Christi bekennen musste
 (4) Vorherbestimmung/Erwählung (Eph 1,4f; 1Ptr 1,20)

K.-J. Kuschel (1990)


 

(1) Die aramäisch sprechende Urgemeinde in Jerusalem

(a) Der Felsengrund der Geschichte
 (b) Im Zeichen der Wiederkunft des Erhöhten
 (c) Hat Jesus sich als präexistenter Menschensohn verstanden?
 (d) Zur Christologie der Spruchquelle Q 

(e) Fazit


 

(a) Der Felsengrund der Geschichte:Die ältesten Zeugen lassen die Geschichte Jesu nicht im Himmel beginnen, nicht in einer mythischen Vorzeit, sondern an einem konkreten Ort hier auf Erden. Sie erzählen die Geschichte eines Mannes, von dem es in einem der ältesten Texte heißt: “Er zog durch ganz Galiläa, predigend in den Synagogen und trieb die Dämonen aus“(Mk 1,39). Das Interesse an einer Vorzeit Jesu ist in den Quellen so gering, dass das älteste Evangelium, das Mk-Ev, noch nicht einmal eine Kindheitsgeschichte oder einen Stammbaum Jesu kennt und auch diejenigen Evangelien, die von einer Kindheit und einem Stammbaum berichten, haben kein Interesse daran, Jesu Herkunft aus einer himmlischen Vorzeit zu begründen, sondern berichten von einer geschichtlich-irdischen Vorzeit, der Geschichte des jüdischen Volkes (Mt 1,1-17; Lk 3,23-38) (284).

Die historisch-kritische Forschung der letzten 200 Jahre war es, die seit der Aufklärung den Felsengrund der Geschichte neu freilegte, um durch alle mythisierenden Bilder hindurch zur authentischen Menschlichkeit des Nazareners durchzustoßen. Über das Wirken Jesu kann man folgendes sagen: Charakteristisch für den historischen Jesus sind: Exorzismen, der Bruch des Sabbatgebotes, die Verletzung von Reinheitsvorschriften, die Polemik gegen die jüdische Gesetzlichkeit, die Gemeinschaft mit deklassierten Personen von Zöllnern und Dirnen, die Zuneigung zu Frauen und Kindern. Auch ist zu erkennen, dass Jesus nicht wie der Täufer ein Asket war, sondern gerne aß und ein Glas Wein trank. Jesus trat auf in dem Bewusstsein, von Gott beauftragt zu sein, die eschatologische Botschaft von der hereinbrechenden Gottesherrschaft und den fordernden, aber auch einladenden Willen Gottes zu verkündigen (284f).

Jesu Auftreten und seine Verkündigung haben eine Christologie impliziert, insofern Jesus die Entscheidung gegenüber seiner Person als dem Träger des Wortes Gottes gefordert hat, eine Entscheidung von der das Heil oder das Verderben abhängt (285).

Wir verfügen über keine direkten Zeugnisse der aramäisch sprechenden Urgemeinde, deshalb sind wir auf Rückschlüsse aus den Paulusbriefen, den synoptischen Evangelien und der Apg angewiesen. Das Selbstverständnis dieser tempel- und gesetzestreu gebliebenen Christengemeinde dürfte sich in der Urpassionsgeschichte (Mk-Ev), der sog. Spruchquelle (rekonstruierbar nach Mt und Lk), in der synoptischen Apokalypse (Mk 13), in den Petrustraditionen der Apg sowie in den von Paulus zitierten, feststehenden Bekenntnisformeln und liturgischen Hymnen aufbewahrt haben. Was ist hier der christologische Schwerpunkt (286)?

 

(b) Im Zeichen der Wiederkunft des Erhöhten:Die ersten Christusbekenntnisse dürften sich um Kreuz und Auferweckung gebildet haben: “Gott hat Jesus von den Toten auferweckt“ (Röm 10,9b). Gott allein ist hier der Handelnde. Die Auferweckung Jesu durch Gott wird als Ausdruck eines – trotz des Schandtodes – bleibenden Vertrauens in Gottes Gerechtigkeit verstanden. Auch und gerade diesem leidenden Gerechten aus Nazareth ist von Gott Genugtuung widerfahren (287f).

Dieser Gekreuzigte wurde erhöht und an der Seite Gottes inthronisiert, d.h. in sein messianisches Amt eingesetzt: “Diesen Jesus hat Gott auferweckt, dafür sind wir Zeugen. Nachdem er durch die rechte Hand Gottes erhöht worden war und vom Vater den verheißenen Heiligen Geist empfangen hatte, hat er ihn ausgegossen, wie ihr seht und hört. Mit Gewissheit erkenne das ganze Haus Israel: Gott hat diesen Jesus , den ihr gekreuzigt habt, zum Herrn und Messias gemacht“ (Apg 2,32f.36). “Das Evangelium von seinem Sohn, der dem Fleisch nach geboren ist als Nachkomme Davids, aber dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferweckung“ (Röm 1,3f) (288f).

Eng mit der Auferweckungs- und Erhöhungsaussage war die Hoffnung auf die Wiederkunft Christi verbunden: “Dann wird man den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken kommen sehen...“ (Mk 13,26f).

 

(c) Hat Jesus sich als präexistenter Menschensohn verstanden? Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? - Ich bin es, und ihr werdet den Menschensohn sehen sitzend zur Rechten der Macht kommend mit den Wolken des Himmels“ (Mk 14,61f). Die überwiegende Mehrheit der Exegeten geht davon aus, dass Jesus selbst sich nicht als einen präexistenten und kommenden Menschensohn im Sinne von äthHen 48 verstanden hat. Der titulare Gebrauch von Menschensohn ist nachösterliche Gemeindebildung. Sicher ist, dass Jesus von der Gemeinde nach seinem Tode mit dem kommenden apokalyptischen Menschensohn identifiziert worden ist (292f).

Bei allen nachösterlichen Menschensohn-Worten fehlt die Präexistenzaussage. Für die strenge Abgeschlossenheit der synoptischen Menschensohnworte gegen Präexistenzaussagen lässt sich keine schlüssigere Erklärung anführen als die Abhängigkeit von der Verkündigung Jesu. Weil Jesus selbst nichts erkennen ließ von einem Weg aus der himmlischen Präexistenz über die irdische Existenz in die himmlische Postexistenz, hatte auch die Gemeinde kein Interesse daran, mit der Menschensohnerwartung zugleich auch die Präexistenzaussagen mit zu übernehmen, geschweige denn diese apokalyptisch-visionär weiter auszugestalten.

Die synoptischen Aussagen knüpfen nicht an die apokalyptischen Traditionen an, die durch den äth Hen und den 4. Esra repräsentiert werden. Dagegen wird Dan 7,13 mehrfach zitiert, jedoch nur an späten, sekundären Stellen (Mk 13,26 par; 14,62 par). Demnach scheinen die synoptischen Aussagen über den Menschensohn ähnlich wie die über das Reich Gottes nur eine sehr allgemeine Vorstellung vorauszusetzen, nämlich der Menschensohn werde als eschatologische Heilsmittlergestalt das Weltgericht vollziehen und Gottes Herrschaft aufrichten (293f).

Die Urgemeinde wagte es, den Messias / Menschensohn mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth zusammenzudenken. Der Skandal war, dass Jesus, ein unstudierter Handwerker aus dem Nest Nazareth, beanspruchte, den Willen Gottes ganz zu kennen und ihn zu verkünden als mit dem Geist Gottes gesalbter Lehrer, Prophet und Offenbarer des eschatologischen Heilsplanes Gottes, als Gesandter Gottes, der in der definitiven Autorität Gottes sprach und agierte.

Jesus selbst hat keine Würdebezeichnung wie Messias oder Sohn Gottes für sich beansprucht. Ein messianischer Anspruch war vom jüdischen Standpunkt kein todeswürdiges Verbrechen. Die Prozessanklage war eine vorgeschobene Beschuldigung gewesen, Teil einer Denunziationsstrategie der Tempelaristokratie, die auf diese Weise einen religiösen Umstürzler wie Jesus durch die Römer beseitigen lassen wollte. Nicht die Frage der Messianität Jesu ist brisant gewesen, sondern der Umstand von Jesu Tod. Denn nach Dtn 21,23 ist ein Gekreuzigter zugleich auch ein von Gott Verfluchter. Deshalb gilt: Ein gekreuzigter Messias ist im jüdischen Kontext ein Widerspruch in sich (294f).

Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mk 12,1ff): Person und Schicksal Jesu wurden in diesem Gleichnis offenkundig in Analogie zur Sendung der Propheten begriffen. Die Sendung des Sohnes erfolgt auf der gleichen Ebene wie die der Knechte (295f).

Auch dieses Gleichnis, das Jesu Auftritt als Gesandtsein in Analogie zu den atl Propheten deutet, enthält ebensowenig eine Präexistenzaussage wie die Worte über den Menschensohn. Spezifikum der Christologie in dieser frühen judenchristlichen Traditionsschicht des NT ist Jesu Passion und Parusie, nicht die Abkunft, sondern die Wiederkunft aus dem Himmel, die Wiederkunft dessen, der unschuldig gelitten hatte, den Gott nicht im Tode ließ, sondern ins Recht setzte und mit himmlischer Macht bekleidete (296).

Die Situation der Urgemeinde war paradox – bedenkt man, dass ihr Jesus im Namen der höchsten jüdischen Autoritäten beseitigt worden war. Dennoch hatten sie als Juden nicht aufgehört, an Jesus als Gottes eschatologischen Bevollmächtigten zu glauben. Das musste sie – nach dem Fiasko ihres 'Helden' – im eigenen Volk in die Isolation treiben. Was die Nazarener-Gruppe nach dem Kreuzestod behauptete, musste der eigenen Umwelt widersinnig sein: Ausgerechnet der, der soeben noch im Namen des Gesetzes Gottes liquidiert worden war, soll von Gott selbst gerechtfertigt worden sein? Er, der soeben noch als Messiasprätendent hingerichtet werden musste, soll als der Messias Gottes geglaubt werden (297)?

Aus einem durch Menschen Hingerichteten war der durch Gott Inthronisierte geworden. Der Messiasprätendent war nun als der Messias Gottes selbst verkündet. Person und Schicksal Jesu wurden in der frühen Christenheit nicht nach den üblichen Traditionsschemata interpretiert, zu denen auch die apokalyptische Präexistenzvorstellung gehörte. Jesus von Nazareth hatte für seine Anhänger offenbar dieses Schema gesprengt (297).

 (d) Zur Christologie der Spruchüberlieferung Q: Menschensohn ohne Präexistenz :Jesus dürfte für den hinter 'Q' stehenden Kreis in erster Linie der erwartete eschatologische Menschensohn gewesen sein, der der Gemeinde, die in Verfolgung und Leid liegt, ihr Recht zuteil werden lassen wird. Auch in diesem Kreis herrscht Naherwartung vor, Erwartung des Gerichtes (Mt 24,37-44), dessen Vorläufer Johannes der Täufer war (Mt 3,7-12) (298).

Ebenso wie in den Urpassions-Texten fehlt auch in Q bei den Menschensohn-Aussagen jeglicher Hinweis auf die Präexistenz Christi. Nirgendwo in Q ist die Gestalt des irdischen Jesus mit Hilfe des Menschensohn-Titels divinisiert worden. Jesus wird in Q nur als der konkrete, irdische Mensch Jesus dargestellt. Eine Szene wie die Verklärung Jesu (Mk9,2-8) findet sich aus diesem Grund in Q nicht. Die Vorstellung, Jesus verberge seine himmlische Würde, ist in Q nirgendwo ausgesprochen. Die apokalyptische Vorstellung der himmlischen Verborgenheit des präexistenten Menschensohnes lässt sich auf das Erdenleben Jesu nicht übertragen, weil in Q ein radikal anderer Jesus erscheint, der so gar nichts von einem 'himmlischen Wesen' an sich hat (298f).

Das eigentlich Neue und Christliche dieser Menschensohn-Aussagen ist die neue inhaltliche Akzentsetzung: der Menschensohn der Q-Gemeinde ist der Arme und Ausgestoßene, der Wanderer ohne Heimat. Jesus, der christliche Menschensohn, ist eine Kontrastgestalt zu allem bisher Vertrauten. Er ist missverstanden und missachtet von Menschen (Lk 9,58) und von der supranaturalen Machtausstattung des apokalyptischen Menschensohnes weit entfernt. Eine Akzentverlagerung hat hier stattgefunden unter dem offenkundigen Eindruck des konkreten Erdenlebens Jesu selber! “Johannes ist gekommen, aß nicht und trank nicht; da sagen sie: Er ist besessen. Der Menschensohn ist gekommen, isst und trinkt; da sagen sie: Siehe, was ist dieser Mensch für ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder“ (Mt 11,18f).

Der Menschensohn Jesus bekundete Vollmacht dadurch, dass er die Schranken einer sakrosankten Konvention durchbrach und das tat, was in den Augen vieler nur als großes Ärgernis erscheinen konnte. Mit der Aufnahme der armen, deklassierten Menschen in seine Gesellschaft verbindet sich die Proklamation der Sünderliebe Gottes und der Vergebung, die im Besonderen diese Verachteten erreicht (299).

Spezifisch jesuanisch und urchristlich ist nicht der Blick in die Höhe, sondern der Blick in die Tiefe, um gerade so in den Niedrigkeitsgestalten menschlichen Lebens Gottes Nähe zu erfahren, um gerade bei den Ohnmächtigen und Deklassierten Gottes Macht und Zuwendung zu bezeugen. Jesus ist nicht der Menschensohn-Messias, der mit apokalyptischem Terror und einem gewaltigen göttlichen Blutbad der neuen Gerechtigkeit gewaltsam zum Durchbruch verhilft. Er ist kein König, der mit dem Stab seines Mundes die Menschen diszipliniert und niederzwingt. Er ist ein Messias der bedingungslosen Gewaltlosigkeit, der sein Regierungsprogramm der gewaltlosen Bruderliebe nicht nur verkündet, sondern konsequent gelebt hat. Dieser dienende, leidende, sterbende Messias ist nicht einfach ein individuelles Vorbild, sondern er will als der Messias Jahwes die Mitte einer messianischen Gegengesellschaft zu den überlieferten Formen staatlich-institutionellen Zusammenlebens sein. Sein messianisches Reich orientiert sich nicht am davidischen Nationalstaat. Das messianische Reich Jesu hat nichts zu tun mit Dingen wie Herrschaft und Zwang, Macht und Gewalt, sondern ist eine offene Gesellschaft, die in freiwilliger Nachfolge und überzeugender brüderlicher Liebe gründet (300).

Die jüdische Gottessohn-Vorstellung: So radikal wie bei den Menschensohn-Aussagen ist der Perspektivenwechsel von der Macht in die Ohnmacht, von der Herrenrolle in die Niedrigkeitsgestalt bei den Gottessohn-Aussagen der Q-Gemeinde. Die Gottessohn-Vorstellung war von ihrer innerjüdischen Herkunft her weder mit Messianität noch mit Präexistenz verbunden (300f).

Der für Jesus benutzte Titel 'Gottessohn' hat seinen Ursprung in der isrealitischen Königsideologie. Diese dürfte von Ägypten beeinflusst worden sein. Wo der Pharao – vom Moment seiner Thronbesteigung an – bereits den Titel 'Gottessohn' tragen konnte. Wo dem Pharao – Sohn einer jungfräulichen Mutter und eines göttlichen Vaters – bereits eine Doppelnatur zugeschrieben worden war: wahrer Gott und wahrer Mensch.

In Ps 2,7 (“Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt“) ist ein altes Thronbesteigungsritual überliefert, in dem nach ägyptischem Vorbild die Thronübernahme des davidischen Königs als Akt göttlicher Zeugung verstanden wurde. Israel hat dabei die ägyptisch-mythische Vorstellung von einer physischen Gotteszeugung deutlich in eine auf Erwählung begründete Gottessohnschaft abgewandelt. Typisch ägyptisch ist, die göttliche Zeugung auf den Anfang des Lebens des Pharao zurückzuprojizieren, wobei dann eine jungfräuliche (!) Mutter eine Rolle spielte. Typisch israelitisch dagegen ist die Beschränkung auf ein intimes Verhältnis von Gott und dem erwachsenen König sowie die Ausschaltung jeglicher sexueller Zeugungsmythologie (301f).

Der Messias ist im AT sehr verschieden verstanden worden: königlich, prophetisch, priesterlich, nie aber als Gottessohn. Sohn Gottes ist stets königlich, aber so gut wie nie messianisch verstanden worden. Der Titel 'Sohn Gottes' bedeutet im AT und im frühen Judentum Geschöpflichkeit, Erwählung und Intimität, nicht aber Messianität und noch weniger Göttlichkeit.

Im AT können neben dem davidischen König auch Wesen, die dem Bereich der Götter oder himmlischen Welt angehören 'Göttersöhne' genannt werden, ebenso die verfolgten Frommen als Einzelne oder das Volk Israel als Ganzes (302).

Die nachösterliche Rede vom Gottessohn: In einer einzigartigen Zuspitzung wird Jesus schon in den frühesten Traditionsschichten 'Sohn Gottes' genannt: “Alles ist mir von meinem Vater übergeben und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will“ (Mt 11,27). In diesem Text der Q-Gemeinde haben wir es mit einer zentralen Aussage über Jesu eigenes Sendungsbewusstsein zu tun, das einer einzigartigen Vater-Sohn-Beziehung entstammt. Sie weist nicht auf ein Geheimnis der Ewigkeit, sondern auf den geheimnisvollen Anfang des Wirkens Jesu. Weder hat eine Titelübertragung aus der jüdischen Tradition vorgelegen, noch bildete ein Wort Jesu selber die Grundlage. Die Bezeichnung Gottessohn durch die nachösterliche Gemeinde kann nur Reflex eines besonderen Gottesverständnisses Jesu selber gewesen sein (302f).

Der Titel 'Gottessohn' war von seinem jüdischen Ursprung her (Königsideologie) nie mit himmlischer Vorzeitigkeit oder Göttlichkeit verbunden. Jesus hat weder von sich als Gottessohn gesprochen noch Aussagen über eine präexistente Sohnschaft gemacht. Zwar hat die aramäische Urgemeinde nach Ostern Jesus als Gottessohn bekannt, mit diesem Bekenntnis aber – der atl Linie folgend – keine Präexistenzaussage verbunden. Die nachösterliche Rede von Jesus als Gottessohn hat ihren Sachgrund nicht in Jesu 'göttlichem Wesen', nicht in einer präexistenten Gottessohnschaft, sondern in der Praxis und Verkündigung des irdischen Jesus selber: in seiner einzigartigen Beziehung zu Gott (304).

Der Titel 'Gottessohn' bezog sich in Israel zum großen Teil auf die einzigartige Würde und Machtstellung des Königs. Von königlicher Macht und Würde, von politisch-institutioneller Herrschaft ist bei Jesus keine Spur. So wie die Q-Gemeinde im Licht der Erfahrung Jesu die traditionelle Menschensohn-Vorstellung umpolte und neu interpretierte, so jetzt auch die Gottessohn-Tradition: “Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird... Wenn du Gottes Sohn bist, so stürze dich hinab...“ (Mt4,1-11). Jesus erteilt einer Praxis der Gewalt, der Willkürherrschaft, der Intoleranz, der Inquisition und Machtbefriedigung eine klare Absage. Bei dieser Teufelsversuchung durchbricht Jesus eine Erwartungshaltung, die sich auf ihn als einen angeblich omnipotenten Gottessohn richtet. Gerade diese Erwartung entlarvt er als Sache des Teufels. Alle Omnipotenzphantasie, die sich von einem himmlischen Gottessohn die Erfüllung irdischer Bedürfnisse, die Befriedigung von Machtgelüsten verspricht, muss am gekreuzigten Nazarener scheitern – in Gesellschaft und Kirche. Diese Verweigerung einer triumphalistischen Gottessohn-Vorstellung machte diesen konkreten Gottessohn immer wieder zum Störenfried (304f).

Jesus – Repräsentant der Weisheit: Typisch auch für die Weisheitsworte der Spruchquelle (Mt 11,19.25; 23,34-36/Lk 11,49-51) ist (wie schon bei den Menschensohn- und Gottessohn-Logien), dass jede spekulative oder protologische Aussage vermieden wird. Typisch für Q ist auch hier die Konkretisierung des menschlichen Leidens Jesu durch die schonungslose Schilderung der Ablehnung, Verwerfung und Kreuzigung des Nazareners. Typisch ist, dass Jesu Weg und Schicksal zwar in Weisheitskategorien interpretiert, er selber aber nicht so präexistent wie die Weisheit vorgestellt wird (307f).

Es dürfte der Reflex des Eindrucks von Jesu Person gewesen sein, den Markus mit der erstaunten Frage aufbewahrt hat: “Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist“ (Mk 6,2)? Typisch für Q ist und bleibt die Verbindung von Menschensohn-, Propheten- und Weisheitstradition – und zwar nicht zu spekulativ-protologischen Höhenflügen, sondern zur Rezeption der Niedrigkeitsgestalt der Weisheit in den Konfliktfeldern hier und jetzt: Botensendung und feindselige Ablehnung dieses Boten. Typisch für die Q-Gemeinde ist auch hier der realistische Blick auf die Probleme hier und jetzt, die Probleme der Nachfolge Jesu: “Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und aus ihrer Gemeinschaft ausschließen, wenn sie euch beschimpfen und euch in Verruf bringen um des Menschensohnes willen. Freut euch und jauchzt an jenem Tage, denn euer Lohn wird groß sein im Himmel. Denn ebenso haben es ihre Väter mit den Propheten gemacht“ (Lk 6,22f).

Von einer protologischen Hoheitschristologie kann in Q keine Rede sein. Trotz Anknüpfung an die Weisheitstradition bestand in Q kein Interesse an einer Präexistenzaussage. Das Auffallende ist, dass Jesus nicht direkt mit der Weisheit identifiziert wird, sondern als deren endzeitlicher Repräsentant erscheint (308).

Jesus von Nazareth erscheint in bestimmten Texten der Q-Gemeinde als eschatologischer Gesandter der Weisheit, als Bote der Endzeit. Jesus ist der Gesandte der himmlischen Sophia, der Endzeitprophet, der irdische Menschensohn, der Sohn Gottes und der Sohn, dem der Vater alle Gewalt übertragen hat und der alleinige Heilsmittler für die Seinen. Seine Geschichte ist Endgeschichte. In seinen Worten und Taten ist die Basileia bereits Gegenwart geworden. Die Entscheidung für oder gegen ihn hat endgültige Relevanz. Die einmalige Stellung Jesu als des letzten Gesandten der himmlischen Sophia beruht darauf, dass er nicht wie die zahlreichen ermordeten Propheten und gesteinigten Gesandten in der Geschichte Israels im Tod geblieben ist, sondern zu Gott als der verborgene Menschensohn erhöht wurde, der in nächster Nähe zusammen mit der Sophia erscheinen wird, um das Regiment des apokalyptischen Menschensohnes für den gesamten Kosmos sichtbar zu übernehmen (308f).

(e) Fazit:Weder Jesus selber noch die älteste Gemeinde lässt ein Interesse an einer Präexistenz erkennen. Berücksichtigt man die Tatsache, dass (durch die Weisheits- und apokalyptische Menschensohn-Tradition) ausgeprägte Präexistentzvorstellungen im palästinischen Judentum vorhanden waren und dass Jesus mit Weisheits- und Menschensohntraditionen durch die Gemeinde in Verbindung gebracht worden war, so muss das Fehlen einer Präexistenzaussage auf beiden Ebenen als Akt bewusster Zurückhaltung von Jesus und der Gemeinde interpretiert werden. Diese Zurückhaltung ist Reflex von Person und Sache Jesu selber (309).

Weder Jesus noch die aramäisch sprechende Jerusalemer Urgemeinde noch die Q-Überlieferung wissen etwas von einer Präexistenz Jesu (310).


 

K.-J. Kuschel (1990)

(2) Die Tradition des hellenistischen Judenchristentums: Phil 2,6-11

  1. Christus – präexistent wie die Weisheit Gottes

  2. Ein Lied vom gekreuzigten und erhöhten Christus

  3. Ein jüdisches Lied – Kontinuität mit der Urgemeinde

  4. Der Brief nach Philippi (Winter 54/55)

(e) Röm 9,5: Ein Loblied auf Christus als Gott?

(a) Christus – präexistent wie die Weisheit Gottes:Weish 9,9 kennt die Rede von einer Daseinsweise der Weisheit bei Gott und Weish 9,10 spricht von der Sendung dieser präexistenten Weisheit vom Thron Gottes aus. Nach Sir 24 verbleibt die Weisheit ebenfalls nicht in ihrer Präexistenz, sondern kommt zu den Menschen in Gestalt der Tora. Präexistenz, Sendung oder Abstieg aus der himmlischen Sphäre kennzeichnen das Bild der Weisheit (326).

Mit der Weisheitstheologie kommt erstmals eine Präexistentzvorstellung in den Blick. Hier dürfte der entscheidende Unterschied zur aramäisch sprechenden Judenchristenheit liegen. Das Wort 'morphe theou' lässt es geboten erscheinen, eine präexistente Daseinsweise Jesu Christi bei Gott vor seiner Selbsterniedrigung anzunehmen (329).

(b) Ein Lied vom gekreuzigten und erhöhten Christus:Der Phil-Hymnus enthält zwar eine Aussage über die Präexistenz Christi, diese hat aber keine selbständige Bedeutung. Phil 2,6-11 dürfte seinen eigentlichen Ort in der Liturgie der Gemeinde gehabt haben. Die Poesie kann bildlich sagen, wofür es noch keine Begriffe gibt. Derartig kühne christologische Entwürfe werden zuerst in geistgewirkten Hymnen vorgetragen (330f).

Der Text verzichtet auf jede begriffliche, philosophische oder theologische Überbrückung. Er ist hymnischer Entwurf, begeistertes Loblied, ein Dokument des prophetischen Geistes der Endzeit, ein Produkt des frühesten nachösterlichen Enthusiasmus (331f).

Die alles entscheidende Perspektive: Diesem Lied liegt die Erfahrung des gekreuzigten, erhöhten und so durch Gottes Geist präsenten Jesus Christus als Kyrios zugrunde. Der Autor blickt von der Erfahrung des gegenwärtig wirkenden, auferstandenen und erhöhten Herrn zurück auf das irdische Leben Jesu in der Niedrigkeit. Jesus Christus ist in erster Linie der gekreuzigte und erhöhte Mensch, der von Gott kam (332f).

Aussagen über die 'Gottesgestalt' Jesu sind als Ausweitung der Passions- und Erhöhungs-Aussage zu begreifen und haben ihren Sinn in der Qualifizierung der Niedrigkeit Jesu als Offenbarungsweise Gottes. Erst aus der Nachzeitigkeit der geistgewirkten Erfahrung des Erhöhten heraus wird auf eine Vorzeitigkeit Christi verwiesen: sein irdisches Leben und sein Leben zuvor bei Gott. Die Vorzeitigkeit ist dabei Funktion der Nachzeitigkeit und wird von dieser qualifiziert (333).

Die Gemeinde, die dieses Lied singt, steht unter der Inspiration des Geistes des Erhöhten. Nicht Reflexion und Spekulation, sondern eigene geistgewirkte Tiefenerfahrung lässt zu diesem Lied ein angemessenes Verhältnis gewinnen. Hymnik und Geisterfahrung waren im Urchristentum nicht zu trennen (334).

Eine selbständige Bedeutung der vorweltlichen Präexistenz Christi wird in Phil 2 nicht erkennbar. Die Heilsbedeutung Christi begründet sich nicht von seiner Präexistenz her, sondern erst von dem Weg her, den Jesus geht und der die konsequente Selbsterniedrigung notwendigerweise einschließt, auf die Gott dann mit der österlichen Erhöhung antwortete (335).

Die frühe, griechisch sprechende Judenchristenheit, die aus Jerusalem kam, wagt mit diesem Lied zwar erstmals den Gedanken einer vorirdischen Daseinsweise Jesu auszusprechen, ist aber so wenig an dessen Ausgestaltung interessiert, dass sie ihn zur bloßen Funktion des Erniedrigungs- und Erhöhungsvorgangs macht. Das Sein Christi bei Gott wird zum Auftakt dieses Liedes erwähnt, ohne dass bei ihm meditativ oder mythisch verweilt wird. Es wird nur in einem Nebengedanken erwähnt (335f).

(c) Ein jüdisches Lied – Kontinuität mit der Urgemeinde: Die weisheitlich geprägten Christologien von Phil 2,6-11 und der Spruchquelle muss man zusammen sehen. Q kennt keine Präexistenz, doch sind in Q wie im Hymnus Kreuz und Auferweckung theologisch nicht zentral (die Betonung des Kreuzes im Hymnus ist pln Zusatz) sondern Funktion der Niedrigkeits- und Erhöhungsaussage. In beiden Fällen hat eine Gleichsetzung von irdischem Menschensohn und kommendem Richter stattgefunden. In beiden Traditionen geht es christologisch nicht um die Überwindung des Todes, sondern um den Beginn der Herrschaft des Erhöhten (326f).

Die Weisheit geht mit dem Gerechten bis in Gefangenschaft und Elend (Weish 10,14), nirgendwo aber identifiziert sie sich mit einem der Gerechten. Der Hymnus wagt zu verkünden: Gottes Weisheit ist mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth identisch (337f).

Der politische Ursprung der Präexistenzaussage: Den Gekreuzigten als Weltherrn verkündigen heißt, alle Mächte, Herrschaften und Gewalten radikal in Frage zu stellen. Gegenüber dem jüdischen Establishment besteht die Herausforderung darin, dass durch den Rückgriff auf die Weisheitstheologie jetzt Christus an die Stelle der ontologisch verstandenen Tora-Weisheit getreten war. Die Kühnheit des Bruches mit den aktuellen Bestimmungen der Tora in den griechisch sprechenden judenchristlichen Gemeinden kann von uns heute kaum ermessen werden (338).

Der konkrete Anlass zur Herausbildung des Bekenntnisses zur Präexistenz Christi ist die Tempel- und Torakritik Jesu, der Konflikt des Nazareners mit dem jüdischen Establishment. Tempel und Tora waren die entscheidenden göttlichen Autoritäten, mit denen Jesus in Konflikt geraten war. Die politischen Mächte hinter Tempel und Tora waren für den Tod des Nazareners verantwortlich gewesen, Mächte, mit denen auch die griechisch sprechenden Judenchristen Jerusalems zunehmend in Konflikt geraten sein dürften. Nach Apg 6,11.13f war es die Kritik an Tempel und Tora, die die 'Hellenisten' aus Jerusalem vertrieb (339).

Wenn Jesus das endgültige Heil verkörperte, war nicht mehr der bestehende Tempel der Ort der Erwählung und der Gegenwart Gottes, war nicht mehr die Mose-Tora die Offenbarung Gottes zum Heil der Menschen, sondern Jesus selbst und zwar gerade in der Niedrigkeit seines Todes. Hinter diesen Aussagen steckt politischer Sprengstoff, steckt die Erfahrung, dass der Nazarener aus religiös-politischen Gründen ans Kreuz hatte gehen müssen und dass auch diejenigen, die es wagten, ausgerechnet den Gekreuzigten auf die Seite Gottes zu stellen, mit Verfolgung zu rechnen hatten (339f).

(d) Der Brief nach Philippi (Winter 54/55):Paulus hat bei seiner Redaktion des Hymnus den Zusatz “bis zum Tod am Kreuz“ (2,8) hinzugefügt, d.h. wir haben es mit einer Verstärkung des Kreuzestodes als äußerster Niedrigkeitsform zu tun und nicht mit einer Verstärkung der 'göttlichen Seinsweise'. Hier zeigt sich Paulus 'erkenntnisleitendes Interesse' (384).

Der Hymnus im Brief geht über alle individualistische Tugendlehre hinaus, er zielt auf den Herrschaftsantritt des gekreuzigten Sklaven über den ganzen Kosmos und legt so eschatologisch den Grund für die neue Existenz in Christus. Diese neue Existenz wird darin konkret, dass der Christ die Grundhaltung Christi selber zu leben beginnt: Machtverzicht, Erniedrigung und Selbstpreisgabe. Der Hymnus und damit der Brief als ganzer, handelt von der neuen Welt, die im Zeichen der Menschwerdung des Menschen steht (384f).


(e) Röm 9,5: Ein Loblied auf Christus als Gott?Der Text kann so übersetzt werden: “…sie (die Israeliten) haben die Väter und dem Fleisch nach entstammt ihnen der Christus, der über allem als Gott steht, er sei gepriesen in Ewigkeit. Amen” (9,5).

Damit wär ein Lob auf Jesus Christus als Gott ausgesprochen. Der Text kann aber auch so überetzt werden: “Ihnen gehören die Väter und von ihnen stammt auch Christus seiner leiblichen Herkunft her ab – Gott, der Herr über das All, sei hoch gepriesen in Ewigkeit. Amen”. Damit würde das Lob Gott alleine gelten (387).


Jesus Christus ist bei Paulus der erhöhte Herr, der durch Gott in seine göttliche Würde nach der Auferstehung eingesetzt wurde. Jesus Christus ist der erwartete Richter, dessen Ankunft, dessen `Tag`Paulus erwartet. Christus ist der Sohn Gottes, dessen ganzes Leben als Sendung, Liebe und Hingabe `für uns`verstanden werden darf und durch den Gott die neue Existenz des Menschen begrünndet. (In 1Kor 15,28 hatte Paulus die Unterordnung Christi unter Gott emphatisch herausgestellt) (388).


Es ist unwahrscheinlich, dass Paulus in dem unmittelbaren Kontext von 9,5, in dem er sein Christsein als Jude Juden gegenüber zu rechtfertigen beabsichtigt, von Christus als Gott gesprochen haben soll. Hier kommt alles auf die Segnung Israels an. Röm 9,5 dürfte als Lobpreis des Vaters wegen der Erwählung Israels zu verstehen sein (388).


Für Paulus ist Christus der `Herr`, ein vieldeutiger Begriff, den Paulus offenbar schon überimmt und der in der palästinensischen und der frühen hellenistischen Gemeinde bereits eine Vorgeschichte hat. Vereinzelt werden auch andere Begriffe auf Jesus angewandt (z.B. Bild Gottes). Immer spiegelt sich in ihnen das Bestreben, die `Verwandtschaft`Jesu mit Gott auszudrücken, ohne jedoch zu einer Identikikation zu gelangen. Für Paulus besteht das Problem, die Größen Gott, Christus, Geist aufeinander zu beziehen und doch ihren Eigencharakter nicht zu verwischen. Seit seinem Damaskus-Erlebnis konnte Paulus Gott, den Vater, nicht mehr ohne Jesus, den Sohn verstehen (389f).


(3) Der Brief nach Kolossä (1,15-20): Warum man die Präexistenz Christi bekennen musste.

K.-J. Kuschel (1990)

Angesichts der kollossischen "Philosophie" (2,8.15ff) musste man die Präexistenz Christi bekennen, sollte Christus noch der Kyrios der Welt bleiben (424).

Die Spannung: Text und Situation: Wenn Gott mit seiner ganzen Fülle in Ihm (Christus) wohnen wollte, dann ist Gott kein rätselhaftes Geheimnis mehr, sondern hat sein Geheimnis in Christus offenbar gemacht (2,2) (425).

Wenn ER (Christus) vor aller Schöpfung ist und in ihm alles erschaffen wurde, dann finden Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten an Ihm ihr Maß und ihre Grenze: “Die Fürsten und Gewalten hat er entwaffnet und öffentlich zur Schau gestellt; durch Christus hat er über sie triumphiert“ (2,15).

Wenn ER (Christus) das Haupt des Leibes ist, dann ist damit für die christliche Gemeinde ein Raum der Freiheit geschaffen. Gott hat durch das Kreuz Christi ein für alle Mal “den Schuldschein, der gegen uns sprach, durchgestrichen und seine Forderungen, die uns anklagen, aufgehoben“ (2,14).

Wenn Gott durch Ihn (Christus) alles zu versöhnen beabsichtigt, dann ist der Christ zur neuen Versöhnung fähig, zur Verwirklichung eines in Christus geschaffenen neuen Menschen: “Jetzt aber sollt ihr alles ablegen: Zorn, Wut, Bosheit. Lästerungen und Zoten sollen nicht mehr über eure Lippen kommen. Belügt einander nicht; denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und seid zu einem neuen Menschen geworden“ (3,8-10).

Wenn Christus das Bild des unsichtbaren Schöpfergottes ist, dann ist eine Erneuerung des Menschen “nach dem Bilde seines Schöpfers“ möglich. Wo das geschieht, “gibt es nicht mehr Griechen oder Juden, Beschnittene oder Unbeschnittene, Fremde, Skythen, Sklaven oder Freie, sondern Christus ist alles in allen“ (3,10f).

Wo in Christus “Friede gestiftet“ ist, da ist Vergebung möglich, da hält das “Band der Liebe“ alles zusammen, da herrscht der Friede Christi in den Herzen der Menschen (3,13-15) (425).

Die Kontrastdynamik besteht zwischen Text und Situation: Hier der Kerker – dort der Kosmos; hier der Häftling – dort der Glaube an den Herrn über alle; hier die Gemeinde zwiespältiger, fehlbarer Menschen, wo “Unzucht, Schamlosigkeit, Leidenschaft, böse Begierden und Habsucht“ (3,5) herrschen – dort das Bekenntnis zu dem, in dem wir “die Erlösung, die Vergebung der Sünden“ haben (1,14). 'Paulus', der Gefangene, verkündet den gekreuzigten Nazarener als den Herrn des Alls, als den Mittler bei der Ur-Schöpfung. Er verkündet aus der Zelle heraus die ganz andere Freiheit Gottes. Aus der Perspektive des gefangenen Vogels entwirft er die Vision vom kosmischen Christus (426).

Der Hymnus 1,15-20: Schöpfungsmittlerschaft im Zeichen der Zeitenwende

Der Hymnus blickt aus der eschatologischen 'Nachzeitigkeit' gewissermaßen zurück. Die Erfahrung des erhöhten Herrn geht voraus: “Er (Gott) hat uns der Macht der Finsternis entrissen und aufgenommen in das Reich seines geliebten Sohnes. Durch ihn (Christus) haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden“ (1,13f) (426f).

In einer zweistrophigen Struktur (15-18a; 18b-20) werden zwei Gedanken herausgestellt: Der erhöhte Christus war auch vor aller Schöpfung und keine Schöpfung war ohne ihn! Und durch den erhöhten Herrn ist alles – auf Erden wie im Himmel – versöhnt. Schöpfung einerseits und Versöhnung in Christus andererseits sind im eschatologischen Gesamtkontext die beiden großen Themen des Liedes.

Von Weisheit ist im Brief ständig die Rede und durch Sätze wie: “in ihm (Christus) sind alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen“ (2,3) ist die christliche Konkurrenzsituation gegen ein weisheitsorientiertes Judentum deutlich gegeben. Erstmals wagt eine Schrift des NT mit dem protologisch-kosmologischen Anspruch der Weisheitstheologie zu konkurrieren und Christus Jesus als Gegenmacht auf 'gleicher Höhe' vorzustellen. Erstmals wird die Schöpfung ein eigenes Thema der Christologie im NT (427f).

Stets behält hier Gott selbst die Initiative, ist der Ewige selber handelndes Subjekt. Er wollte “durch ihn ...“. Für Aussagen über Christus ist das statische 'In', das instrumentelle 'Durch' oder das finale 'Auf ihn hin' typisch oder die passive Redeweise: 'durch ihn wurde alles …'. Christus bleibt in diesem Text ganz der Mittler der Schöpfungstätigkeit Gottes – so von Gott dem Schöpfer einerseits und so auch von den Menschen, den Geschöpfen, andererseits deutlich unterschieden (428).

Bild des unsichtbaren Gottes”(1,15) : Aussagen über die präexistente Weisheit qualifizierten im Judentum Gott als den, der die Ordnung der Schöpfung geschaffen hat und sie garantiert. Der Ausdruck 'Bild Gottes' bezieht sich auf Christi offenbarende Funktion. Spekulative Fragen nach der Wesensidentität von Urbild und Abbild, Gott und Christus stellen sich nicht (429).

Im Licht der eschatologischen Auferweckung des 'geliebten Sohnes' sind Gott und sein Bild Christus immer schon als zusammengehörig zu denken. Von Gott kann man als Christ nicht mehr reden, ohne von Jesus Christus reden zu müssen und umgekehrt. Wer von Christus spricht, spricht zugleich von Gott selbst. Christus vertritt vor der sichtbaren Welt den unsichtbaren Gott und vor dem unsichtbaren Gott die sichtbare Welt. Vom postexistenten Christus her legitimieren sich Aussagen über den präexistenten (429)!

Wie die Präexistenz Christi konkret aussieht, beschreibt der Hymnus nicht. Menschen unterwerfen sich hier im Akt des Bekenntnisses dem Vorrang Christi vor aller Schöpfung. 'It was the activity of Christ in creation, not His pre-existence that Paul emphasized in his wisdom christology in the epistle to the Colossians' (W.D. Davis). 'Paulus' kommt alles darauf an, den Vorrang Christi vor allen Geschöpfen zu betonen (430).

Erstgeborener der Schöpfung“ (1,15): Weil Gott am Ende in Christus so handelte, konnte er schon die ganze Schöpfung in ihm, durch ihn und auf ihn hin schaffen. In Christus entsprechen sich das Ende der Zeit und der Anfang der Zeit. Eschatologie ist auch hier das Interpretament der Protologie. Zum anderen ist “Erstgeborener der Schöpfung“ eine Aussage über den Rang Christi vor allem Geschaffenen. Christus gehört auf die Seite des Schöpfers. Er ist der, in dem der unzugängliche Gott als Schöpfer die Welt schafft und sich so dem zuwendet, der ihn nicht sehen könnte (432).

Das Ziel: Friedensstiftung: Die erste Strophe bekennt die Bedeutung Christi für die ganze Schöpfung. Die zweite Strophe betont den 'Grund' dieser Bedeutung: die eschatologische Totenerweckung: “Er ist der Ursprung, der Erstgeborene der Toten, so hat er in allem den Vorrang“ (1,18b). Spricht die erste Strophe von der Präexistenz, so die zweite von der Neuexistenz; redet die erste vom Mittler der Urschöpfung, so die zweite vom Mittler der Versöhnung. 'Paulus' sieht den Zusammenhang von Urzeit und Endzeit christologisch als Zusammenhang von Schöpfung und Versöhnung. Versöhnung wurde dadurch möglich, dass Christus “Frieden stiftete am Kreuz durch sein Blut“ (1,20). Christi Blut (analog atl Opfer) ist für 'Paulus' Blut, das “Frieden stiftet“. Es gibt keinen Zusammenhang von Schöpfung und Versöhnung am Kreuz vorbei, keine Aussage über den Kosmos ohne Hinweis auf die Leidensgeschichte des Gekreuzigten (432f).

Ein Lied wider die falschen Beherrscher der Welt: Die Präexistenz Christi musste hier so deutlich bekannt werden, weil dieses Lied ein Gegengesang sein will gegen falsche kosmische Mächte und Gewalten, die diese Welt beherrschen und weil es vom Glauben an eine neue Existenz des Menschen in Christus Zeugnis geben will, die diesen Mächten Widerstand zu leisten vermag (434).

Wenn Christen darauf vertrauen können, dass Christus Jesus das Ebenbild Gottes ist, dann dürfen sie auch darauf vertrauen, dass Gott nun selbst das Antlitz Jesu Christi trägt. Der Bilderlose wird so in einem Bild anschaulich, weil Gott selbst sich in diesem Bild hat erkennen lassen wollen. Die christologische Präexistenzaussage musste hier Thema werden, weil es um das 'richtige' Bild Gottes ging.

Die Schöpfung ist nicht kosmischen Schicksalsmächten und Weltelementen ausgeliefert, sondern ist von Versöhnung, Frieden, ja Liebe getragen, Weltversöhnung musste neu buchstabiert werden im Angesicht von Weltbedrohung und Lebensangst (434f).

Friede und Versöhnung sind nur möglich aufgrund der in Christus vollzogenen Entmachtung der falschen Elementarmächte, der Fürsten und Gewalten dieser Welt (435f).

In summa: Mit dem Glauben an die Präexistenz Christi verbindet sich keine spekulative Neugierde, sondern das verwegene Vertrauen von Christen: dass trotz aller Elementarmächte Gott niemand anders ist als der neuschaffende und befreiende Gott Jesu Christi, der Gott, der als Urgrund von Schöpfung und Erlösung das Antlitz eines konkreten Menschen trägt, dass trotz aller Katastrophenängste der Urgrund der Schöpfung vertrauenswürdig ist; dass trotz allem Streit um die Wahrheit die Urmacht der Versöhnung vor aller Schöpfung alle Entzweiung in der Schöpfung aufzuheben vermag, dass trotz aller politischen Repressionen die falschen Mächte und Gewalten der Erde, die falschen Götter – und Götzenbilder vom wahren Bild Gottes her entzaubert werden.

Der Hymnus ist ein Lied von Schöpfung und Erlösung. In diesem Text wird poetisch, nicht begrifflich geredet. Dieses Lied will gesungen, meditiert, erfahren, aber nicht abstrakt erklärt werden (436f).


 

(4) Vorherbestimmung/Erwählung (Eph 1,4f; 1Ptr 1,20)


 

(a) Der Epheserbrief 1,4f
 (b) Der erste Petrusbrief 1,20 


 

K.-J. Kuschel (1990)

(a) Der Epheserbrief 1,4f : Denn in ihm (Christus) hat er (Gott) uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor Gott; aus Liebe hat er uns im voraus dazu bestimmt, seine Söhne zu werden durch Jesus Christus und nach seinem gnädigen Willen zu ihm zu gelangen“ (1,4f).

Erinnerungsbeschwörung: Die Heidenchristen sollen dazu gebracht werden, wieder “ein Leben zu führen, das des Rufes würdig ist, der an euch erging“ (4,1.17). Erinnert euch an euer früheres Leben (unter der Herrschaft eines falschen Geistes: 2,2). Erinnert euch an das, was Gott in Christus für euch getan hat (442)!

Beschworen wird die Wende im Leben dieser Christen. Die Treue zum Ursprung wird angemahnt. Dem Verfasser ist es so ernst mit diesem Ursprung, dass seine Erinnerung nicht nur dem gilt, was Gott durch Christus 'in der Zeit' für die Menschen getan hat, sondern auch, was er darüberhinaus in der Vorzeit, vor der Schöpfung, beschlossen hat (442).

Der Hinweis auf eine Erwählung der Christen schon “vor der Erschaffung der Welt“ ist Funktion der Lebensbesserung: “damit wir heilig und untadelig leben vor Gott“ (1,4). Der Glaube an diese Erwählung ist kritische Rückbesinnung auf eine Urabsicht Gottes mit den Christen zum Zweck der Lebensänderung (442f).

Erhöhungschristologie: Gott hat seine Kraft und Stärke an Christus erwiesen, “den er von den Toten auferweckt und im Himmel auf den Platz zu seiner Rechten erhoben“ hat (1,20). Christologischer Schwerpunkt des Eph ist das Bekenntnis zur Auferweckung und Erhöhung Jesu Christi aus den Toten (443).

Von einer Schöpfungsmittlerschaft Christi ist nicht die Rede. Das “vor der Erschaffung der Welt“ bezieht sich auf die Erwählung der Christen durch Gott. Von einer protologischen Schöpfungsmittlerschaft, von einer selbständigen Rolle Christi bei der Erwählung ist keine Spur. 'Paulus' “soll den Heiden enthüllen, wie jenes Geheimnis Wirklichkeit geworden ist, das von Ewigkeit her in Gott, dem Schöpfer des Alls, verborgen war“ (3,9). Ganz selbstverständlich wird hier von Gott als dem Schöpfer des Alls geredet (443f).

Der Eph hat einen ausgesprochen theozentrischen Zug. Das Lob von Eph 1 richtet sich an Gott, den Vater Jesu Christi. Den ganzen Text hindurch ist Gott das Subjekt des Geschehens. “Gott hat uns erwählt..., damit wir heilig und untadelig leben“ (1,4).

Satz für Satz ist von denen die Rede, denen die Tat Gottes gilt: Wir sind erwählt; wir sind zur Sohnschaft bestimmt; uns ist die Gnade geschenkt; wir haben die Erlösung; wir kennen das Geheimnis des Willens Gottes; wir sind als Erben vorherbestimmt; wir sind bestimmt zum Lob der Herrlichkeit Gottes (444).

Die Beziehung der Christologie zur Protologie ist rein eschatologisch: die Schöpfung tendiert auf die eschatologische Zusammenfassung von allem in Christus (1,10) (445).

Der Sinn dieses Briefes und der Eulogie insbesondere besteht darin, Gott für das zu loben, was er in Christus für die Menschen bereits vor der Erschaffung der Welt geplant und jetzt realisiert hat. Die Besinnung auf die Treue zum Ursprung ist Funktion der Lebenserneuerung der Christen (446).

Das Ziel: Frieden zwischen Juden- und Heidenchristen: Zum einen: Die Heidenchristen sollen sich an die Vorleistungen Gottes in Christus erinnern: “Ihr seid jetzt nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes“ (2,19). Zum zweiten: Die Heidenchristen sollen ein Geheimnis begreifen, das dem Verfasser “durch eine Offenbarung“ (3,3) mitgeteilt worden ist. Dieses Geheimnis “von Ewigkeit her in Gott“ (3,9) ist jetzt in Christus konkrete Wirklichkeit geworden und durch die Kirche der Welt verkündigt: “Dass die Heiden Miterben sind, zu demselben Leib gehören und an derselben Verheißung in Christus teilhaben durch das Evangelium“ (3,6) (447).

Weil es in diesem Schreiben darum geht, durch den Verweis auf die Vorleistungen Gottes in Christus die Heidenchristen an ihren Platz im ewigen Plan Gottes mit seinem Volk zu erinnern, ist der Rückgriff auf die Zeit vor der Schöpfung, d.h. vor Gottes Bund mit Israel, vor dem Gesetz, vor dem Tempel nötig. Israels exklusive Heilsprivilegien waren in Christus von Gott her unterlaufen worden, um auch den Heidenchristen Zugang zu Gott zu ermöglichen. Auch die Heidenchristen haben damit Anteil an Gottes Heilsplan bekommen. Ihr Heil konnte nur im “ewigen Plan“ (3,11) Gottes begründet werden. Der Rückgriff auf die Ewigkeit Gottes, auf ein Geheimnis vor aller Schöpfung, bedeutet eine Relativierung aller Heilsprärogativen in der Zeit, ist Rückerinnerung an eine in Ewigkeit geplante Gemeinsamkeit von Juden- und Heidenchristen (447f).

Liebe als Grund der Erwählung: Denn in Christus hat er (Gott) uns erwählt“. Es ist die göttliche Wahl / Erwählung, die “vor der Erschaffung der Welt“ getroffen wurde: Die Vorherbestimmung Christi als Erlöser und die Vorherbestimmung derjenigen, die in und durch Christus erlöst werden (448).

Die Aussage über das “in Christus“ vor der Weltschöpfung muss eschatologisch und soteriologisch verstanden werden. Schwerpunkt der Christologie des Eph ist der Tod (“das Blut“) und die Erhöhung Christi zum Kosmokrator durch Gott (1,20-23). Wenn Gott am Ende der Zeit in Christus war, dann war er es auch am Anfang der Zeit. Postexistenz und Präexistenz Christi korrespondieren in Gottes Plan. Die Aussage über den Anfang ist dabei nicht protologisch-personal verselbständigt, sondern soteriologisch gezielt: es geht um die Erwählung der Christen zum Heil durch Gott selbst (448).

Die Christen, denen diese Erwählung durch Gott in Erinnerung gebracht werden soll, sind Heidenchristen, die offenbar ihren früheren hoffnungslosen, gottlosen Zustand verdrängt haben. “In Christus“ erwählt sein fordert zu einer konkreten Praxis friedenstiftender Versöhnung auf. Die Erwählungchristologie ist die Bedingung der Möglichkeit ekklesialer Versöhnungs- und Friedensarbeit (448f).

Die Eulogie, wie der ganze Brief ist theozentrisch ausgerichtet. Gott selbst hat stets die Initiative, ein Gott, der überall in Christus und auf Christus hin handelt. Die Aussage “Gott handelte in Christus vor der Weltschöpfung“ muss als Bekenntnis zu einem Gott verstanden werden, der als der Gott Jesu Christi, der Vater dieses Sohnes erkannt sein will. Dieses Bekenntnis zielt auf die Sohnschaft aller Menschen. Diese Sohnschaft aller Menschen will Gott aufgrund der Liebe, die zwischen ihm als Vater und Christus als dem geliebten Sohn besteht (1,4f). Die Liebe Gottes ist für den Eph der eigentliche Grund der Erwählung des Menschen und damit der eigentliche Grund von Geschichte und Schöpfung überhaupt (449).


 

(b) Der erste Petrusbrief 1,20:Er (Christus) war schon vor der Erschaffung der Welt dazu ausersehen und euretwegen ist er am Ende der Zeiten erschienen. (21) Durch ihn seid ihr zum Glauben an Gott gekommen, der ihn von den Toten auferweckt und ihm die Herrlichkeit gegeben hat, so dass ihr an Gott glauben und auf ihn hoffen könnt“ (1,20f).

Rückgriff auf die Urzeit – Funktion des Durchhaltewillens: Hoffnung allem Leiden zum Trotz

Der Verfasser weiß, dass unter dem Druck von Übergriffen einer aggressiven ungläubigen Umwelt den Christen die Freude an ihrem Glauben verlorengehen kann. Für seine bedrängten Glaubensgenossen versucht er christologisch zweierlei dagegenzusetzen: (1) Christi Wiederkunft steht unmittelbar bevor und wird den geprüften Gläubigen “Lob, Herrlichkeit und Ehre“ (1,7) zuteil werden lassen. Leiden ist durchzustehen, weil die Belohnung sehr bald aussteht. (2) Christen können Leiden erdulden, weil Christus selbst gelitten hat (4,12-19) (464).

Wenn die Belohnung durch Gott aussteht und Leiden das Zeichen der Nachfolge Christi ist, dann könnten Christen eigentlich nur “voll Freude“ sein – trotz der Tatsache, dass sie “vielleicht kurze Zeit unter mancherlei Prüfungen zu leiden“ haben (1,6). Hoffnung ist möglich, weil durch das Leiden Christi die Rettung für Christen bereits bewirkt wurde. Nach dieser Rettung hatten auch schon die Propheten des AT gesucht. Sie haben bereits das Leiden und die Herrlichkeit Christi bezeugt, was ihnen ermöglicht worden war durch den “in ihnen wirkenden Geist“ (1,10-12) (464f).

Das Leiden jetzt ist ebenso wenig ein Zufall wie das Leiden damals, denn Christus wirkte schon in den Propheten Israels, er war im Geist in der Geschichte des Volkes der Juden präsent. Das Leiden in der Gegenwart ist Ausdruck eines schon in der Vergangenheit sichtbar gewordenen göttlichen Sinns. Das Ausersehen durch Gott hat soteriologische Bedeutung: “Euretwegen ist Christus erschienen“. Ausersehen heißt: vorherbestimmt in Gottes Plan noch verborgen. Erscheinen meint am Ende der Zeiten öffentlich sichtbar werden. Anders als in der Apokalyptik geht es hier nicht um ein Präexistenz-Existenz-Schema, sondern um das Verhältnis von 'ausersehen' und 'erscheinen'. Es geht um eine Vorausbestimmung des Messias Jesus durch Gott. 1 Ptr 1,20 ist theozentrisch zu lesen: In Jesu Wirken, in seinem Todesleiden, wurde der ewige Heilsplan Gottes vollstreckt, weil Christus der hierzu Vorherbestimmte geschichtlich wirksam wurde. Deshalb ist Jesu Wirken und Leiden in der Geschichte die endzeitliche Erlösung. So wird durch ihn die Welt nicht nur nachträglich wiederhergestellt, sondern an das ihr von Ewigkeit her bestimmte Ziel gebracht (465f).

Der Grund für die christliche Hoffnung, die auch Leiden durchzustehen vermag, ist von Gott vor der Weltschöpfung gelegt. Rückerinnerung an den Urgrund hat hier tröstende, stärkende Intention. Der Rückgriff auf die Urzeit ist Funktion des Durchhaltewillens (466).

Das, was Gott in Christus zum Heil der Menschen getan hat, was in Christus am Ende der Zeiten (in unserer Zeit) für den Glauben offenbar geworden ist, entspringt Gottes gnädiger Zuwendung zum Menschen vom Uranfang der Schöpfung an. Von der Neuschöpfung her ist die ganze Schöpfung in Christus aufgehoben und erhalten. Ist der Erhöhte bei Gott, so ist Gott nie ein anderer, denn der Vater Jesu Christi, der Vater dieses konkreten Sohnes. Präexistenzaussagen erweisen sich christologisch als das, was sie im AT bereits weisheitstheologisch und messianisch waren: als Endzeitphänomene zur Bewältigung kollektiver Grundlagenkrisen im Blick auf Schöpfung und Geschichte (468).






2. Vom Vater Jesu zum 'Mysterium' der Trinität

(1) Kann eine Trinitätslehre normativ sein?
 (2) Zur Problematik der christologischen Karriere des Jesus von Nazareth
 (3) Christologie im Streit um Geschichte, Offenbarung und Mythos


 

(1) Kann eine Trinitätslehre normativ sein? K.-H. OhligMit welchem Recht kann eine Trinitätslehre normativ sein, wenn feststeht, dass Jesus selbst nur vom Gott Israels, den er Vater nannte, und nichts von seiner eigenen späteren 'Vergottung' wusste? Muss man die Trinitätslehre nicht als einen Inkulturationsvorgang verstehen, als eine kontingente, kontextuelle Komplizierung der jesuanischen Gottesvorstellung (124)?

Die Geschichte der Trinitätslehre selbst ist eine Anfrage an die Theologie, wie sie mit ihren eigenen Normen und mit der behaupteten Kontinuität zum kanonischen Anfang umgehen will (125).


 

K.-J. Kuschel (1997): Die pln Christologie setzt gerade nicht das voraus, was für W. Pannenberg Basis seiner ganzen Christologie ist: die im Akt der Auferweckung endgültig offenbar gewordene, die von vornherein gegebene metaphysische Relation von Gott-Vater und Gott-Sohn: eine Wesenseinheit Jesu mit Gott. Das ist Nikaia, nicht Paulus! Pannenberg hat seine christologischen Grundaussagen nicht aus einer vorurteilslosen Auseinandersetzung mit dem NT und der kritischen Exegese gewonnen, sondern aus einer bereits feststehenden dogmatischen Überzeugung. Bei Pannenberg liegt ein Verhältnis von Exegese und Dogmatik vor, das hermeneutisch zutiefst problematisch ist, denn Pannenberg sucht im NT nur nach hinführenden Ansatzpunkten für seine von vornherein feststehende dogmatische Christologie. Dass weder die Präexistenzaussage des Phil-Hymnus noch die Christologie des Paulus eine Reflexion auf die ewige Relation von Vater und Sohn kennt, stört Pannenberg nicht. Ihm reicht es, dass bei Paulus der Präexistenzgedanke vorkommt, um ihn für seine eigene Dogmatik zu funktionalisieren. So vermischt man, was zwei Vorstellungswelten angehört, die durch einen Paradigmenwechsel getrennt sind (158).

Nach J. Habermann ist bei den urchristlichen Präexistenzaussagen ein spekulativer Charakter so gut wie nicht auszumachen. Die Präexistenz wird im Grunde sehr vorsichtig (Phil 2,6; Joh 1,1f) ausgesagt oder mit Hilfe von Formeln (1Kor 8,6; Kol 1,16; Hebr 1,2; Joh 1,3.10) und Weisheitsprädikaten (Kol 1,15; Hebr 1,3) zum Ausdruck gebracht. Den schillerndsten Eindruck hinterlässt 1Kor 10,1-13 mit der Vorstellung von dem in der atl Geschichte in typologischer Weise handelnden präexistenten Christus. Aber auch hier bilden die Aussagen im Vergleich zu rabbinischen Quellen keine Besonderheit und sind eher moderat. Die Zurückhaltung der christlichen Autoren wird durch folgende Beobachtungen unterstrichen: In den untersuchten Texten findet sich

•     keine ausführliche Erörterung über die Präexistenz

•     keine Thematisierung einer Zeugung oder besonderen Herkunft aus (dem) Gott

•     keine detaillierte Überlegung über die Art des Zusammenseins mit (dem) Gott

•     keine Erwähnung der Dauer der Präexistenz

•     kein ausführliches Nachdenken über das Wesen und die Eigenschaften des Präexistenten.

Die Texte verlieren sich nicht in Spekulationen, sondern rücken den Präexistenten lediglich auf die Seite Gottes. Wenn der Präexistente handelt, dann handelt er authentisch für Gott. Wenn er das Heil bringt, dann ist dieses Heil, da es nicht aus der Welt kommt, verbürgt. Die genannten göttlichen Prädikate erlauben es im NT noch nicht, von einer göttlichen Natur im Unterschied zu einer menschlichen Natur zu sprechen. Auch der Gedanke der Subordination ist selbst auf dieser Stufe nicht einfach abzuweisen. Die urchristliche Christologie widersetzt sich den Kategorien, die eine philosophische oder dogmatische Betrachtungsweise an sie anlegt. Bei den Präexistenzaussagen handelt es sich weithin um Hymnen, die noch nicht mit einer geschliffenen Terminologie geschaffen wurden. Der Lobpreis stellt sich nicht einfach den Anforderungen des Lehrsaals (Kuschel 158f).


 

H. Küng (1991): Die klassische Trinitätslehre ist ein verwirrendes Begriffsspiel: eine Lehre mit drei Hypostasen, Personen, Proposopa, zwei Prozessionen oder Hervorgängen und vier Relationen oder Beziehungen. Was sollen die dialektischen theologischen Kunstgriffe? Was soll eine reale Differenz in Gott zwischen Vater, Sohn und Geist, die doch die reale Einheit Gottes nicht aufheben soll? Was soll eine logische Differenz zwischen Gott als Vater und Gottes Natur, die doch ein reales Fundament in der Sache haben soll. Hunderte von Seiten brauchen christliche Theologen seit Augustin, um das alles in hoher Dialektik zu erklären, was für Paulus und Johannes noch so einfach war (456).

Erst nach Jesu Tod, als man aufgrund der Ostererfahrungen glaubte, dass er in Gottes ewiges Leben aufgenommen, durch Gott zu Gott, seinem Vater, erhöht worden war, hat die glaubende Gemeinde angefangen, den Titel Sohn oder Sohn Gottes für ihn zu gebrauchen (459).
 

 Kein Satz des AT wird im NT mehr zitiert als der Satz von der Throngemeinschaft des zu Gott Erhöhten mit Gott selbst (Ps 110,1). Hier ist nicht eine Abkunft, sondern die Einsetzung in eine Rechts- und Machtstellung im atl Sinne gemeint. Nicht eine physische Gottessohnschaft, sondern eine Erwählung und Bevollmächtigung Jesu durch Gott, ganz im Sinn des AT (460).
 
 Das NT spricht von einer Sendung des Gottessohnes oder von einer Fleischwerdung des Gotteswortes. Die pln Aussagen von der Sendung des Gottessohnes setzen keine Präexistenz Christi als mythologisch verstandenes Himmelswesen voraus, sondern können gut jüdisch verstanden werden im Kontext der Propheten-Tradition. Die Metapher Sendung bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass Jesu Person und Werk nicht innergeschichtlichen Ursprungs sind, sondern sich ganz Gottes Initiative verdanken (464).

Im Joh Ev wird noch so formuliert: “Das ist das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den, den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen“ (17,3) “Ich gehe hin zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“ (20,17). Dieses Evangelium enthält keine spekulative metaphysische Christologie, sondern eine mit der Welt des Judenchristentums verbundene Sendungs- und Offenbarungschristologie, in der freilich die unmythologisch verstandene Präexistenzaussage eine verstärkte Bedeutung bekommt. Der Satz: “Ich und der Vater sind eins“ (10,30) hat mit irgendwelchen dogmatisch-spekulativen Aussagen über das innergöttliche Wesensverhältnis nichts zu tun. Im Vordergrund steht die Bekenntnisaussage: Der Mensch Jesus von Nazareth ist der Logos Gottes in Person. Er ist es gerade als sterblicher Mensch. Er ist es aber nur für die, die bereit sind, in seinem Wort Gottes Wort, in seiner Praxis Gottes Taten, in seinem Weg Gottes Geschichte, in seinem Kreuz Gottes Mitleiden vertrauend zu glauben (464f).

Im Kontext der Geschichte des Juden Jesus muss das griechische Vorstellungsmodell Inkarnation gewissermaßen geerdet werden. Tut man dies, so wird Menschwerdung nur vom ganzen Leben und Sterben und neuen Leben Jesu her richtig verstanden. Denn in all seinem Reden und Verkündigen, in seinem ganzen Verhalten, in seiner ganzen Person hat der Mensch Jesus nicht als Gottes Nebenbuhler gewirkt, sondern hat des einen Gottes Wort und Willen verkündet, geoffenbart. So kann man sagen: In diesem Menschen haben Gottes Wort und Wille menschliche Gestalt angenommen. Er ist in menschlicher Gestalt Gottes Wort, Wille, Sohn. Es geht um eine Einheit Jesu mit Gott, um eine Einheit des Erkennens, des Wollens, des Handelns, des Offenbarens Gottes durch Jesus (465f).

Grund und Mitte des Glaubens ist Gott (Theozentrik), aber Gott, so wie er sich in der geschichtlichen Person Jesu Christi endgültig geoffenbart hat (Theozentrik konkretisiert durch Christozentrik). Das Prinzip der Einheit ist nach dem NT der eine Gott (ho theos: der Gott = Vater), aus dem alles und auf den hin alles ist. Es geht im NT um soteriologisch-christologische Aussagen über die Art und Weise der Offenbarung Gottes durch Jesus Christus in dieser Welt: um sein dynamisch-universales Wirken in der Geschichte, um sein Verhältnis zum Menschen und um des Menschen Verhältnis zu ihm (468).

Kriterium für das Christsein ist nicht die Jahrhunderte später herausgebildete kirchliche Trinitäts-, Inkarnations- und Satisfaktionstheorie sondern der Glaube an den einen und einzigen Gott und die praktische Nachfolge Jesu Christi im Vertrauen auf die Kraft des heiligen Geistes Gottes (472).

H. Küng (1994): Was Judenchristen glauben: In der judenchristlichen Gemeinde war der Glaube an den einen Gott so sehr eine Selbstverständlichkeit, dass der Gedanke an die Konkurrenz durch ein anderes gottgleiches Wesen von vornherein nicht aufkommen konnte. Dass der Hingerichtete von Gott zu Gott erhöht wurde und jetzt den Ehrenplatz “zur Rechten Gottes“ (Ps 1,10) einnahm, dass er durch die Auferweckung “zum Herrn und Messias gemacht“ wurde (Apg 2,22-36) und er jetzt der Wegweiser, Heilbringer und kommende Weltenrichter ist: dies alles wurde im judenchristlichen Paradigma – auch bei Paulus und Johannes – nicht als eine Konkurrenz zum Glauben an den einen Gott, sondern als dessen Konsequenz angesehen: Jesus Christus – die Verkörperung der Herrschaft und des Reiches Gottes, das schon jetzt im Geist erfahren werden kann (126).


 

Keine Trinitätslehre im NT

So viele triadische Formeln es im NT auch gibt, so steht von einer 'Einheit' dieser drei höchst verschiedenen Größen, einer Einheit auf gleicher göttlicher Ebene, im ganzen NT kein Wort. Den Satz 1Joh 5,7f (“Denn drei sind es, die das bezeugen: der Geist und das Wasser und das Blut; und die drei stimmen überein“.) hat die historisch-kritische Forschung als eine im 3./4. Jh. entstandene Fälschung entlarvt. D.h. im ganzen NT gibt es den Glauben an Gott, den Vater, an Jesus, den Sohn und an Gottes heiligen Geist, aber keine Lehre von einem Gott in drei Personen (Seinsweisen), keine Lehre von einem drei-einigen Gott, einer Dreifaltigkeit (126f).

Stephanus hat eine Vision während seiner Verteidigungsrede: “Erfüllt vom Heiligen Geist, blickte er zum Himmel empor, sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehen und rief: Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen“ (Apg 7,55f). Stephanus sieht nicht eine dreigesichtige Gottheit und erst recht nicht drei gleichgestaltige Männer, sondern der Heilige Geist ist auf Stephanus Seite, ist in ihm selber. Der Geist, die von Gott ausgehende unsichtbare Kraft und Macht, erfüllt ihn ganz und öffnet ihm so die Augen: im Geist zeigt sich ihm der Himmel.

Gott selber (ho theos) bleibt verborgen, ist nicht menschenähnlich. Nur seine Herrlichkeit ist sichtbar: Gottes Glanz und Macht, der Lichtglanz, der von ihm ausgeht. Jesus, sichtbar als der Menschensohn, steht “zur Rechten Gottes“ d.h. in Throngemeinschaft mit Gott in gleicher Macht und Herrlichkeit! Als Sohn Gottes erhöht und aufgenommen in Gottes ewiges Leben, ist er Gottes Stellvertreter für uns und zugleich als Mensch der Stellvertreter der Menschen vor Gott (127).


 

Was heißt: Glauben an Vater, Sohn und Geist?

Gott, der unsichtbare Vater über uns, Jesus, der Sohn des Menschen, als Gottes Wort und Sohn mit uns, der Heilige Geist, als Gottes Kraft und Liebe in uns.

Paulus sieht das ähnlich: Gott schafft das Heil durch Jesus Christus im Geist. Wir sollen im Geist durch Jesus Christus zu Gott beten. Jesus als dem zu Gott erhöhten Herrn ist Gottes Macht, Kraft, Geist so sehr zu eigen geworden, dass er nicht nur vom Geist ergriffen und des Geistes mächtig ist, sondern dass er aufgrund der Auferweckung sogar selbst in der Existenz- und Wirkweise des Geistes ist. Im Geist kann er den Gläubigen gegenwärtig sein, nicht physisch-materiell sondern als geistige Wirklichkeit im Leben des Einzelnen und der Glaubensgemeinschaft. Deshalb geht es in der Begegnung mit Gott, Herr und Geist für den Glaubenden letztlich um die eine und selbe Begegnung, um das Handeln Gottes selbst: “Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen“ (2Kor 13,13) (128).

So wird auch von Vater, Sohn und Geist in den Abschiedsreden bei Johannes gesprochen, wo der Geist die personalen Züge eines Beistandes und Helfers hat. Der Geist ist gleichsam der Stellvertreter des erhöhten Christus auf Erden. Er ist gesandt vom Vater in Jesu Namen. So redet er nicht von sich aus, sondern erinnert an das, was Jesus gesagt hat.

Die Schlüsselfrage zur Trinitätslehre ist nach dem NT nicht die als undurchdringliches Geheimnis deklarierte Frage, wie drei so verschiedene Größen ontologisch eins sein können, sondern die christologische Frage, wie das Verhältnis Jesu zu Gott schriftgemäß ausgesagt werden soll. Dabei darf der Glaube an den einen Gott, den das Christentum mit dem Judentum und dem Islam gemeinsam hat, keinen Moment in Frage gestellt werden: Es gibt außer Gott keinen anderen Gott! Das Prinzip der Einheit ist dem NT zufolge nicht die eine, mehrere Größen gemeinsame göttliche Natur (physis). Das Prinzip der Einheit ist für das NT wie für das AT eindeutig der eine Gott (ho theos), aus dem alles und auf den hin alles ist (128f).

Bei Vater, Sohn und Geist geht es dem NT zufolge nicht um metaphysisch-ontologische Aussagen über Gott an sich und seine innerste Natur: über ein statisches, in sich ruhendes, uns offen stehendes inneres Wesen eines dreieinigen Gottes. Es geht vielmehr um soteriologisch- christologische Aussagen, wie Gott selbst sich durch Jesus Christus in dieser Welt offenbart: um Gottes dynamisch-universales Wirken in der Geschichte, um sein Verhältnis zum Menschen und um des Menschen Verhältnis zu ihm. Es gibt bei aller Verschiedenheit der Rollen durchaus eine Einheit von Vater, Sohn und Geist, nämlich als Offenbarungsgeschehen und Offenbarungseinheit: Gott wird durch Jesus Christus offenbar im Geist. Dies ist die Denkstruktur, wie sie im Rahmen des judenchristlichen Paradigmas geprägt wurde und wie sie als Struktur auch einem Juden nicht fremd sein müsste (129).

Die Judenchristenheit hat in der Folgezeit immer auf der historischen Tatsache insistiert, dass Jesus von Nazareth, der Messias und Herr, nicht ein göttliches Wesen, ein zweiter Gott, sondern ein Mensch gewesen ist. Weder hat der Jesus der Geschichte (der nur implizit eine Christologie vertrat) seine eigene Präexistenz verkündet, noch ließ die judenchristliche Gemeinde (die eine explizite Christologie vertrat) eine Trinitätslehre aufkommen. Die Lehre von der Trinität ist ein Produkt des Paradigmenwechsels von dem apokalyptisch-urchristlichen zum hellenistisch-altkirchlichen Paradigma (129).

Unbestreitbar ist, dass das Konzil ganz und gar in hellenistischen Begriffen, Vorstellungen und Denkmodellen gefangen blieb, die dem Juden Jesus von Nazareth und der Urgemeinde völlig fremd gewesen wären (224).

Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einer eschatologisch-endzeitlichen Throngemeinschaft Gottes mit seinem Christus nach dessen irdischem Leben durch die Auferweckung und Erhöhung wie sie im NT verkündigt wird und einer protologisch-vorzeitlich zu denkenden, d.h. von Ewigkeit her immer schon gegebenen und ontologisch verstandenen Wesensgemeinschaft zwischen einem Gott Vater und einem Gott Sohn. Je mehr der Sohn auf eine Seinsebene mit dem Vater gestellt und dieses Verhältnis mit naturhaften Kategorien umschrieben wurde, um so schwieriger wurde es, gleichzeitig Jesu Unterscheidung von Gott und seine Einheit mit Gott begrifflich zusammenzudenken. Da blieb dann nur noch übrig, an ein Begriffsmysterium zu appellieren, wie es weder Jesus verkündigt noch die Apostel bezeugt, wohl aber die Theologen durch die Transposition der biblischen Aussagen auf eine andere Ebene produziert hatten (224f).

Faktisch war die Folge zunächst ein ungeheurer Wirrwarr verschiedener Gruppen und Strömungen und ein halbes Jh. des (mit theologischen und auch politischen Mitteln durchgeführten) Streites (225).

Die konziliaren Entscheidungen haben Spaltungen und Ketzerverfolgungen ausgelöst. Die Christenheit wurde so in Verkehrung ihres Wesens aus einer verfolgten Minderheit zu einer die anderen verfolgenden Mehrheit. Im Namen Jesu Christi, des Predigers der Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit, wurden Andersgläubige verfolgt, umgebracht und Kunstschätze ausradiert. Bis heute ist die Christenheit in die verschiedenen Kirchen gespalten. Diese Spaltung hat mit dem ersten Konzil begonnen, als die Arianer aus der Kirche herausgedrängt und schließlich verfolgt wurden und als nach dem Konzil von Chalkedon eine Reihe von Kirchen aus der Gesamtkirchengemeinschaft ausgeschlossen wurde (238).

Das göttliche Moment in Jesus wurde in Nikaia so ausschließlich betont, dass alles Menschliche an Jesus zurücktrat. Der Christus der Geschichte trat zurück hinter den Christus des Dogmas und die Evangelien hinter die Glaubenslehre der Kirche und die Nachfolge Christi hinter die Orthodoxie der Lehre und der Liturgie (239).

L.M.: Das Chalcedonense bekennt: "Jesus Christus, vollkommen Gott und vollkommen Mensch". Für die Jünger und für die Evangelisten bestand kein Zweifel an der wahren Menschheit Jesu. Man hatte Christus "nach dem Fleische" gekannt, war mit ihm durch Galiläa und Judäa gezogen, hatte seine Verhaftung, seine Marterung und seinen Kreuzestod miterlebt. Durch die Auferweckung hatte sich Gott dazu bekannt, dass der Gekreuzigte der von ihm Gesandte ist. Im Joh Ev wird Jesus als der natürliche Sohn von Joseph und Maria verkündet. Paulus sagt: "aus der Frau geboren". Die Aussage 'von einer Jungfrau geboren' kennt Paulus noch nicht. In der Trinitätslehre fehlt das 'vollkommen Mensch' der Zwei-Naturen-Lehre.


(2) Zur Problematik der christologischen Karriere des Jesus von Nazareth

P. Hoffmann

Der Weg Jesu vom verachteten und gehängten Propheten aus Galiläa zum präexistenten Gottesssohn und schließlich zur zweiten Person in dem trinitarisch begriffenen einen Gott der israelitischen Glaubensgeschichte (259)

Die Jesustradition bedurfte der Transformierung im Kontext neuer historischer und kultureller Situationen. Die Kontinuität gibt es nur in der Diskontinuität der Zeiten und Kulturen und der Variation des Kerygmas (E. Käsemann) (258).

(a)Formale Beobachtungen: Die ältesten christologischen Aussagen erscheinen nicht als 'Lehr'-Aussagen. Es handelt sich um Gebetsrufe (Maranatha), Doxologien („Wir preisen dich Jahwe, der du Jesus von den Toten erweckt hast“), Akklamationen („Herr ist Jesus“), Hymnen (Phil 2,6ff). Mit Hilfe dieser Aussagen wird einer existentiellen Heilserfahrung Ausdruck gegeben. 'Christologisches' erscheint als Chiffre einer zugrundeliegenden Glaubenserfahrung (259).

Der ältesten Osteraussage („Gott, der Jesus von den Toten erweckte“) geht es nicht primär um die Lebendigmachung eines Toten, sondern darum, dass der in Israel abgelehnte Jesus von Gott Recht bekam, seine Botschaft gültig bleibt trotz der Hinrichtung als 'falscher Prophet'. An ihm und seiner Botschaft entscheidet sich das ewige Geschick (260).

Dass aus diesem galiläischen Propheten Jesus zunächst der eschatologische Retter und Menschensohn und schließlich ein vom Himmel herabgestiegenes präexistentes göttliches Wesen und im 4.Jh. die zweite Person in dem trinitarisch begriffenen einen Gott der biblischen Glaubensgeschichte wurde, ist das Ergebnis einer komplexen Entwicklung. Sie hängt mit dem Übergang der jüdisch-apokalyptischen Basileia-Botschaft Jesu in den antiken hellenistisch-römischen Kulturbereich zusammen (260).

(b) Der charismatische Ursprung: Die Basileia-Botschaft des Propheten Jesus von Nazareth: Jesus tritt als Bote der in diesem Augenblick in die böse Weltzeit einbrechenden Gottesherrschaft auf. Für Jesu Botschaft ist die strenge Theozentrik grundlegend. Nicht er bringt die Basileia, die Basileia bringt ihn mit. Er ist Bote, Zeuge, Exponent dieses universalen den ganzen Kosmos umfassenden Geschehens. Seine Taten, die Zuwendung zu den Marginalisierten, die Heilung der Besessenen, die Gemeinschaft mit Sündern und Zöllnern sind situationsbezogene Antizipation der kommenden Basileia in dieser den Mächten des Bösen noch verfallenen Geschichte. Seine ethische Mahnung will seine Zeitgenossen zu einem basileia-gemäßen Umgang miteinander motivieren. Als Basileia-Ethik steht sie in einem universalen Horizont und zielt auf eine neue, dem Schöpfer gemäße menschliche Gesellschafts- und Weltordnung (260f).

In dem sog. Bekennerspruch (Mt 10,32f: „Wer sich zu mir bekennt vor den Menschen, zu dem werde ich mich bekennen vor den Engeln Gottes; wer mich verleugnet vor den Menschen, den werde ich verleugnen vor den Engeln Gottes“) scheint Jesus für sich im endzeitlichen Gericht die Rolle eines Zeugen, Bürgen, Fürsprechers bzw. Klägers in Anspruch zu nehmen. Nach dem Logion Mk 14,25 kündigt Jesus in der Stunde des Abschiedsmahls den Jüngern seine Teilnahme am endzeitlichen Freudenmahl Gottes (Jes 25) an. Das besagt, dass er mit seiner Rehabilitierung durch Gott rechnete, während er (Mt 8,11f) denen, die seine Botschaft ablehnen, den Ausschluss von diesem Mahl ankündigt (261).

Dieser Anspruch Jesu bedurfte weder der messianischen Titulatur der jüdischen Tradition noch der Vorstellung einer göttlichen Wesenheit, Präexistenz oder Schöpfungsmittlerschaft zu seiner Artikulation. Der Anspruch war Jesus selbst in seinem Auftreten. Der Vermittler ist die Botschaft, die Botschaft ist der Vermittler. Die nachösterliche Gemeinde wird die historische Vorgabe christologisch, d.h. mit Hilfe des ihr jeweils vorgegebenen Heilbringer-Repertoires auslegen (261f).

(c) Die Anfänge der Christologisierung im palästinischen Traditionsbereich: 'Der Glaube an die baldige Wiederkunft Jesu' muss als das erste und 'einzige Dogma' der ersten Christen angesehen werden. Ausgelöst wurde diese Erwartung durch die Ostervisionen. Sie sind Ausdruck der Überzeugung der Jünger, dass Jesus mit seiner Botschaft und seinem Anspruch von Gott bestätigt ist – trotz des Fluchtodes am Kreuz (262).

Gegen eine frühe Aufnahme christologischer Titulaturen spricht das auf die aramäische Urgemeinde zurückgehende Zeugnis: der im aramäischen Wortlaut erhaltene Gebetsruf „Marantha / unser Herr komm“ (1Kor 16,22; Offb 22,20). Aufgrund der jüdischen Denkvoraussetzungen der frühen Gemeinde ist der Gedanke einer Vergöttlichung Jesu oder seiner Gleichstellung mit dem einen Gott und Herrn Jahwe auszuschließen. Andererseits ist aus dem einstigen Basileia-Boten und Zeugen im bevorstehenden Gericht nun jemand geworden, der so eng mit dem eschatologischen Gotteshandeln verbunden ist, dass sein 'Widerkommen' (aus den Himmeln) mit dem endgültigen Anbruch der endzeitlichen Gottesherrschaft gleichgesetzt werden kann (262f).

Die erwartete Wiederkunft Jesu wird mit Zügen der Jahwetheophanie ausgestattet (Dtn 33,2: „Jahwe kam vom Sinai, er glänzte ihnen auf von Seir, er strahlte auf vom Gebirge Paran, mit ihm Tausende von Heiligen“). In der Mk-Apokalypse (Mk 13) wird das Kommen des Menschensohns auf den Wolken des Himmels in „viel Macht und Herrlichkeit“ durch die Erschütterung des ganzen Kosmos eingeleitet, 'Engel' begleiten ihn. Ähnlich greift die Rede vom „Tag des Menschensohns“ in Lk 17 auf den atl „Tag Jahwes“ zurück. Diese Übertragung von Zügen der Jahwe-Theophanie auf einen eschatologischen Mandatar Gottes bewegt sich noch in den Bahnen zeitgenössischen jüdisch-apokalyptischen Denkens (263).

Jesu Anspruch mit seiner Botschaft wird nun im zeitgenössisch-apokalyptischen Horizont zur Geltung gebracht. Es geht hier um die letzten Fragen, die die Welt und die Menschheit betreffen. Jesu Auftreten in Galiläa kommt universale Geltung zu. Entscheidend sind für die prophetischen Träger der frühen Jesusbewegung unter diesem Aspekt die Weiterverkündigung der einstigen Botschaft Jesu und die Weiterführung seines Wirkens in Israel in Erwartung des Wiederkommenden. (Es geht nicht um christologische Bekenntnisse oder christologische Spekulationen). Durch eine solche Absolutsetzung Jesu, vor allem durch Identifizierung mit einem aus der himmlischen Sphäre kommenden Heilsbringer, ist der Grund gelegt für weitere Christologisierungsprozesse, die schließlich zu seiner Divinisierung führten (265).   

Jesu Verkündigung war vom Gegenwartsaspekt bestimmt. Indem nun die Erwartung des kommenden Kyrios dominiert, entsteht die Gefahr einer einseitigen Akzentuierung der Zukunftsdimension und damit der Reapokalyptisierung der christlichen Verkündigung. Das, was Heil bedeutet, wird damit wieder in eine endzeitliche Ferne gerückt. Indem nun Jesu Botschaft zum Maßstab im bevorstehenden Gericht wird, ist zweitens die Gefahr gegeben, dass der für Jesus grundlegende Indikativ der unbedingten Zuwendung Gottes zum Menschen aus den Blick gerät und so seine Botschaft vergesetzlicht wird (266).


 

(d) Der Übergang in den hellenistischen Kulturbereich:In hellenistischer Kult- und Königsterminologie spricht man nun von der Parusie des Kyrios. Auch im Gottesdienst der hellenistischen Gemeinde hat der Marantha-Ruf seinen Platz. 1Thess 1,9f  lässt zwei Hauptthemen erkennen: Die Bekehrung zum lebendigen Gott in der Abkehr von den Götzen und die Erwartung „seines Sohnes aus den Himmeln, den er erweckt hat aus den Toten, Jesus, der uns rettet vor dem kommenden Zorn(-gericht)“. Als der Kommende heißt Jesus nun Sohn Gottes (266).

Eine Verschiebung der Zukunftsperspektive zeichnet sich nun auch auf die Gegenwart ab: Nach der noch judenchristlich geprägten Formel Röm 1,3f ist „der aus dem Samen Davids Stammende seit (und kraft) der Auferstehung der Toten zum Sohn Gottes eingesetz“. Hier wird für Jesus die Würde des davidischen königlichen, d.h. des national-jüdischen Messias in Anspruch genommen, die auch der Christus-Name zum Ausdruck bringt. Als solcher heißt er Sohn Gottes. Der Titel bringt (noch) nicht die göttliche Wesenheit eines Präexistenten zum Ausdruck, sondern meint die Jesus seit Ostern zukommende messianische Würde und Aufgabe (so sieht es später auch noch Lukas in seiner Christologie). Der Kommende wird aber nun als der Gegenwärtige gesehen. Als der aus den Toten Erweckte ist er jetzt der entscheidende Heilsmittler. Dementsprechend wandelt sich auch das Verständnis des Kyrios-Titels: Jesus ist der Herr des Kosmos und der Kultherr seiner Gemeinde jetzt. Die Gemeinde begegnet ihm, wie es auch in hellenistischen Kultvereinen der Fall ist, in der Feier des Herrenmahls „am Tisch des Kyrios“, an dessen pneumatischem Wesen alle kraft pneuma-erfüllter Speise und Tranks Anteil gewinnen (1Kor 10) (267).

Es bleibt nicht bei dieser österlichen Erhöhungschristologie: Bereits Paulus lässt in Röm 1,3f erkennen, dass Jesus für ihn Sohn Gottes nicht erst seit Ostern, sondern schlechthin ist. Ostern ist er eingesetzt zum Sohn Gottes in Macht. Das zeigt auch die formelhafte Rede von der „Sendung des Sohnes Gottes“, die wir bei Paulus und später im Jh-Ev finden. Schon der irdische Jesus sprach von seiner Sendung (Mt 10,40: „Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf, wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat“), doch hier ist die Sendung in der Tradition prophetischer Berufung begriffen. Bei Paulus und vor allem bei Johannes geht es bei der Sendung hingegen um den Eintritt eines bei Gott präexistierenden himmlischen/göttlichen Wesens in die irdische Existenz (Gal 4,4f; Röm 8,3). Im Hymnus Phil 2,6-11 ist dieser Gedanke entfaltet. Nach Gal 1,16 hat Gott ihm (Paulus) bei der Bekehrung „seinen Sohn“ offenbart (268).

Die Umbildung der palästinischen Kyrios-Erwartung hängt mit dem Übertritt der Jesusbewegung in den hellenistischen Kulturbereich zusammen. Verständlich wird eine solche Transformierung vom hellenistischen Heilsverständnis her, das wahrscheinlich schon auf die jüdische Weisheitsspekulation einwirkte. Wo Heil nur als Teilhabe am göttlichen Leben begriffen werden kann, wie im Hellenismus, kann dies nur durch ein göttliches Wesen von oben her vermittelt werden (268).

In der 'Logik' solchen Denkens konnte dann der als der entscheidende Heilsbringer verkündigte und erfahrene Kyrios und Messias Jesus von hellenistischen Menschen nur als ein göttliches Wesen angesehen werden. Umgekehrt gilt auch, dass Jesu Heilsmittlerschaft hellenistischen Adressaten nur mit Hilfe des Gedankens seiner göttlichen Herkunft plausibel gemacht werden konnte. Solche Transformierung setzt das Klima des Enthusiasmus voraus, das offensichtlich sowohl die Missionsverkündigung als auch die gemeindliche Versammlung in der frühen Christenheit prägte. In 1Thess 1,5 und in Gal 3,3.5 erinnert Paulus die Gemeinde an die sie bei der Bekehrung überwältigende Geisterfahrung. In 1Kor 12,1-3 vergleicht er das pneumatisch bedingte Bekenntnis zum Kryios mit den ekstatischen Erfahrungen in heidnischen Kulten, die die Adressaten früher gemacht hatten. 1Kor 14 zeigt uns, wie frühchristliche Gemeindeversammlungen von pneumatischen Phänomenen bestimmt waren (268f).

Wie lässt sich Jesu konkretes Menschsein, vor allem sein Todesgeschick mit diesem Konzept der Divinisierung vereinbaren? Die griechischen Götter benutzen Scheinleiber für ihre irdischen Auftritte. Eine Konsequenz, die der Doketismus und später der faktische Monophysitismus der Großkirche zog. Die synoptischen Evangelien vertreten diese Christologie in der Spätzeit des NT nicht. Mit der nun einsetzenden Divinisierung Jesu (sie ist immer noch subordinatianisch verstanden) ist ein zweites grundlegendes Problem gegeben: Wie lässt sich Jesu Gottheit mit dem für die jüdisch-christliche Überlieferung grundlegenden monotheistischen Gottesbekenntnis vereinbaren (269f)?

Paulus hat gegen die einseitige Fixierung auf den Auferstandenen und Erhöhten den Gekreuzigten gestellt und damit die christliche Existenz der nicht aufhebbaren Dialektik von Tod und Leben ausgesetzt. Gegen die Flucht in ein Jenseits stellt er das 'Schon und Noch-nicht' des Heils und eröffnet so den Zugang zur Geschichte als dem Bereich verantwortlichen Handelns. Die Taufe meint bei ihm die Teilhabe am Kreuzestod Christi (Röm 6). Sie ermöglicht und fordert den konkreten Gehorsam ein. Gegen den pneumatischen Individualismus stellt er mit Hilfe des Leib Christi-Gedankens die ekklesiale Dimension christlicher Existenz und Praxis heraus (1Kor 12) (271).


(3) Christologie im Streit um Geschichte, Offenbarung und Mythos

(a) Adolf von Harnack als Herausforderung heute
 (b) Karl Barth als Herausforderung heute
 (c) Rudolf Bultmann als Herausforderung heute
 (d) Was Barth und Bultmann gegen Harnack verbindet
 (e) Was Bultmann mit Harnack gegen Barth verbindet
 (f) Eine Lanze für Harnack
 (g) Was bleibt von Harnack, Barth und Bultmann?
 (h) Der spezifische 'Blick' des NT
 (i) Die Ostererfahrung als Frage nach dem Ursprung 

K.-J. Kuschel (1990)

(a) Adolf von Harnack als Herausforderung heute: Harnack wollte mit seiner Kritik an der Präexistenzlehre die Einzigartigkeit der christlichen Offenbarung wieder freilegen (43).

Schaut man sich die Entwicklung der Christologie an, wie aus dem Verkünder der Gottesherrschaft eine Art geistiges Himmelswesen wurde, wie aus der persönlichen Gottesbeziehung des Nazareners eine Theorie über seine göttlich-menschliche Natur wurde, wie das schlichte Evangelium sich in eine philosophische Theorie aufgelöst findet, wie durch die Verselbständigung eines himmlischen Christus neben Gott die Monarchie Gottes bedroht ist, so kann man die Geschichte dieser Christologie nur als Verlustgeschichte erzählen, als Abfall vom Ursprung, als Verdrängung des historischen Jesus durch den präexistenten Christus, als intellektualistische, spekulative Entfremdung von der ursprünglichen Verkündigung Jesu (49).

Pluralität verschiedener Christologien: Im NT stehen neben der Präexistenzvorstellung solche Auffassungen, die in der Erhöhung (durch die Auferstehung) oder in der Verklärung auf dem Berg oder in der Geistmitteilung bei der Taufe die Einsetzung des Menschen Jesus zum Sohn Gottes erkannten oder aufgrund von Jes 7 in der wunderbaren Entstehung Jesu den Keim eines einzigartigen Wesens gesetzt fanden.

Harnack kann die Präexistenz Christi auf der Linie der Theologien von Paulus und Johannes bejahen, solange der präexistente Christus die Einheit Gottes nicht gefährdet, kosmologische Spekulationen zurückgedrängt sind und sich ein Rückbezug zum Jesus der Geschichte noch erkennen lässt, solange der Raum atl Denkweise noch gewahrt und hellenistischer Intellektualismus und Doktrinalismus noch nicht Platz gegriffen haben (53).

Sobald ab dem 2. Jh. die pln Vorstellungen von Christus als Pneuma und dem 'Fleisch' als Erniedrigungsform immer stärker auf hellenistisch-philosophischen Boden fielen, wurde aus Christus ein Wesen, das 'zuerst Geist' gewesen ist, bevor es Fleisch angenommen hat (2Clem 9,5). Hinzu ist die jüdische Messialogie mit ihrer Vorstellung gekommen, dass der Messias vor der Schöpfung ausersehen und deshalb Anfang der ganzen Schöpfung gewesen sei. Die griechische Christologie lautet nun so: Christus, der uns gerettet hat, war zuerst Geist und Ursprung der ganzen Schöpfung, nahm Fleisch an und hat uns auf diese Weise berufen. Das ist die Wurzel der orthodoxen Dogmatik, das theologisch-philosophische Grundbekenntnis, das der trinitarischen und christologischen Spekulation der Kirche der folgenden Jh.e zugrunde liegt (54).

Verschiebung, Verlagerung, Verdrängung, Übermalung: das sind die Kategorien Harnackscher Präexistenzkritik in der Geschichte des christologischen Dogmas. Er sah in der Hellenisierung, der weiteren Doktrinalisierung, die Schlichtheit des Evangeliums und die Einzigartigkeit und Alleinherrschaft Gottes bedroht (54).

Seine Schrift, Das Wesen des Christentums, ist ein Versuch, zu einer Art 'Abrüstung' in Sachen philosophisch-spekulativer Überkomplexität zu gelangen, um so den Kernbestand der christlichen Verkündigung für heute neu freizulegen (60).

Keine metaphysischen und psychologischen Spekulationen über das Gottesbewusstsein Jesu: Die Zuversicht, in der Johannes ihn zum Vater sprechen lässt: “Du hast mich geliebt, ehe denn die Welt gegründet war“, ist der Gewissheit Jesu abgelauscht (60f).

Als Gottessohn steht Jesus für die Glaubenden in einer unüberbietbaren Mittlerfunktion gegenüber Gott: Jesus hat nicht sich verkündet, sondern das Werk des Vaters und nur “er ist der Weg zum Vater“ und er ist, als der vom Vater Eingesetzte, auch der Richter (61).

Auf der Weltkirchenkonferenz für Glaube und Kirchenverfassung 1927 in Lausanne stellte Harnack zunächst das ökumenisch Gemeinsame aller christlichen Kirchen heraus: Weder die Einzigkeit noch die Einheit der Person des Erlösers wird bestritten noch der Glaube an den Vater, den Sohn und den Geist. Allgemeines Bekenntnis ist, dass in Jesus Christus das Wort Fleisch geworden ist, dass Christus der Sohn Gottes, das Ebenbild Gottes, unser Herr ist (64).

Seit zwei Jh.n – so Harnack – lehnen Christen die Naturenspekulation ab, weil unter ihrer Voraussetzung die Einheit der Person Jesu eine bloße Behauptung bleibt. Sie kann weder empfunden noch gedacht werden. Die Einheit wird hier auf Kosten der Menschheit Christi vollzogen. Diese Christen lehnen es ab, über den oben formulierten Konsensus hinaus dogmatisch bindende Aussagen über Christus zu machen. Sie sagen nicht: Christus war Gott, sondern Gott war in Christus (65).

Harnacks Ansatz fordert von der Dogmatik nichts weniger als eine neue Prioritätenbestimmung der Mitte des christlichen Glaubens. Die Aussagen über eine vorweltliche Existenz Jesu Christi, seine ewige Gottessohnschaft, verlangen vom modernen Menschen ein Aufopfern seines Verstandes zugunsten einer ihm fremden kirchlichen Lehre, ein stures 'Für-wahr-halten' von theologischen Objektivationen, die als intellektuelle Zumutung erlebt werden (67).


 

(b) Karl Barth als Herausforderung heute: Die politische Widerstandskraft der Christologie

Gerade als ewiger Herr über die Welt ist Christus die Kritik aller Herren dieser Welt; gerade als Mittler vor aller Schöpfung ist er die Gegenmacht zu allen Mächten in dieser Schöpfung; gerade als Herr der Zeit ist er auch der Richter über alle Zeit. Angesichts dessen, dass die Welt heillos zerspalten ist, führt Barth gegen das, was man Wirklichkeit zu nennen pflegt, eine Gegenwirklichkeit ein: die Wirklichkeit Jesu Christi. Sie ist die Wirklichkeit Gottes und zugleich die wahre Wirklichkeit der Menschheit (146).

Barth sah in der Präexistenzchristologie die Möglichkeit gegeben, als Christ in dieser Welt zu leben, ohne sich von den Machtstrukturen dieser Welt total bestimmen zu lassen (147).

Dem seiner neuzeitlich-aufklärerischen Autonomie gewissen und selbstbewussten Individuum wollte Barth die eigenen Selbsttäuschungen (über eben diese Autonomie) bewusst machen und zwar durch die Neubetonung der Diastase von Gott und Mensch und der einzig wahren Selbstbestimmung in Gottes Wort und in seinem Sohn. Die Präexistenzchristologie erwies sich für Barth gerade in ihrer 'Un-Vernunft' als geeignet, dem Diktat und dem Universalanspruch neuzeitlicher Rationalität Widerstand zu leisten (149).


 

(c) Rudolf Bultmann als Herausforderung heute: Wir bedürfen der Präexistenzvorstellung nicht mehr. Christusglaube heißt nicht, besondere Vorstellungen und Spekulationen über Christi metaphysisches Wesen anstellen (immanente Trinität) im Sinne späterer kirchlicher Dogmatisierung. Bultmann wollte nicht wie K. Barth eine Christologie als metaphysische Spekulation über ein Himmelswesen betreiben (166f).

Worauf Barth nicht verzichten zu können meinte (Wesenstrinität, Anhypostasielehre), was für Barth erst die Identität christlicher Gotteslehre als christliche konstituierte (der ewige Sohn), darauf meinte Bultmann gerade nicht angewiesen zu sein: Das alles gehörte der mythologischen Vorstellungswelt von einem 'Himmelswesen' an, dessen er für heute nicht mehr bedurfte (167f).

Die Herausforderung Bultmanns besteht darin, dass er das Christentum mit seinem mythischen Erbe kritisch konfrontiert. Seine Hauptthese war: Die Vorstellung von der Präexistenz und der Menschwerdung eines 'himmlischen Wesens' ist ein vorchristliches Anschauungsmodell, das dem Weltbild des Mythos entstammt (203).

Bultmann verpflichtet die christliche Theologie, den mit der Aufklärung vollzogenen Bruch zwischen einem mythisch geformten und einem neuzeitlich-wissenschaftlich geprägten Weltbild theologisch ernst zu nehmen. Das Bultmannsche Programm ist immer dort neu ins Spiel zu bringen, wo bei Glaubensaussagen das mythische Weltbild objektivierend übernommen und den Menschen heute als wahr anzuerkennende Glaubenstatsache zugemutet wird (206).

Das entscheidende Problem für die ntl Botschaft besteht nicht in ihrem mythologischen Charakter als solchem, sondern darin, dass mythisches Reden nicht mehr als solches wahrgenommen und demzufolge mit dem rationalen Reden verwechselt wird. Bultmann ging es darum, der Verwechslung von mythischen und nachmythischen Reden zu wehren, um dem Logos im Mythos auch unter neuzeitlichen Bedingungen Geltung zu verschaffen. Das Sachanliegen der Entmythologisierung ist nicht der Abschied vom Mythos im Namen der Säkularität, sondern der Versuch, auch in säkularer Zeit ein vernünftiges Verhältnis zum Mythischen zu gewinnen (207).


 

(d) Was Barth und Bultmann gegen Harnack verbindet: Der christliche Glaube kann um der Offenbarungsstruktur willen nicht darauf verzichten, mit einem 'mythologischen Rest' zu reden. Barth und Bultmann wussten: Das NT hatte die Christologie nicht in Mythologie aufgelöst, sondern das mythische Erbe vom konkreten Christusereignis her kritisch relativiert. Mit ihrem Ansatz bei Joh 1,14 gingen beide davon aus, dass das NT selber ein gutes Stück bereits entmythologisiert habe. Der Mythos, die Aussage eines göttlichen Ereignisses, wird verlassen für das Geschehen im Fleisch. Beide gingen davon aus, dass im NT die mythologischen Elemente jede selbständige Bedeutung verloren hatten und theologisch funktionalisiert waren. Die Aussagen über Christi Präexistenz waren ein Versuch, das Unanschauliche Gottes zu veranschaulichen, die unbegreifbare Wirklichkeit des Absoluten mit menschlich-relativen Vorstellungen von Raum und Zeit begreifbar zu machen (209f).

Barth wie Bultmann wussten: Menschen können nicht anders als in Bildern von der Wirklichkeit Gottes reden. Insofern Christus für sie Gott repräsentierte, von Gott gekommen, bei Gott gewesen war, vor aller Schöpfung, vor aller Zeit, ist der Glaubende gerade auch in Sachen Präexistenzchristologie auf eine Bildersprache angewiesen, auf die Kraft der Poesie. Beide wussten aber auch, dass Menschen nur dann mythologisierende Missverständnisse bei der Rede von Gott vermeiden können, wenn sie sich der Diskrepanz von Bild und Realität bewusst bleiben und nicht anfangen, die Wirklichkeit Gottes mit den je eigenen Bildvorstellungen glatt zu identifizieren. Bilder sind unvermeidlich, aber Bilder bleiben Bilder! Theologie ist nicht auf Mythos, aber auf Poesie angewiesen. Der christliche Glaube kann um der Offenbarungsstruktur des Christusereignisses willen nicht darauf verzichten, ein Stück weit mythisch zu reden. Christliche Theologie nach der Aufklärung muss entmythologisieren, entbildlichen darf sie nicht (210f).


 

(e) Was Bultmann mit Harnack gegen Barth verbindet: Mit Harnack war Bultmann der Meinung, dass das NT Spekulationen über die ontologische Natur nicht kenne und dass man folglich als Theologe davon Abstand nehmen müsse, wolle man sich nicht einer alten, überholten Ontologie ausliefern und damit dem Verdacht der Objektivierung. Als Exeget konnte Bultmann deshalb der präexistenzchristologischen Hermeneutik K. Barths nie folgen, mit der dieser bereits das ganze NT las. Bei Joh 1,1 verbat er sich vom Text her jede Spekulation über eine Urzeugung in der göttlichen Sphäre, jede Vorstellung von einer Entfaltung der Gottheit oder einer Emanation. Er wies jeden Gedanken eines Sich-selbst-objektiv-Werdens der Urgottheit zurück. Bultmann lehnte mit Harnack einen trinitätstheologischen Einsatz der Theologie ab aus exegetischen Gründen, aus Gründen des Schriftverständnisses selber (213).

Bultmann war davon ausgegangen: Im NT werden über Jesu Göttlichkeit und Gottheit Aussagen gemacht, die bekennen, dass das, was er sagt, und das, was er ist, nicht innerweltlichen Ursprungs ist, nicht menschliche Gedanken, nicht weltliche Geschehnisse sind, sondern dass darin Gott zu uns redet, an uns und für uns handelt (214).

Nach Bultmann gilt von Jesu Präexistenz und Menschwerdung dasselbe wie von seiner Auferstehung, weil beide Phänomene sich jeder objektiven Beweisführung entziehen. Natur ist ein Begriff, der sich nur auf vorhandene Dinge beziehen kann, nicht aber auf Gott. So ist es nicht möglich, über die göttliche Natur Jesu eine Aussage zu machen, denn nur ein an-sich-Seiendes kann objektiviert werden, nicht aber der sich offenbarende Gott, der nur in existentieller Begegnung erfasst werden kann (215f).


 

(f) Eine Lanze für Harnack: War Harnacks Insistieren auf dem Jesus der Geschichte und der Gotteserfahrung Jesu selber, sein Beharren darauf, dass es kein Christentum gäbe ohne den konkreten geschichtlichen Jesus, der sich nicht als der präexistente und fleischgewordene Gottessohn verstanden hat, wirklich ernstgenommen? Wenn das Wort wirklich 'Fleisch' geworden ist, war dann nicht das, was 'Fleisch' konkret bedeutet, bei Barth und Bultmann zu einer bloßen Abstraktion geworden? Waren sie damit dem Zimmermanns Sohn aus Galiläa wirklich gerecht geworden, wie er trotz aller Christologie durch die synoptischen Evangelien noch hindurchscheint? Hatten sie das Gekommensein ins Fleisch nicht zu einer überflüssigen Randfrage gemacht (220).


 

(g) Was bleibt von Harnack, Barth und Bultmann: Kritischer Maßstab für sachliche Kontinuität ist die Botschaft des NT selber. An diesem Punkt gibt es kein Zurück hinter Harnack. Die Botschaft Jesu und die ursprüngliche Verkündigung Jesu als des Christus bleiben kritischer Maßstab der späteren dogmatischen Aussagen (632).

Der Fall Karl Barth zeigte die politische Widerstandsfähigkeit dieser Aussagen vom präexistenten Christus angesichts des Faschismus. Gerade Karl Barth zeigte: Keine Christologie ohne politische Relevanz, ohne gesellschaftskritisches Widerstandspotential, ohne kosmische Dimension (632f).

Bultmann deckte den mythischen Charakter der Rede vom präexistenten Christus auf und versuchte zugleich deren Sinn zu beerben. Keine Christologie ohne Entmythologisierung, keine Rede vom 'ewigen Christus' ohne Selbstdurchschauen der Chancen und Gefahren mythischen Redens, keine Christologie ohne existentielle, soteriologische Relevanz (633).


 

(h) Der spezifische 'Blick' des NT : Einen spekulativen Topos Präexistenz Christi kennt das NT nicht. Eine Präexistenzchristologie, verstanden als eine isolierte, verselbständigte Reflexion auf ein vorweltliches, göttliches Sein Jesu Christi in oder neben Gott, eine metaphysisch verstandene Sohnschaft ist nicht Sache des NT. Im Gegenteil: Vom NT her muss eine solche Präexistenzchristologie relativiert werden (637f).

Der geschichtliche Jesus selber hat keine Aussagen über seine Präexistenz gemacht.

Von 27 Schriften des NT können 20 von Jesus als dem Sohn Gottes reden, ohne auf die Vorstellung von dessen Präexistenz angewiesen zu sein (Mt,Mk,Lk, Apg, die 8 authentischen Paulusbriefe (Phil 2 ausgenommen), die 3 Pastoralbriefe, der Eph, Jak, Jud und 1/2Ptr).

In Texten, die eine Aussage über die Präexistenz enthalten (Kol 1; Heb 1, Corpus Johanneum), sind von den Autoren Gegenakzente gesetzt worden (Kreuzestheologie, Inkarnation). Das Joh Ev, das eine dramatische Entwicklungsgeschichte erkennen lässt, stellt neben den Chancen auch die Gefahren einer Präexistenzchristologie heraus: Doketismus und Bi-theismus (638).

Präexistenzaussagen im NT sind als sekundär anzusehen. Die Aussage der Präexistenz ist Ergebnis theologischer Folgerungen (638f).


 

(i) Die Ostererfahrung als Frage nach dem Ursprung: Erst nach Ostern, aufgrund der Überzeugung, dass Gott den Gerechten aus Nazareth nicht im Tod gelassen hat, dürfte den Anhängern Jesu in voller Tiefe bewusst geworden sein, um wen es sich bei Jesus handelte: um den Gesandten, das Wort, die Weisheit, den Sohn Gottes (639).

Die Entdeckung des wahren Grundes der Geschichte Jesu öffnete den Blick für den Urgrund, die Ursprünge. Jetzt war es möglich – in Analogie zur Weisheitstheologie – zu sagen: Der Ursprung des zu Gott Erhöhten ist nicht die menschlich-irdische Zeit, sondern die Vorzeit Gottes. Das Ende der Geschichte Jesu war der Schlüssel zu seinem Anfang (639).


 


 


 


 


 


 

Literatur

Gunneweg, Antonius
 1977, Vom Verstehen des Alten Testaments, Eine Hermeneutik

Hahn, Ferdinand
 1996, Die Verwurzelung des Christentums im Judentum

Hoffmann, Paul
 1995², Studien zur Frühgeschichte der Jesus-Bewegung

Kuschel, Karl-Josef
 1990, Geboren vor aller Zeit? Der Streit um Christi Ursprung
 1997, Exegese und Dogmatik, in: Gottes ewiger Sohn, R. Laufen (Hg)

Küng, Hans
 1991, Das Judentum

1994, Das Christentum

Ohlig, Karl-Heinz
 1999, Ein Gott in drei Personen? Vom Vater Jesu zum 'Mysterium der Trinität'

Schmithals, Walter
 2008, Der Ausschluss der Christen aus der Synagoge und das Neue Testament, in: Berliner Theol. Zeitschrift, 25.Jg. Heft 1

Scholtissek, Klaus
2003, „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35), in: JohEv – Mitte oder Rand des Kanons? (Hg) Th. Söding

Söding, Thomas
2000, „Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen“ (1,46)? in: NTS 46
 2002, "Ich und der Vater sind eins" (Joh 10,30), in: ZNW 93

Wengst, Klaus
 1981, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus