VIII. WEDER SÜHNETOD noch STELLVERTRETENDER TOD

A. Frühchristliche Traditionen ohne Deutung des Todes Jesu

B. Der Tod Jesu im Johannesevangelium

C. Der Tod Jesu nach Lukas

D. Die Kulttheologie des Hebräerbriefes
 Jesu Sterben – kein Sühnegeschehen sondern gehorsame Selbsthingabe

 

A. Frühchristliche Traditionen ohne Deutung des Todes Jesu

 

1. Die Logienquelle, eine Spruchsammlung (Q) 
2. Die vormarkinische Kreuzigungstradition

 

J. Becker (1975): Die älteste Auslegung von 'Ostern' besagt, dass der Gott, der Jesus auferweckte, sich durch sein auferweckendes Handeln mit dem Gottesbild identifizierte, für das Jesus von Nazareth eingetreten war. Die Kontinuität zwischen Jesus und der nachösterlichen Gemeinde besteht darin, dass die Jünger sich legitimiert wussten, Jesu Gott weiterzuverkündigen, weil dieser Gott selbst durch Jesu Auferweckung anzeigte, wie es um die Legitimität von Jesu Gottesbild bestellt war. 'Ostern' besagt: die Gotteserfahrung mit dem Gott Jesu ist für die Jünger nach dem Kreuz nicht zu Ende. Sie hat weiterhin Gültigkeit. 'Ostern' gehört zunächst in die Theologie (106).

Die älteste Osterdeutung versteht sich als Gottes Ja zu dem am Kreuz hingerichteten Jesus. Jesus verstand sich als Prophet, der das Verlorene und dem Gerichtstod Verfallene durch Gottes gütige neue Herrschaft zu neuem Leben berief. Die Jünger interpretierten 'Ostern' als Akt des den tödlich gescheiterten Jesus zu neuem Leben erweckenden Gott. Nur der Gott Jesu, d.h. der Gott, den Jesus verkündigte, und der Gott, der Jesus auferweckte, kann Verlorenes retten (124).

Neben Paulus christologischer Soteriologie wird nach Ostern die theologische Soteriologie der Basileiaverkündigung Jesu weitergeführt.

 

H. Kessler (1972): Die Worte Jesu am Kreuz (Mk, Mt, Lk, Joh) drücken jeweils verschiedene nachösterliche Auffassungen frühchristlicher Gemeinden aus bzw. sind von der Theologie der Evangelisten bestimmt (Anm. 13).

Jesus hat seinen Tod nicht als Sühnopfer, nicht als Genugtuung, nicht als Loskauf verstanden, und es lag auch nicht in seiner Absicht, durch seinen Tod die Menschen zu erlösen. Die Erlösung der Menschen hing nach seiner Meinung davon ab, ob sie sich auf seinen Gott und auf die Art für andere zu leben einließen, mit der er ihnen begegnete. Heil und Erlösung hängen für Jesus nicht erst von seinem zukünftigen Tod ab (25).

Die Anhänger Jesu haben seine Hinrichtung am Kreuz nicht als erlösendes Ereignis betrachtet. Sein Tod erschien ihnen als eine Katastrophe. Sie gerieten in eine tiefe Krise und Hoffnungslosigkeit. Erschüttert und enttäuscht flohen sie aus Jerusalem (Lk 24,21; Mk 14;50). Um den Tod Jesu nicht als das völlige Ende Jesu und seiner Sache ansehen zu müssen, bedurften sie einer neuen und besonderen Erfahrung (25f).

Alle frühchristlichen Gruppen gehen von der Überzeugung aus, dass Gott den wie einen Verbrecher Hingerichteten nicht verlassen und verstoßen und nicht bei den Toten gelassen hat. Sie gehen von der Überzeugung aus, dass Gott diesen Jesus ins Recht gesetzt und als Gerechten anerkannt hat (26).

 

1. Die Logienquelle, eine Spruchsammlung (Q)

 

H. Kessler (1970): Gott wirkt das Heil durch Jesus

Die aramäisch-sprechenden Christen der ersten Jahrzehnte nach Jesu Tod hatten den Tod Jesu nicht zum Gegenstand ihrer Überlegungen gemacht. In Q fehlt jede Spur von einer Passionsgeschichte, auch ein ausdrückliches Passionskerygma ist nicht vorausgesetzt.

Diese frühe aramäisch-sprechende Christenheit Palästinas bleibt im jüdischen Kultverband, sie bleibt beim Tempel und bei der Tora. Ihr Anliegen ist die Erweckung Israels. Entsprechend der atl Tradition der Völkerwallfahrt (Jes 2,2-5) erwartet sie das Herbeikommen der Heiden als Gottes eigene endzeitliche Fügung (Mt 8,10f par). 

Für Q ist der Wortlaut des mosaischen Gesetzes bis hin zu ‘Jota und Häkchen’ (Mt 5,18) unbedingt verbindlich. Q ordnet die Kultgesetzlichkeit dem Gebot der Nächstenliebe unter (Lk 11,39.42; Lk 14,5), darum konnte sie sich der ‘verlorenen Schafe des Hauses Israel’ (Mt 10,5f) annehmen (236f). 

Theologisches Hauptmotiv der Logienquelle ist Jesu Ansage vom Kommen der Herrschaft Gottes (Lk 11,20; Mt 13,31ff) und vom Eingehen in sie (Mt 8,11f). Die hinter Q stehende Gruppe konnte so vorgehen, weil ihr Jesus als der kommende Menschensohn offenbart wurde und weil sie dieses Kommen angespannt erwartete. Dieser Glaube an den Kommenden wird in das irdische Leben Jesu zurückgeblendet; der Dagewesene wird von seiner Zukunft her beleuchtet. 

Die Anhänger Jesu sind wie Jesus selbst Boten der Endzeit. Sie bekennen sich zu ihm, wissen sich von ihm gesandt (Lk 10,16) und erfahren um seinetwillen Abweisung und Verfolgung, einst aber himmlischen Lohn (Lk 6,22; 12,28). Auch Jesus war einem unbußfertigen, halsstarrigen Geschlecht begegnet (Mt 11,20ff), das ihn ‘Schlemmer und Zecher, Freund der Zöllner und Sünder’ (Mt 11,19) gelästert hatte (237f). 

Jesu Tod war Prophetengeschick, ihm widerfuhr, was allen Boten Gottes von Seiten Israels widerfährt (Lk 11,49ff; 13,34f). Jesu Todesgeschick ist Ausdruck der Abweisung durch Israel und damit der Unbußfertigkeit Israels. Der Dagewesene wird identifiziert mit dem kommenden Menschensohn. Der Abgelehnte kommt wieder und zwar zum Gericht! Seine Ablehnung bedeutet daher Unheil im kommenden Endgericht (Lk 12,8) (238f). 

Fragmente anderer Traditionskreise 

Noch für das spätere Judenchristentum ist der Tod Jesu nicht Heilsereignis, sondern Frevel der Juden gewesen. Bekenntnisformulierungen die von Jesu Tod sprachen, entstanden wahrscheinlich erst unter griechisch-sprechenden Judenchristen. Aber selbst sie brauchten Jesu Tod nicht theologisch zu qualifizieren, wie die traditionellen Formeln in 1Thess 4,14 und Röm 8,34 zeigen. 

Wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott auch die, die entschlafen sind, durch Jesus mit ihm einherführen“ (1Thess 4,14). „Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt“ (Röm 8,34). 

Die von Lk gestalteten Petrusreden der Apg verwenden ein kerygmatisches Motiv, das die schuldhafte Tat der Juden und die Auferweckungstat Gottes gegenüberstellt (Ihr habt ihn getötet - Gott aber hat ihn auferweckt: 2,23f.36; 3,13ff; 4,10; 5,30; 10,39f), um so den Gekreuzigten als durch Gott bestätigt zu erweisen und den Umkehrruf an die Juden zu motivieren. Hier geht es um den Aufweis der Schuld der Menschen an diesem Tod (239f). 

Auch im Horizont hellenistischer Frömmigkeit und einer ihr entsprechenden präsentischen Eschatologie braucht dem Tod Jesu nicht notwendig Heilsbedeutung zuzukommen, wie einige hymnische Fragmente hellenistischer Gemeinden zeigen. In ihnen wird der Kreuzestod Jesu bisweilen gar nicht erwähnt 1Tim 3,16: Universales Epiphaniegeschehen mit kosmischem Sieg und Erhöhung Christi; Kol 1,15-20: Unterwerfung des Alls durch die Schöpfungsmittlerschaft Christi, Versöhnung des Alls durch seine Auferstehung; die Erwähnung des Kreuzes in V.20 “indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz” ist pln Zusatz. Der Kreuzestod kann auch lediglich als Stufe auf dem nach dem Schema: Inkarnation-Inthronisation gestalteten Weg des Erlösers Phil 2,6-11 erscheinen: Erst durch das pln Interpretament in V.8: “bis zum Tode am Kreuz” bekommt der Tod konstitutive Bedeutung (240). 

Ergebnis

Die Anhänger Jesu, die hinter Q stehen, haben den Tod Jesu nicht eigens reflektiert. Jesu Tod wird als Prophetenschicksal, als das gewohnte Geschick der Gottesboten betrachtet, das durch irdische Akteure verursacht ist, die darin ihre Unbußfertigkeit, ihren Unglauben, ihre Schuld bekunden: 

Die Juden haben den Herrn Jesus getötet und die Propheten und haben uns verfolgt und gefallen Gott nicht und sind allen Menschen feind“ (1Thess 1,15). Ähnliches gilt von den traditionellen Formeln in den Reden der Apg. Die Q-Gruppe lebte in unmittelbarer Erwartung Jesu als des kommenden Menschensohns, und dabei wurde ihr Jesu Tod offenbar nicht zum besonderen Problem. 

Sie berichten … wie ihr euch bekehrt habt zu Gott von den Abgöttern, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott und zu warten auf seinen Sohn vom Himmel, den er auferweckt hat von den Toten, Jesus, der uns von dem zukünftigen Zorn errettet“ (1Thes 1,9f). 

Ich werde vom Gewächs des Weinstocks nicht mehr trinken bis an den Tag, an dem ich aufs neue davon trinke im Reich Gottes“ (Mk 14,25). Hier blickt man bei der Mahlfeier auf das baldige himmlische Freudenmahl, nicht jedoch auf Leiden und Tod Jesu, wie das die späteren Deuteworte tun. Auch die Hymnenfragmente hellenistischer Judenchristen sprechen dem Tode Jesu keine eigene Bedeutung zu (241). 

 


 


 

2. Die vormarkinische Kreuzigungstradition

 

(1) Die älteste Schicht des Kreuzigungsberichtes (Mk 15,20b-22a.24.27)
 (2) Eine zweite spätere Schicht des Kreuzigungsberichtes (Mk 15,25f.29a.32cf.34a.37f)
 (3) Die Leidensvorhersagen
 

 

Die griechisch-sprechenden, der hellenistischen Diaspora entstammenden Judenchristen, die Anhänger des gekreuzigten Jesus von Nazareth geworden waren (Apg 6,1), wurden vermutlich von den ‘Sieben’, einem Kreis um Stephanus, maßgeblich bestimmt (Apg 6,3.5; 21,8). Diesem Kreis gehörte vielleicht auch Simon von Kyrene an, der Augenzeuge der Kreuzigung Jesu ist (Mk 15,21). Auf ihn geht der älteste uns erhaltene Bericht von der Kreuzigung Jesu zurück (241f). 

 

(1) Die älteste Schicht des Kreuzigungsberichtes (Mk 15,20b-22a.24.27) 

 

Diesen Bericht gab man in der Form weiter, dass man ihn unter Verwendung atl Worte erzählte. Mk15,24 erinnert an den Psalm eines unschuldig leidenden Frommen (Ps 22,19 LXX). Das dürfte eine Art Vorstufe von Schriftbeweis darstellen. Hinter ihr verbirgt sich ein theologisch-apologetisches Interesse: Jesus ist nicht als Verbrecher, sondern unschuldig als Gerechter gekreuzigt worden. Schon die älteste Kunde von der Kreuzigung Jesu dürfte nicht historischer Bericht über den Gang der Ereignisse, sondern Verkündigung des Glaubens gewesen sein (242). 

Ein Messias am Kreuz war für jeden Juden ein unüberwindlicher Anstoß. Es bedeutete für die frühe Christenheit eine Überlebensfrage, diesem Anstoß standzuhalten, stand doch dabei die Legitimation Jesu durch Gott auf dem Spiel. Am Leitfaden des AT versuchte sie deshalb, dem im Erfahrungshorizont spätjüdischer Geschichte nicht vorgesehenen Schandtod ihres Messias ein Verständnis abzugewinnen (243). 

An sich wies die Schrift keineswegs auf einen leidenden oder gar gekreuzigten Messias hin. Jes 53 wurde weder im Judentum noch im frühen Christentum so verstanden. Herkömmliche Schriftbegründung genügte folglich nicht mehr. Es war erforderlich, das unerhörte Geschehen des Kreuzes Christi im Lichte der ganzen Schrift zu deuten, d.h. das Zeugnis des AT aufs neue zu erheben, indem man es vom Kreuz Christi her las und auf das Kreuz Christi hin betrachtete. Dieses neue Verständnis der Schrift kommt etwa in der Formel ‘nach der Schrift (1Kor 15,3f) zum Ausdruck. Mit ihr will man sich nicht nur auf die eine oder andere Schriftstelle beziehen, vielmehr nimmt man die Schrift im ganzen für den gekreuzigten Messias in Anspruch. Diese Art Schriftbeweis war zunächst ein im Osterglauben wurzelndes Postulat. Man hatte im gekreuzigten Jesus von Nazareth den Messias erkannt (243). 

Im ältesten Kreuzigungsbericht geschieht Verkündigung: Sie geschieht als Geschichtserzählung mit den Worten des AT. Sie geschieht jedoch nicht im Schema Weissagung-Erfüllung; die atl Belegstellen gelten nicht als Weissagung und die Passion nicht als ihre Erfüllung. Ein derartiger Gebrauch der Schrift entwickelt sich erst in späteren Stadien der Tradition (Mt 27,9f) (244). 

 

(2) Eine zweite spätere Schicht des Kreuzigungsberichtes (Mk 15,25f.29a.32cf.34a.37f) 

 

Nun fließen vor allem jüd.-apokalyptische Vorstellungen ein. Das apokalyptische Abrollen der Stunden (Mk 15,25.33.34a) bringt zum Ausdruck, dass diese Passion endzeitliches Geschehen, von Gott gewollt und geplant ist und dass es darum mit Unaufhaltsamkeit abrollt. Die Gottlosen kreuzigen (Mk 15,25 in der dritten Stunde) und schmähen (Mk 15,29a.32c) den Messiaskönig (Mk 15,26), aber dadurch entlarven sie sich als verblendete Sünder, über denen in der sechsten Stunde weltweite Gerichtsfinsternis aufzieht (Mk 15,33). In der neunten Stunde, stößt der Gekreuzigte einen apokalyptischen Schrei aus und stirbt (Mk 15,34a:37). Mit diesem wortlosen Todesschrei Jesu beginnt nicht die große Nacht, sondern hört die Finsternis auf (Mk 15,33; vgl Apg 8,33a), der Vorhang des Tempels zerreißt (Mk 15,38). Das apokalyptische Gericht über die Welt schließt die Vernichtung des Tempels ein: Hinter einem zerrissenen Tempelvorhang wohnt Gott nicht mehr. Die auf den Tempel hin orientierte Torafrömmigkeit der Juden erscheint damit als unwiderruflich durch den Gekreuzigten erledigt (244f). 

Judenchristen, die noch im Bann jüdischer Frömmigkeit standen, erwarteten das Gericht über die Gottlosen wie die Rettung der Jesusanhänger von der Zukunft des Menschensohns. Hier aber wurde beides als längst geschehen ausgegeben. Mit Jesu Kreuzestod hat etwas Neues begonnen. Die Finsternis ist beendet, der neue Tempel ist ein Bethaus für alle Völker (Mk 11,17). Man wandte apokalyptische Vorstellungen nicht auf das Kommende an, sondern auf ein bereits vergangenes Ereignis, auf den Tod Jesu. Damit war die Apokalyptik umgedeutet (245). 

Griechisch-sprechende Judenchristen standen der Tora, insbesondere dem Kultgesetz und dem Tempel, von Anfang an mit größerer Freiheit gegenüber als ihre judaisierenden Glaubensgenossen. Vielleicht sah man in dem Kreis um Stephanus die Verheißungen von Joel (2,28-32) bereits eingetreten: den Tag Jahwes, die Verfinsterung der Sonne (Mk 15,33), die Ausgießung des Geistes (Apg 2,16ff), die Rettung durch die Anrufung des Namens Jesus (Apg 4,12; 9,14.21; 22,16; 1Kor 1,2) und auch jene apokalyptischen Verheißungen (äth Hen 90,28f) nach welchen der irdische Tempel zerstört und durch einen neuen, vollkommenen Tempel ersetzt werden soll (Mk 14,58; 15,29: Apg 6,14; 7,48ff). Dann brauchte man die Rettung nicht mehr von der Befolgung der Tora und auch nicht erst vom Kommen des Menschensohns zu erwarten. Konsequenterweise wandte man sich nach der Ermordung des Stephanus (Apg 7,54ff) und nach der Flucht des Kreises (Apg 8,1; 11,19) auch der Heidenmission zu (Apg 8,4; 11,19ff), ohne von den Heiden zu verlangen, dass sie rituell Juden werden müssten (245f). 

 


 

(3) Die Leidensvorhersagen 

 

In der ältesten vormarkinischen Schicht des Passionsberichtes findet sich nirgendwo der Titel Menschensohn. Q kennt zwar Sprüche vom kommenden Menschensohn und solche von seinem Erdenwirken, nicht jedoch Sprüche von seinem Leiden. Solche Worte vom leidenden Menschensohn begegnen in der späteren vormarkinischen Tradition. Dort wurde die Menschensohn- und die Passionsüberlieferung verbunden (248). 

Worte vom leidenden Menschensohn treten in zwei verschiedenen Typen auf: Der eine Typ begegnet in Mk 9,31b: “Der Menschensohn wird überantwortet werden in die Hände der Menschen, und sie werden ihn töten”. Dieser Text reflektiert eine der ältesten Deutungen der Passion, die Vorstellung vom Leiden des Gerechten. Der Gegensatz Gerechter-Sünder kehrt in der Gegenüberstellung Menschensohn-Menschen (als gottfeindliches Geschlecht) wieder (248f). 

In atl und spätjüdischen Aussagen vom Leiden des Gerechten wird auch schon auf dessen Rettung, Auferstehung und Lohn vorausgeschaut. So verwundert es kaum, dass die Leidensvoraussage Mk 9,31b nachträglich um eine Auferstehungsaussage erweitert wurde (Mk 9,31c) (249). 

Der zweite jüngere Typ nimmt auf die Schrift Bezug. Er begegnet in der Leidens- und Auferstehungsvorhersage Mk 8,31: “Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen”. Hier erscheint die jüdische Obrigkeit als Akteur der Passion, das wird zur Anklage gegen sie. Der Hinweis auf den verborgenen Willen Gottes der sich im Leiden des Menschensohns vollzieht, wird nun deutlicher artikuliert durch das Motiv der Schrifterfüllung: ‘es steht geschrieben’ und durch die apokalyptische Formel ‘es ist nötig’/‘muß’, mit deren Hilfe eine gottgesetzte Gesetzmäßigkeit ausgesprochen werden soll: der Tod Jesu ist nicht sinnlos, sondern nach dem Willen Gottes geschehen (250). 

Paradoxerweise unterliegt der Menschensohn, dessen Erscheinen in Macht erwartet wird, ohnmächtig der Feindschaft des Bösen. Die Gottlosigkeit triumphiert über ihn. Das wiederum ist paradoxerweise von Gott so verfügt, der auch dieses Geschehen in der Hand behält und zu seinem endzeitlichen Handeln macht. In der zweiten Schicht des Kreuzigungsberichtes war mit dem Tod Jesu das Gericht über die Gottlosigkeit und über das jüdische Kultgesetz ausgesprochen (251). 

Mk konnte Leidensvorhersagen und Passionstradition für seine Konzeption verwenden, nach welcher Jesus im Augenblick seiner tiefsten Erniedrigung verborgenerweise der erhöhte Gottessohn ist, aber zugleich immer der gekreuzigte Jesus von Nazareth (Mk 16,6) bleibt und nach welcher Jesus in seinem Kreuzestod den neuen, nicht mit Händen gemachten Tempel, seine Gemeinde, erbaut. Mk erwartet Gericht und Heil nicht mehr von der zukünftigen Parusie des Menschensohns, sie sind für ihn im Kreuzestod schon Ereignis geworden und durch die Gegenwart des Erhöhten immer wieder neu aktuell (251). 


 

Ergebnis 

  • Die Leidens- und Auferstehungsvorhersagen sind nachösterliche vaticinia ex eventu. In ihnen spricht die nachösterliche Christenheit eine Deutung der Passion von Ostern her aus. 

  • In der alten Kreuzigungstradition sucht die frühe Christenheit dem Leiden und Sterben Jesu dadurch ein erstes Verständnis abzugewinnen, dass sie es unter den Willen Gottes stellt. Jesu Sterben geschah, ganz wie es in der Schrift (besonders in den Leidenspsalmen) offenbart ist bzw. wie es apokalyptischer Gesetzmäßigkeit entspricht. Jesu schändlicher Tod beruht in Gottes Ratschluss.

  • In der zweiten, apokalyptisch gefärbten Schicht des Kreuzigungsberichtes wird das Leiden und Sterben Jesu außerdem eschatologisch qualifiziert. Es ist GerichtsgeschehenGericht über die Gottlosigkeit und über das jüdische Kultgesetz als vermeintlicher Heilsweg. Das endzeitliche Gericht wird vorverlagert. Der von den Menschen gerichtete Menschensohn zeigt sich paradox und verborgen als ihr Richter.

  • Für die zweite Schicht des Kreuzigungsberichtes fängt mit Jesu Tod etwas Neues an. Die Finsternis ist vorbei. Gott wirkt das Heil nicht exklusiv im Tod Jesu, sondern Gott wirkt das Heil durch Jesus. Für diesen Traditionskreis steht Jesu Leiden und Sterben nicht im Zentrum des Bekenntnisses. Mk, der diese Tradition aufgriff, hat dann das gesamte Wirken Jesu im Licht des Kreuzestodes gezeichnet und auf diesen hingeordnet (252).





























B. Der Tod Jesu im Johannesevangelium

 

1. Jesus als Märtyrer
 2. Jesu Tod als Erhöhung, als siegreiche Rückkehr zu Gott

 

1. Jesus als Märtyrer

 

(1) Der Kreuzestod
 (2) Kreuzigung als Erhöhung
 (3) Auferstehung – eine Station auf dem Weg Jesu

 

K. Berger (2004³)

 

(1) Der Kreuzestod

 

Jesu Tod als Sieg

Das Joh Ev kennt weder einen Sühnetod noch einen stellvertretenden Tod Jesu, mit dem die Sündenschuld der Menschen in der Welt ausgeglichen würde, mit dem dieser in irgendeinem Sinn Erlösung der Menschen vor Gott bewirkte (227).

Das Lamm Gottes (Joh 1,29.36)

Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde hinwegträgt“! Die Wendung 'Gottes Lamm' und 'Gottes Heiliger' (6,62) sind inhaltlich weitgehend deckungsgleich. Der Ausdruck “Heiliger Gottes“ bezeichnet die kultisch begründete Reinheit und Erwähltheit. Der Ausdruck “Lamm Gottes“ bezeichnet Jesus als den Gerechten. In Jes 53,7 steht das Lamm für den Verzicht des leidenden Gerechten auf Widerstand. Das Lamm wird stumm zur Schlachtbank geführt und tut seinen Mund vor dem Scherer nicht auf (227f).

Ob in 19,14.36f auf das Passalamm angespielt wird, ist sehr umstritten. Die Stelle “ihr sollt ihm kein Bein zerbrechen“ kann man auf das Passalamm (Ex 12,46; Num 9,12) beziehen, genausogut aber auf den leidenden Gerechten nach Ps 34,21: “Der Gerechte muss leiden, doch der Herr trägt Sorge, dass seine Gebeine nicht zerbrochen werden (229).

Der Ausdruck “die Sünde wegtragen“ findet sich im zeitgenössischen Judentum in einer Aussage über die Fürsprecher-Rolle des gerechten Henoch (slav) 64,5: “Du wirst verherrlicht vor dem Angesicht des Herrn in Ewigkeit, weil dich der Herr erwählt hat mehr als alle Menschen auf der Erde. Und er hat dich zum Schreiber seiner sichtbaren und unsichtbaren Geschöpfe eingesetzt und zum Wegnehmer der Sünden der Menschen und zum Helfer deiner Hausgenossen. Die Ausdrücke “Wegnehmer der Sünden“ und “Helfer“ interpretieren sich gegenseitig. In 53,1-3 sagen die Kinder Henochs: “Unser Vater Henoch ist mit Gott und er wird für uns eintreten und uns herausbitten aus den Sünden“. In 53,2 ist vom “Helfer für einen Menschen, der gesündigt hat“ die Rede. Es handelt sich nicht um einen stellvertretenden Tod, sondern um die Rolle Jesu, der nach Joh 14,16 sich selbst als Helfer (“einen anderen Helfer wird er euch geben“) bezeichnet und nach 1Joh 2,1 vor Gott die Rolle des Fürsprechers einnimmt, die die Henochliteratur ähnlich Henoch zuschreibt. Das Wegnehmen der Sünden bezieht sich in Hen (slav) wie im Joh-Ev und 1Joh auf den zu Gott Erhöhten. Dieser beseitigt durch seine Fürbitte die Sünden der Menschen (229f).

Damit aber steht bei dem Satz “Lamm Gottes, das die Sünden der Welt wegträgt“ nicht der Tod Jesu zur Diskussion sondern seine Rolle als Erhöhter bei Gott. Durch diese kann er die “Sünde der Welt“ aufheben (Hbr 7,25; 9,24; 1Ptr 3,21). Nicht Jesu Tod sondern Jesu Eintreten bei Gott ist entscheidend. Joh 1,29 setzt damit de facto das in 1Joh 2,1 Beschriebene voraus. In Joh 14,16 spricht Jesus von dem 'anderen' Parakleten. D.h. Jesus ist der eine, der Geist der andere. In diesem Sinne nennt 1Joh 2,1 Jesus einen Parakleten. Joh 1,29 bezieht sich nicht auf den Tod Jesu, sondern auf seine interzessorische Funktion bei Gott oder auf seine grundsätzliche Bedeutung als Gerechter überhaupt (230f).

Sein Leben einsetzen (Joh 10,11.15.17; 15,13)

Der 'gute Hirte' (Joh 10) setzt sein Leben für seine Schafe ein. Der Ausdruck tithenai psychen bedeutet nicht, sich in den Tod geben, sich opfern. Von einer 'heilswirksamen Stellvertretung' oder gar von einer stellvertretenden Sühne ist keine Rede. Petrus sagt: ich will mein Leben für dich riskieren (13,37f). Es handelt sich hier um Märtyrersprache. Juden sind 'für das Gesetz' (2Makk 6,28; 7,9; 8,21) gestorben. Dem Märtyrer ist das Gesetz so viel wert, dass er eher sterben will als dieses aufgeben. Das Sterben 'für' ist ein Ausdruck der Treue, mit der der Märtyrer zu etwas hält (232f).

Joh 15,13: “Eine größere Liebe hat niemand, als der, der sein Leben riskiert für seine Freunde“. Hier steht derselbe Ausdruck 'das Leben setzen' wie in 13,37f, wo Petrus 'für' Jesus sterben will. Wie in der traditionellen Märtyrersprache ist das 'für' verwendet, um die Treue zu beschreiben, mit der jemand zu dem steht, an das oder an den er sich gebunden hat. Auch die verwandten griechischen Belege über den Tod des einen Freundes 'für' den anderen stehen unter dem Vorzeichen der sich bewährenden Freundestreue. Nirgends stirbt jemand, um die Sünden seines Freundes vor Gott oder Göttern zu sühnen. Die Liebe Jesu zu seinen Freunden lässt ihn sein Leben riskieren, indem er treu zu ihnen hält (233).

Nach Joh 15,12 (“Dies ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe“) ist Jesu Liebe Urbild und Vorbild, sie kann weitergeben werden. Sie ist nicht Sündensühne, denn in dieser Hinsicht könnte Jesus sie nicht weitergeben und könnten die Jünger Jesus nicht 'nachahmen'. Im Verhältnis von 15,12 zu 15,13 geht es nicht um den einmaligen Charakter der Liebe Jesu, sondern darum, dass sie nachgeahmt werden kann. Von daher wird 15,14 verständlich: “ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch sage“. Die Jünger folgen der Liebe Jesu, wenn sie seinem Gebot folgen, nämlich einander zu lieben (234).

Judas ist das Gegenbild des treuen Freundes, er übergibt den Freund. Petrus verspricht, sein Leben in Treue für seinen Meister zu riskieren, kann aber genau das nicht leisten, was Jesus tut. Als er eine zweite Chance bekommt, fragt Jesus ihn nach seiner (Freundes-)Liebe (Joh 21). Petrus gelangt erst auf dem Umweg über seine Verleugnung zur wahren Freundesliebe, wie Jesus sie fordert. Wenn Petrus Jesus liebt, wie Jesus die Seinen geliebt hat, dann kann er Hirte sein wie Jesus. Dann kann er sein Leben für seinen Herrn riskieren, wie es in Joh 21 angedeutet wird. (A 193: Für einen Hirten ist es charakteristisch, dass er sein Leben für die Schafe riskiert, nicht aber, dass er es für sie opfert.)

Es geht nicht speziell um Jesu Tod, sondern darum, dass Jesus sein Leben für die Jünger einsetzt und in dieser Hinsicht auch riskiert. Auch beim Geben und Wieder-an-sich-Nehmen des Lebens (10,18) geht es um die göttliche Hoheit des Sohnes, nicht aber um die Heilsbedeutung des Todes. Damit steht die Sendung Jesu im Vordergrund. Ihr bleibt er treu (234f).

Jesu ganze Existenz, besonders aber sein Tod, wird Ausdruck seiner Liebe und Treue und gerade darin gemeindegründend. Jesu Liebe zu den Freunden ist das Grundgesetz seiner Jüngergemeinde. Er hat das vorgelebt, von dem und wodurch auch die Jüngergemeinde leben kann.

Der Tod Jesu bedeutet den Sieg über die 'Welt' und ihren Herrscher. Das gilt, weil Jesu Treue und liebevolle Existenz bis in die letzte Konsequenz dem Grundgesetz der Welt und ihres Herrschers entgegensteht, nämlich dem Hass (235).

Jesu Tod kann deshalb im Joh-Ev nicht als stellvertretende Sühne der Sünden verstanden werden, weil es Sünde im eigentlichen Sinn erst seit dem Widerspruch gegen Jesus gibt. Wenn Jesus als Lamm Gottes dennoch die “Sünde der Welt aufhebt“, dann geht es nicht um die Sünden seit Urzeit, sondern um die Sünde im Widerspruch und Widerstand gegen Jesus und die Jünger. 1Joh 1 erörtert, inwiefern es auch in der Gemeinde noch Sünde gibt: wegen der falschen Einstellung zu Jesus als dem Messias, der “im Fleisch“ erschienen ist und wegen der mangelnden Weitergabe seiner Liebe. Das aber sind erst christliche Sünden (236).

Jesus ist die Gegenwart Gottes auf der Erde und zwar als Leben und Liebe

Jesu Treue bis zum Tod ist relevant für das Heil, weil 'Bleiben' und 'in Treue Bleiben' Merkmale Gottes sind. Würde Jesus seiner Sendung und seinen Jüngern untreu, so wäre seine Liebe nicht von Gott. Insofern ist Jesu Ausharren der notwendige Erweis, dass es sich bei der Botschaft und den Gaben Jesu um Gottes eigenste Gaben handelt. Jedes Abbrechen wäre Entlarvung von bloßer Kreatürlichkeit. Merkmal Gottes in der Welt ist die Treue. In Joh 13,1 heißt es, dass Jesus “die Seinen bis in den Tod liebte“. Eben darin erweist sich der Ursprung in Gott (236f).

Das Martyrium Jesu als Sieg

Nach Joh 12,31 wird mit Jesu Todesbereitschaft “der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen“. Siegen im Kampf: Nach Joh 16,33 hat Jesus die Welt besiegt. Auch hier ist die Terminologie durch Martyrien vorgeprägt. In Offb 5,5; 17,14 wird der Märtyrer als der Sieger dargestellt (ebenso 4Makk 1,11) (237).

Der Herrscher 'dieser Welt' hat deshalb verloren, weil Jesus standhaft geblieben ist. Er hat zum einen seinen Auftrag als Gottes Gesandter erfüllt, indem er gegen Mißverstehen und Ärgernisnehmen Gottes lebenstiftende Wirklichkeit unter die Menschen gebracht hat. Zum anderen hat er gegenüber allem Hass der Welt seine Jünger geliebt und damit Gottes Ziel und Sein geoffenbart (237).

Weil selbst die Jünger Jesus missverstehen (6,66f), gilt, dass Jesu gesamtes Auftreten eine einzige Versuchung zum Abfall von Gott war. Weil Jesus seiner Botschaft treu war und sich mutig durch die Proklamation von Gottes Gegenwart in ihm selbst allen Hass der Welt zugezogen hat, kann er seinen Weg am Kreuz beenden mit dem Wort: “Es ist vollbracht“ (19,30) (238).

Indem die 'Welt' Jesus nicht annimmt, nimmt sie Gott selbst nicht an. Bei Jesus hat man es mit Gott zu tun. Die Situation von Hass und Verfolgung polarisiert die Fronten und profiliert die Christologie. Das JohEv greift auf jüdische Märtyrertheologie zurück. Das gilt für den Sieg des Märtyrers wie für den Ausdruck 'sterben für jemanden/eine Sache'. Jesus ist in seinem Sterben der standhafte Märtyrer (238).

Die starke Polarisierung zwischen Jesus und Gott auf der einen, der 'Welt' auf der anderen Seite weist auf ein Milieu hitziger Auseinandersetzung zwischen Judenchristen und Juden. Die provozierenden 'hohen' christologischen Aussagen sind nicht Produkt immanenter Gemeindefrömmigkeit, sondern von außen her verursacht worden (238f).

Jesu Tod wird nachahmbar sein. Er wird ein Muster sein für alle Jünger. Der Paraklet erhält wesentlich seine Funktion im vor der Welt fortgesetzten Prozessverfahren. Die john Abschiedsreden sind auf die Nachahmung der Passion Jesu angelegt (239).

Soteriologische Fragen

Nach Joh 9,39ff besteht Sünde nur noch in der Ablehnung Jesu. Alles andere ist unwichtig geworden angesichts dessen, der das Leben und die Auferstehung ist. Ähnlich wie bei Paulus ist 'Sünde' im Singular der Gegenbegriff zum christologisch vermittelten Heil (241).

In 1,29 heißt Jesus 'Lamm' als der Heilige und Gerechte. Jesus beseitigt die Sünde der Welt, die in der Gottferne besteht, indem er den Vater darum bittet, sie (die Jünger) vor dem Bösen zu bewahren (17,15) und sie zu heiligen (17,17). Nach 17,19 sieht Jesus seine gesamte Wirksamkeit in diesem Sinne: “Für sie heilige ich mich, damit auch sie geheiligt sind in der Wahrheit“. 'In der Wahrheit' heißt 'in der Kraft und im Raum von Gottes Wirklichkeit'. 'Heiligen' heißt, dem profanen Gebrauch entziehen, zu Gottes Eigentum machen, nur noch von seinem Willen bestimmt sein, so dass nur noch sein Gesetz und seine Regeln gelten, seinem Schutz unterstellen. Wer durch Gott geheiligt wird, ist damit zugleich auch aus dem Bereich von Schuld und Sünde genommen (241).

Jesus hat sich Gottes Willen unterstellt (4,34: “ich tue den Willen dessen, der mich gesandt hat und vollende sein Werk“). So ist er gerecht und heilig. Als ganz gerecht und heilig kann er bei Gott Fürbitte leisten für andere. Indem Jesus um Heiligung der Gemeinde bittet, veranlasst er Gott, die Jünger aus dem Bereich der Sünde und der Macht des Bösen herauszunehmen. Wenn die Jünger so geheiligt sind und zu Gott gehören, sind sie in den Raum des Lebens übergegangen. Es wird nicht gesagt, wie Gott diese Heiligung bewirkt. Weder Taufe noch Blut Jesu verursachen diese Heiligkeit. Im Rahmen jüdischer Denkmöglichkeiten ist die Fürsprache Jesu dabei vollständig ausreichend. Weil Jesus der Heilige und Gerechte ist (Joh 1,29: das Lamm), kann er durch seine Fürsprache bei Gott bewirken, dass Gott die Jünger von Sünde und Teufel befreit und in den Bereich des (ewigen) Lebens stellt. D.h. in soteriologischer Hinsicht vertritt das JohEv eine sehr archaische Christologie. Als der Gerechte ist Jesus der Fürsprecher (Heilsmittler) schlechthin (242).

Der Text in Joh 17 trägt den Namen 'Hohepriesterliches Gebet Jesu' zu Recht, als es sich dabei um stellvertretendes Dazwischentreten handelt. Mit dem Tod Jesu hat das Heiligen, von dem Jesus hier spricht, nichts zu tun (243).

 

(2) Kreuzigung als Erhöhung

 

Alle Leidensweissagungen Jesu nach dem JohEv sind mit dem Verb 'erhöht werden' formuliert (3,13-15; 8,28; 12,32). Zweimal ist dabei vom Menschensohn die Rede. Nach dem JohEv wird die christologische Erkenntnis aufgrund der Erhöhung Jesu, seiner Kreuzigung und nicht etwa der Auferstehung, eintreten: “Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin und dass ich nichts von mir aus tue, sondern so rede, wie es mich der Vater gelehrt hat“ (Joh 2,28) (243f).

Die Kreuzigung als Erhöhung zu bezeichnen ist Märtyrersprache: das Königtum des Märtyrers (Joh 18,36f; Offb 20,4-6), seine Krone (Offb 2,10) und das Siegen als Vorgang und Vollzug des Martyriums. Nicht nachher wird man 'König', sondern als Märtyrer ist man König. Der Märtyrer hat im Martyrium bereits Anteil an der Welt der Herrlichkeit (Stephanus Apg 7,55f). Das JohEv stellt Jesus als Märtyrer dar. Die Herrlichkeit Jesu ist die des Siegers.

Durch Jesu Kreuzigung wird erkannt: “dass ich (Jesus) nichts von mir aus tue, sondern so rede, wie es mich der Vater gelehrt hat“ (8,28). Jesus handelt fremdbestimmt. Handelte er von sich aus, dann liefe er weg vor dem Tod. Gemeint ist die Selbstlosigkeit Jesu, bezogen auf seine Sendung. Ähnliches ist aus den synoptischen Kreuzigungsberichten bekannt: Der Gekreuzigte verweigert die Selbsthilfe (“Wenn du der Sohn Gottes bist...“) und erweist gerade dadurch, dass er auf Gott hofft und von Gott her gesandt ist. Der Verzicht, sich mit allen Mitteln aus der Zwangslage am Kreuz zu befreien, weist auf einen anderen Auftraggeber, in dessen Hände Jesus sein Leben legt, so wie er von ihm seine Sendung empfangen hat. Klarer als alles andere lässt das Sterben Jesu seine Legitimität erkennen (245).

Der Glaube an den Erhöhten gibt das ewige Leben. Das JohEv spricht nicht von der toten Schlange und dem toten Christus (3,14), auch fehlt hier jede Rede von Sünde und Sündenvergebung. So bleibt nur, den Erhöhten im Sinne von Joh 8,28 als den Anlass des Glaubens zu sehen. Da das 'Verhalten' Jesu am Kreuz die Legitimität seiner Sendung offenbar werden lässt, bezieht sich der Glaube auf den gekreuzigten Gesandten Gottes. Seine am Kreuz zur Vollendung gebrachte Liebe und 'Selbstlosigkeit' sind der Grund, an ihn zu glauben. Das Kreuz offenbart, wer Jesus ist, wer ihn gesandt hat und wozu er dagewesen ist (246).

Die Verwendung des Wortes 'Erhöhen' für Kreuzigung setzt eine gewisse Ironie voraus. Für den, der so leidet und so glaubt, ist das Martyrium Sieg und das Aufgehängtwerden Erhöhtwerden (247f).´


 

 

(3) Auferstehung – eine Station auf dem Weg Jesu

 

Im JohEv ist die Auferstehung Jesu eine Art Zwischenstation zwischen dem 'Sieg' Jesu in der Erhöhung am Kreuz und der Vollendung seines Weges mit dem Ankommen beim Vater. Für den Evangelisten ist die Auferstehung nicht das zentrale Ereignis, sondern sie ist eingebettet in den Weg zwischen Sendung und Rückkehr zum Vater (248f).

Auferweckung ist ein Teil der Verherrlichung. Als Auferstandener gibt Jesus den Geist (20,22) und in Joh 7,39 heißt es: “Der Geist war noch nicht da, denn Jesus war noch nicht verherrlicht“. Nach 13,32 und 17,5 muss die Verherrlichung erst an Jesus selbst geschehen, bevor er seinerseits verherrlichen kann. Erst der Auferstandene ist dazu in der Lage. Ostern ist ein Stück auf dem Weg zur erneuten Verherrlichung (17,4f) (249).

Die Auferstehung ist Jesu Rechtfertigung, denn sie zeigt, dass er zu Unrecht getötet worden ist. Die Auferstehung hat nur argumentativen nicht soteriologischen Charakter (250).

Nur der hinabgestiegen ist, ist auch hinaufgestiegen“ (3,13), - mit diesem Satz wird die zentrale Frage nach der Legitimität Jesu und seiner soteriologischen Funktion (Heilsgabe Gottes) verknüpft mit der Deutung seines umstrittenen Geschicks (Hinaufsteigen). Sendung und Entrückung, von Gott her zu kommen wie auch zu Gott zu gehen, kennzeichnet Jesus als Boten Gottes. Die Rede vom Herabsteigen schließt eine Annahme Jesu zum Gottessohn in der Taufe aus (1,28-34). Im JohEv gibt es keine Taufe Jesu am Anfang und Auferstehung nur als Teil im Geschehen der Rückkehr zum Vater. Das JohEv folgt dem Schema von Hinabsteigen und Hinaufsteigen (257).

 


 


 


 


 

2. Jesu Tod als Erhöhung, als siegreiche Rückkehr zu Gott

 

(1) Jesu Rückkehr zum Vater (seine 'Entrückung')
 (2) Die heilsentscheidende Notwendigkeit der Erhöhung Jesu
 (3) Der Tod Jesu als seine Verherrlichung
 (4) Der Standort des Evangelisten
 (5) Die Doxa des Logos im Hymnus und die des Sohnes im Evangelium

 

U. Müller (1975)

 

(1) Jesu Rückkehr zum Vater (seine 'Entrückung')

 

Jesus ist von Gott ausgegangen und kehrt wieder zu ihm zurück (13,3; 8,14). Leiden und Sterben am Kreuz sind nicht erwähnt. Das Thema der Passion steht unter dem Vorzeichen der Heimkehr zu Gott - oder wie es 6,62 heißt: “Der Menschensohn steigt dort hinauf, wo er vorher war“. Das Ende der Wirksamkeit Jesu liegt im Hingang, in der erfolgreichen Rückkehr zu Gott: “Ich gehe hin zu dem, der mich gesandt hat“ (7,33), “ich gehe zum Vater“ (14,2f.12.28) (53f).

Ich bin noch eine kleine Zeit bei euch, dann gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat. Ihr werdet mich suchen und nicht finden; und wo ich bin, könnt ihr nicht hinkommen“ (7,37f). Wenn Jesus sagt, dass die Juden ihn suchen, jedoch nicht finden werden, so deutet er seinen Hingang zum Vater mit Begriffen, die auf eine Entrückung hinzielen. Wenn das Ende der irdischen Wirksamkeit Jesu mit Hilfe der Entrückungsterminologie beschrieben wird, so spricht sich darin eine Sicht dieses Endes aus, die den Tod Jesu abblendet. Der Weggang Jesu kommt in 7,31-35 allein als hoheitsvolles Geschehen in den Blick (54).

Für die Jünger erweist sich Jesu Hingang zum Vater als ein Geschehen, bei dem sie ihm nicht folgen können (13,33.36). Wieder ist mit dem Gebrauch der Entrückungsterminologie das Unvergleichliche des Endes Jesu hervorgehoben. Erst nach Ostern wird der Zugang zu Jesus für die Jünger neu eröffnet (14,19) und zwar durch den Geist (14,16f.26). Johannes konnte die Entrückungsterminologie übernehmen, weil sein christologisches Interesse nicht am Tod Jesu orientiert ist, sondern am Gedanken der Rückkehr zu dem, der ihn gesandt hat (7,33) (55).

Die unvergleichliche Sendung Jesu wird mit den Worten begründet: “Niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem Menschensohn, der vom Himmel herabstieg“ (3,13). Der Evangelist blickt hier auf den Gesamtzusammenhang des Jesusgeschehens zurück, wobei nur die Rückkehr in den Himmel als Endpunkt der irdischen Wirksamkeit erscheint. Der Evangelist greift zum Ausdruck “Hinaufsteigen des Menschensohnes“, wenn er den Abschluss der Sendung Jesu charakterisieren will. Der Glaube an den Hingang Jesu zu Gott, an seine siegreiche Rückkehr zum Vater kennzeichnet den Abschluss der john Passion (55f).

 

(2) Die heilsentscheidende Notwendigkeit der Erhöhung Jesu

 

Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, das ewige Leben habe“ (3,14f). Hier wie später(12,34) spricht der Evangelist nicht vom Leidenmüssen des Menschensohnes, sondern von der Notwendigkeit der Erhöhung. Geradedie Erhöhung Jesu ermöglicht es, dass jeder, der an ihn glaubt, ewiges Leben gewinnt (3,15) (56).

Der Evangelist gibt sich hier als geistbegabter Interpret des AT zu erkennen, der in souveräner Weise mit den betreffenden Texten umgeht. Er benutzt Num 21,8f, um zu zeigen, dass die besondere Erhöhung Jesu, die auf dem Weg über die Kreuzigung erfolgt, schriftgemäß ist. Damit ist ein möglicher Anstoß, der von dem Faktum seiner Kreuzigung ausgeht, widerlegt. Die Kreuzigung setzt die Wirklichkeit der Erhöhung Jesu nicht außer Kraft. Sie erscheint als gottgewolltes Geschehen, die die Realität der Erhöhung nicht tangiert. Die Debatten um die Messianität Jesu spiegeln Angriffe des zeitgenössischen Judentums gegenüber dem Glauben an Jesus als Messias wider, besonders 7,27.41f; 12,34. In 12,34 scheint der Tod Jesu am Kreuz als Einwand vorausgesetzt zu sein: “Wir haben gehört aus dem Gesetz, dass der Christus für immer bleibt, wie sagst du, der Menschensohn muss erhöht werden“? (57).

Der Evangelist nimmt solche Gegenargumente auf, indem er auf die gottgewollte Notwendigkeit der Beendigung des irdischen Wirkens des Menschensohnes verweist. Das eigentliche Interesse des Evangelisten haftet in 12,34 wie in 3,14 nicht am Kreuz, sondern an der Erhöhung als der siegreichen Rückkehr zu Gott (58).

Die Kreuzigung erhält kein besonderes theologisches Gewicht. Der Gedanke an die heilsentscheidende Erhöhung soll nur von einem möglichen Einwand entlastet werden: Das Kreuz ist kein Anstoß, sondern schriftgemäßes Ereignis. Das Kreuz stellt kein theologisches Problem mehr dar, der Evangelist kann sich unangefochten dem Gedanken der Erhöhung Jesu widmen. In 3,14 ist allein die Erhöhung genannt, sie ist die Vollendung der Sendung, durch die diese erst wirksam wird (13,31f). Auf den Erhöhten, Verherrlichten richtet sich der christliche Glaube (58).

In 3,16 sagt Johannes nicht: Gott hat den Sohn 'dahingegeben', sondern er gibt ihn, wie er auch den Geist gibt, d.h. sendet (14,16). Der Sprachgebrauch von 3,16 ist nur durch die Tradition der sog. Dahingabe-Formel bedingt, die von der Hingabe des Sohnes in den Tod redet. Der Kontext von 3,17 zeigt, dass auch in 3,16 ganz allgemein von der Sendung in die Welt die Rede ist, ohne dass die Hingabe in den Tod das eigentliche Thema darstellt. Auch vom Zusammenhang her legt sich für den fraglichen Sinn von 3,14 und die dortige Aussage von der Erhöhung Jesu keine heilskonstitutive Bedeutung des Todes Jesu nahe (58f).

Die Wendung “wenn ich erhöht werde von der Erde“ (12,33) lässt den Gedanken der Erhöhung ans Kreuz bereits anklingen, vorherrschend aber ist die Vorbereitung der Aussage, die der Hauptsatz intendiert: Jesus wird alle zu sich aus dem irdischen in den himmlischen Bereich der Herrlichkeit ziehen (vgl. 12,26; 14,3), nachdem er selbst erhöht ist. Die Erhöhung “von der Erde“ stellt den Bezug zur Kreuzigung noch nicht eindeutig her (59).

In 12,33 soll Jesus durch die interpretierende Bemerkung als derjenige gezeigt werden, der in souveräner Weise sogar die Art der Todesstrafe vorherweiß. Er deutet sein genaues Todesschicksal an: die römische Strafe der Kreuzigung (18,31f). Der Evangelist wendet sich mit dieser Zeichnung Jesu an den gläubigen Leser, der durch diese Darstellung in der Überzeugung von der souveränen Art Jesu, in den Tod zu gehen, bestärkt werden soll. Der Leser soll wissen: Jesus sah sein genaues Todesschicksal voraus. Er nahm es bewusst auf sich. Seine Hoheit zeigt sich auch, wie er dem Tod entgegensieht. Jesus redet wie einer, der alles kennt und den der kommende Tod in seinem Sendungsbewusstsein nicht erschüttert. Der Evangelist spielt in 12,32f mit der Doppeldeutigkeit von 'erhöhen', denn für ihn ergibt sich bei der Ankündigung der Erhöhung Jesu gleichzeitig die Andeutung seiner Erhöhung ans Kreuz. Letztere interessiert hier nicht als Heilsereignis, vielmehr liegt in 12,33 nur geisterfüllte Andeutung der Haltung vor, wie Jesus bewusst in den Tod geht. Jesus kündigt in souveräner Weise seine eigene Todesart an. Die Erfüllung seines Wortes wird dann in 18,31f festgestellt. Das Faktum des Todes Jesu besitzt keine Anstößigkeit mehr (60).

Auch in 8,28 dokumentiert Jesus seine Herrlichkeit, indem er sein irdisches Schicksal vorherkennt. Der gläubige Leser erfasst in der Erhöhung des Menschensohnes die endgültige Erhöhung zur Herrlichkeit, die auf dem Weg über die Erhöhung ans Kreuz geschieht. Die Juden bringen es mit ihrer Erhöhung des Menschensohnes ans Kreuz dahin, dass der Menschensohn gegen ihren Willen zu Gott erhöht wird und sie darin ihr eigenes Gerichtetsein erkennen müssen (60).

 


 


 


 

(3) Der Tod Jesu als seine Verherrlichung

 

Gekommen ist die Stunde, dass der Menschensohn verherrlicht wird“ (12,23). “Vater, verherrliche deinen Namen“. Eine Himmelsstimme antwortet darauf: “Ich habe ihn verherrlicht und will ihn wiederum verherrlichen“ (12,28). Im Wirken des irdischen Jesus hat Gott sich schon verherrlicht, weil durch Jesus die Werke Gottes offenbar werden (9,4; 11,4). Gott wird sich aber noch einmal in seinem Sohn verherrlichen, nämlich angesichts seines Todes. Wenn Gott sich im Blick auf den Tod Jesu verherrlicht, so bedeutet das für Johannes, dass auch Jesus verherrlicht wird (11,4; 13,32). Die ganze Sendung Jesu vom Beginn seines irdischen Wirkens bis hin zum Tode ist unter den Oberbegriff 'Verherrlichung' gestellt. Der Vater hat ihm auf Erden Hoheit verliehen. Er wird ihm im Tode die Hoheit nicht nehmen. Der “Fürst dieser Welt“ kann Jesu Herrlichkeit und damit sein Heilshandeln nicht antasten (14,30). Deshalb deutet Jesus den Inhalt der Himmelsstimme (12,28b) in ihrer Relevanz für die Glaubenden (12,30f): “Nicht um meinetwillen ist diese Himmelsstimme geschehen, sondern um euretwillen. Jetzt ergeht das Gericht über diese Welt. Jetzt wird der Fürst dieser Welt hinausgeworfen werden“. Wie der “Fürst dieser Welt“ Jesu Verherrlichung nicht verhindern kann, so kann er auch Jesu Heilshandeln an den Gläubigen nicht gefährden (12,32) (61f).

Der Prozess, den die Welt Jesus macht, ist ein Prozess, der der Welt gemacht wird. Jesus tritt in der Passion als der “Zeuge für die Wahrheit“ auf (18,37). Er dokumentiert damit, dass die Welt, die ihn als die Wahrheit (14,6) vernichten will, nicht aus der Wahrheit sein kann. Die Welt empfängt auf diese Weise ihre Verurteilung. Sie ist gerichtet (12,31). Das Sterben Jesu bedroht letztlich nicht ihn, sondern die Welt, die in ihrem Unglauben ihn nicht erkennt und sich damit selbst richtet. Die Darstellung der Passion Jesu steht unter dem Aspekt der Verherrlichung des Sohnes. In dieser Hinsicht ist der Tod Jesu notwendig und von Gott gewollt. Er gehört zu den Werken, die der Vater ihm gegeben hat, dass er sie vollende (4,34; 5,36; 19,30) (62).

Die Szene der Fußwaschung symbolisiert Jesu bereitwillige Übernahme der Sendung bis hin zum Tod und stellt in einem besonderen Jesuswort die Notwendigkeit seines Dienstes heraus: “Wenn ich dich (Petrus) nicht wasche, hast du kein Teil an mir (an der Doxa)“ (13,8b). D.h. die Übernahme der Sendung bis in den Tod, dargestellt durch den Dienst der Fußwaschung, ermöglicht den Erwerb der Doxa auch durch die Jünger. Der Gläubige hat ein Interesse daran, dass er an Jesus das ewige Leben habe (13,8b; 3,15f; 11,25). An Jesu Tod interessiert nur die Ermöglichung des Zugangs zur Doxa für den Jünger, nachdem Jesus selbst durch den Tod hindurch verherrlicht wurde (62f).

Jesus muss in den Tod gehen, um zu erweisen, dass der “Fürst dieser Welt“ keine Macht über ihn hat (14,30). Denn trotz des zugefügten Todes kann dieser den Hingang zur Herrlichkeit nicht verhindern. Der “Fürst dieser Welt“ zeigt sich als der Entmachtete (12,31). Jesus bleibt durch den Tod hindurch unangefochten derjenige, der wie der Vater das Leben in sich selber hat (5,26). Deshalb ist er die Auferstehung und das Leben und jeder, der an ihn glaubt, hat seinerseits das ewige Leben (11,25f). Der Tod Jesu erscheint als ein notwendiges Geschehen auf dem Weg zum Leben, das im Schatten der Verherrlichung steht, die der Vater dem Sohn in dessen irdischem Wirken sowie durch den Tod hindurch schenkt (12,28) (63).

Johannes sagt, dass Jesus als Lamm Gottes die Sünde der Welt wegschafft (1,29), dass er als der gute Hirte sein Leben für die Schafe lässt (10,11.15). In 1,29 hat der Evangelist auf vorgegebene Weise Jesu Funktion als “Retter der Welt“ (4,42) ausdrücken wollen. Auch an den anderen Stellen, die die Heilsbedeutung des Todes Jesu erwähnen (10,11.15) liegt nur vorgeprägte Rede vor, die nicht das Eigentliche der john Theologie umgreift.

Jesu Lebenshingabe ist Ausdruck seines Gehorsams gegenüber dem Vater (10,17f), denn im Tode erfüllt er dessen Auftrag (10,18b).

Entscheidend ist Jesu Gehorsam und seine besondere Hoheit. Vorherrschend ist der Gedanke der freien Selbstverfügung des Sohnes. Sein Gehorsam ist ein freiwilliger. Sein Sterben erscheint wie eine souveräne Geste (19,30), die aus der Macht kommt, sein Leben hinzugeben, um es alsbald wieder zu nehmen. Der Kreuzestod hat für Johannes nichts entehrend Anstößiges mehr. Er gehört zu dem vom Vater aufgetragenen Werk, dessen entscheidender Aspekt die Verherrlichung des Vaters und des Sohnes ist (63f).

 

(4) Der Standort des Evangelisten

 

Johannes schreibt als Glaubender, für den der Anstoß, den der Tod Jesu bieten konnte, erledigt ist und darin will er seine Gemeinde bestärken. Es ist die Sicht dessen, der den Geist empfangen hat und der, angeleitet vom Geist, die Geschichte Jesu sieht. Das JohEv ist eine Schau der Geschichte Jesu nicht kata sarka (8,15), sondern dessen, der aus Gott gezeugt (1,13), der aus dem Geist geboren ist (3,6). Johannes sieht nicht auf das Kreuz als innerweltliches Geschehen, sondern auf die eigentliche Erhöhung, jene Heimkehr in den Himmel. Er schreibt als Pneumatiker, der den Geist erhalten hat, der an Jesus erinnert und damit das Jesusgeschehen deutet (14,26). Die Juden als die Ungläubigen sehen die Erhöhung ans Kreuz nur als schmachvollen Vorgang, der Pneumatiker als der wahre Gläubige erkennt, wozu diese innerweltliche Erhöhung führt, nämlich zur Erhöhung zum Vater (64f).

In der Verspottungsszene erkennen die Soldaten nicht, dass Jesus der wahre König ist (19,1-3). Ihr Unglaube hindert sie daran, da er neben dem bloß äußeren Geschehen des Leidens Jesu die Hoheit des Gottessohnes nicht zu erfassen vermag. Jeder aber, der aus der Wahrheit ist, hört Jesu Stimme und sieht trotz der äußeren Niedrigkeit den “Zeugen für die Wahrheit“ (18,37). Der Glaubende sieht über alle Niedrigkeitszüge hinweg. Sie werden irrelevant angesichts der Erkenntnis der “Herrschaft des Christus“, die nicht von dieser Welt ist (18,36). Das Fleisch nützt nichts, der Geist allein ist lebenschaffend (6,63). Es ist der Geist, der das Geschehen des in den Himmel hinaufsteigenden Menschensohnes akzeptiert. Nur wem es vom Vater gegeben (6,65), wer aus dem Geist wiedergeboren ist (3,6), sieht jenseits des äußeren Passionsgeschehens die Herrlichkeit des Gottessohnes (65).

 

(5) Die Doxa des Logos im Hymnus und die des Sohnes im Evangelium

 

(1,14): “Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. (16) Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade“.

Die Gemeinde (wir) kann vorbehaltlos von der Doxa des fleischgewordenen Logos sprechen. Sie schaute im irdischen Jesus die Herrlichkeit des himmlischen Logos und empfing darin die Gnade als das Heil. Der Blick auf die Welt ist hier ausgeblendet und damit auch das Problem der Anstößigkeit von Jesu irdischer Existenz, die in der Ablehnung durch die Welt ihren Ausdruck fand. Seit der Menschwerdung gibt es die christliche Gemeinde, die sich rühmt, in der Schau des Logos aus seiner Fülle “Gnade um Gnade“ empfangen zu haben. Für den Evangelisten war der irdische Jesus bereits im Besitz der Doxa. Der Vater verherrlicht den Sohn schon in seinen irdischen Tagen (11,4; 12,28; 2,11), er hat ihm als dem Irdischen gegeben, Leben in sich selber zu haben (5,26) (66f).

Für den Hymnus bleibt der Tod Jesu völlig außer Betracht. Die Gemeinde hat nur die Doxa Jesu im Blick, um durch die Schau derselben Anteil an der Fülle Jesu zu gewinnen (1,16). Der Evangelist will deutlich machen, inwiefern der Sohn Gottes trotz des Todes derjenige blieb, der auch durch den Tod der Doxa nicht verlustig ging, sondern gerade durch den Tod hindurch von Gott verherrlicht wurde. Zweifel mussten aufgekommen sein angesichts der Feindschaft 'der Juden', die jeden verfolgten und ausschlossen, der bekannte, dass Jesus der Christus sei (9,22; 12,42). Angesichts der gefährdeten Lage der Gemeinde und angesichts der Ablehnung, die der Sohn selbst als der Urheber ihres Heils erfuhr, musste es die Aufgabe des Evangelisten sein, den Anstoß, den der Kreuzestod Jesu in der Auseinandersetzung mit dem Judentum bereitete, zu überwinden. Dies erfolgte, indem er auf die Schriftgemäßheit und Gottgewolltheit des Kreuzes verwies (3,14; 12,34b). Dies geschah aber insbesondere durch die Herausstellung der Doxa des Sohnes, die sich als eine Größe zeigte, die sich unangefochten durch den “Fürsten dieser Welt“, ungeschmälert durch den Tod, als Eigenschaft des Sohnes durchhielt (67f).

Nicht der Gekreuzigte wird der Gemeinde proklamiert, sondern der Verherrlichte (69).










C. Der Tod Jesu nach Lukas

 

1. Nach Lukas geschieht die Vergebung auf der Grundlage der Vollmacht und Fürbitte Jesu, nicht seines Todes

2. Die menschlich-exemplarische und göttlich-heilstiftende Bedeutung des Todes Jesu

3. Menschwerdung und Leben Jesu als rettende Sendung

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1. Nach Lukas geschieht die Vergebung auf der Grundlage der Vollmacht und Fürbitte Jesu, nicht seines Todes

Das Heil beginnt damit, dass "der Retter geboren ist" (Lk 2,11)
 Vermeidung der Vorstellung vom Sühnetod (Lk-Ev, Apg)


 

(1) Kreuz und Auferstehung in der lukanischen Tradition
 (2) Das lukanische 'Weg-Schema'
 (3) Christos Archegos und Soter
 (4) Das Verständnis von Rettung und Heil im Lukas-Evangelium und in der Apostelgeschichte
 (5) Aussagen über Jesu Tod und Auferstehung in der Apostelgeschichte

 

(1) Kreuz und Auferstehung Jesu in der lukanischen Tradition

 

W. Grundmann

Obwohl Lukas aus der Tradition für Jesus den Titel 'Knecht Gottes' kennt, stehen für ihn die Gottesknechtsschau prägenden Gedanken der Stellvertretung nicht im Vordergrund. Auch der dem Kultus entspringende Gedanke des Opfers bestimmt nicht die lukanische Schau des Todes Jesu. Tod und Auferstehung Jesu sind auch nicht unter dem Gesichtspunkt des äonenwendenden eschatologischen Ereignisses gesehen, wie das bei Paulus geschieht, so gewiss Kreuz und Auferstehung für ihn die Großtaten Gottes darstellen (454).

Die Großtat Gottes, die in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi geschieht, besteht darin, dass sein Weg durch das Leiden und Sterben zur Herrlichkeit, durch Erniedrigung zur Erhöhung führt. Das wird aus der Gestaltung der Leidensweissagungen ebenso deutlich wie aus dem Osterbericht (Lk 9,22-27.30f.43b-45; 12,49f; 13,31-33; 17,24f; 18,31-34; 24,6f.26.46). Diesen Weg geht er als erster. Es ist bezeichnend, dass Lk in Apg 2,25-31 den dort zitierten Ps 16 als Weissagung bezeichnet und betont, dass er an David nicht zu seiner Erfüllung gekommen ist, sondern auf Jesus bezogen werden muss. Der Weg durch Leiden und Sterben zur Herrlichkeit bei Gott ist der Weg des Messias, der durch Gottes Geist zu seinem Amt ausgerüstet und als Sohn von ihm angenommen ist, d.h., dieser Weg ist der Weg dessen, dem sich Gott zu besonderer Gemeinschaft verbunden hat. Auf diesem Weg folgen ihm seine Nachfolger (9,23-27). Stephanus wird in seinem Sterben Jesus gleich (Apg 7,55ff). 'Paulus' spricht (Apg 14,22): „Wir müssen durch viel Bedrängnisse in das Reich Gottes hineingehen“. Dem Passionsbericht Jesu im Evangelium entspricht der Passionsbericht des 'Paulus' in der Apg. Darum kann Jesus von Lk mit dem im NT seltenen Titel 'Anfänger des Lebens' belegt werden, der zugleich 'Anführer in das Leben' ist und darum 'Retter' (Soter) ist (Apg3,15; 4,12; 5,31; Lk 2,11).Retter ist er, indem er Vergebung der Sünden spendet (455).

Der Tod Jesu ist Durchgang zur Herrlichkeit, aber nicht Sühnetod für die Sünde der Menschheit. Die Vergebung wird mit seinem Kommen gespendet. Darum stellt Lk in besonders starker Weise Jesus im Umgang mit Sündern dar. Sein Tod deckt die Sünde auf (das scheint zu Gottes Ratschluss und Vorsehen zu gehören Apg 2,23) insbesondere die Sünde Israels, die sich im Verstoßen des verheißenen Messias vollendet. Daher werden bei Lk die Passion Jesu und das Schicksal Jerusalems so eng gekoppelt. Jesus geht in seinen Tod als der, der für seine Feinde betet (23,34), wie er auch für seine Jünger in ihrem Unverständnis und dem daraus resultierenden Versagen gebetet hat (Lk 22,31f). Darum bietet Petrus (der die Vergebung erfahren und auf den Weg Jesu zurückgebracht worden ist 22,61f; 24,34) den Männern von Israel, als er ihnen die Erhöhung dessen, den sie gekreuzigt haben, zum Messias und Herrn proklamiert, die Umkehr und Taufe zur Vergebung der Sünden an (Apg 2,36-38) und bestätigt die Gültigkeit der Verheißung für sie (Apg 2,39), als sie betroffen von der Messiasverfehlung, die ihre Schuld ist (Apg 2,37), fragen, was sie nun in dieser Lage tun sollen. Erst das Beharren der Mehrzahl Israels in der Abweisung Jesu bringt für Jerusalem das Gericht. Die Vergebung geschieht auf der Grundlage der Vollmacht und Fürbitte Jesu, nicht seines Todes (455).

Der entscheidende Grund für Gottes vorbedachten Rat und Vorsehen (aus dem heraus Jesu Preisgabe in Menschenhände erfolgt) besteht darin, dass auf diesem dunklen Hintergrund Gottes Großtat geschieht, die das Vornehmen der Menschen beantwortet, indem sie die Fesseln des Todes sprengt. In diesem Zusammenhang wird gesagt: „Es war unmöglich, dass Jesus vom Tod festgehalten werden konnte“ (Apg 2,24). Dieses 'Unmöglich' wird durch den Hinweis auf Ps 16 begründet. Die Aussage dieses Psalms, der als Verheißung bezeichnet wird, die auf Jesus deutet, hat darum für das Verständnis des Lk entscheidende Bedeutung (455f).

Für den Sänger des Psalms 16 ist das Glück die Gottesgemeinschaft, die sein Leben bestimmt, Ausgangspunkt seines Betens: Gott ist aus seinem Leben nicht wegzudenken. Ihm bekennt er seine Treue, weil er bei ihm Zuflucht gefunden hat. Was er zum Leben und im Leben empfängt, wird ihm zum Beweis der Güte und Huld seines Gottes. Er lässt Gott nicht aus seinen Augen und empfängt dadurch für sein Leben Festigkeit. Auf der Grundlage der 'Lebensgemeinschaft' mit Gott kommt er zu der Überzeugung, dass diese durch den Tod nicht mehr aufgehoben werden kann. Die Lebensgemeinschaft mit Gott begründet die Ewigkeit des Lebens in dieser Gemeinschaft und schafft die Überzeugung, dass für die Lebensmacht Gottes Tod und Unterwelt kein unüberschreitbares Hindernis sind, woran jene Lebensgemeinschaft zerbrechen müsste. Was hier ausgesagt wird, ist der Durchbruch der Einsicht, dass Gott den nicht im Tod lässt, den er sich erwählt und verbindet (456).

Die Aussage von Ps 16 sieht Lk in Jesus erfüllt. Jesus ist der, den Gott sich zum Sohn erwählt und mit seinem Geist begabt und aus ihm gebildet hat. Darum kann er nicht im Tod bleiben.Wenn dieser Jesus „der Anführer in das Leben“ ist, so bedeutet das, dass denen, die sich ihm verbinden, aus der Gemeinschaft mit ihm widerfährt, was ihm auf der Grundlage seiner Lebensgemeinschaft mit Gott widerfahren ist. Er nimmt die Seinen in seine Gemeinschaft mit Gott hinein (Lk 11,1ff), stellt sie in seine Nachfolge und gibt ihnen den Geist, den er vom Vater empfangen hat (Apg 2,33). Er hat als der durch den Tod Gegangene den Namen empfangen, dessen Anrufung den, der ihn anruft, zu retten vermag. Scheitert der Versuch der Juden, Jesus durch Tötung zu beseitigen, an seiner Auferweckung durch Gott, so scheitert der Versuch, die (Apg 3,6,16; 4,7.19.12.17f.30) an der Gabe des Heiligen Geistes, die den Zeugen das nicht mehr totzuschweigende Wort und diesem Wort Vollmacht und denen, die es ausrichten, Schutz gibt und sich als Kraft erweist. Ruft Ostern den Getöteten ins Leben mit Gott, so überwindet Pfingsten, dass der rettende Name, den er empfangen hat, totgeschwiegen wird, indem den Zeugen der 'Freimut' geschenkt wird (Apg 4,29.31) (456f).

 

(2) Das lukanische 'Weg-Schema'

R. Schnackenburg

Der Tod Jesu hat bei Lukas (Lk) keine Heilsbedeutung, wenn man paulinische (pln) Maßstäbe anlegt. Die Formel „zur Vergebung eurer Sünden“ (Apg 2,38) ist mit der Taufe auf den Namen Jesu Christi verbunden. Man empfängt die Vergebung der Sünden durch Jesus (10,43), durch Christus nach seiner Auferweckung (13,38), als Frucht der Umkehr (5,31; 26,18). Eine Beziehung zum Tod Jesu als Ursprung und Quelle der Erlösung wird nicht hergestellt. Auch Apg 20,28 erweist sich als unbrauchbar für den Sühnegedanken. Die einzige Stelle, die von der Heilsbedeutung des Todes Jesu innerhalb des lkn Doppelwerks spricht, ist die eucharistische Stiftung (Lk 22,19f). Hier nimmt Lk eine Tradition auf, aber maßgeblich für seine Theologie ist dieser Gedanke nicht geworden. Lk hat die entscheidende pln Aussage des Todes Jesu als des Christus 'für uns' in seiner theologischen Konzeption bewusst übergangen (214f).

Der archegos (Anführer) ist christologischer Titel für die rettende Funktion Christi (Apg 3,15; 5,31). In Apg 3,15 wird Jesus seinen jüdischen Hörern als messianischer Anführer vorgestellt; mit seiner Auferstehung ist die messianische Heilszeit angebrochen. Er führt die ihm Nachfolgenden in das Verheißungsland des 'Lebens' hinein. Jesus erlangt eine einmalige und endgültige Heilsbedeutung, weil er, alle Propheten und früheren Führer Israels übertreffend, in das eschatologische Leben der 'Auferstehung' vorangegangen ist und dahin zu führen vermag. In Apg 5,31 wird der von Gott Erhöhte außerdem noch der Retter (soter) genannt, der Israel „Umkehr und Vergebung der Sünden“ geben soll. Die Sündenvergebung ist die Konsequenz der Metanoia zu Jesus. So erhält auch die Sündenvergebung ihren 'Ort' im Wirken des erhöhten Christus. Diese Sicht auf Jesus, den Anführer zum Leben und endgültigen Retter, in dessen Person allein das Heil begründet ist (Apg 4,12), erklärt sich aus der heilsgeschichtlich orientierten Theologie des Lk. Das Kommen Jesu ist der Beginn der erwarteten Heilszeit, die Erfüllung aller darauf bezüglichen Prophetie des AT. Diese Zeit gliedert sich in die Zeit Jesu, des messianischen Geistträgers und die Zeit der Kirche, in der die an Jesus Glaubenden mit dem Heiligen Geist getauft und neue Gläubige durch die Mission gewonnen werden. Jesus selbst geht seinen Weg von Galiläa nach Jerusalem, wo sich für ihn „die Tage seiner Hinaufnahme“ erfüllen und wird dann zum Anführer der ihm Nachfolgenden, die auf Erden noch durch viele Drangsale schreiten müssen (Apg 14,22), bis die „Zeiten der Erquickung“ und der „Wiederherstellung aller Dinge“ kommen (Apg 3,20f) bzw. mit der Parusie Christi die Erlösung vollendet wird (Lk 21,28). Es ist eine Theologie der voranschreitenden Entfaltung und Verwirklichung des göttlichen Heilsplans, eine Theologie des 'Weges'. In ihr hat auch der Tod Jesu seine Bedeutung: „Musste nicht der Messias all das erleiden und so in seine Herrlichkeit eintreten“ (Lk 24,26) (215f)?

In der lkn Konzeption ist der Tod Jesu nicht die Quelle, aus der alles Heil für die anderen fließt, sonder eine notwendige Station auf seinem Weg zum Heilsführer für diejenigen, die ihm auf dem gleichen Weg folgen, allein durch ihn dazu befähigt und allein durch ihn und seinen Geist vorangeführt. Die Vergebung der Sünden ist nicht anders als vom erhöhten Christus, der das aufgrund seines freiwillig übernommenen Todes geworden ist, zu erlangen (216f).

Aspekte der lkn Konzeption:

- Die über den Tod Jesu ausgreifende Beachtung des gesamten Weges Jesu, die sein irdisches Heilswirken einbezieht z.B. „wie er umherzog, Gutes tat und alle heilte, die in der Gewalt des Teufels waren, denn Gott war mit ihm“ (Apg 10,38). Die 'Pro-Existenz' Jesu findet schon in seinem Leben zu allen Menschen, besonders zu den Kranken und Bedrückten, den Armen und Missachteten, Ausdruck. Gottes Erbarmen wird in Jesu Erbarmen mit den Sündern anschaulich (217f).

- Der geschichtliche Prozess, wie Gottes Heil in und seit Jesus zu den Menschen kommt, sich in die menschliche Geschichte einstiftet und trotz der Macht des Bösen in sie eindringt und in ihr vordringt.

- Die Verlorenheit und Verlassenheit des Menschen in der Welt, aus der ihm Jesus einen Ausweg zeigt. Jesus ist der einmalige und exemplarische Mensch, lebendige Gegenwart, gegenwärtig Helfender und Heilender. In seiner Person wird Gottes Gegenwart in unserer Welt gewiss, wird Gott als der Liebende und Erbarmende, aber auch als der Liebe und Erbarmen Fordernde erfahrbar.

- Die Kirche als Gemeinschaft der Jesus Nachfolgenden: In der Gemeinde der gemeinsam auf dem Weg zum endgültigen Heil Voranschreitenden geschieht Vergebung der Sünden, herrscht Freude und Trost des Heiligen Geistes, bemüht man sich um brüderliche Liebe, die der „Anführer zum Leben“ vorgelebt und in Leiden und Tod durchgehalten hat.

Die lkn Konzeption ist als apostolisches Kerygma in den Kanon der ntl Schriften eingegangen (218f).

 

(3) Christos Archegos und Soter, Führer und Retter (Apg 5,31)

 

P.-G. Müller: 5,30: „Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt, den ihr an das Holz gehängt und getötet habt“. 5,31: „Diesen hat Gott erhöht zu seiner Rechten als Führer und Retter“. Durch die Auferweckung und Erhöhung erhält Jesus die Investitur als Führer und Retter Israels. Weil Jesus der Retter Israels wurde, indem er am Kreuz starb, konnte Gott ihn in der Erhöhung als 'Führer' Israels einsetzen. Jesus ist Führer qua Retter. Archegos wird durch die Aussage bestimmt, dass die Führungsfunktion des Auferweckten Resultat seiner Rettungstat an Israel (und der Völkerwelt) ist. Objekt des Auferweckungs- und Erhöhungshandelns Gottes ist der irdische, von den Juden getötete Jesus. Als erhöhter Christus sitzt er zur Rechten Gottes (272f).

Durch die Verkündigung in der Missionspredigt wird Jesus ein zweites Mal Israel (und der gesamten Völkerwelt) alsMessias angeboten, nachdem die Juden den Messias getötet hatten und damit der Welt ihren Führer und Retter vorläufig genommen hatten. Die Metanoia Israels hat konkret in der Umkehr und im Glauben an den auferweckten Jesus zu bestehen. Israel soll sich zu dem bekennen, den Gottes Heilswillen trotz des Tötungswillens der Juden nun zum Führer Israels erhöht hat. Es ist gerade diese Sünde Israels, den Messias Jesus getötet zu haben, die durch eine echte Umkehr zu diesem Messias Jesus hin vergeben wird. Die Retter-Funktion Jesu lädt dazu ein, ihn auch als Führer Israels anzuerkennen (274f).

Gott macht durch den auferweckten Jesus das Angebot an Israel, einem neuen Führer zu folgen, sich zu dem Auferstandenen als seinem Retter zu bekennen, um durch diese Hinwendung zu Jesus die von Gott geforderte Metanoia zu vollziehen. Die Sündenvergebung ist die Konsequenz der Metanoia zu Jesus. Der Auferstandene ist der von Gott gesandte Führer Israels, der sogar die Sünden vergeben kann, was bisher von keinem der Führer Israels ausgesagt werden konnte. Der 'Führer Jesus' ist ein erstmaliges Verkündigungsangebot an Israel, das alle bisherige Führererfahrung des auserwählten Volkes übertrifft, weil der Geber der Metanoia und der Sündenvergebung der Messias ist (275f).

Nach Apg 3,15 wurde mehr die Funktion des Auferstandenen als Führer ins Leben betont, nach Apg 5,31 wird die Erhöhung Jesu als Führer zur Metanoia und Sündenvergebung verkündet. An beiden Stellen ist im Kontext des Terms von der Metanoia Israels die Rede. Daraus spricht eine unlösliche Assoziation einerseits mit der Passio und Auferstehung Jesu, anderseits mit der eschatologischen Hoffnung Israels auf Sündenvergebung (276f).

Anstelle des Gesetzes als Führungsinstanz wird der auferstandene Christus als Führer zu Umkehr und Heil verkündet. Das vom Sinai her geltende Gesetz verliert sein Führungsmonopol zugunsten des von Gott gesandten Sohnes. Christus ist jetzt der endgültige eschatologische Heilsführer und Retter sowohl der Juden wie der Heiden. Der Nomos wird in seiner Qualität als gottgesetztes Führungsmedium durch die lebendige Führungsfunktion des auferstandenen und erhöhten Christus abgelöst (277f).

Der erhöhte Auferstandene ist für Lk personidentisch mit dem getöteten irdischen Jesus. Die Funktion der Führung ins Leben zur Umkehr und zur Sündenvergebung gründet für Lk im Lebenseinsatz des von den Juden getöteten Jesus. Durch die sprachliche Bezugnahme zwischen Passionserinnerung und eschatologisch-messianischer Titulatur verklammert Lk die Christusprädikation 'Archegos' als nachösterliches Interpretament mit dem vorösterlichen Jesusschicksal (278).

 

(4) Das Verständnis von Rettung und Heil im Lk-Ev und in der Apg

 

A. Weiser

Die beiden Stellen Lk 22,19f und Apg 20,28 sind die einzigen im gesamten Doppelwerk, die dem Sterben Jesu einen heilswirksamen Sinn beimessen. Lukas und seiner Gemeinde war die Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu bekannt. Um so erstaunlicher ist es, dass Lukas dieses Verständnis für die Heilsbegründung und Heilsverkündigung nie verwertet hat. Er hat sie bewusst vermieden und zugunsten einer anderen Konzeption umgangen (145).

Vermeidung der Vorstellung vom Sühnetod

Trotz des deutlichen Sprechens vom Sterben Jesu am Kreuz sagt Lukas an keiner Stelle, dass es ein Sterben zugunsten anderer oder stellvertretend für andere war. Lukas spricht weder in den Leidensankündigungen davon, noch in der Passionserzählung, noch in den Reden der Apg, obwohl in ihnen die Hinrichtung Jesu jedesmal ausdrücklich erwähnt wird. Die aus dem Mk-Ev aufgenommene Sprechweise, dass Jesus gemäß des göttlichen Heilsplans leiden und sterben 'muss', hat Lukas noch verstärkt, indem er zu den vorgegebenen Stellen noch weitere selbständig hinzufügte (Lk 24,26; Apg 17,3). Aber an keiner von ihnen formuliert er den Heilssinn. Selbst dort, wo Lukas den Text von der stellvertretenden Sühne des sterbenden Gottesknechtes aus Jes 53 zitiert, lässt er den Sühnegedanken konsequent fort (Lk 22,37; Apg 8,32f). Lukas hebt immer wieder hervor, dass sich schon der irdische Jesus ganz besonders der Sünder angenommen und ihnen Gottes Vergebung geschenkt hat (Lk 5,32; 7,47-49; 15; 19,8-10; 23,41-43). Mit dem Auferstandenen sagt er, dass “in seinem Namen allen Völkern... die Bekehrung und die Vergebung der Sünden verkündigt“ werde (Lk 24,47). Mit keinem Wort werden Bekehrung und Sündenvergebung an das Sterben Jesu gebunden, obwohl es in ein und demselben Satz genannt wird. Die Apg schildert, wie die Sündenvergebung im Glauben an den Namen Jesu und im Empfang der Taufe geschieht (Apg 2,38; 10,43; 13,38; 26,18), ohne dass hier ein Bezug zum Sterben Jesu “für unsere Sünden“ hergestellt wird (145).

Zu den genannten Beobachtungen passt auch, dass Lukas das Wort, er sei gekommen zu dienen und sein “Leben hinzugeben als Lösegeld für die vielen“ aus der Mk-Vorlage weglässt und durch eine Überlieferungsvariante ersetzt. In ihr spricht Jesus nach dem Abendmahl nur: “Ich bin unter euch wie der Dienende (Mk10,45; Lk22,27). Auch ist es verständlich und konsequent, dass der Einwand des Petrus gegen das Leiden des Menschensohnes und die scharf zurechtweisende Antwort Jesu darauf bei Lukas nicht mehr zu hören sind (Mk 8,32f; Lk 9,22). Nach Lukas würde sich das mit der Gottgewolltheit des Leidens Jesu nicht vertragen.

Die Verwendung der Präposition 'für', die sonst im NT vorzugsweise den Gedanken der Stellvertretung und des Zugunsten-Für des Sterbens Jesu ausdrückt, bezieht Lukas auf Christen, die “für den Namen Jesu Schmach erleiden“ oder ihr Leben einsetzen (Apg 5,41; 15,25) (145f).

Leben und Weg Jesu als Heilsgeschehen

Nach Lukas ist Jesu gesamtes Wirken ein Dienst (22,27), bei dem es darum geht, “das Verlorene zu suchen und zu retten“ (19,10). Das Heil beginnt schon damit, dass “der Retter geboren ist“ (Lk 2,11). Es gründet schon in der Geburt Jesu. Die Zuwendung Gottes, wie sie im gesamten Leben und Wirken Jesu erfahrbar wurde, gilt für Lukas als Heilsgeschehen (146).

Den Tod Jesu deutet Lukas als Geschick des endzeitlichen Propheten (Lk 13,33) und als das unschuldige Leiden des Gerechten.Lukas versteht das Rettungs-, Erlösungs- und Heilsgeschehen so, dass Jesus als der gehorsame Sohn Gottes, als Prophet und Messias im Einsatz für die Armen, Kranken und Sünder den Weg des unschuldig leidenden Gerechten durch Leiden und Tod in die Herrlichkeit Gottes gegangen ist. Für Lukas sind Leiden und Tod Jesu eine zu durchschreitende Phase auf dem Weg zur Verherrlichung (Lk 24,26). Äußerlich ist der Weg veranlasst durch die religiösen Führer Israels, die die Aussagen der Schrift nicht verstanden haben (Apg 3,17; 13,27). Gott aber hat auf diesem Weg Heil gewirkt, indem er Jesus von den Toten auferweckt, zu seiner Rechten erhöht und zum “Anführer des Lebens“ (3,15; 5,31) gemacht hat (146f).

Anteil an dem von Jesus ermöglichten Heil gewinnen Menschen, indem sie sich glaubend dieser Botschaft öffnen und sich entschließen, Jesus im eigenen Leben nachzufolgen.

Der Weg Jesu wird zum Heilsweg für einen jeden, der “täglich sein Kreuz auf sich nimmt und [Jesus] nachfolgt“ (Lk 9,23). Lukas hat den Zusatz 'täglich' in das von Markus überlieferte Jesuswort eingefügt und damit deutlich gemacht, dass unser ganz alltägliches Leben mit all seinen Belastungen der Weg zum Heil ist: “Durch viele Drangsale müssen wir in das Reich Gottes eingehen“ (Apg 14,22). Dieser Weg zum Heil ist möglich geworden, weil Jesus als “Anführer zum Leben“ ihn vorausgegangen ist und ihn jetzt mitgeht (147).

Bereits der Neugeborene (Jesus) ist das Heil Gottes (Lk 2,30: soterion). Von Anfang an ist Jesus kraft des Heiligen Geistes der eschatologische universale Heilsmittler (Lk 2,11.31). Der Lobpreis des Simeon umfasst die in den lkn Gemeinden vorhandene und in der Apg erzählte Heilserfahrung, von dem in Jesus erschienenen “Heil für alle Völker (Lk 2,32). “Alle Menschen werden das Heil Gottes schauen“ (Lk 3,6) (124f).

Ich (Jesus) muss auch den anderen Städten das Reich Gottes verkündigen, denn dazu bin ich gesandt“ (Lk 4,43). Die vorher hervorgehobene Heilsverkündigung an Arme, Gefangene und Kranke wird hier als Verkündigung des Reiches Gottes bezeichnet. Der Leitbegriff 'Reich Gottes' durchzieht das ganze Doppelwerk. Zeugnisinhalt der Apg ist das Reich Gottes (Apg 1,3; 8,12; 19,8; 20,25; 28,23.31) und das Christuskerygma (Apg 2,22-24; 8,12; 9,20-22; 10,37-42; 13,26-37; 17,31;28,31) (127).

Der Weg Jesu gilt zugleich als Weg der Jünger (Lk 9,52.56f; 10,4.38; 18,31-34) und der Jüngerunterweisung. Jüngerschaft zeigt sich dabei als Weg mit Jesus und als Nachfolge Jesu (129).

 

(5) Aussagen über Jesu Tod und Auferstehung in der Apg

 

M. Rese

- Das Leiden des Christus – ein lkn Summarium

In Apg 3,19; 17,3; 26,23 gilt Jesu Tod als das von Gott vorherbestimmte Leiden des Christus. Die Frage ist, ob damit das Leiden und Sterben Jesu zusammengefasst und unter die Signatur ‚Leiden’ gestellt wird oder ob es einfach ‚Sterben’ heißt.

Ähnliche Formulierungen im Lk-Ev sind Lk 24,26.46 und 22,15, Aussagen, die nur Lukas hat. In Lk 24,26.46 belehrt der auferstandene Jesus erst die zwei Emmausjünger, dann alle Jünger aus der Schrift über das Leiden des Christus und seine Auferstehung. In Lk 22,15 spricht Jesus von seinem Wunsch, vor seinem Leiden das Passa mit seinen Aposteln zu feiern. In Lk 24,7 wird nur bei Lukas in der Geschichte vom leeren Grab (Lk 24,1-12) die mehrgliedrige Leidensansage wiederholt: „Der Menschensohn muss in die Hände von sündigen Menschen ausgeliefert werden, gekreuzigt werden und am dritten Tag auferstehen“. Wer diese sündigen Menschen sind zeigt Lk 24,20: Es sind die Hohenpriester und Oberen des Volkes, die Jesus dem Todesurteil übergaben und ihn kreuzigten. In Lk 24,26 heißt es dann nicht umsonst: „Musste nicht der Christus diese Dinge erleiden?“ (341f).

Zu ‚Leiden’ gehört bei Lukas nicht nur das Sterben Jesu am Kreuz, sondern auch das, was zwischen Passamahl und Kreuzigung Jesu geschieht. Für diese Deutung von ‚Leiden’ spricht auch: Lukas hat die zweite mkn Leidensaussage (Mk 9,31) in Lk 9,44 verkürzt zu: „Der Menschensohn muss in die Hände der Menschen ausgeliefert werden“. Außerdem steht nur bei Lukas der Leidenshinweis in Lk 17,25: „Der Menschensohn muss viel leiden und von diesem Geschlecht verworfen werden“. Innerhalb des lkn Doppelwerkes fasst ‚Leiden’ Jesu Leiden und Sterben zusammen (342).

Im Lk-Ev ist aus dem mkn Messiasgeheimnis ein Leidensgeheimnis des Messias geworden. Die Umwandlung eines Messiasgeheimnisses in ein Leidensgeheimnis ist Ursache genug, möglichst oft auf das Leiden des Messias hinzuweisen. Die Formulierung ‚Leiden des Christus’ ist Lukas eigenes Summarium des Leidens und Sterbens Jesu. Die entsprechenden zweigliedrigen Aussagen sind auf Lukas selbst zurückzuführen. Vorgegeben waren ihm die mkn Leidensansagen. Sie sind der traditionsgeschichtliche Ursprung des späteren absoluten Gebrauchs von ‚Leiden’ (343).

- „Ihr habt ihn getötet – Gott aber hat ihn auferweckt“

Übereinstimmend wird in Apg 2,23f; 3,13-15; 4,10; 5,30-32; 10,39-41; 13,27-31 der Tod Jesu als Tat der Einwohner Jerusalems und ihrer Anführer beschrieben, die Auferweckung als Tat Gottes. Jesu Tod wird nicht als Sühnopfer oder Stellvertretung gedeutet (344).

In den Reden der Apg hat Jesu Tod im Gegensatz zu 1Kor 15,3-5 keine sühnende Bedeutung. Lukas vermeidet bewusst Aussagen über die Sühnebedeutung des Todes Jesu. Es fehlt bei ihm eine Entsprechung zu Mk 10,45b „sein Leben zu geben als Lösegeld für viele“. Zwar wird in Lk 22,37 und Apg 8,32f im Blick auf Jesu Tod aus Jes 53 zitiert, doch sind es nicht die Aussagen in Jes 53, die eine Sühnedeutung des Todes Jesu stützen könnten. Falls der Kurztext im lkn Abendmahlsbericht (Lk 22,14-19a) ursprünglich wäre (wie M. Rese annimmt), würde das in dieselbe Richtung weisen. Auf diesem Hintergrund ließe sich das Fehlen der Sühnebedeutung des Todes Jesu in den kerygmatischen Abschnitten der Apg als bewusste Änderung einer Formel wie 1Kor 15,3-5 deuten (345f).

In Apg 7,52 klingt genau jene Tradition an, aus der Lukas den Satz von der Täterschaft der Jerusalemer Juden bilden konnte: Es ist das Motiv vom Prophetenmord der Jerusalemer. Lukas fand es in seiner Q-Tradition (Lk 13,34f / Mt 23,37-39) (346).

An den zwei entscheidenden Punkten, nämlich beim Fehlen einer Sühnebedeutung des Todes Jesu und bei der Betonung der Täterschaft der Jerusalemer Juden, erweisen sich die Aussagen des Grundschemas als lkn Theologumenon. Sicher ist, dass Lukas sich des traditionellen Motivs des Jerusalemer Prophetenmordes bediente (347).





R. Glöckner

2. Die menschlich-exemplarische und göttlich-heilstiftende Bedeutung des Todes Jesu

 

(1) Die Notwendigkeit des Todes Jesu im Willen Gottes
 (2) Die Rätselhaftigkeit des Todes Jesu
 (3) Die Verursachung des Todes Jesu durch die menschliche Schuld
 (4) Der Tod Jesu im Zusammenhang mit der atl Heils- und Unheilsgeschichte
 (5) Der Tod Jesu als Vollendung des Weges in die Erniedrigung
 (6) Die Darstellung der Passion und des Sterbens Jesu als Versuchung
 (7) Der Tod Jesu als Dienst für die Seinen
 (8) Der Tod Jesu als Erfüllung seiner Sendung
 (9) Jesus als der heilige und gerechte Knecht Gottes
 (10) Fazit


 

(1) Die Notwendigkeit des Todes Jesu im Willen Gottes: Alles Heilsgeschehen steht unter dem Willen Gottes (de-i). Für Lukas ist es immer die Sendung des Vaters und des Geistes, die dem Leben Jesu den zu gehenden Weg vorschreibt. Die ganze Verkündigung der Basileia Gottes steht unter dem göttlichen Muss der Sendung (4,43). Das gesamte Heilswirken, das Lukas in Wegterminologie zur Sprache bringt, gibt Jesus notwendig auf, heute und morgen zu wandern, um dann schließlich in Jerusalem umzukommen (Lk 13,33) (155).

Das de-i ist auch für das Leiden und Sterben Jesu wichtig. Ab Lk 9,22 wird das Leiden als gottgewollte Notwendigkeit verkündet 17,25; 22,37; 24,7.26.44; Apg 17,3. Durch zusätzliche Formulierungen (Lk 9,31; 12,50; 18,31; 22,22) wird die Unausweichlichkeit des kommenden Leidens betont. Jesus geht gemäß dem unabänderlichen Willen Gottes in den Tod (Apg 2,23; 3,18; 4,28). Sein Tod ist schon in den Schriften der Propheten verkündet worden (Apg 3,18; 13,29). Sein Tod bedeutet Erfüllung der Schriften (Lk 22,37; 24,44) und gehört notwendig zur Erfüllung seiner Lebenssendung hinzu. Gott handelt auch in ihm als der Herr der Geschichte (156).

 

(2) Die Rätselhaftigkeit des Todes Jesu

 

Der Tod Jesu lässt sich nicht aus der Schrift deduzieren noch sonstwie im einzelnen beweisen. Er bleibt immer ein dunkles, rätselhaftes Ereignis (156).

Lukas stellt das Leiden des Messias wiederholt als Geheimnis dar. Zusammen mit der mkn Vorlage spricht er 9,45 davon, dass die Jünger die Leidensweissagung Jesu nicht verstehen. Die gleiche Bemerkung fügt er über Markus hinaus auch 18,34 an die dritte Leidensweissagung an. Während in der Verklärungsperikope Mose und Elia mit Jesus über seinen Exodus in Jerusalem (Lk 9,31f) sprechen, schlafen die Jünger und nehmen beim Erwachen nur seine Doxa wahr. Die Notwendigkeit und Bedeutung des kommenden Leidens wird von ihnen nicht gesehen. In Lk 22,24ff stellt Lukas nochmals das völlige Unverständnis der Jünger dem Leiden Jesu gegenüber heraus. Der Vorhersage Jesu über seine tiefste Ohnmacht und Erniedrigung setzen die Jünger den verständnislosen Hinweis auf die beiden Schwerter entgegen (22,38) (157).

In dem Unverständnis dem Leiden und Sterben Jesu gegenüber spiegelt sich die Grundsituation des Glaubens der Kirche gegenüber dem Ereignis des Kreuzes. Wie die Apg zeigt, bleibt die Verkündigung des verworfenen und gekreuzigten Messias eine ärgerniserregende Herausforderung (157).


 

(3) Die Verursachung des Todes Jesu durch die menschliche Schuld : Der menschliche Unglaube, der sich in der Nazareth-Perikope erstmals gegen Jesus erhebt, begleitet von dort an unablässig seinen Weg und wird zu einem machtvollen Faktor, der schließlich mit über den ‚Ausgang’ in Jerusalem entscheidet. Von der Verwerfung in Nazareth an bleiben die Feinde Jesu beständig um ihn. Lukas verbindet die Äußerungen ihres Unglaubens zu einer durchlaufenden Geschehniskette, die schließlich unmittelbar in die Passion hineindrängt. Auf die Heilspredigt in Nazareth hin werden die Zuhörer mit Wut erfüllt (4,28). Lukas interpretiert den Unglauben der Bewohner von Nazareth konkret als Verwerfung, der Jesus diesmal noch entgeht (4,30), die aber eine bleibende Auseinandersetzung einleitet und schließlich zur endgültigen Verwerfung führt. Es geht Lukas um die Geschichte des wachsenden Widerstandes, der in der Katastrophe endet (159f).

Der Tod Jesu wird zum sichtbaren Ausdruck dessen, dass er als Christus abgewiesen wird. Er ist die letzte Konsequenz seiner Abweisung. Der Unglaube, der sich Jesus ständig entgegenstellt, wird kausal mitbestimmend dafür, dass es zur Kreuzigung kommt (160).

Durch die Schuld der Juden hat Gott selber zur Erfüllung gebracht, was er schon in den Schriften des AT vorherverkündigt hat. Lukas hebt beide Momente für die Deutung des Todes Jesu hervor, weil sonst die Erlösung als gottgewollte und menschlich vollzogene Geschichte zerstört würde. Lukas deutet die Schrifterfüllung (22,22) als Vorherbestimmung durch Gott (wie es beschlossen ist), auf die unvermittelt das Wehe über den Verräter folgt (161f).

Der ganze Weg Jesu steht unter dem Willen Gottes und erhält gerade in der Notwendigkeit der Verkündigung des Reiches Gottes (Lk 4,43) schon vor dem Leiden eine in sich geschlossene Eigenständigkeit. Er ist Heilsoffenbarung, ohne von Anfang an die Notwendigkeit des Kreuzes einzuschließen. Zwischen der Doxa, von der Simeon (2,32) spricht, und der Doxa, die der Auferstandene (24,26) den Jüngern verständlich machen will, liegen geschichtliche Erfahrungen, Entwicklungen und Wandlungen. Zunächst beinhaltet das de-i, unter dem der Weg Jesu steht, nur die Untergebenheit unter den Willen des Vaters (2,49) und die Aufgabe, der Welt das Heil als gegenwärtig anzusagen (4,43). Seine Sendung bedeutet schon endgültige Heimsuchung Gottes für sein Volk (1,68.78; 7,16). Der konkrete Vollzug dieser Sendung bis in den Tod wird entscheidend dadurch mitbestimmt, dass Jerusalem die Stunde seiner Heimsuchung nicht erkannt hat (19,44). Deshalb wird die Notwendigkeit des Leidens und Sterbens Jesu erst von einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens an ausgesagt (9,22.31.44.51). Sie erwächst aus dem Konflikt zwischen dem Heilswillen Gottes und dem Unglauben der Menschen (162f).

Mit der Verwerfung in Nazareth setzt die Auseinandersetzung Jesu mit dem Bösen in der Gestalt menschlichen Unglaubens und menschlicher Schuld ein, die bis zu seinem Tod allein entscheidend bleibt. Die Macht Satans offenbart sich im Verrat des Judas (22,22). In ähnlichen Formen war sie schon immer in den Gegnern Jesu wirksam. Die Kräfte, die schließlich zum Tod Jesu führen, sind die gleichen, die schon von der Verwerfung in Nazareth an gegenwärtig sind und dieses Geschehen unaufhaltsam erzwingen. Jesus muss seinen Weg im geschichtlichen Wirkzusammenhang menschlicher Schuld gehen, in der sich die Unheilsmacht (Satan) inkarniert (163).

 

(4) Der Tod Jesu: im Zusammenhang mit der atl Heils- und Unheilsgeschichte: Wie schon die Väter die Propheten verfolgt und darin ihren Ungehorsam gegen Gott und ihren Unglauben dokumentiert haben, so wird auch Jesus und seine Botschaft abgelehnt. Lukas betont Sendung und Schicksal Jesu als Prophet z.B. in der Nazareth-Perikope, wo die Parallelität zwischen dem Tun Jesu und dem der Propheten Elia und Elisa aufgezeigt wird, auf die dann die Verwerfung folgt. Auch Lk 7,16 und 24,19 bekennen ihn als Propheten, dessen Schicksal es ist, in Jerusalem umzukommen (13,13f) (164).

Am deutlichsten zeichnet die Rede des Stephanus (Apg 7,1ff) das Todesgeschick Jesu als konsequente Fortsetzung und Erfüllung der Geschichte Israels als einer Kette von Handlungen des Unglaubens und der Heilsverweigerung. Dabei muss das Leben Jesu zunächst in einer Linie mit der ständigen Berufung zum Heil gesehen werden, die mit Abraham beginnt (7,1-8) und sich machtvoll in der Errettung Israels aus Ägypten fortsetzt (7,36). Typologisch wird die Heilsfunktion des Mose als des Gesandten Gottes dargelegt und in Parallelität zum Wirken Jesu deutbar. So wie es Mose in den Sinn kommt „sich nach seinen Brüdern, den Israeliten, umzusehen“ (7,23), so sucht Gott mit dem Kommen Jesu sein Volk heim (1,68.78; 7,16). So wie Gott dem Volk durch die Hand des Mose die Soteria bringen will (7,25), so geschieht es auch in der Sendung Jesu (Lk 1,69.71.77; 19,9; Apg 4,12; 13,26; 16,17). Jesus ist wie Mose mächtig in Wort und Tat (Apg 7,22; Lk 24,19). Die Stephanusrede deutet die Sendung Jesu als aus der Geschichte des Alten Bundes unmittelbar fortgesetztes Heilshandeln Gottes (165).

Im Verrat und in der Ermordung Jesu erreicht das seinen Höhepunkt, was die bisherige Geschichte des Volkes bestimmt hat: Die Israeliten widerstehen dem Heiligen Geist und verfolgen deshalb die von Gott gesandten Propheten (Apg 7,51-53). Es geht um eine Geschichte des Unglaubens (166).

Das Murren (Lk 5,30; 15,2; 19,7), mit dem bei Lukas die Pharisäer und andere Gegner auf das Heilshandeln Jesu antworten, hat eine lange Vorgeschichte im AT. Nahezu alle Propheten gehen davon aus, dass Israel durch seine Schuld sich von Gott abwandte und den Bund gebrochen hat und dass ein ganz neues Heilshandeln Gottes nötig ist, wenn die Heilsgeschichte weitergehen soll. Die ganze Heilsgeschichte erscheint als ein einziger großer Fehlschlag (166f).

Es liegt in der Absicht des Lukas, den Tod Jesu und das Martyrium des Stephanus als Fortsetzung der alten Linie der Unheilsgeschichte und des Unglaubens Israels zu sehen. Wie die Beziehungslosigkeit des Hauptteils der Rede zur konkreten Situation der Anklage gegen Stephanus in 6,13f zeigt, will Lukas hier über zeitbedingte Problematik hinaus umfassend die geschichtliche Entwicklung darstellen, die zum Tode Jesu geführt hat (7,51-53) (168f).

 

(5) Der Tod Jesu als Vollendung des Weges in die Erniedrigung : Jesu Weg in den Tod ist Heilserfüllung, weil er darin bis in die letzte Erniedrigung vorbehaltlos den Heilsauftrag Gottes durchträgt. Nirgends erwähnt Lukas den Gedanken vom stellvertretenden Sühneleiden des Gottesknechtes. Lukas übernimmt einzelne Elemente der Theologie vom leidenden Gottesknecht und überträgt sie auf den leidenden Christus. Jeder Gedanke einer stellvertretenden Sühne oder eines Opfers fehlt (171).

Er ist zu den Gesetzlosen gerechnet worden." Denn, was von mir geschrieben ist, das wird vollendet (Lk 22,37/Jes 53,12). „Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tat er seinen Mund nicht auf. In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen zählen? Denn sein Leben wird von der Erde hinweggenommen“ (Apg 8,32f/Jes 53,7f). In den beiden Jesajazitaten wird allein der Gedanke der Verwerfung und Erniedrigung klar fassbar. Der Gesetzlose meint eine Qualifikation des Menschen, die die Trennung von der Gemeinschaft mit dem Gottesvolk beinhaltet. Wenn Jesus in seinem Tod unter die Gesetzlosen gezählt wird, so bedeutet das seinen Ausschluss aus der Heilsgemeinschaft des Volkes Israel. In diesem Sinne interpretiert auch Apg 2,23 seinen Tod als Auslieferung an die Gesetzlosen und darin als endgültige Verwerfung und Verstoßung. Sein Leben endet damit in äußerster Erniedrigung, denn von den geltenden religiösen Vorstellungen her ist der Tod eines Gesetzlosen sinn- und heillos (173).

In Apg 8,32f ist die Erniedrigung im Bild des stummen Leidens ausgesprochen. Die Erniedrigung wird durch die Vorstellung des zur Schlachtbank geführten Schafes zum Ausdruck äußerster Geduld und Hilflosigkeit. Lukas genügt für die Deutung des Todes Jesu die Herausstellung dieses einen entscheidenden Merkmals. Der Kreuzestod Jesu erscheint als letzte Steigerung und Konsequenz seines Lebensweges in Niedrigkeit. Jesus stirbt als der erniedrigte, leidende, nicht aber als der sühneleidende Gottesknecht (173f).

 

(6) Die Darstellung der Passion und des Sterbens Jesu als Versuchung: Bei Lukas erscheint die Passion als ins Extrem fortgeführte Versuchung. Sie ist in neu betonter Weise das Werk des Versuchers, der Jesus 4,13 verlassen hat und nun 22,3 von Judas Iskarioth Besitz ergreift, um die Endauseinandersetzung heraufzubeschwören. Lk 22,28: „Ihr seid es, die ihr ausgeharrt habt in meinen Versuchungen“ lässt sich als Fortführung der Versuchungen verstehen, die den ganzen Weg Jesu begleitet haben. Jesus spricht die Jünger hier als diejenigen an, die mit ihm in seinen Versuchungen standgehalten haben. Jesus meint die einzelnen Stadien auf dem Weg der ständig deutlicher hervortretenden Verwerfung (174).

Der Gedanke der Versuchung und des Versuchtseins wird in der Ölbergszene breit entfaltet (Lk 22,39-46). Der Beginn der Passion wird in 22,40 unter das Mahnwort gestellt: „Betet, damit ihr nicht in Versuchung fallt!“. Die gleiche Mahnung ist in 22,46 wiederholt. Sie ist das Thema der Ölbergszene und Überschrift für das Kommende (174f).

Auf seine Mahnung, durch Gebet die Versuchung zu bestehen (22,40), geht Jesus selber hin und betet. Die folgenden Worte von dem Stärkung bringenden Engel, der gesteigerten Todesangst und dem intensiveren Beten (43f) stehen im Dienst des Grundgedankens: durch Gebet die Versuchung bestehen. Jesus durchleidet vorwegnehmend die kommende Verwerfung und Kreuzigung (175f).

In der Verspottung Jesu am Kreuz 23,35-39 betont Lukas dreimal die Gegenüberstellung von ironisch gemeinter Hoheitsanrede und expliziter Herausforderung zur Selbsthilfe (35.37.39). Auch in 4,1ff bestand die Versuchung in der dreimaligen Herausforderung, die Hoheit als Sohn Gottes zu missbrauchen bzw. Vollmacht und Doxa durch die Unterwerfung unter den Satan zu erlangen. Es geht darum, ob Jesus seine Heilssendung gemäß dem Willen des Vaters in Niedrigkeit vollbringt, oder ob er in die äußere Machtdemonstration ausweicht. „Du sollst den Herrn, deinen Gott nicht versuchen“ (4,12). Gott nicht zu versuchen bedeutet, selbst versucht zu sein. Die Rettung der Menschheit ist nur möglich im Verzicht auf jede Form von eigenmächtiger Selbsthilfe. Wirkliche Erhöhung und Rettung kann nur von Gott kommen. In 23,46 antwortet Jesus auf alle Herausforderung zur Selbsthilfe mit der Hingabe an den Vater (176f).

 

(7) Der Tod Jesu als Dienst für die Seinen : Wie Jesus unter den Jüngern der Dienende ist, findet in seinem Leiden und Sterben seinen anschaulichen Ausdruck. Seine Erniedrigung im Tod wird zeigen, in welch radikalem Sinn der Größte zum Jüngsten und der Älteste zum Diener wird (Lk 22,26) und darin Herrschen als Dienen vollzieht (177f).

Der Tod Jesu bedeutet dienende Hingabe für die Seinen. Die theologische Deutung des Todes Jesu vollzieht sich auch innerhalb der Erfahrung menschlicher Grundhaltung bzw. unheilvoller Fehlhaltungen und im Widerspruch zu ihnen. Der Verrat des Judas und der Streit der Jünger bieten Lukas eine Möglichkeit, den Tod Jesu in seiner positiven Bedeutung näher zu verdeutlichen (180).

In der Abschiedsrede des Paulus in Milet (Apg 20,17-38) wird die Hingabe Jesu (28) erinnert, um von daher den Dienst der Ältesten zu begründen. Der Hinweis darauf, dass die Kirche „durch das Blut Jesu erworben“ worden ist, kann nicht als Ausdruck einer rechtfertigenden Sühnevorstellung gelten, sondern er charakterisiert den Kreuzestod als Zeichen einer bis zum Äußersten gehenden Liebe und Hingabe für die Kirche (182f).

 

(8) Der Tod Jesu als Erfüllung seiner Sendung : Die Verben erfüllen und vollenden werden in Verbindung mit der Schrifterfüllung und einer variierenden Wegterminologie ausgesagt. Das Todesleiden Jesu bringt die Erfüllung dessen, was die Schriften und Propheten vorhergesagt haben und ist zugleich auch die Vollendung des Lebensweges Jesu. In Jerusalem wird er seinen „Ausgang“ erfüllen (9,31). Dort werden sich die Tage seiner „Hinaufnahme“ erfüllen (9,51). In dem Logion 12,50 erscheint der Tod als die Vollendung der ersehnten ‚Taufe’, mit der Jesus getauft werden muss. Durch sein Leiden geht er in seine Herrlichkeit ein (24,26) (169).

In der lkn Theologie wird Gottes Heilszusage in der Sendung Jesu und in seinem Weg zu den Verlorenen verwirklicht. Diese Sendung ist der Weg in Niedrigkeit, der vom menschlichen Unglauben abgelehnt wird. In diesem Sinn bedeutet der Tod Jesu zunächst Höhepunkt und Vollendung der menschlichen Schuld (Lk 13,33ff; Apg 13,27ff) und der Macht des Bösen. Die Macht des Bösen setzt in Lk 22,3f zu ihrem letzten Angriff an. Die Verhaftung Jesu ist die Stunde seiner Feinde und der „Macht der Finsternis“ (22,53) (170).

Im Vollzug des Unglaubens erfüllen sich die Tage seiner (Jesu) Hinaufnahme (9,51) und darin werden die Schriften erfüllt (Lk 22,37; 24,27.44ff; Apg 3,18). Die Erfüllung der Schriften beinhaltet das Paradox, dass die Geschichte des menschlichen Unglaubens zugleich die Verwirklichung und Vollendung des göttlichen Heilsplanes bringt (171).

Jesus erleidet hier alles (9,31), um so seine Sendung zu vollenden. Jesus übergibt durch alle Versuchungen hindurch dem Vater seinen Geist (184).

Die redaktionellen Veränderungen, durch die Lukas der Passion den Charakter eines Martyriums gibt, wollen Jesus als Märtyrer für seine Sendung zeigen und offenbaren gerade nicht die Heilsbedeutung seines Leidens und Sterbens. Heil liegt für Lukas darin, dass im ganzen Lebensweg Jesu dem Menschen die Soteria zugesprochen wird und dass Jesus dieses Angebot konsequent bis in den Tod offenhält. Gegen die Versuchung und Herausforderung des Unglaubens bleibt sein Leben bis in die äußerste Erniedrigung Dienst für die Seinen. Der allgemeine Unglaube bewirkt nicht, dass Gott dem Menschen das Heil entzieht, sondern es kommt zu dem Paradox, dass Gott den bis zum äußersten gehenden Unglauben des Menschen in der Leidens- und Hingabebereitschaft Jesu zur Offenbarung seines grenzenlosen Heilswillen werden lässt (185f).

Jesus ist für Lukas nicht irgendein sterbender Gerechter, sondern der eschatologische Heilsträger Gottes. Wenn er in der Stunde seiner endgültigen Verwerfung für diejenigen betet, die ihn verwerfen, so ist das Ausdruck seines vorbehaltlosen Heilswillens. Die Vergebungsbitte für die Henker (23,34) erweist ihre Ursprünglichkeit dadurch, dass sie den Retter und Helfer der Sünder bis zur letzten Stunde getreu seiner Sendung handelnd zeigt. Der am Kreuz Verworfene und ganz Erniedrigte spricht gerade in dieser seiner Erniedrigung das Heil zu. Am Kreuz zeigt sich in letzter Schärfe, dass der Weg Jesu unwiderruflich das Angebot der Erlösung bleibt. Der Leidensweg Jesu wird zur bleibenden Grundmöglichkeit allen Heils. Denn hier offenbart sich, dass im Handeln Jesu der Heilswille Gottes stärker ist als alle Unheilsgeschichte (186).

Dem Heilswort Jesu geht das anerkennende Wort des Schächers voraus. Der Erniedrigte wird für denjenigen zum Heil, der sich ihm in der eigenen Erniedrigung gläubig öffnet. Wenn der am Kreuz Erniedrigte noch Heil zuspricht, so zeigt sich darin, dass es keine Macht des Unheils gibt, die den Heilswillen Gottes aus der Geschichte hinausdrängen könnte. Gottes verzeihende und rettende Liebe setzt sich in der Kreuzeserniedrigung Jesu als bleibende Gegenwart und bleibendes Angebot durch. Der Empfang dieses Heils hängt davon ab, ob dieses Angebot der erniedrigten Liebe Gottes gläubig angenommen wird (186f).

 

(9) Jesus als der heilige und gerechte Knecht Gottes: Fürwahr, dieser ist ein gerechter Mensch gewesen“ (23,47). ‚Gerecht’ ist allgemeiner und umfassender Ausdruck eines besonderen Gottesverhältnisses. Zacharias und Elisabeth sind gerecht vor Gott (1,6). Simeon ist gerecht und gottesfürchtig (2,25), was sich darin zeigt, dass er den Trost Israels erwartet und dass der Heilige Geist auf ihm ruht (189).

Gerechtigkeit in der Darstellung der atl Frömmigkeit ist ein Verhältnisbegriff. Die Norm des Handelns bestimmt sich aus dem Gemeinschaftsverhältnis des Einzelnen in Bezug auf Gott und das Volk. Lk 1,17 trägt in diesem Zusammenhang noch den Gedanken des Gehorsams ein. Die innige Gottesbeziehung des Menschen äußert sich darin, dass er das Heil von Gott erwartet und in der Haltung des Vertrauens und Gehorsams vor Gott lebt. Das Bekenntnis des Hauptmanns (23,47) gilt dem Menschen Jesus, der hier seine einzigartige Gottverbundenheit offenbart und darin alle Ansätze des menschlichen Gerechtseins vor Gott zur Erfüllung bringt. Diese Vollendung des Weges Jesu am Kreuz ist zugleich auch Erfüllung der Heilssendung von Gott. Jesu Weg ist von Anfang an der Weg des gottgesandten und mit dem Geist gesalbten Retters. Jesus erfüllt als Gerechter am Kreuz seine Heilssendung. Darin wird die Heilszuwendung Gottes erfahren und gläubig verherrlicht (189f).

Jesus ist der geistgesalbte Gottesknecht (4,18ff), dessen Hoheit als „der Heilige Gottes“ (4,34), als „Sohn Gottes“ und als „Christus“ (4,41) in der Vollmacht über die Dämonen hervortritt (191).

Die Aussage vom Christus Gottes (Lk 9,20; Apg 3,18) entspricht der Verwendung von Knecht Gottes bei Lukas. In dieser Wendung spiegelt sich noch etwas von der ursprünglich funktionalen Bedeutung des Christus als des Gesalbten und Gesandten Gottes. Die leitende Vorstellung bei Lukas ist die, dass Jesus als der Christus Gottes und der Knecht Gottes das in der Schrift verheißene, von Gott ausersehene zentrale heilsgeschichtliche Werkzeug Gottes ist. Auch Apg 3,26 sieht (in Zusammenschau des irdischen und erhöhten Jesus Christus) die Bestimmung des Knechtes darin, dass er erweckt und gesandt ist, um das Volk Israel zu segnen. Jesus ist der heilige und gerechte Knecht Gottes, weil er unter der besonderen Salbung und Heilssendung durch Gott und seinen Geist steht (192).

Der Gottesknecht lebt in reinem Gehorsam dem ihm gewordenen Auftrag. Der Gottesknecht ist mit Gott darin verbunden, dass er seinem Wort Gehör und Gehorsam schenkt, und ist mit seinem Volk dadurch verbunden, dass er ihm durch seinen Mund Gottes Wort übergibt (192).

Für Lukas liegt die Erfüllung dieses Auftrags in der Verknüpfung von Knechtsein und Leiden, weil sie im Vollzug der menschlichen Unheilsgeschichte nur im Widerspruch von göttlicher Heilssendung und menschlicher Ablehnung verwirklicht werden kann. Als der von Gott gesandte Knecht ist Jesus auch der um seiner Sendung willen Verworfene. Schon die christologische Konzeption des 4. Kp macht klar, dass er durch die Geistsalbung als Heiliger Gottes und als Christus Herr über die Dämonen ist, zugleich aber verworfen wird und als der Christus leiden muss. Lukas ist der einzige unter den Evangelisten, der den Christustitel unmittelbar mit der Notwendigkeit des Leidens verbindet(Lk 24,26.46; Apg 3,18; 17,3; 26,23). So wie Lk 4,18ff die Geistsendung Jesu durch Jes 61,1f interpretiert, so deutet Apg 4,25ff das Zitat aus Ps 2,1f die Verwerfung des heiligen, von Gott gesalbten Knechtes Jesus als des Christus des Herrn. Gegen ihn als dem Knecht haben sich die Heiden und das Volk Israel verschworen, und er muss seinen Weg in die Erniedrigung (Jes 53) vollenden (Lk 22,37; Apg 8,32f) (192f).

Jesus ist als der geistgesalbte Christus in der Niedrigkeit seines menschlichen Lebensweges zu den Armen und Erniedrigten gesandt (Lk 4,18; Apg 10,38). In der Situation der menschlichen Unheilsgeschichte, die sich dem Heilszuspruch Gottes widersetzt, kann Jesus die Sendung Gottes und damit seinen Heilswillen nur durchsetzen, indem er bis in den Tod dem Auftrag des Vaters treu bleibt, ohne sich gegen das ihm zugefügte Unrecht zur Wehr zu setzen. Damit wird nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Heilsbedeutung seines Leidens und Sterbens sichtbar. Die erlösende Kraft seiner äußersten Erniedrigung liegt darin, dass Jesus die ihm zugefügte ungerechte Gewalt ohne Widerstand erträgt und so den unbedingten Heilswillen Gottes offenbart. Die Schuld des Menschen soll dadurch weggenommen werden, dass der erniedrigte Knecht sie hinnimmt und aushält und nicht mit Gegenwehr darauf reagiert. Gottes Heilswille ist größer als das menschliche Unrecht, weil er in der Erniedrigung seines Knechtes nicht durch Gericht und Verwerfung auf die unrechte Gewalt antwortet, sondern mit der Geduld des Ertragens. Durch alle Versuchung, die in der Ablehnung durch den menschlichen Unglauben und in der Herausforderung zur Selbstrettung und Selbsterhöhung liegt, vollzieht Jesus die Sendung als Knecht im Dienst für die Seinen bis in den Tod und bleibt damit Gottes endgültiges Wort des Heils und der Rettung für die Menschheit. Die äußerste Erniedrigung des Knechtes ist Erfüllung der Sendung, in der das Heil stärker ist als die menschliche Schuld und Unheilsgeschichte, weil er sie leidend erträgt (193f).

In den Worten des Hauptmanns (Lk 23,47): „Fürwahr, dieser ist ein gerechter Mensch gewesen“ liegt der Bezug auf das Handeln Jesu am Kreuz. Der Gekreuzigte verzichtet auf jeden Versuch, sich machtvoll durchzusetzen, er betet verzeihend für seine Verfolger (34), er spricht dem Schächer das Heil zu (43) und gibt sich dem Vater in die Hände (46). Die Worte des Hauptmanns sind Bekenntnis zu dem, der seine messianische Sendung in der größten Erniedrigung vollendet und darin das Heil zugewendet hat (194).

Erlösung wird hier nicht von der Sühnevorstellung oder vom stellvertretenden Sühneleiden her zur Sprache gebracht. Gott wirkt das Heil, indem er seinen Knecht sendet. Der Knecht setzt dieses Heil in der Unheilsgeschichte der Welt durch, indem er es leidend durch alle Schuld hindurch offenhält. Gott erträgt im Leiden Jesu die Schuld des Menschen und löscht sie darin aus. Seine Liebe ist stärker als die menschliche Schuld, weil sie selbst in der Erniedrigung Jesu unter diese Schuld und durch sie dennoch das Angebot der Liebe bleibt (194).

 

(10) Fazit : Jesus ist immer im uneingeschränkten Sinne Mensch und zugleich der in der Kraft des Geistes gezeugte und bevollmächtigte Retter. So geht er auch in die Passion als Mensch und als der gottgesandte Knecht. Nur die Zusammenschau beider Wirklichkeiten vermag die Bedeutung seines Todes umfassend auszusagen (195).

Der Heilsweg Jesu für den Menschen ist zunächst einmal der Weg Jesu als Mensch. Er geht den Weg für die Seinen, indem er ihn exemplarisch als Mensch geht. Insofern sind Leiden und Sterben auch sein ganz persönliches Geschick. Dies aber nicht unter biographischen Gesichtspunkten, sondern als Wesenselement der Soteriologie. Denn indem Jesus als Mensch leidet, vollzieht und begründet er eine neue Weise des Menschseins. Lukas zeichnet den Menschen als denjenigen, der sich auf seine Eigenmächtigkeit zurückziehen will und sich darin vor Gott und dem Mitmenschen verschließt. Jesus geht in der Passion den entgegengesetzten Weg. In der bestandenen Versuchung, im Dienst und in der äußersten Erniedrigung vollzieht er die Grundmöglichkeit des Menschseins, aus der allein die rettende und befreiende Erhöhung durch Gott hervorgehen kann. Seine Bereitschaft, bis zur letzten Erniedrigung in den Tod zu gehen und sein menschliches Scheitern dem Vater in die Hände zu legen, ist neue Verwirklichung des Menschseins. Jesu Leiden ist nicht irgendein Hilfsmittel für den Menschen, sondern auch immer Vollzug des Weges der Erniedrigungen in der Geschichte, auf dem er Menschsein vor Gott erfüllt und auf dem der Mensch sich für alle Zukunft mitnehmen lassen muss. In der Passion handelt nicht nur Gott am Menschen, sondern im Leiden Jesu liegt auch die Antwort Jesu als Mensch gegenüber dem rettenden und befreienden Heilshandeln Gottes. Christologie, Soteriologie und Anthropologie greifen hier unmittelbar ineinander, weil dem Heilswillen Gottes auch eine bestimmte menschliche Grundhaltung entsprechen muss, die Jesus in Einheit mit seiner Sendung erfüllt (195f).

Jesu Tod lässt die menschliche Schuldverfallenheit sichtbar werden und erhebt die Forderung, dass der Mensch im Licht des leidenden Christus seine schuldhafte Eigenmächtigkeit durch die Umkehr im Glauben aufgibt. So wie schon im Evangelium der Zuspruch des Heils nur in der Niedrigkeit des Weges Jesu und damit in der Absage an die schuldhafte Selbsterhöhung ergeht und die Umkehr fordert, so liegt für die Apg der Heilsempfang in einem Glauben, der immer auch ein sich Abwenden und Umkehren bedeutet. Der Glaube steht in einem zweifachen Bezug zur Erniedrigung Jesu in seinem Leiden und Sterben. Er ist Glaube an den verworfenen, gekreuzigten, auferweckten und erhöhten Jesus Christus und Glaubensnachfolge, die von Lukas besonders als Leidensnachfolge gekennzeichnet wird: „Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach“ (Lk 9,23). Nicht das Martyrium soll hervorgehoben werden, wohl aber die Bereitschaft, sich täglich auf den Weg des Leidens und der Erniedrigung Jesu einzulassen. Kreuzesnachfolge ist das Leben bestimmende Leidensnachfolge (196f).

Das Heil liegt darin, dass Jesus im Verzicht auf jeden Versuch der Selbstrettung die Verwerfung leidend ertragen, sich in seiner Erniedrigung vertrauend dem rettenden Gott übergeben und damit die Heilssendung Gottes in der Unheilsgeschichte durchgetragen hat. Daher muss sich der menschliche Glaube nun darin verwirklichen, dass er den in Jesus erniedrigten Knecht als den von Gott gesandten und erhöhten Retter annimmt und sich damit auch auf den Weg einlässt, auf dem Jesus in der ständig fortschreitenden Verwerfung und Ohnmacht das Heil erwirkt hat. Passion Jesu ist nicht nur Ereignis, durch das etwas für den Menschen geschehen ist, sondern sie kommt in der jeweiligen geschichtlichen Situation immer neu zur Verwirklichung, wenn der Mensch die im Leiden Jesu vollzogene Antwort an Gott nach- und mitvollzieht. Leiden und Sterben Jesu werden als erniedrigte Offenheit vor Gott zum bleibenden Grundvollzug aller menschlich-gläubigen Existenz (198f).

Der Tod Jesu ist die letzte Konsequenz seiner Heilssendung für die Armen, nicht nur Hingabe an Gott. Die Hingabe des Sohnes ist auch Auftrag und damit Wirkmacht des Vaters. Jesus ist von Anfang an Träger des Geistes. Kraft dieses Geistes erfüllt er seine Sendung im Tod, der damit ein wesentlicher Schritt auf dem Wege ist, wie der Geist sich die Geschichte eröffnet. Der Weg Jesu ist nicht nur einmaliger Ursprung des Heils, sofern Jesus ihn auf Gott hin gegangen ist, sondern wesentlich auch sofern er als Sendung von Gott Einbruch Gottes in die Welt bedeutet. Nicht erst die Auferweckung ist Antwort des Vaters auf den Gehorsam des Sohnes im Tod, sondern der Tod selbst ist schon Antwort Gottes in seinem Sohn, durch allen Unglauben und alle Unheilsgeschichte hindurch die Sendung von Lk 4,18ff zu erfüllen. Der Tod Jesu ist bereits der Sieg des Geistes, der ihn gesandt hat, den Armen die Heilsbotschaft zu bringen und sie im Tode für die Geschichte offenzuhalten. In der Passion setzt Gott selbst wirkend seine Liebe durch, die den Erniedrigten verzeihend das Heil zusprechen lässt (Lk 23,43). Nur weil der Erniedrigte noch Zuspruch des Heils an die Welt bedeutet, wird auch der Erhöhte die Soteria verleihen, und nicht nur, weil der Erniedrigte von Gott angenommen und erhöht wird. Denn nur in der Erniedrigung in seinem Sohn offenbart und vollzieht Gott seinen Heilswillen als die grundlegende Kraft seiner Liebe in der Geschichte (199f).

In der Passion Jesu ereignet sich für Lukas das Leiden des Christus und nicht irgendeines Menschen. Lukas beabsichtigt das ganze Leben Jesu bis zu seiner Erfüllung im Tode als messianische Heilssendung darzustellen. Jesus stirbt nicht einfach als Mensch, sondern in Vollendung seiner Sendung, die sich von Lk 1,35 über Lk 2,11; 3,22; 4,18ff.41; 24,26.46; Apg 2,22; 3,18; 4,26; 10,38; 17,3 und 26,23 als erlösende Sendung in der Kraft des Geistes Gottes entfaltet. Jesu Weg in die Niedrigkeit des Lebens und in die Erniedrigung des Todes ist die Vollzugsform, wie Gott durch ihn seinen Heilswillen in der Unheilsgeschichte verwirklicht. Daher ist seine Erhöhung nicht vergöttlichende Belohnung für den erniedrigten Menschen Jesus, sondern schon seine Erniedrigung enthüllt sich als Tat der bis zum Letzten gehenden Liebe Gottes, die ihn sendet und die er durchsetzt, die ihre volle soteriologische Bedeutung erst mit der Auferweckung und Erhöhung des erniedrigten Knechtes offenbar werden lässt (201).








3. Menschwerdung und Leben Jesu als rettende Sendung

 

(1) Gott als Soter und Kyrios der Heilsgeschichte
 (2) Jesus als Soter und Christos Kyrios
 (3) Soteria als Erhöhung der Erniedrigten
 (4) Die Bedeutung der Nazareth-Perikope (Lk 4,16-30) für die lkn Soteriologie
 (5) Erhöhung und Erniedrigung als Grundmotiv der lkn Soteriologie
 (6) Der Zuspruch des Heils in der Niedrigkeit des Weges Jesu

 

R. Glöckner

Soter = Retter, Heiland     Soteria = Rettung, Heil, Erlösung

 

Die ntl Überlieferung ist von Anfang an mehrschichtig gewesen und hat verschiedene Traditionsstränge neben- und miteinander entfaltet. Die verschiedenen Interpretationsversuche haben als vielfältiger Prozess zu gelten, das eine Heilsmysterium Christi darzustellen. Nach Lukas kommt dem ganzen Weg Jesu von der Inkarnation bis zur Erhöhung Heilsbedeutung zu. Nicht Jesu Tod wird soteriologisch qualifiziert, sondern Jesus im ganzen. Gott wirkt das Heil nicht exclusiv im Tod Jesu, sondern Gott wirkt das Heil durch Jesus (112f).

Die lkn Theologie steht in Beziehung zu ältesten urchristlichen Traditionen, die vom Heil in Jesus Christus sprechen, ohne dafür die Sterbeformel „gestorben für uns(ere Sünden)“ zu verwenden. Lukas verkündet eine inhaltlich gefüllte Soteriologie, die das Leiden Christi zentral herausstellt, ohne es zum alleinigen ‚wie’ und ‚wodurch’ der Erlösung zu machen (113).

Lukas stellt seine Verkündigung bewusst in den Horizont der atl Heilsbotschaft. Denn von ihr her lässt sich ein Wissen voraussetzen, wie in der Vergangenheit das rettende Heilshandeln Gottes verkündet worden ist und von woher die neue Heilsgegenwart gedeutet werden kann (114f).

 

(1) Gott als Soter und Kyrios der Heilsgeschichte

 

Allein von dem Gott des Alten Bundes her wird die Verkündigung des Heils und der Erlösung möglich. Die beiden Hymnen (Lk 1,46-55.67-79 Magnifikat und Benediktus) verherrlichen Gott als Soter und Kyrios, der durch sein erbarmungsreiches und machtvolles Handeln seinem Volk die Erlösung bringt. Auch in dem nun beginnenden neuen Heilsgeschehen verwirklicht Gott sein Heil als der alleinige Herr aller Geschichte (116).

Gott gibt der unfruchtbaren Elisabeth die Empfängnis des Kindes und wirkt dann vor allem die wunderbare Empfängnis Jesu, was ausdrücklich unter den Gedanken gestellt wird, dass bei Gott nichts unmöglich ist (1,37). So wie Gott Gen 18,14 wider alles menschliche Erwarten die Verheißung der Nachkommen für Abraham gibt, so handelt er auch in der Geburt des Kindes, das „Sohn des Höchsten“ genannt werden wird und dem Gott den „Thron seines Vaters David geben wird“ (1,32f).

Die Geburt des Soter, welcher ist Christus, der Kyrios (2,11) ändert nichts an der überragenden Stellung Gottes als des Herrn der Heilsgeschichte. Die Doxologie der Engel (2,14) gilt Gott ebenso wie der Lobpreis des Simeon(2,29ff) und der Lobpreis der Hanna (2,38). Auch in dem neuen Heilsgeschehen spricht sich das alte, machtvolle Erbarmen Gottes aus (117).

 

(2) Jesus als Soter und Christos Kyrios

 

Euch ist heute der Soter geboren, welcher ist Christus, der Kyrios“ (Lk 2,11). Gottes Handeln vollzieht sich durch einen konkreten Menschen, der als Kind (2,12.16) bezeichnet wird. Zugleich wird das Kind das Heil Gottes genannt (2,30). Die atl Gottesbezeichnungen Soter und Kyrios werden auf das Kind übertragen (2,11). Alles frühere Heilsgeschehen zielt auf den Neugeborenen hin und alles Heil, das Gott nun wirken will, ist an ihn gebunden und in ihm präsent. Gott ist in ihm schon so einzigartig gegenwärtig, dass er ihm seinen Namen und damit seine ganze Wirkmacht mitgegeben hat. Mit dem Kommen des Soter-Christos-Kyrios wird das Heil Gottes konkrete menschliche Geschichte (117f).

Lukas stellt das irdische Leben Jesu von Anfang an unter die volle soteriologische und christologische Titulatur. Nicht erst das Handeln Jesu bringt ihn in die heilsvermittelnde Funktion, sondern diese ist der Vollzug der voraufgehenden Sendung durch Gott. Der auf den Neugeborenen übertragene Hoheitstitel Soter dient Lukas auch als Bezeichnung des erhöhten Jesus Christus in Apg 5,31: „Gott hat Jesus durch seine rechte Hand erhöht zum Herrscher und Soter“. In der Verkündigung der Geburt des Soter sieht Lukas bereits das neugeborene Kind und den erhöhten Jesus Christus ineins (118).

Die Parallele zu Lk 2,11 bietet Apg 2,36: „Gott hat diesen Jesus zum Kyrios und Christos gemacht“. Dem Neugeborenen wird dieselbe Proklamation zuteil wie dem auferstandenen und erhöhten Herrn. Das ganze Heilsereignis wird schon in seiner Geburt gegenwärtig gesehen (120).

Lk 1,32f.35 und 2,11 wollen aussagen, dass das Kind bereits als Messias und Sohn des Höchsten gezeugt und als Soter und Christos Kyrios geboren wird. Für Lukas ist Jesus schon auf Erden Christus, Sohn und Herr. In der Titulatur wird zwischen dem Irdischen und dem Erhöhten nicht differenziert. Das christologische und soteriologische Geschehen beginnt bereits mit der Zeugung und der Geburt Jesu. Die Verkündigung spricht hier aus dem Glauben, dass im ganzen christologischen Heilsgeschehen Gott als Herr der Geschichte handelt und schon in der Sendung des Soter-Kyrios eschatologisch sein Heil wirkt (120).

Gott führt in der Zeugung und Geburt Jesu die Heilsgeschichte als Kyrios und Soter fort. Sein Heilshandeln identifiziert sich mit einem Menschen und seiner Geschichte. Der Mensch Jesus hat auf Grund seines Ursprungs in der Sendung Gottes von Anfang an eine Heilsbedeutung, die ihm die gleichen Hoheitstitel zuspricht wie Gott selber. Die menschliche und göttliche Wirklichkeit Jesu werden parallel neben- und miteinander genannt (121).

 

(3) Soteria als Erhöhung der Erniedrigten

 

Bereits das Kommen Jesu hat soteriologische Bedeutung. In ihm setzt sich die schon im AT erfahrene Soteria Gottes fort. In Lk 1,33 wird von der Erhebung auf den Thron Davids und von der Herrschaft über das Haus Jakob gesprochen. Der Lobpreis des Simeon 2,30ff dehnt das mit dem Kind gekommene Heil auf das Heil vor allen Völkern und das Licht zur Erleuchtung der Heiden aus (121).

Derjenige, den Gott als das Heil aller Welt offenbart, ist gesetzt „zum Fall und zum Aufstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird, damit vieler Herzen Gedanken offenbar werden“ (2,34f). So wie Jesus zum Fall und zum Aufstehen vieler bestimmt ist, so hat es das Heilshandeln Gottes schon immer mit der Erniedrigung und Erhöhung des Menschen zu tun gehabt. Menschliche Niedrigkeit und erhöhendes Heilshandeln Gottes bzw. menschliche Selbsterhöhung und Erniedrigung durch Gott erhellen, was die Soteria Gottes bedeutet (122).

Die Situation des Menschen in 1,48.52 wird unter dem Gesichtspunkt der Erniedrigung gesehen. Diese kann sich darin äußern, dass er Not leidet (1,53), dass er unter der Gewalt und dem Hass seiner Feinde lebt (1,71.74), dass er unter der Sünde steht (1,77) und in Finsternis und Todesschatten existiert (1,79) (122).

Der Mensch ist von seinem Wesen her im Gegenüber zu Gott immer der Niedrige. Als Magd und Knecht steht er vor Gott als seinem Kyrios. Die Niedrigkeit des Menschen ist die Voraussetzung dafür, dass Gottes Gnade, Erbarmen und Herrlichkeit ihn erreichen können. Gerade als Knecht ist der Mensch vom Heil Gottes umfangen. In den Eltern des Johannes, in Maria, Simeon und Hanna ist das Charakteristikum des Knechtseins die Haltung der Offenheit vor Gott und die vertrauende Erwartung, von ihm das Heil zu empfangen. Die Erfüllung des Heils für Israel liegt darin, dass es in Heiligkeit und Gerechtigkeit seinem Gott dient (1,75) (123).

Entsprechend den verschiedenen Momenten, die die menschliche Niedrigkeit und Erniedrigung ausmachen, vollzieht und offenbart sich auch die erhöhende Soteria Gottes unter verschiedenen Gesichtspunkten. Es ist zunächst die Macht seines Erbarmens, die auf den Menschen herabblickt, um ihn zu erheben. Sehr oft kehrt das Motiv des Erbarmens und des Handelns aus Gnade wieder (1,28.30.50.58.72.78; 2, 40.52). Gott richtet seinen Blick auf die Niedrigen (1,48.68.78), erfüllt mit Gütern (1,53), nimmt sich seines Knechtes Israel an (1,54) und richtet seinem Volk eine „Macht des Heils“ zu (1,69). Gott neigt sich erbarmend nieder, um den Menschen zu erheben (123).

Gott reißt aus den Händen der Feinde (1,74) und führt auf den Weg des Friedens (1,79). Die Rettung aus der Erniedrigung der Schuld wird unter dem Gesichtspunkt der Vergebung eingeführt (1,77). Sie beinhaltet auch, dass Gott die angemaßte Selbsterhöhung zerbricht (1,51f). Sein erhöhendes Heilshandeln hat damit auch immer eine richtend-erniedrigende Komponente, wo es der Selbstermächtigung des Menschen begegnet. Das Volk Israel und alle unmittelbar beteiligten Personen sind in Lk 1 - 2 in der geschichtlichen Situation der Erniedrigung gesehen (124).

Vom atl Glauben her wird das Heilsgeschehen aus der Erfahrung interpretiert, dass Gott die Niedrigen erhöht und diejenigen, die sich selbst erhöht haben, erniedrigt. Die Niedrigkeit des Menschen ist unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Gott als Kyrios und Soter seine erhöhende Soteria wirkt (124).

 

(4) Die Bedeutung der Nazareth-Perikope (Lk 4,16-30) für die lkn Soteriologie

 

Der Gott des AT ist wie schon in Lk 1 - 2 der absolute Herr der Heilsgeschichte. Gott erscheint beständig als derjenige, der durch seinen Geist und seine Macht das Heilswerk Jesu ermächtigt. Entsprechend enden die lkn Wunderberichte des öfteren mit einem Lobpreis Gottes, bzw. mit einer dankenden Verherrlichung Gottes für die geschehenen Machttaten: „die ganze Menge der Jünger fing an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, und sprachen: Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn“ (Lk19,37f)! Diese Vv bringen nicht nur den Lobpreis für den gottgesandten Messias, sondern auch den Lobpreis des sendenden Gottes, dessen Heilshandeln im Wirken Jesu offenbar geworden ist (124f).

In den Gleichniserzählungen in Kp 15 werden der verzeihende Heilswille Gottes und die Freude über den wiedergefundenen Sünder veranschaulicht. Die Barmherzigkeit Gottes wird als der tragende Grund und die Legitimation für das Handeln Jesu herausgestellt. Dass Gottes Liebe so grenzenlos ist, das ist die Rechtfertigung Jesu. Der Heilige Geist, der die entscheidende Kraft der Kirche ist, kommt als „die Verherrlichung des Vaters“ (Lk 24,49; Apg 1,4) auf die Jünger herab. Die christliche Botschaft bleibt Wort Gottes. Mit dem „Wort dieses Heils“ (Apg 13,26) ist das von 13,17 geschilderte Heilshandeln Gottes durch die ganze Geschichte Israels gemeint, das mit der Sendung des Soters Jesus (13,23) seinen Höhepunkt erreicht. So werden Paulus und Barnabas als „Knechte des höchsten Gottes“ bezeichnet, die den Weg der Soteria verkünden (Apg 16,17) (125).

Das theologische Interesse des Lukas an der Nazareth-Perikope wird vor allem aus der beträchtlichen Erweiterung gegenüber der Markus-Parallele sichtbar. Lukas hat Jesu Auftreten in der Synagoge zu einem Akt der Selbstoffenbarung ausgestaltet. In Lk 4,17-21 geht es vor allem um eine christologische Deutung der Heilssendung Jesu und in 4,25-27 kommt der Gedanke der Universalität des Heils verbunden mit der Ankündigung des Gerichts über Israel zur Sprache (128).

Die Bedeutung des Jesajazitates als Programm der Heilssendung Jesu wird durch das „Heut ist diese Schrift erfüllt“ (21) gesteigert. Auf die Verkündigung Jesu als des gottgesandten Retters in 2,11 folgt die Selbstoffenbarung als der von Gott mit dem Geist gesalbte Knecht, der dann die Gegenwart des Heils immer wieder neu offenbar werden lässt. Wurde in 3,22 Jesus durch die Stimme Gottes in der Vollmacht des Geistes bestätigt, so stellt er sich 4,18ff selber unter die Geistsendung und damit in das Werk des Gottesknechtes. Dieses Selbstzeugnis Jesu über seine rettende Heilssendung wird durch ein ausführliches Zitat aus Tritojesaja interpretiert, ohne dass Lukas zugleich den Gedanken des Leidens des Gottesknechtes zur Sprache bringt (128f).

Das Kommen Jesu wird umfassend in den Raum atl Heilserwartung gestellt und in 4,18ff als deren präsentische Erfüllung proklamiert. Das Grundanliegen dieser redaktionellen Gestaltung von Lk 4,16-21 zielt auf die Verkündigung der Heilsgegenwart in der Person Jesu (129).

Jesus wendet sich in der Heilsmacht des Geistes nach Galiläa und steht unmittelbar selber im Mittelpunkt der Kunde, die sich in der ganzen Gegend verbreitet (4,14.37). Dabei ist die Betonung des „in der Kraft des Geistes“ (14) in Beziehung zu 4,1.18 zu sehen. Lukas will die fortwährende Ermächtigung Jesu durch den Geist herausstellen. Als der heilbringende Träger des Geistes ist Jesus „von allen gepriesen“ (4,15). Jesus steht unter der Macht Gottes und lässt sie geschichtsmäßig werden (Lk 5,17; 24,19; Apg 2,22; 10,38): Die Person Jesu und sein machtvolles Lehren haben unmittelbar rettende Kraft (130).

Die unmittelbare Gegenwart des Heils im Wirken Jesu wird auch in seiner Wundertätigkeit in der Anfrage des Täufers (Lk 7,18-23) herausgestellt. Der Vers 7,21: „Zu der Stunde machte Jesus viele gesund von Krankheiten und Plagen und bösen Geistern und vielen Blinden schenkte er das Augenlicht“ betont das Heilstun Jesu in seiner präsentischen Bedeutsamkeit. Jesu Handeln ist nicht nur Zeichen für die Erfüllung, sondern unmittelbar sich erfüllende Verheißung und Präsenz des Heils. In seinem Wirken vollzieht sich die in 4,18ff verkündigte heutige Erfüllung der Erlösung (131f).

Das Heute der geschichtlichen Zuwendung der Soteria, das erstmals mit der Geburt Jesu erscheint (2,11), bestimmt sein ganzes Leben 4,21; 5,26; 19,9 bis in die letzte Stunde am Kreuz 23,43. Lukas weiß um die Einmaligkeit der Heilsepoche des Lebens Jesu. Doch wird diese Einmaligkeit gerade durch das Heute als bleibende Aktualität verkündigt. Es geht Lukas nicht um das damalige Heute des Lebens Jesu, sondern um das gegenwärtige Heute der christlichen Heilsbotschaft (132).

Der noch unerfüllten Vergangenheit tritt in 4,21 die erfüllte Gegenwart gegenüber. Das Heil war nicht ‚heute’ in Jesus gekommen, sondern es ist mit ihm als das erfüllte Heute endgültig gekommen. Natürlich ist die Geburt Jesu für Lukas auch ein einmaliges Ereignis. Wie die christologischen Hoheitstitel in 2,11 zeigen, zielt die Proklamation in das gegenwärtige Heute der Kirche. Für Lukas ist der Soter-Christos-Kyrios nicht irgendeinmal episodenhaft auf die Erde gekommen, sondern mit und seit seiner Geburt ist er bleibend ‚heute’ in der Geschichte gegenwärtig. In der permanenten Unheilssituation ist die Ankunft des Heils sichtbar geworden (133).

In der Zachäus-Perikope 19,9f liegt der Bezug zum heutigen Heilswiderfahrnis in der voraufgehenden Verlorenheit des Menschen. In 19,10: „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist“ ist nicht die Einmaligkeit einer vergangenen Situation angezielt, sondern frühere Verlorenheit und gegenwärtige Rettung des Menschen sollen exemplarisch gegenübergestellt werden. Die Zachäus-Perikope will zeigen, wie der verlorene Mensch von Jesus als dem Soter gesucht und gerettet wird. Dabei hebt gerade die Betonung des Heute den damaligen Heilszuspruch Jesu in das bleibende Jetzt der kirchlichen Verkündigung.

Auch in 23,43: “Heute wirst du mit mir im Paradies sein“ ist das Heute als Kontrastaussage zu der voraufgehenden Verlorenheit des Schächers am Kreuz gemeint. Es gibt keine Situation des Menschen, in der das Heil nicht Gegenwart werden kann. Für diese Perikope ist nicht nur die Verlorenheit des Schächers entscheidend, sondern auch die eigene Erniedrigung Jesu, in der er das Heil zuspricht. Die lkn Verwendung des Heute lässt keine historisierende Tendenz sichtbar werden, sondern die Gegenwart des Heils im Leben Jesu erhebt in die bleibende Präsenz der kirchlichen Heilsverkündigung (133).

Die Apg verkündigt die Heilsbedeutung des Lebens Jesu, indem sie es in das nachpfingstliche Kerygma des auferstandenen und erhöhten Jesus Christus aufnimmt. In der Pfingstpredigt des Petrus gehört das durch Machttaten und Wunder von Gott ausgezeichnete Leben Jesu unmittelbar in die Verkündigung (Apg 2,22). Die Petrusrede 10,38 hebt die soteriologische Bedeutung des irdischen Handelns Jesu hervor: „Wie Gott Jesus von Nazareth gesalbt hat mit heiligem Geist und Kraft; der ist umhergezogen und hat Gutes getan und alle gesund gemacht, die in der Gewalt des Teufels waren, denn Gott war mit ihm“. Die Befreiung der Gefangenen und Geknechteten, von denen Lk 4,18ff spricht, wird konkret auf die Errettung aus der Knechtschaft des Satans interpretiert, die schon das irdische Leben Jesu vollzogen hat. Mit dem Sprechen von der Geistsalbung wird besonders die Heilssendung im Sinne des jesajanischen Gottesknechtes betont und umfassend in das Christuskerygma einbezogen. Lukas braucht die kerygmatische Bedeutung des Lebens Jesu in der Apg nicht ausführlich zu entfalten, da der ganze erste Bericht (Apg 1,1) dieser Verkündigung gewidmet ist. Es genügt, dass grundsätzlich das aus der Geistsalbung ermächtigte irdische Wirken Jesu mit in die Verkündigung des erhöhten Herrn gehört. Schon durch das Evangelium verkündet Lukas Jesus als den erhöhten Herrn. Bereits den Neugeborenen lässt er bewusst als Kyrios proklamiert werden (2,11; 1,43) und identifiziert im Evangelium mehrfach den erhöhten Kyrios mit dem irdischen Jesus. Auch dadurch wird das irdische Wirken Jesu in seiner bleibend gültigen Heilsbedeutung herausgestellt und als von Gott gewirkte eschatologische Heilsgegenwart qualifiziert (134).

 

(5) Erhöhung und Erniedrigung als Grundmotiv der lkn Soteriologie

 

--Die Befreiung aus der Macht des Teufels

In Apg 10,38 geht es um die heilende Befreiung derer, die unter der Machtgewalt des Teufels stehen. Das rettende Handeln Jesu konkretisiert sich in den verschiedenen Dämonenaustreibungen und Krankenheilungen. „Die gekommen waren, ihn zu hören und von ihren Krankheiten geheilt zu werden und die von unreinen Geistern umgetrieben waren, wurden gesund. Und alles Volk suchte, ihn anzurühren, denn es ging Kraft von ihm aus, und er heilte alle“ (Lk 6,18f). Lukas sieht Krankheit und Besessenheit in unmittelbarer Nähe zueinander, denen gegenüber die geistgetragene Kraft Jesu in den Heilungswundern die Überwindung der dämonischen Mächte anzeigt und zugleich die befreiende Aufrichtung des Menschen bewirkt (135).

Die fesselnde Macht des unreinen Geistes drückt sich leibhaftig darin aus, dass die Frau (13,10-17) zu Boden gekrümmt ist und sich nicht mehr aufrichten kann. Das befreiende Handeln Jesu, das von der Fesselung durch den Satan erlöst (12.16), findet zeichenhaft seinen Ausdruck darin, dass die Frau körperlich aufgerichtet wird. In dieser Perikope werden menschliche Krankheiten, Besessenheit, Unterdrückung und Unfreiheit von Lukas eindrucksvoll in Kontrast zum Heilshandeln Jesu gesetzt, das Heilung, Befreiung und Aufrichtung des Menschen bedeutet (136).

Die Dämonen werden in der Position der Ohnmacht gegenüber Jesus gezeichnet. Bei der Rückkehr der 72 Jünger spricht Jesus davon, dass er den Satan wie einen Blitz vom Himmel stürzen sah (10,18) und offenbart damit dessen prinzipielle Überwindung. In der Nazareth-Perikope wirkt sich die Macht des Bösen im Unglauben der Menschen aus und zeigt damit ihre geschichtsmächtige Bedrohung an. Darin, dass die Bewohner von Nazareth die Heilsbotschaft Jesu ablehnen, wird ihre größte Gefährdung sichtbar: sich schuldhaft dem angebotenen Heil zu verschließen. Die Macht des Teufels, die die Rettung des Menschen verhindert (8,12-15 Gleichnis vom Samenkorn), liegt in dem von ihm bewirkten Unglauben. Aus dieser Macht will Jesu Heilssendung befreien. In der Befreiung vom Unglauben geschieht Vergebung der Sünden: „Dein Glaube hat dich gerettet“ (136)!

--Die lkn Interpretation der Sünde als Selbsterhöhung des Menschen

Die Prophezeiung Simeons (2,34f) spricht von „Fall und Aufstehen“ innerhalb von Israel. Die Sendung Jesu hat auch innerhalb des Volkes die kritische Funktion, dass die Erhöhten erniedrigt und die Erniedrigen erhöht werden. Die Situation des Menschen wird unter dem Gesichtspunkt eines ständigen Vollzugs schuldhaften Handelns thematisch, dessen Wurzel in der angemaßten Selbsterhöhung des Menschen liegt (137).

In der Perikope von der Rangordnung der Gäste 14,7-14 bildet das Logion: „wer sich selbst erhöht, der soll erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöht werden“ (11) den Abschluss der Mahnrede an die Gäste, die von der sich selbst erhöhenden Ehrsucht des Menschen spricht. Alle menschliche Selbsterhöhung wird erniedrigt. Der Mensch kann das Heil nur erlangen, wenn er eine letzte Lebenserfüllung von Gott erwartet (137f).

Der Pharisäer in der Parabel vom Pharisäer und Zöllner (18,9ff) geht nicht gerechtfertigt aus dem Tempel, denn im Sinne des von Lukas redaktionell angefügten Schlussverses (14b) bedeutet Selbstgerechtigkeit Selbsterhöhung, die von Gott erniedrigt wird. Es geht um den Menschen, der meint, etwas aus eigener Leistung zu sein, der deshalb Gott und seinem Nächsten gegenüber eine Position der Selbst- und Eigenmächtigkeit einnehmen will (138f).

In der Berufung des Levi (5,30-32), in den Gleichnissen vom Verlorenen (Kp 15) und in der Berufung des Zachäus (19,7) wird jeweils von Menschen gesprochen, die Anstoß nehmen an der Hinwendung Jesu zu Zöllnern und Sündern, weil sie ihnen aus der Position ihrer vermeintlich eigenen Gerechtigkeit heraus das Heil absprechen. Die Selbstgerechtigkeit der Pharisäer in 16,15 wird unter das Urteil gestellt: „was hoch ist bei den Menschen, das ist ein Greul vor Gott“. Das Heil für den Menschen liegt allein darin, dass Gott ihn aus Erbarmen sucht und rettet (139).

Das allein auf die vielen Güter (19,19) gegründete Leben des reichen Kornbauern erweist sich angesichts des von Gott verfügten Todes als Leben eines Toren, denn „niemand lebt davon, dass er viele Güter hat“. Die Parabel stellt den Menschen, der „sich Schätze sammelt“ dem gegenüber, der „reich ist bei Gott“ (21). Selbst- und Gottbezogenheit sind zwei Existenzweisen, die über Scheitern und Gelingen des Lebens entscheiden (140).

Ähnlich spricht die Parabel vom „reichen Mann und armen Lazarus“ (16,19-31) vom unheilvollen Ende eines Menschen, dessen Lebensinhalt sein irdischer Reichtum gewesen ist. Lazarus und der reiche Mann sind Kontrastpersonen, deren Geschick die Umkehrung des irdischen Reichseins ins eschatologische Notleiden bzw. des irdischen Armseins ins eschatologische Erfülltwerden veranschaulichen soll (140).

Für Lukas ist die Erfüllung und Erhöhung des Menschen wesentlich ein endzeitliches Geschehen. Alle Sicherheiten und Erfüllungen im Irdischen geraten in die Gefahr, eine Verhinderung der noch ausstehenden erhofften Erfüllung zu sein. Irdisch erfülltes Reichsein und erfüllungsbedürftiges Armsein treten in einen sich ausschließenden Gegensatz. In den Seligpreisungen Lk 6,20ff wird dem Heil „selig seid ihr“ das Unheil „wehe euch“ gegenübergestellt (Anm. 90).

Besonders in seinem Sondergut hat Lukas über Markus und Matthäus hinaus zur Deutung der Schuldverfallenheit des Menschen, die im Spannungsfeld von Selbsterhöhung und Erniedrigung vor Gott gesehen wird, wichtige Gesichtspunkte herausgestellt: Der Zustand menschlicher Sündhaftigkeit als Selbstsicherung, Selbsterhöhung und Selbstgerechtigkeit ist grundsätzlich für jeden Menschen vorausgesetzt. Entsprechend steht er ständig in der Gefahr, dass Gott ihn leer ausgehen lässt (Lk 1,53; 6,24ff; 16,25), dass er vor Gott gerade nicht gerechtfertigt ist (18,14) und dass ihm das Erbe genommen wird (20,9-16 die bösen Weingärtner). Seine vermeintliche Selbstsicherung im Reichtum wird als sinnlos entlarvt (9,24; 12,20). Daher ergeht an alle der Ruf der Umkehr, die die Voraussetzung dafür ist, dass der Mensch sich retten lässt. Wie alle Evangelisten knüpft Lukas die Heilsbotschaft Jesu an die Bußpredigt des Täufers Johannes, die von Jesus fortgesetzt wird (5,32; 13,3) und auch wesentlicher Bestandteil des Kerygmas der Apg bleiben wird (141).

Einerseits will die Verkündigung Jesu klarmachen, dass der Mensch immer schon als der Verlorene vor Gott lebt, und dass er nur gerettet werden kann, wenn er sich in der Botschaft Jesu finden lässt. Andererseits zeigen Lk 15,1-3; 16,14f; 18,9 und 19,7, dass die Gegner Jesu diese Verlorenheit nicht eingestehen wollen, wodurch sie ihre Unheilssituation verfestigen und sich vom Heilshandeln Gottes ausschließen. Im zweiten Teil der Parabel vom verlorenen Sohn ist mit dem älteren Sohn die Gruppe derer gemeint, die die Botschaft von der grundlos verzeihenden Güte Gottes nicht wahrhaben wollen und sich am Evangelium ärgern (142).

 

(6) Der Zuspruch des Heils in der Niedrigkeit des Weges Jesu

 

Die Menschheit Jesu als Offenbarung seines Weges in Niedrigkeit

Menschwerdung bedeutet Sendung des Soter (2,11). In ihr ergeht das Heilswort Gottes in die Unheilsgeschichte des Menschen. Dem Christos und Kyrios wird die Benennung Kind antithetisch zugeordnet f(2,12.16). Die Heilsmacht Gottes offenbart sich von Anfang an in der Geschichte, die immer auf Grund der vom Menschen angemaßten Selbsterhöhung auch Unheilsgeschichte ist, als Anspruch in äußerster Niedrigkeit. Das Licht zur Erleuchtung der Heiden, das Gott vor allen Völkern sichtbar werden lässt (2,30ff), wird als Kind in den Armen Simeons dargestellt. Das universale Heil erscheint in niedrigster menschlicher Gestalt (143).

In der Perikope von Jesu erster Selbstoffenbarung im Jerusalemer Tempel (2,41-52) wird die Sendung Jesu erstmals unter das ‚de-i’ des göttlichen Willens gestellt, das dem Vater gegenüber Untergebenheit und Gehorsam verlangt (49). Diese Sendung im Gehorsam wird verstärkt aufgenommen in der Aussage: „und er ging mit ihnen (den Eltern) nach Nazareth und war ihnen untertan“ (51). Dadurch wird die Haltung des Gehorsams dem ‚Vater’ gegenüber in der Untergebenheit unter die Eltern betont und herausgestellt (143f).

Für Lukas ist der Christos Kyrios ein Kind, das dem Vater im Himmel und den Menschen untertan ist und darin wiederum in Gnade vor Gott und den Menschen heranwächst (2,51). Seine Niedrigkeit ist ein wesentliches Moment seiner rettenden Sendung und wird von Lk 1-2 her durch das ganze Evangelium weiter verdeutlicht. Jesus ist nur Kyrios und Soter als derjenige, der dem Vater gehorcht und den Menschen untertan ist (144).

- Jesus ist Glied der allgemeinen Menschheitsgeschichte (3,23.38)

Derjenige, der als Sohn proklamiert worden ist, hat gleichzeitig eine Genealogie, die ihn jedem Menschen als Geschöpf Gottes gleichstellt. Jesus muss seinen Weg als Soter in Niedrigkeit erfüllen. Lk 4,1-13 stellt diese Niedrigkeit zunächst als menschliche Versuchbarkeit dar (144f).

Die Nazareth-Perikope verkündet im Zusammenhang des ganzen 4. Kp die Gegenwart des Heils in der Vollmacht des Gottesknechtes und des Christus (4,18ff.34.41). Doch diese Verkündigung der Hoheit Jesu wird sofort mit seiner Verwerfung kontrastiert. Der Weg des Christus ist von Anfang an auch der Weg in die Erniedrigung und Passion. Die zwei Motive für die Verwerfung des Christus sind: die menschliche Niedrigkeit Jesu und seine Sendung zu den Erniedrigten und Armen (145).

Die Aussage: „Sie gaben alle Zeugnis von ihm und wunderten sich, dass solche Worte der Gnade aus seinem Munde kamen“ (4,22) beinhaltet nicht schon eine Äußerung des Unglaubens. Der überraschende Umschlag von lobender Zustimmung zur Ablehnung bis zum Lynchversuch entsteht, weil Jesus die Wunderzeichenforderung auf Grund der ungläubig-zweifelnden Frage seiner Zuhörer ablehnt: „Ist das nicht Josefs Sohn?“. In dieser Frage kommt die Grundhaltung des Unglaubens zum Ausdruck: „Kein Prophet gilt etwas in seiner Vaterstadt“ (24). Die den Hörern in den Mund gelegte Forderung: „Arzt, hilf dir selber! Wie große Dinge haben wir gehört, die in Kapernaum geschehen sind! Tu so auch hier in deiner Vaterstadt!“ (23) ist Interpretation der in der Frage erkennbaren Haltung und Forderung des Unglaubens, der ein Schauwunder verlangt. Jesus, den man nur für den Sohn Josefs halten kann, soll sich durch Wunderzeichen legitimieren (145-7).

Die ärgerniserregende Niedrigkeit seiner Sendung, die natürliche Zugehörigkeit Jesu zur Menschheit wird als herausfordernde Schwachheit verstanden. Dass der rettende Geist des Herrn (4,18) in einem Menschen endgültig gegenwärtig sein soll, wird als unzumutbar abgelehnt (147).

Die Herausforderung des Unglaubens, die aus der Sendung Jesu in menschliche Niedrigkeit erwächst, wird im weiteren Evangelium immer wieder im Zusammenhang mit der Frage nach seiner Vollmacht der Sündenvergebung und der Herrschaft über den Sabbat sichtbar. Das Ärgernis der Niedrigkeit Jesu spielt auch eine wesentliche Rolle für seine Verwerfung im Todesurteil 22,69ff. Der messianische Hoheitsanspruch Jesu wird als Anmaßung abgelehnt. Dieses Scheitern an der Menschheit Jesu wird nochmals von der Apg entfaltet unter dem Gesichtspunkt der schuldhaften Verleugnung und Verwerfung (Apg 3,13f; 4,25-27; 7,52; 13,28) (147f).

- Jesu Weg zu den Erniedrigten

Jesus bricht die messianische Verheißung von Jes 61,1f vor der Verkündigung „des Tages der Vergeltung“ (4,19) ab und gibt damit dem Gedanken der Rache Israels an seinen Feinden keinen Raum. Der Geist des Herrn führt Jesus zu den Armen und Gefangenen, zu den Blinden und Niedergebeugten. Das geschieht nicht in der Gestalt des gewaltigen Rächers und endzeitlichen Richters, sondern im Weg dessen, der Gemeinschaft mit den Armen, Zöllnern, und Sündern sucht. Die Niedrigkeit Jesu offenbart sich in seinem Weg zu den Erniedrigten (148).

Das verkündete „Gnadenjahr des Herrn“ (4,19), das sich in Jesu Gemeinschaft mit den Armen und Sündern verwirklicht, wird dem Menschen völlig frei und ungeschuldet geschenkt. Im erlösenden Weg Jesu zu den Erniedrigten ergeht gleichzeitig an den Menschen die Forderung zur Selbsterniedrigung. Das „Gnadenjahr des Herrn“ wird nur für diejenigen Wirklichkeit, die die Verkündigung in der Haltung der 4,18 genannten Armen, Gefangenen, Blinden und Zerbrochenen annehmen. Gott geht dem Menschen in Jesus aus grundloser Liebe nach, um ihn in seiner Verlorenheit zu suchen. Demgegenüber können die Israeliten keine heils- und erwählungsgeschichtlichen Ansprüche stellen. Alle Vorstellungen der Zuhörer in der Synagoge von einer Heilssicherheit, die sich allein auf die Zugehörigkeit zum auserwählten Volk Israel beruft, werden zurückgewiesen (3,8). Der Mensch kann nur darauf warten, dass Gott ihm unter Absehen von aller Vorleistung die Gemeinschaft mit sich anbietet. Das Heil liegt in der Berufung der Armen (4,18), d.h. derer, die keinen Anspruch darauf erheben, sondern es als freies Geschenk Gottes annehmen (148f).

Auch wenn Lukas Jesus mit den vorgegebenen Traditionen als „mächtig in Wort und Tat“ (Lk 24,19; Apg 2,22; 10,38) zeichnet, so vollzieht sich für ihn Erlösung doch wesentlich in der einfachen Hinwendung Jesu zu den Sündern und Ausgestoßenen. In der Begegnung mit ihm werden die Verachteten grundlos begnadet. Im Verhalten Jesu wird die Barmherzigkeit Gottes sichtbar. Die Sünderin handelt aus Dankbarkeit über die erlassene Schuld. Das Maß der Liebe des Menschen bestimmt sich aus der vorausgehenden, grundlosen Begnadung durch Gott (149f).

Die in der Parabel ausgesprochene Verkündigung der grundlos vergebenden Barmherzigkeit Gottes wird ausdrücklich mit Jesu Vollmacht der Sündenvergebung verbunden. Jesus wird als derjenige verkündet, der in seinem vollmächtigen Handeln die Barmherzigkeit Gottes gegenwärtig werden lässt. Es geht Lukas darum, den Zusammenhang zwischen Sündenvergebung und Glaube des Menschen hervorzuheben (151).

Die Aussage: „Dein Glaube hat dich gerettet“ (7,50; 8,48; 17,19; 18,42) macht deutlich, dass die Rettung des Menschen über das leibliche Gesundwerden hinaus in seiner gläubigen Hinwendung zur Person Jesu ihre eigentliche Erfüllung hat. Den Unterschied zwischen leiblichem Geheiltwerden und Gerettetwerden stellt Lk 17,11-19 (Heilung der zehn Aussätzigen) mit besonderer Deutlichkeit heraus. Erst da, wo der Mensch im gläubigen Dank auf das Zeichen Jesu antwortet, wird das entscheidende Heilswort gesprochen: „Dein Glaube hat dich gerettet“ (Anm. 89).

Weil die Frau sich gläubig der in Jesus begegnenden Barmherzigkeit Gottes geöffnet hat, trifft sie die rettende Heilszusage: „Dein Glaube hat dich gerettet“. Dabei ist in diesem Heilswort auch das: „geh hin im Frieden“ (7,50) von besonderer Bedeutung. Schon in Lk1,79; 2,14.29f wird sichtbar, dass das Heil Gottes und der Friede für den Menschen eng zusammenhängen. Das Benediktus des Zacharias endet mit der Verheißung, dass Gott „unsere Füße auf den Weg des Friedens lenken wird“. Die Verkündigung des Soter-Christos-Kyrios bedeutet zugleich die Verkündigung des Friedens auf Erden. Indem Simeon in Jesus das Heil Gottes glaubend erkennt, weiß er sich im Frieden entlassen (Anm. 90).

Die Rechtfertigung der Gemeinschaft Jesu mit den Sündern ist auch das Thema der Einleitung zu den Gleichnissen vom ‚Verlorenen’ (Lk 15,1-3). Die Gleichnisse sollen die Antwort darauf sein, dass „dieser die Sünder annimmt und mit ihnen isst“ (2). Auch die Zachäus-Perikope macht deutlich, dass Jesus zu den Verlorenen gesandt ist. Wieder trifft ihn der Vorwurf, weil er bei einem „sündigen Menschen eingekehrt ist“ (19,7). Jesus rechtfertigt sein Verhalten mit dem ausdrücklichen Hinweis darauf, dass der Menschensohn gekommen ist, „zu suchen und selig zu machen, was verloren ist“ (19,10). Dieses Suchen steht fern von allem Wunderbaren und Auffälligen. Das Heil begegnet Zachäus in der einfachen Bitte Jesu: „heute muss ich in deinem Haus einkehren“ (19,5) (152).

Gegenüber der menschlichen Urform der Sünde als Selbstmächtigkeit und Selbsterhöhung ergeht Erlösung als Angebot Gottes in der Niedrigkeit des Weges Jesu zu den Erniedrigten. Die Befreiung des Menschen liegt darin, dass er sich von der Niedrigkeit Jesu ansprechen und darin das Heil zusprechen lässt. Die Annahme dieses Heils wird im Verhalten der Frau Lk 7,38, im Gebet des Zöllners 18,13 und im Versprechen des Zachäus 19,8 dargestellt (152f).

Die Gegenreaktion: Die Zuhörer in Nazareth sind empört, dass gerade von der Begnadung der Heiden gesprochen wird und dass der Ruf Gottes allein in die Niedrigkeit des Menschen ergeht. Die gleiche Ablehnung wird durch das ganze Evangelium in immer schärferer Form dem Heilsangebot im Weg Jesu begegnen. Jesus ist das rettende Angebot Gottes in der Niedrigkeit und wird es in beständig wachsender Treue bleiben. Gleichzeitig provoziert dieses Angebot den Menschen zu wachsender Ablehnung. Je verstockter das Angebot Gottes abgelehnt wird, um so vorbehaltloser und treuer bleibt es in der Person Jesu angeboten und findet seine letzte geschichtliche Konsequenz in seinem Leiden und Kreuz. Die Heilssendung Jesu, wenn sie wirklich Rettung in der Geschichte und für die Geschichte sein soll, kann nicht in einem isolierten Eingreifen Gottes liegen, das zwar sündentilgende Macht hätte, ohne aber in seinem innergeschichtlichen Vollzug auch in unmittelbarer Nähe zum Vollzug der menschlichen Unheilsgeschichte zu stehen. Gott antwortet auf die Selbsterhöhung des Menschen mit dem ganzen Leben Jesu, das unter drei Gesichtspunkten der Niedrigkeit dargestellt wird: Jesu Weg in der Niedrigkeit als Mensch, sein Weg zu den Erniedrigten und seine Forderung der Selbsterniedrigung an den Menschen (153).

Sünde als Selbsterhöhung ist ständiger geschichtlicher Neuvollzug, der im ständig sich neu entwerfenden Willen des Menschen zur Selbstmächtigkeit wurzelt und zur Entfaltung kommt. Das Ernstnehmen der geschichtlichen Macht der Schuld einerseits und der Erlösung als wirklich geschichtsmächtigem Geschehen andererseits fordert theologisch die Darstellung der Erlösung im Leben und Sterben Jesu in den Kategorien echter Geschichte. Unbeschadet der göttlichen Allmacht ist die Form der Erlösung in Jesus Christus auch die Folge eines geschichtlichen Prozesses. Das Kreuz offenbart dabei die letzte Zuspitzung der Auseinandersetzung, aber auch die äußere Tiefe und Dichte des göttlichen Heilswillens (154).



















 


 


 


 


 


 


 


 


 

D. Die Kulttheologie des Hebräerbriefes
 
Jesu Sterben – kein Sühnegeschehen sondern gehorsame Selbsthingabe
 
Der Neue Bund wird im Hebr im nicht-kultischen, gelebten Glauben vollzogen 
 
Wir haben einen Hohenpriester im Himmel


 

 

1. Einleitung
 2. “Durch Leiden vollendet“ (2,5-16)
 3. Der Weg Jesu Christi: Gehorsam, Erhörung und Erhöhung
 4. Himmlischer Hoherpriester und himmlischer Kult
 5. Irdische Existenz und Zuordnung zum himmlischen Kult
 6. Ergebnisse
 7. Zum historischen Ort
 8. Die Imitation Jesu im Brief an die Hebräer


 

G. Gäbel

 

1. Einleitung

 

Wird Jesu Sterben auf Erden als sühnender Opfertod verstanden, wie verhält sich dann sein hohepriesterliches Wirken im Himmel dazu (3)?

Die einzige Erwähnung des Kreuzes im Hebr 12,2 trägt keine kreuzestheologische Betonung und die Deutungen des Sterbens Christi in 2,9f; 5,7; 9,12.24f; 10,10; 13,11f erwähnen das Kreuz nicht explizit (9).

Thesen: (1) Die Erhöhung Christi überführt den Ertrag seines auf Erden gelebten Lebens in die himmlische Sphäre. In seinem einmaligen himmlischen Selbstopfer wird dieser Ertrag dort ewig wirksam. Das himmlische Wirken Christi setzt seinen irdischen Weg voraus; der irdische Weg Christi kommt in seinem himmlischen Wirken zur Geltung (17).

(2) Die Heiligtumstheologie des Hebr nimmt die Urbild-Abbild-Relation aus frühjüdischen Kontexten auf, um die (aufgrund der Erhöhung Christi in den Himmel) gegenwärtige unüberbietbare eschatologische Heilsfülle auszusagen. Alle Sakralität, alle legitime Kultausübung ist nach dem Hebr seit der Erhöhung Christi im himmlischen Heiligtum konzentriert. Mit dem himmlischen Selbstopfer Christi ist das himmlische Heiligtum gereinigt und der himmlische Kult eingeweiht.

(3) Die Profanität und Fremdlingschaft der Adressaten auf Erden ist die Kehrseite ihrer exklusiven Zuordnung zum himmlischen Heiligtum, ihrer Teilnahme am himmlischen Kult. Die Teilnahme am himmlischen Kult will auf Erden im Gehorsam bewährt sein. So ist die irdische Existenz der Adressaten sowenig wie diejenige Christi bloßes Durchgangsstadium. Nur im irdischen Gehorsam wird der Zutritt zum himmlischen Kult gewonnen, wie bei Christus, so bei den Seinen (17).

Der exklusiven Zuordnung zum himmlischen Heiligtum entspricht die Abkehr von aller irdischen Sakralität, so dass die irdische Existenz als solche als profan gelten muss (21).

Christi irdischer Weg ist Selbsthingabe im gelebten Gehorsam. Christi hohepriesterliches Wirken (einmaliges Selbstopfer und fortwährende Fürbitte) vollzieht sich im Himmel. Alle Sakralität ist im himmlischen Kult konzentriert. Die irdische Sphäre wird desakralisiert (131).

Der Hebr deutet den irdischen Weg Jesu Christi als nicht-opferkultische Selbsthingabe im Gehorsam gegen Gott, seine Erhöhung als hohepriesterliche Amtseinsetzung, als Eintritt in das himmlische Allerheiligste und als himmlische Darbringung des hohepriesterlichen Selbstopfers . Sein himmlisches Wirken ist die Fürbitte, die das einmalige himmlische Selbstopfer fortwährend zur Geltung bringt. Dieses himmlische Selbstopfer Christi reinigt die Gewissen und das himmlische Heiligtum. So befähigt es die Adressaten zur Teilnahme am himmlischen Kult. Indem sie an diesem teilhaben, bleiben sie irdischem Kult fern (131).

 

2. “Durch Leiden vollendet“ (2,5-16)

 

Erniedrigung und Erhöhung Christi, des 'Menschen', und der Zugang zur Hohepriesterchristologie

Aufgrund des Weges Christi durch Leiden zur Herrlichkeit ist das Geschick des Menschen schlechthin gewandelt. Seine Erhöhung und Verherrlichung impliziert die der Seinen (133).

Die Zuwendung Christi gilt den Menschen, nicht den Engeln; denn jene sind es, denen er sich durch die Annahme von Fleisch und Blut (2,14) verbunden hat und die als “Kinder“ und “Brüder“ an seinem Sohnesverhältnis zu Gott Anteil gewinnen (2,10-13). Als “Sohn des Menschen“ (2,6), als Repräsentant des Menschengeschlechts, ist Christus über alle Engel erhöht, ist er der “Sohn Gottes“. Ihm, nicht den Engeln, ist die kommende Welt unterworfen (2,5) (142f).

Als “Mensch“ und “Sohn des Menschen“ ist Christus der Mensch schlechthin. Dem Menschen wird die Herrlichkeit und Herrscherstellung über alle Engel zuteil, die schon Adam zugedacht war und welche die Engel ihm neideten (143f).

Der Hebr deutet das Zitat aus Ps 8,5-7 in Hebr 2,6-8 so, dass er das Geschick Jesu Christi als Erfüllung der dem Menschen geltenden göttlichen Verheißung verstehen lehrt. Christi Erhöhung führt über seine Erniedrigung hinaus und verleiht ihr universale soteriologische Bedeutsamkeit (2,8f). Aus der Erhöhung des “Sohnes“ geht die ekklesia der “Brüder“ hervor, die (zu gleicher eschatologischer Herrlichkeit bestimmt wie er) schon jetzt mit ihm Gott preist (2,10-13). Weil Christus durch seinen Gehorsam unter den Bedingungen der conditio humana den “Todesmachthaber“ Satan überwunden hat, ist sein Todesleiden Heilsereignis (2,14) (144).

Die im Psalmzitat angesprochene Herrlichkeit und Ehre des Menschen ist diejenige Christi geworden. Das “für alle“ (2,9) nimmt das ta panta des Zitats und des Einwands (“Jetzt sehen wir noch nicht, dass ihm alles untertan ist“ 2,8) auf. In Christi Erniedrigung und Erhöhung liegt die Erfüllung der Aussage des Psalms für den Menschen schlechthin beschlossen (147f).

Die Bekränzung Christi mit Herrlichkeit und Ehre erfolgte um seines Erleidens des Todes willen (2,9). Die subjektive Qualität des Todesleidens wird angesprochen. Es geht um die mit dem Tod verbundene Erfahrung des Leidens, aus der Furcht und Anfechtung erwachsen. Die Erniedrigung ermöglicht die Erhöhung, diese folgt auf die Erniedrigung und führt darüber hinaus. Infolge seiner Erniedrigung ist er der Erhöhte, ist er mit “Herrlichkeit und Ruhm bekränzt“ (2,9) (148f).

Die Erhöhung hat zur Folge, dass die zurückliegende Leidenserfahrung nun eine “ für einen jeden“ geschehene wird. Damit bestätigt sich, dass die Herrlichkeit Christi nicht mit seinem Todesleiden den Höhepunkt erreichte, sondern über dieses hinausführt. Erst von der Verherrlichung her kann das Todesleiden Christi als heilvoll “für einen jeden“ gelten. Nicht das Todesleiden als solches ist Gnade Gottes, sondern durch Christi Erhöhung aus dem Tode kommt es gnadenhaft “für einen jeden“ zur Geltung. Gott hat aus dem Leiden des Einen das Heil der Vielen hervorgehen lassen, indem er ihn verherrlichte (149f).

Die Kulttheologie des Hebr soll zeigen, wie in der Erhöhung Christi seinem Leiden ewig-universale Heilsbedeutung zukommt. Damit sollen Zweifel und Mutlosigkeit bewältigt werden, die aus der irdisch-menschlichen gegenwärtig-vorfindlichen Schwäche, dem Leiden und der Versuchlichkeit der Adressaten entstehen (151).

Gott hat Christus durch Leiden hindurch “vollendet“ (2,10). Das Vollendet-Werden schließt die Verherrlichung Christi ein, bezeichnet aber darüber hinaus die dadurch erschlossene eschatologische Heilsbedeutung seines Weges für diejenigen, die Söhne in ihm sind. Deshalb ist das Leiden des Sohnes der Gottes Universalität angemessene Weg zu dessen Vollendung (2,10). Die Vollkommenheit bedeutet jene Herrlichkeit, die die Erfahrung der menschlichen Schwäche in sich aufgenommen hat und deshalb den Menschen zu helfen vermag. In dem Weg des einen “Sohnes“ liegt beschlossen, dass die “vielen Söhne“ einbezogen werden (152f).

Die Erhörung der Rettungsbitte (2,12), die der Psalm besingt, ist für den Hebr die Erhöhung Christi aus dem Tode (vgl. 5,7 nicht die Bewahrung vor dem Todesgeschick). Der Sohn tritt als der aus dem Tod gerettete Erhöhte vor die Ekklesia der Seinen wie die Psalmbeter vor die zur Dankopferfeier Versammelten. Die Gemeinde der “Brüder“ geht aus der eschatologischen Errettung des Sohnes und aus seiner Verkündigung hervor (155).

Nach dem Preis der Errettung des Sohnes (2,12) gilt es nun für die durch Gottes Rettungstat konstituierte, um Christus gescharte Gemeinde, in ihren Anfechtungen dasselbe Vertrauen zu bewähren, mit dem schon er um Erhörung betete. Im Durchstehen der Anfechtung im Vertrauen auf Gott erlangte der Sohn den Zutritt zum himmlischen Heiligtum und die priesterliche Funktion. Die Geschwister bzw. Kinder erhalten Anteil an beidem, indem sie ihm auf seinem Weg folgen. Mit “inmitten der Gemeinde will ich dich preisen“ (2,12b) muss der Gottesdienst im Heiligtum des himmlischen Jerusalem (12,23) gemeint sein, zu dem die durch Christus “Geheiligten“ (2,11) Zugang haben und in dem der Erhöhte gleichsam als Chorführer der Gemeinde von Menschen und Engeln (12,22) auftritt. Als die neukonstituierte Kultgemeinde des himmlischen Hohenpriesters sind die “Brüder“ dessen “geheiligt Werdende“ (156f).

Die Gemeinsamkeit von “dem Heiligenden“ und “den geheiligt Werdenden“ besteht darin, dass ihnen beiden von Gott Herrlichkeit zugedacht ist. Wie der Sohn, so sind auch sie “aus“ Gott als die, die sie nach seinem Heilsratschluss zu werden bestimmt sind. Das schließt beide zusammen als Sohn und die Söhne. Die Gemeinde der Geschwister entsteht aus dem Leiden und der Errettung des Sohnes. Von ihm belehrt und ihm folgend, wird sie derselben Herrlichkeit teilhaftig werden wie er (157f).

Hebr 2,14f umschreibt die conditio humana mit Fleisch und Blut, Tod und Furcht. Das Leben in der Sarx hat den Tod zur Folge. Dieser ruft Furcht hervor, die das Menschenleben überschattet und zur Sklaverei werden lässt. Aus geschwisterlicher Verbundenheit hat Christus diese conditio humana auf sich genommen. Sein Tod entmachtet den diabolos, der der Todesmachthaber ist und befreit die Menschen aus der Sklaverei. Nicht Sterblichkeit und Tod als solche, sondern die sich daraus ergebende Todesfurcht, ist das beherrschende Problem des menschlichen Daseins. Die Formulierungen: “Todesleiden“, “ Todeserfahrung“ (2,9) und “Todesfurcht“ benennen die mit Angst verbundene menschliche Erfahrung, die mit dem Tod verknüpft ist. Die leidvolle menschliche Erfahrung ist es, auf die es dem Verf. hier ankommt und in die Jesus mit der Annahme von “Fleisch und Blut“ eingetreten ist (158f).

Indem er den Tod erlitt und darin an Gott festhielt, hat Christus die menschliche Existenz in Fleisch und Blut, Todesfurcht und Angst durchlebt, dabei aber der Versuchung zum Ungehorsam widerstanden. Weil in der Überwindung der Todesfurcht durch den leidenden Christus die Überwindung des Todesmachthabers (2,14f) geschieht, ist sein Todesleiden Heilsereignis (160f).

Das Geschehen von Erniedrigung und Erhöhung Christi ist zur Begründung des “ alles ist ihm untergeordnet“ angeführt, weil darin Ereignis geworden ist, was Gott allen Menschen zugedacht hat. Christus nimmt sich der Nachkommen Abrahams an (2,16). Dass diese in das Geschick des einen 'Menschen' einbezogen werden, dafür sorgt der Erhöhte in seinem hohepriesterlichen Wirken, mit dem er den vielen Söhnen den Zugang zur himmlischen Herrlichkeit ermöglicht (161).

Der Hebr versteht von Ps 8,5-7 her Christus als den 'Menschen' schlechthin, der als der neue Adam den Todesmachthaber Satan durch seinen Leidensgehorsam im Tode entmachtet hat. Die Annahme von Fleisch und Blut durch den Sohn und sein Vertrauen und Gehorsam in der Anfechtung eröffnen den Zugang zu himmlischer Herrlichkeit. Christus wird um seiner Leidenserfahrung willen erhöht und damit ist der Weg zur himmlischen Herrlichkeit frei für die “vielen Söhne“. Aus der Überwindung des Versuchers geht die Erhöhung über alle Engel hervor und darin ist zugleich allen “Söhnen“ und damit dem Menschengeschlecht der Platz über allen Engeln bei Gott angewiesen (161f).

Die Erhöhung Christi fand um seines Todesleidens willen statt. Seine Erfahrung des Todesleidens wurde durch die Erhöhung “für einen jeden“ bedeutsam. Das Psalmwort über den Menschen “alles hast du unter seine Füße getan“ ist in der Erhöhung des erniedrigten Christus so erfüllt, dass darin die Erhöhung der “vielen Söhne“ impliziert ist. Die Hohepriesterchristologie des Hebr setzt die traditionelle christologische Anschauung von Erniedrigung und Erhöhung Christi voraus, wie sie in Phil 2,6-11 vorliegt, die ein “für unsere Sünden“ in Bezug auf das Leiden und Sterben Christi nicht zum Ausdruck bringt. Daran anknüpfend bietet der Hebr seine Kulttheologie auf, um zu erweisen, dass und warum im Weg Jesu Christi die Heilsfülle beschlossen liegt, der die conditio humana von Fleisch und Blut, Tod, Furcht und Anfechtung zu widersprechen scheint.

Nach 2,9f wurde in der Erhöhung und Verherrlichung Christi die universale Heilsbedeutung seines Todesleidens erschlossen. Die Hohepriesterchristologie will nichts anderes sein als die Entfaltung der Heilsbedeutsamkeit dessen, dass der erhöhte Christus gegenwärtig im himmlischen Heiligtum als Hoherpriester für uns eintritt (162).

Ertrag

Durch das Todesleiden hindurch erlangte Christus in seiner Erhöhung die Qualität des Heilsmittlers: in seiner Erhöhung ist den vielen “Brüdern“ gleiche Herrlichkeit verbürgt wie ihm selbst. So ist er durch Leiden “ vollendet“. Mit “Vollendung“ ist im Hebr die unüberbietbare, endzeitliche Heilsfülle angesprochen, die im Weg Jesu Christi erschlossen und den Seinen zugeeignet ist. Aus der Erhöhung Christi geht die Gemeinde der “ Söhne“,“Brüder“, “Geschwister“ hervor, die mit der himmlischen Ekklesia verbunden ist. Die Erhöhung erschließt die Heilsbedeutung des irdischen Weges Christi. Dieser war der Weg des in der Versuchung Gehorsamen: Christus ist der wahre 'Mensch', in dessen Weg der Fall Adams aufgehoben und in dessen Herrschaft dem Menschengeschlecht die ihm von Gott bestimmte Herrlichkeit gegeben ist. Die Herrlichkeit des Erhöhten, die Heilsbedeutung der Erhöhung (und durch sie die des irdischen Weges Christi) bietet der Hebr gegen die Anfechtung durch die vorfindlich-irdische Schwäche des Menschen auf (170).

 

3. Der Weg Jesu Christi: Gehorsam, Erhörung und Erhöhung

 

(1) Leidensgehorsam, Erhöhung und Fürbitte (5,5-10)
 (2) Testament und Bund (9,15-17)
 (3) Die Hingabe des Soma (10,1-18)
 (4) “
Der Weg seiner Sarx“ (10,19f.21f)
 (5) Ertrag

 

Das Leiden und Sterben Christi wird soteriologisch interpretiert, dabei unterbleibt jede Deutung im Sinne opferkultischer Sühne. Der Gehorsam Christi wird als Erfüllung des Gotteswillens dem irdischen Opferkult entgegengestellt. Bringen die irdischen Hohenpriester (5,1-10) um des Gottesverhältnisses der Menschen willen Opfer dar, so steht dem Christi irdischer Weg in Leiden und Gehorsam gegenüber. Gerade dieser Weg ist es, der seine hohepriesterliche Investitur begründet und seinem hohepriesterlichen Wirken jene soteriologische Qualität verleiht, die den irdischen Hohenpriestern fehlt. In 9,15-17 wird die Heilsbedeutung des Todes Christi mit der juridischen Testaments-Metapher gedeutet. Christi Tod wird (wie in 2,14f) ohne sühnetheologische Deutung als zurückliegendes Heilsereignis verstanden, dessen Geschehen-Sein die Rechtsverbindlichkeit der Heilsverheißung verbürgt (171).

 

(1) Leidensgehorsam, Erhöhung und Fürbitte (5,5-10)

 

An die Stelle, die im irdischen Kult das Opfer innehatte, treten bei Christus wie bei den ihm zugehörigen Menschen Gottesfurcht, Gehorsam und Gebet. Diese werden als das Verhalten des irdischen Jesus hervorgehoben. Die Opferterminologie wird in 5,7 im übertragenen Sinn verwendet. Dabei wird der Leidensgehorsam Christi als Grund seiner Erhöhung aus dem Tode geschildert. Christi Hohepriestertum begann mit seiner Erhöhung. Die Leidenserfahrung geht in die Fürbitte des Erhöhten ein (172).

Gegenüberstellung von Opferkult und gelebtem Gehorsam (5,1-10): An die Stelle der Solidarität des selbst von Sünde betroffenen irdischen Hohenpriesters mit den sündigen Mitmenschen tritt bei dem sündlosen Jesus (4,15) die Solidarität des Mit-Leidens. Als Leidender flehte er um Rettung. Als Grund für die Erhöhung wird “Gottesfurcht“ angegeben. Damit will das Darbringen von Gebet und Flehen nicht als kultische Darbringung eines Opfers verstanden sein. Christus flehte als leidender Mensch um seine eigene Rettung (Mk14,36 parr). Er bedurfte für sich selbst keines Opfers. In 5,5 kommt es darauf an, die “ihm“ Gehorchenden (10,9) für ihr Leben in irdischer Schwachheit auf den Gehorsam des schwachen, irdischen Jesus zu verweisen, nicht auf einen irdischen Kultvollzug Christi. An die Stelle der Opferdarbringung zur Vergebung der eigenen Sünden treten beim Christus incarnatus sein Flehen um Rettung und seine in Gottesfurcht gelebte Existenz, diese werden zum Grund der Erhörung, d.h. der Rettung durch die Erhöhung aus dem Tode. So stehen Gebet und Flehen für Christi ganze Existenz in Schwachheit und Leiden. Mit “ darbringen“ wird seine Selbsthingabe zum Ausdruck gebracht (175).

In Hebr 5,7; 10,5-10 handelt es sich um eine unkultische Hingabe im leiblichen Gehorsam, die im Tod kulminiert, ohne dass dieser als kultische Opferdarbringung verstanden würde. Diese übertragene Verwendung von prosphora (10,10) bzw. prosphorein (5,7) ist wesentlich für die theologische Intention des Hebr, am Beispiel des irdischen Jesus gerade den Gehorsam des in irdischer Profanität gelebten Lebens als Zugang zur himmlischen Herrlichkeit zu erweisen. Unkultischer Gehorsam tritt an die Stelle des irdischen Opferkults (178).
 
Der aaronitische Hohepriester war dafür zuständig, für die Menschen Opfer darzubringen. Unter der Ordnung des melchisedekischen Hohenpriestertums wird das Verhalten der Menschen als Gehorsam gegenüber Christus beschrieben (“die ihm Gehorchenden“ 5,9), womit der in irdischer Profanität gelebte Gehorsam an die Stelle des irdischen Opferkults tritt. Damit folgen die Menschen Jesus, dessen irdisches Dasein seinerseits durch Leiden und Gehorsam charakterisiert wird (“er hat an dem, was er litt, den Gehorsam gelernt“ 5,8). Man gehorcht Christus, indem man wie er gehorcht. Den besonderen Akzent erhält das Verhältnis von Christus und den Seinen durch Gehorchen und Gehorsam (178).
 
Der “Sohn“ nahm die von der conditio humana bestimmte Existenz, das Leben im Fleisch, an (5,7f). Auf sein Flehen hin wurde er um seiner Gottesfurcht willen aus dem Tode erhöht. Irdischer Weg (Leiden und Gehorsam) und Erhöhung Christi gehören zusammen (s. 2,5-16). Der im Fleisch und Leiden bewährte Gehorsam, der bis in den Tod führte, wird zum Grund der Erhörung, der aus dem Tod rettenden Erhöhung (2,9). Durch Leiden vollendet, wird Christus “Urheber ewigen Heils“ (5,9). Jesu soteriologische Bedeutung wird als Folge der gehorsamen Selbsthingabe beschrieben – er litt, obwohl er der Sohn war, aber weil er zum Hohenpriester werden sollte (179).

Die Psalmzitate in 5,5f.10 als Erhöhungsaussagen: Zusammen mit Ps 2,7 zitiert der Hebr Ps 110,1 und Ps 110,4 als Gottesrede, mit der Christus in sein hohepriesterliches Amt eingesetzt wurde. Die Erhöhung ist hohepriesterliche Investitur. Um seines Gehorsams willen wurde der Erniedrigte aus dem Leiden erhöht (wie auch in Phil 2,6-11). Diese Tradition interpretiert der Hebr neu, indem er die Erhöhung als Einsetzung ins himmlische Hohepriesteramt deutet. Er schreibt damit dem Erhöhten die Qualität des Heilsmittlers zu. Diese besteht darin, dass er den Leidenden helfen kann, weil er selbst durchs Leiden hindurch erhöht wurde (180).

Interzession als Wirken des himmlischen Hohenpriesters: Kp. 7 erläutert die Überlegenheit des melchisedekischen Hohenpriesters über den aaronitischen Hohenpriester in 7,25 mit der Fähigkeit, als Erhöhter durch seine Fürbitte immerdar retten zu können, die durch ihn zu Gott nahen (“Urheber ewigen Heils“ 5,9). Der himmlische Interzessor vermittelt den Menschen die Gnade (4,16), die sie benötigen, um in Schwachheit (4,15) den Gehorsam zu bewähren (5,9). Hebr 5,7 zeigt Jesus als irdischen Beter um Rettung, weil darin seine himmlische Interzession vorbereitet ist. Er war selbst in der Situation, die jetzt die der Adressaten ist, die seiner Fürbitte bedürfen. Als schwachen, leidenden um Rettung aus dem Todesgeschick flehenden Menschen will Hebr 5,7 den irdischen Jesus schildern. Auch die Adressaten (ab 10,19) sollen ihre irdische Schwachheit im Gehorsam bestehen. Das kann auch ihnen Zugang zum Himmel werden – durch die Fürbitte des mitleidenden himmlischen Hohenpriesters. Christus hat im Leiden Gottesfurcht und Gehorsam bewährt. Gebet und Flehen meinen die ganze irdische Existenz. Deren Darbringung ist Selbsthingabe auf Erden, nicht priesterlicher Kultvollzug (180f).

 

(2) Testament und Bund (9,15-17)

 

Wie schon in 2,14f beschreibt der Hebr in 9,15-17 das profane Sterben Christi als Heilsereignis, ohne es opferkultisch bzw. sühnetheologisch zu deuten. Die Erfüllung des Willens Gottes im Leben und Sterben Christi verwirklicht den neuen Bund; er erschließt die Vergebung und verbürgt rechtsgültig das himmlische “Erbe“ (181f).

Verbindung von Bundes- und Testamentsthematik: 9,15 (“Mittler eines neuen Bundes“) nimmt die Bundesthematik auf und leitet mit der Rede vom Tod und vom Erbe zur Testamentsthematik über. 9,15 schildert den Tod Christi als Bedingung des Heilsempfangs, der als “erlangen des ewigen Erbes“ bezeichnet wird (182).

Der Testamentsgedanke begründet, warum aus dem Gestorben-Sein Christi das Empfangen des verheißenen “Erbes“ folgt. Der neue Bund hat sein Wesen darin, dass an die Stelle der Gott nicht wohlgefälligen Opfer des irdischen Kults die Selbsthingabe im gelebten Gehorsam tritt, der bei Jesus in den Tod führte. Damit ist der Gotteswille erfüllt und zugleich der neue Bund aufgerichtet (183).

Das Aufrichten des Bundes verdeutlicht 9,15-17 mit dem Inkraftsetzen des Testaments durch das Eintreten des Todesfalls. Da der Inhalt der Verheißung des neuen Bundes in der Vergebung besteht (8,12; 10,17), ist mit der Aufrichtung des neuen Bundes die unter dem ersten Bund angehäufte Sündenlast getilgt und so ist der Antritt der Erbschaft verbürgt. Die Vergebung erfolgt ohne sühnetheologische Begründung. Der Akzent liegt auf dem objektiven Geschehen-Sein des Todes Christi. Die Erfüllung der Bundesverheißung ist durch die Aufrichtung des neuen Bundes im Leidens- und Todesgehorsam Christi rechtsgültig – gleichsam testamentarisch – verbürgt (183f).

Der Akzent der Argumentation von 9,15-17 liegt darauf, die rechtliche Verbindlichkeit der mit Christi Sterben gegebenen Erfüllung der Verheißung herauszustellen – darum hier die juridische Argumentation. Auf das Sterben als irdisch-profanes Geschehen wird dies gegründet, weil der Inhalt des neuen Bundes (die Erfüllung des Gotteswillen jenseits irdischen Opferkultes) mit dem unkultischen irdischen Gehorsam Christi bis zum Tode (10,5-10) gegeben ist. Infolgedessen bewirkte der Tod Christi mit der Aufrichtung des neuen Bundes auch die Erfüllung der an diese geknüpften Verheißung der Sündenvergebung. Für die Adressaten, die den eschatologischen Eingang in die himmlische Welt erst vor sich haben, wird hier die irdische Seite dieses Weges herausgestellt, als Garantie dessen, dass auch ihnen der Zugang zum “Erbe“ der himmlischen Heimat – aus ihrer Schwachheit heraus – gleichsam rechtlich verbürgt ist (184).

 

(3) Die Hingabe des Soma (10,1-18)

 

Der Hebr versteht das Sterben Christi als den Höhepunkt seines leiblichen Gehorsams, der als unkultische Selbsthingabe an Gott die Erfüllung des Gotteswillens ist und so dem irdischen Opferkult gegenübersteht, der dem Willen Gottes nicht entspricht (185).

An die Stelle des ineffizienten irdischen Kults tritt ein andersartiges Geschehen (10,1-4). Das den irdischen Kult begründende mosaische Kultgesetz (10,1) hat nur einen Schatten der künftigen Güter, nicht aber die “Gestalt der Dinge“ selbst. Diese Inferiorität hat soteriologische Ineffizienz zur Folge (“Deshalb kann es die, die opfern, nicht für immer vollkommen machen... Denn es ist unmöglich, durch das Blut von Stieren und Böcken Sünden wegzunehmen“ (10,4) (185).

Leiblicher Gehorsam statt Opferkult (10,8-10): Der Hebr gibt mit dem Psalmzitat (40,7-9) seiner Kritik am irdischen Opferkult Ausdruck. Dieser entspricht weder Gottes Willen, noch wird er wohlgefällig von Gott angenommen. Der Hebr legt das Psalmzitat dem in die Welt eintretenden Christus in den Mund: Gott, so weiß Christus, hat weder Schlachtopfer noch Brandopfer gewollt. Indem Christus in die Welt eintritt, nimmt er das von Gott bereitete Soma an. Der Hebr sieht im Soma die Möglichkeit, den Willen Gottes aktiv auszuführen. So tritt das Soma und damit das Tun des Willens Gottes an die Stelle von Schlacht- und Brandopfern (192).

Der Verf. des Hebr legt dem in die Welt eintretenden Christus das Psalmzitat in den Mund (10,5), d.h. es ist auf sein Leben in der Welt im menschlichen Soma zu beziehen. Christi Absicht, den Willen Gottes zu tun (10,7.9), bezieht sich auf seinen Eintritt in die Welt, auf seine somatische Existenz. Die innerweltliche somatische Existenz dient insgesamt der Erfüllung des Gotteswillens und gerade die gehorsame im Tode kulminierende Existenz ist als “Darbringung“ des Soma seine Selbsthingabe. Dies ist die wahre, unkultische “Darbringung“, die Gott auf Erden vollzogen haben will (193).

Wenn im neuen Bund der Wille Gottes in die Herzen geschrieben ist (Jer 31,33f), dann geht es nicht mehr um irdischen Opferkult, sondern um das Tun des Gotteswillens. So ist die Verheißung bei Jeremia erfüllt und zugleich aller irdischer Opferkult durch die wahre “Darbringung“ in der Erfüllung des Gotteswillens ersetzt. Das geschah in Christi gehorsamer Selbsthingabe bis zum Tode, mit der er den Willen Gottes erfüllte, wodurch der neue Bund Wirklichkeit geworden ist (196).

Eröffnung des Zugangs zur sakralen Sphäre (10,10.14): Der durch das Todesleiden Christi hindurch erschlossene Zugang zur himmlischen Herrlichkeit kommt auch den Seinen zugute. Dass die Seinen in seinen Weg eingeschlossen sind, sagt Hebr 2,11 mit den Bezeichnungen: “der heiligt und die geheiligt werden“ aus. Die Verschränkung der Zuordnung zum himmlisch-sakralen Bereich mit dem “Hinausgehen“ in den Bereich irdischer Profanität ist im Weg Christi vorgebildet (13,12f). Der Zugang zur himmlischen Herrlichkeit wird erschlossen durch den irdischen Gehorsam Christi. Mit der Erfüllung des Gotteswillens in der Selbsthingabe Christi ist der neue Bund erschlossen, der dann im Akt der himmlischen Kulteinweihung in Geltung gesetzt wird (198f).

Die Selbsthingabe (“Darbringung“ des Leibes) Christi (10,10) ist es, wodurch die Heiligung bewerkstelligt wird. Wie die Jünger Joh 17,14-16 an der Heiligung und Sendung Jesu Anteil gewinnen, so sind auch nach Hebr 10,10 wir durch Christi Selbsthingabe geheiligt, ebenso wie nach Hebr 2,9f die “vielen Brüder“ in die Verherrlichung Christi hineingenommen sind (200).

Irdisches Leiden und himmlisches Opfer Christi sind soteriologisch suffizient (10,11-14). Das “Sitzen zur Rechten“ (2,8.10; 10,12f) ist ebenso aufgegriffen wie das “Vollkommen-Machen“ (2,10; 10,14). 10,11-14 stellt heraus, dass ein fortgesetzter Opferkult aufgrund des Wirkens Christi nicht mehr erforderlich ist. Dafür wird im Anschluss (10,15-17) das Zeugnis des Heiligen Geistes im Jeremia-Zitat in Anspruch genommen. Es geht um das Ende irdischen Opferkultes aufgrund der soteriologischen Suffizienz des Heilswerks Christi (200f).

 

(4) “Der Weg seiner Sarx“ (10,19f.21f)

 

Der “Weg seiner Sarx“, d.h. der durch Christi irdisches Leben und Sterben gebahnte Weg des irdischen Gehorsams, ist der nun für uns eröffnete Weg ins Allerheiligste. Der Zugang zum himmlischen Heiligtum wird im irdischen Gehorsam gewonnen, nicht im irdischen Opferkult (203).

Der Weg seiner Sarx“ bezeichnet die irdische Daseinsweise, die Christus mit der Inkarnation an- und auf sich nahm (2,14; 5,7). Den Zugang zum himmlischen Allerheiligsten hat Christus für uns neu eingerichtet als einen noch nicht dagewesenen und lebendigen Weg, den Weg seines leiblichen Gehorsams in der irdischen Existenz (206).

Mit der Sarx Christi war sein irdisches Dasein angesprochen. Die Rede von seinem Blut bezieht sich auf die durch sein Blut bewirkte Reinigung des himmlischen Heiligtums und der Gewissen der Adressaten (9,13f.22f; 12,24) (207).

Der Hebr sagt nicht, dass es gelte Christus nachzufolgen. Er fasst das Verhältnis der Seinen zu Christus in die Abfolge des Gehorsams gegen Christus nach seiner Erhöhung (“Als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden“ 5,9). Den durch Christus eröffneten Weg beschreitet man, indem man, gleich ihm, irdisch im Gehorsam lebt (209).

 

(5) Ertrag

 

Das irdische Geschehen von Leiden und Sterben Christi wird im Hebr nicht opferkultisch bzw. sühnetheologisch gedeutet. Der irdische Weg Jesu Christi ist die gehorsame Erfüllung des Willens Gottes im Leben und Leiden und erreicht seinen Höhepunkt in der “Darbringung“ des Leibes Christi, d.h. in seiner Selbsthingabe, die er auf Erden vollzog. Diese tritt auf Erden an die Stelle des irdischen Opferkults. Damit ist die in der ersten Heilssetzung (diatheke) begründete irdische Kultordnung obsolet. Der Hebr versteht das irdische Leiden und Sterben Jesu als Grund seiner Erhöhung. Diese ist seine Einsetzung in sein himmlisches Amt, Beginn seines Hohepriestertums. Als himmlischer Hoherpriester bringt er seine Erfahrung der conditio humana fürbittend für die Seinen zur Geltung. In seinem Weg durch Schwachheit und Leiden ist der angefochtenen Gemeinde der eigene Weg zu himmlischer Herrlichkeit vorgezeichnet (211).



4. Himmlischer Hoherpriester und himmlischer Kult

 

(1) Sühne und Vergebung (2,17; 4,14-16)
(2) Hoherpriester auf ewig (7,11ff; 6,19f)
(3) Himmlischer Kult und himmlisches Opfer (8,1-6)
(4) Der Eintritt ins Allerheiligste und das Selbstopfer Christi (9,11f)

Der irdische Weg Jesu Christi war ein Weg des Gehorsams, kein priesterlich-opferkultisches Wirken. Die Interpretation der Erhöhung Christi als Hohepriester-Investitur erläutert, warum in dieser Erhöhung die Verherrlichung der Seinen beschlossen liegt. Christus kann die Seinen durch seine Fürbitte, durch die Vergebung der Sünden und durch die Hilfe in Anfechtung retten. Die Deutung der Erhöhung als Hohepriester-Investitur ist daher die Pointe der Kulttheologie des Hebr (8,1f). Sie impliziert, dass Christus ein himmlisches Opfer dargebracht haben muss: das Opfer seiner selbst. Dieses Opfer geschah in seiner Erhöhung, verstanden als Eintritt in das himmlische Allerheiligste. Seither wirkt er als himmlischer Hoherpriester fürbittend im himmlischen Heiligtum (212).

 

(1) Sühne und Vergebung (2,17; 4,14-16)

 

Hebr 2,17: “Daher musste er in allem seinen Brüdern gleich werden, damit er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester vor Gott zu sühnen die Sünden des Volkes“.

Christus ist durch das Todesleiden hindurchgegangen und kann den Versuchten helfen, den Gehorsam zu bewähren. In 2,17 geht es nicht um opferkultische Sühne, sondern um die Zuwendung der Sündenvergebung durch den himmlischen, den Seinen fürbittend beistehenden Hohenpriester. Christus übt für die Seinen die Funktion des Heilsmittlers aus (214).

Das “damit er Hoherpriester würde“ (2,17) setzt den Weg Jesu Christi bis zum Tod und seinen Tod voraus. Dass dabei mit Bezug auf Christi Hohepriestertum von einem “Werden“ die Rede ist, besagt, dass Christus nach dem Hebr nicht schon von Ewigkeit her und nicht schon während seines irdischen Lebens Hoherpriester war. Christus ist Hoherpriester “nach der Kraft unzerstörbaren Lebens“ (7,16), d.h. kraft seiner Erhöhung zu unzerstörbarem Leben aus dem Tode. Daher währt sein Hohepriestertum ewig. Der Ertrag des irdischen Weges Christi geht in sein himmlisches Hohepriesteramt ein und bestimmt es: Er wurde ein barmherziger Hoherpriester, er kann helfen, weil er gelitten hat und versucht wurde (2,18; 4,16) (215f).

Damit er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester vor Gott“ (2,17): Christus wurde Hoherpriester im Überschritt aus dem Tod in der Erhöhung. Als Hoherpriester vermittelt er zwischen Mensch und Gott. Seine Zuverlässigkeit/Vertrauenswürdigkeit gilt (bei Mose Israel, bei Christus) der Gemeinde (3,6: wir). Sie ergibt sich für die Gemeinde aus dem Vertrauen, das Christus auf seinem irdischen Weg bewährte (2,13) (216f).

Die Situation der Anfechtung und die “Hilfe“ (4,16): Hebr 2,18 (“gelitten“) nimmt auf das “Todesleiden“ Christi (2,9) Bezug. Ebenso bezeichnet Hebr 4,15 (“versucht worden in allem“) ein Versuchtsein in jeder Hinsicht, d.h. bis hin zum Tode. Dabei sind in 2,18 wie in 4,14f die Wir als Versuchte im Blick. Die Versuchung hängt mit Schwachheit und Leiden zusammen (2,18: “er hat gelitten“, 4,15: “mitleiden mit unseren Schwachheiten“), der conditio humana (2,14f). Diese ist bestimmt durch die Begriffe: “Fleisch und Blut, Tod und Furcht“. Der Todesmachthaber übt seine Herrschaft durch die Todesfurcht aus, die die Sterblichen versklavt (“versucht werden“ 2,18; 4,15). Wenn der Hebr in 2,17f; 4,14-16 damit beginnt, seine Hohepriesterlehre zu entfalten, dann sind dabei die Darlegungen von Hebr 2,5-16 über den “Sohn“ als den angefochtenen Menschen schlechthin aufgenommen. Weil er Leiden und Anfechtung kennt, kann Christus den Angefochtenen helfen.Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben“ (4,16). Als Hoherpriester ist Christus Urheber ewigen Heils (der Gehorsame für die Gehorsamen vgl. 5,8-10). Christi Barmherzigkeit (2,17f) besteht darin, dass er die Angefochtenen durch seine Fürbitte zur Bewährung des Gehorsams stärkt. Nach G. Gäbel ist hier (“...zu sühnen die Sünden des Volkes“ 2,17) ebenfalls die Fürbitte Christi gemeint, durch die er für die Seinen Sündenvergebung bei Gott erwirkt (217f).

Die Sühneaussage in 2,17: Die Konstruktion von verbalen Sühneaussagen mit Ausdrücken für Sünde und Schuld als direktes Akkusativobjekt ist der LXX wie in Texten vom Toten Meer in nicht-opferkultischen Kontexten anzutreffen. Sie bezeichnet die Gnade gegenüber dem Sünder bzw. die Vergebung der Sünden. Vor diesem Hintergrund ist Hebr 2,17 in den nicht-opferkultischen Sprachgebrauch einzuordnen. Die Sünden sühnen heißt in Bezug auf die Sünden gnädig sein bzw. die Sünden vergeben (224).

Fordert die Kulttheologie des Hebr, das “Sühnen“ auf das Opfer Christi als einmaligen Sühneakt zu beziehen? Folgende Beobachtungen sprechen dagegen: Auffällig ist bei der Betonung der Jom Kippur-Typologie die starke Zurückhaltung des Hebr bei der Sühneterminologie. 2,17 bietet den einzigen verbalen Beleg. In 9,5 “Gnadenthron“ (Sühnedeckel) geht es um die Keruben, die das hilasterion überschatten. Von der Funktion des hilasterion am Jom Kippur verlautet nichts. In der Schilderung des irdischen Kultvollzugs am Jom Kippur (9,6f) wird es nicht erwähnt. Ebensowenig wird die Blutsprengung am Jom Kippur (Lev 16,14f) im Hebr explizit erwähnt (9,7 spricht von einer Darbringung des Blutes, ohne diese näher zu schildern) (224f).

In Hebr 8,12 steht das Zitat aus Jer 31,34, wo Gott verheißt, im Blick auf die Unrechtstaten Israels gnädig zu sein und ihrer Sünden nicht mehr zu gedenken. Die LXX übersetzt das hebräische “vergeben“ mit “gnädig sein“. Gemeint ist die gnädige Zuwendung und Vergebungsbereitschaft. In der neuen kultischen Heilssetzung (diatheke) beruht die Vergebungsbereitschaft Gottes auf dem einmaligen Selbstopfer Christi. Seine Wirkung wird nicht mit der Sühneterminologie beschrieben. Die Sühneterminologie wird im Hebr (abgesehen von 2,17) nicht zur Beschreibung des Wirkens Christi herangezogen (225).

Wo der Hebr die Wirksamkeit des Kultgeschehens und/oder des Wirkens Christi schildert, bedient er sich der Reinigungsterminologie. Das gilt für den irdischen Kult (9,13.22; 10,2) wie für das Wirken Christi (1,3; 9,14.23; 10,22). Gereinigt wird das himmlische Heiligtum (9,23) bzw. das Gewissen (9,14). Der irdische Kult zielt auf die Reinigung des Gewissens, vermag sie aber nicht zu erwirken (9,13; 10,2). Das Reinigungsmittel ist Blut (9,13f.22). Die Aussage von 9,22 zielt auf die Blutriten im Rahmen des Opferkults, die der Hebr dezidiert als Reinigungsriten versteht (225).

In Hebr 1,3 bezeichnet “die Reinigung von den Sünden vollbracht habend“ das einmalige Selbstopfer Christi nach seiner Wirkung. Was gereinigt wird, wird nicht gesagt; nach 9,14 das Gewissen der Menschen und das Heiligtum (9,23). Während die Reinigung nach 1,3 der Inthronisation einmalig vorausging und fortan gültig bleibt, beschreibt “zu sühnen“ (2,17) ein fortdauerndes Wirken, das die einmalige Sündenreinigung durch das Selbstopfer Christi immer neu (nicht opferkultisch) zur Geltung bringt (226).

Christus wurde ein barmherziger und zuverlässiger Hoherpriester, indem er in allem den Brüdern gleich wurde und zwar “um zu sühnen...“. Wollte man die Sühneaussage auf das einmalige Opfer Christi beziehen, so widerspräche dem der Gebrauch des Infinitiv Präsens, der ein fortgesetztes Sühnewirken in der Gegenwart beschreibt. Dieses kann nicht mit der einmaligen Sündenreinigung (1,3) gleichgesetzt werden. Es geschieht, indem Christus den Seinen fortwährend hilft (2,18; 4,16), d.h. ihnen Gnade und Vergebung zuwendet (226).

Der Befund in 2,17 ist eindeutig: “zu sühnen die Sünden des Volkes“ meint die Zuwendung von Gnade und Vergebung. Dies geschieht in Bezug auf das Gottesverhältnis der hilfsbedürftigen Menschen durch die Fürbitte des erhöhten Hohenpriesters (226).

Im Wirken des himmlischen Hohenpriesters ist der Ertrag seiner Niedrigkeit und seines Leidens für die Gemeinde in ihrer Schwäche und Anfechtung bleibend und hilfreich präsent. So erweist die Hohepriesterchristologie die soteriologische Bedeutsamkeit der Erhöhung aus dem irdischen Todesleiden auf. Im Hinzutreten zum im Himmel inthronisierten Christus empfängt die Gemeinde immer neu seine Hilfe: Beistand in der Versuchung zur Bewährung des Gehorsams und Vergebung der Sünden aufgrund seines einmaligen Selbstopfers (227).

 

(2) Hoherpriester auf ewig (7,11ff; 6,19f)

 

Durch die Hoffnung sind wir im himmlischen Allerheiligsten verankert. Dorthin ist Jesus um unseretwillen als Vorläufer eingetreten (6,20). Die Erhöhung Christi wird in Kp. 7-10 kulttheologisch als Eintritt in das himmlische Heiligtum, in das Allerheiligste beschrieben und damit kulttypologisch dem Weg des irdischen Hohespriesters am Jom Kippur verglichen (227).

Aufgrund göttlichen Eidschwurs ist Christus Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks (6,20; 7,11-28). Christi Hohepriestertum und Kult tritt an die Stelle der mosaisch-aaronitischen Kultgesetzgebung (7,28). Die Überlegenheit des besseren Bundes beruht auf der Unwandelbarkeit des Hohepriestertums, das Christus begründet (229f).

Christi einmaliges Selbstopfer ist suffizient (7,26f.28). Die durch nichts beeinträchtigte Reinheit und Heiligkeit, die zum Wesen seines Hohepriestertums gehört, erlangte Christus durch die Erhöhung. Daher ist dieses Hohepriestertum ein himmlisches (231).

Christi Hohepriestertum ist ewig, weil er ewig lebt (7,8.23f). Dies gilt erst für Christi Wirken nach dem Hindurchgang durch das Todesgeschehen. Erst dieses ist hohepriesterliches Wirken “nach der Weise Melchisedeks“. Der Suffizienz seines Selbstopfers entsprechen die Einmaligkeit seines irdischen Weges und die Unzerstörbarkeit seines Lebens seit der Erhöhung. Der Eidschwur, der über das Gesetz hinausgeht, begründet das ewige Hohepriestertum des Sohnes im Gegensatz zum Hohepriestertum der schwachen Menschen, das auf das Gesetz gegründet ist. Der Eidschwur Ps 110,4 ermöglicht es, dem levitischen (Hohe-)Priestertum und seiner Grundlage (dem Kultgesetz der Schrift) ein anderes Hohepriestertum, ebenfalls auf der Schriftgrundlage, gegenüberzustellen. Die alte kultische Satzung wird annulliert (7,18) (232).

Das Hohepriestertum “nach der Weise Melchisedeks“ ist dem himmlischen Wirken des erhöhten Christus (7,25 seinem fürbittenden Wirken; 7,27; 8,3 seinem himmlischen Selbstopfer) zugeordnet. Es begründet durch die fortwährende Fürbitte die bleibende Hoffnung auf Zutritt zum himmlischen HeiligtumDarin erweist sich seine Überlegenheit (232f).

 

(3) himmlischer Kult und himmlisches Opfer (8,1-6)

 

8,3f: Das Opfer Christi wurde vom himmlischen Hohenpriester im himmlischen Heiligtum dargebracht. Die Hohepriesterchristologie als Interpretament der Erhöhungsvorstellung schließt diese soteriologisch auf (236).

Wäre in 8,3 an irdisches Geschehen gedacht, wie fügte sich das zum Kontext von 8,1-6? Ein wesentlicher Charakter des Hohenpriesters besteht in der Darbringung von Gaben und Opfern (8,3). So musste auch Christus als solcher (Hoherpriester) etwas darbringen. Das konnte er nicht auf Erden, wo diese Darbringung nach dem Gesetz nur von den levitischen Priestern geschieht (8,4). Darin liegt kein Hindernis gegen seine hohepriesterliche Würde, da er dieses Amt nicht im irdischen, sondern im himmlischen Heiligtum verwaltet (8,6). Da scheint es klar zu sein, dass der Verf. das hier gemeinte hohepriesterliche “Darbringen“ Christi nicht als auf Erden, sondern als im Himmel verrichtet betrachtet und dass es sich daher nicht darauf beziehen kann, dass der Erlöser den Kreuzestod gelitten hat, sondern darauf, dass er seinen auf Erden dahin gegebenen Leib und sein vergossenes Blut danach bei seinem Eintritt in das himmlische Heiligtum dem Vater als Opfer dargestellt hat. Diese Darbringung (das Selbstopfer Christi 7,27) gehört im Sinnes des Verf. des Hebr nicht auf die Seite des irdischen Priesterdienstes, sondern auf die Seite der himmlischen Liturgie des zur Rechten Gottes Erhöhten (237).

Ein priesterlich-kultisches Wirken Christi auf Erden ist im Hebr nicht im Blick. Das einmalige Opfer Christi ist nicht in seinem irdischen Sterben und Tod zu sehen. Mit 8,4 ist 8,3 das Thema der (hohe-) priesterlichen Opferdarbringung gemeinsam. Aufgrund von 8,4 kann auch in 8,3 im Blick auf Christus eine himmlische Opferdarbringung gemeint sein (249).

Hebr 8,1-6 bringt die Gegenüberstellung von zweierlei Priestertum und Kult (5,5-10 und Kp.7) auf den Begriff: Der levitische, durch das mosaische Kultgesetz begründete Kult ist irdisch und findet im irdischen Abbild-Heiligtum statt. Der durch göttlichen Eidschwur begründete Kult des melchisedekischen Hohenpriesters ist himmlisch und findet im himmlischen Urbild-Heiligtum statt. Wie das irdische Heiligtum Abbild des himmlischen ist, so ist das irdische Kultgeschehen des Jom Kippur schattenhaftes Abbild des himmlischen Selbstopfers Christi (254).

Die Hohepriesterchristologie wird zum Interpretament traditioneller Erniedrigungs- und Erhöhungsaussagen. Die kulttheologische Deutung von Christi himmlischem Wirken erschließt die soteriologische Bedeutsamkeit der in dem “Sitzen zur Rechten“ ausgesprochenen Erhöhung. Die Pointe des Hebr ist das gegenwärtige (8,1) himmlische Wirken des Erhöhten als Hoherpriester (254).

Christus tritt kraft seines eigenen Blutes und mit diesem in das himmlische Allerheiligste ein. Daneben steht der Vergleich des irdischen Leidens Christi mit der Verbrennung der Kadaver der Opfertiere (13,11f) – nicht mit der Opferschlachtung, die der Hebr nicht erwähnt. In 2,17 handelt es sich um eine Aussage über das fortwährende interzessorische Wirken Christi. Die Jom Kippu-Typologie des Hebr greift gegebenes Material auf, ist jedoch in Auswahl und Deutung eigenständig (278).

 

(4) Der Eintritt ins Allerheiligste und das Selbstopfer Christi (9,11f)

 

Die Überführung der im Blut repräsentierten Hingabe des somatischen Lebens Christi in das himmlische Allerheiligste ist als solche sein himmlischer Opfervollzug (279).

Dem Hebr genügt es zu sagen, dass Christus mit seinem eigenen Blut in das himmlische Allerheiligste eingetreten ist. Typologisch entspricht das der Darbringung des Blutes durch den Hohenpriester im irdischen Allerheiligsten. Das Blut gilt kultischer Theologie als Träger und Repräsentant der physisch-somatischen Lebendigkeit (Lev 17,11). Der Hebr differenziert zwischen Christus selbst als Hoherpriester und dem Blut Christi. Letzteres repräsentiert als Opfermaterie die Hingabe seines Lebens. In der Aussage, Christus sei eingetreten “durch sein eigenes Blut“, kommt beides zur Geltung. Die im Blut repräsentierte gehorsame Selbsthingabe seiner irdischen Existenz erschließt Christus den Zugang zum himmlischen Allerheiligsten “kraft seines eigenen Blutes“. Sein Eintreten in das himmlische Allerheiligste “mit seinem eigenen Blut“ entspricht dem als Opferdarbringung gedeuteten Eintritt des irdischen Hohenpriesters ins Allerheiligste und hat somit die Qualität einer Opferdarbringung. Christi unkultische Selbsthingabe auf Erden hat im himmlischen Geschehen ihre kultische Ergänzung (290).

Das Selbstopfer Christi zeichnet sich dadurch aus, dass es “durch ewigen Geist“ vollzogen wurde (9,14). Das gehört zu seiner Überlegenheit über die Opfer und Reinigungsriten des irdischen Kults, die dem Bereich der Sarx zugehören. Das Selbstopfer Christi hat an der geistig-ewigen Natur der himmlischen Dinge Anteil, da es selbst himmlisches Geschehen ist. Der Kraft ewigen Geistes entsprechenden Art des Selbstopfers Christi korrespondiert das Vermögen seines Blutes, das Gewissen reinigen zu können. Das Gewicht liegt ganz auf dem Eintritt ins Allerheiligste, den der Hebr als Darbringung, damit als Vollzug des himmlischen Selbstopfers Christi, versteht (292).

 

5. Irdische Existenz und Zuordnung zum himmlischen Kult

 

(1) Himmlisches Vaterland und irdische Fremdheit (11,8-16)
(2) Zugang zum himmlischen Heiligtum – Ausgang aus dem irdischen “Lager“ (13,7-17)

 

Der Kult der eschatologischen neuen Heilssetzung (diatheke) im himmlischen Heiligtum wurde eingeweiht. Die Adressaten erhielten die Zugangsberechtigung zum himmlischen Heiligtum und die Befähigung zur Kultteilnahme. Die Adressaten vollziehen diese Teilnahme im Leben auf Erden. Aus der Zugehörigkeit zum himmlischen Kult heraus verstehen sie ihre irdische Existenz als Fremdlingschaft. Die Sarx Christi, seine irdische Existenz, ist der Weg in das himmlische Allerheiligste. Dieser Weg ist in irdischem Gehorsam zu beschreiten. Aus der Zuordnung zum himmlischen Altar (13,10) ergibt sich die Forderung, jede Teilnahme an irdischem Kult zu unterlassen. Stattdessen wird das, was in irdischer Profanität gelebt wurde, als das (spirituelle) Opfer (13,15f) der Adressaten auf dem himmlischen Altar dargebracht. Der Hebr versteht das irdische Sterben Christi als profanes, nicht-opferkultisches Geschehen, zu dem sein himmlisches Selbstopfer komplementär hinzutritt (425f).

 

(1) Himmlisches Vaterland und irdische Fremdheit (11,8-16)

 

Leben in der Fremde – Erwartung der künftigen Stadt: Abraham zog aus und siedelte sich im “Land der Verheißung“ an, wo er als Fremdling weilte. Er erwartete die von Gott erbaute Stadt, das himmlische Jerusalem (12,22-24). Diese Stadt sahen Abraham und andere nur von ferne. Auf Erden blieben sie fremd und ohne Bürgerrecht. Ebenso gilt auch von uns, dass wir auf Erden keine bleibende Stadt haben, sondern die zukünftige ersehnen wir (13,14) (427).

Die Wüstenzeit Israels ist dem Hebr das Paradigma der Glaubensverweigerung auf die göttliche Anrede hin: Das glaubende Hören der göttlichen Anrede wird zur Bedingung des endzeitlichen Eintritts in die himmlische “Ruhe“. Das “Vaterland“ der Adressaten ist die künftige, himmlische Stadt. Dem entspricht auf Erden ein Leben in der Fremde. Und wie Abraham “hinausging“ (11,8), so sind auch die Adressaten aufgefordert “hinauszugehen“ (13,13) (427f).

Das “Hinausgehen“ Abrahams (11,8) bezieht sich nicht auf das Verlassen der irdischen Sphäre zugunsten der himmlischen. Gemeint ist ein Leben in Fremdlingschaft, das Aufgeben jeder irdischen Beheimatung und Sesshaftigkeit. Es gilt, im Glauben zu leben, d.h. auf Erden durch die himmlisch-zukünftigen Größen bestimmt zu leben. Diese irdische Existenz ist als Heimatlosigkeit zu vollziehen. Denn die Heimat der Adressaten wie der Glaubenszeugen (Kp. 11) kann nur die himmlische sein. Bei der Aufforderung zum “Hinausgehen“ (13,13) geht es darum, die durch das irdische Jerusalem repräsentierte irdische Sakralität hinter sich zu lassen und auf Erden sich ausschließlich aus der Zuordnung zum himmlischen Kult zu verstehen. Dieser Zuordnung entspricht ein Leben in irdischer Profanität. Es geht um den Verzicht auf jede irdische Kultteilname. Aus der Hoffnung auf die künftige himmlische Heilsvollendung, auf das “unerschütterliche Reich“, ergibt sich die Aufforderung zur gegenwärtigen Teilnahme am himmlischen Kult (Kp.13). Glaube im Hebr ist das Bestimmtsein des Lebens auf Erden durch das himmlische Hoffnungsgut, so dass die Ausrichtung darauf alle Entscheidungen prägt (429f).

Die Heilsvollendung besteht im Empfang des Verheißungsgutes, das als Eintritt in die “Ruhe Gottes“ (4,1.11) bzw. in das himmlische Allerheiligste in der Folge des Eintretens Christi (6,19f) verstanden ist (431).

 

(2) Zugang zum himmlischen Heiligtum – Ausgang aus dem irdischen “Lager“ (13,7-17)

 

In 13,12 (wie auch sonst im Hebr) steht das Leiden und Sterben Christi als irdisch-profanes Geschehen seinem himmlischen Opfer gegenüber. Beides wird im Rahmen der Jom Kippur-Typologie dargestellt. Aus der Opposition des sakral umfriedeten Lagers und seines profanen Außerhalb leitet 13,13 die Aufforderung zum Hinausgehen in die Profanität irdischen Daseins ab, die der exklusiven Zuordnung zu himmlischer Sakralität, der Teilnahme am himmlischen Kult, entspricht. Im Kontext 13,7-17 wird die Komplementarität von Leben in irdischer Profanität und Teilnahme am Kult des himmlischen Heiligtums entfaltet (445f).

Der wahre Gottesdienst des neuen Bundes (13,7-17): Dem zum Sinai kultisch hinzugetretenen Israel (Hebr 12,18-21) wurde mit dem Bundesschluss die Reinigung des Volkes und die Reinigung und Weihe des Heiligtums zuteil. Der Bund zielte auf den Kultvollzug; die Bundesgemeinde war Kultgemeinde. Auch die Gemeinde des neuen Bundes ist Kultgemeinde; auch sie wurde, ebenso wie das himmlische Heiligtum gereinigt, damit wurde auch der himmlische Kult eingeweiht (9,13f.22f). Die Gemeinde des neuen Bundes ist nicht zum irdischen Sinai, sondern zum himmlischen Zion hinzugetreten, um dort den rechten, Gott wohlgefälligen, den himmlischen Kult zu vollziehen (12,22-28) (447).

Zuordnung zum himmlischen Kult gegen Teilnahme an irdischen sakralen Mählern (13,8f.15f): Die Gegenwart Christi bleibt durch das “Gestern“ bestimmt. Ebenso bleibt seine Zukunft durch seine irdische Geschichte bestimmt. Jesu Tod (13,12) wird im Rahmen der Jom Kippur-Typologie als Zugang zum himmlischen Heiligtum gedeutet. Der himmlische Christus ist und bleibt, der der Irdische war. Das überlieferte Kerygma von Leidensgeschick und Erhöhung Jesu bleibt in Geltung, weil der erhöhte Christus der Hohepriesterchristologie derselbe ist und bleibt, der der Irdische war. Die Adressaten sollen sich auf den himmlischen Altar und dessen Kult ausrichten. Damit wird das Bedürfnis nach fortlaufenden irdischen Kultvollzügen abgewiesen (449f).

Bei den fremden Lehren geht es um ein “Essen vom Altar“, um sakrale Mähler. In 13,9 geht es um ein “Festwerden“ des Herzens, das durch Gnade, nicht durch Speisen zu erlangen ist. Vom Herzen ist die Rede, weil das Herz der Aspekt des Menschen ist, der dem himmlischen Bereich und dem himmlischen Kult zugeordnet ist. Im Hören des Wortes, im Festhalten daran und an der Hoffnung, am Bekenntnis und an der parrhesia (frohes Zutrauen 3,6;10,35) gewinnen die Adressaten bzw. ihre Herzen Anteil an der Festigkeit, die dem Wort Gottes eignet. Dieses Festhalten ist nichts anderes als die Bewährung des Gehorsams im Hinblick auf das himmlische Ziel. Zu dieser Bewährung bedarf es der Gnade (4,16): Christus, der mit den Leidenden mitleiden kann, wird ihnen Gnade gewähren, d.h. Hilfe zum Gehorsam in der Anfechtung. Diese Gnade erlangt man im kultischen “Hinzutreten“ zum himmlischen “Gnadenthron“ (4,16), in der Teilnahme am himmlischen Kult, in dem der Hohepriester Christus als Fürbitter die Gnade vermittelt (451).

Die Communio im irdischen sakralen Mahl und das Hinzutreten zum himmlischen Gnadenthron: Esau ist das negative Gegenbeispiel zu den Glaubensvorbildern von Kp.11, denn er hat das Sichtbar-Vorfindliche dem unsichtbaren Gut vorgezogen. Wer an irdischen sakralen Mählern teilnimmt, handelt töricht wie Esau, denn Zuordnung zum himmlischen Heiligtum und Teilnahme an irdischen Mählern schließen einander aus. Der vorfindlich-habhafte Gewinn ist in Wahrheit Verlust des himmlischen Heils. Die Warnung vor Heilsverlust durch das Essen der Speisen (12,17) gewinnt mit dem Hinweis auf die Speisen der irdischen sakralen Mähler 13,9 konkreten Bezug (452).

13,15f sprechen vom Kult, den die Adressaten allezeit durch Christus vollziehen sollen. Durch Christus als himmlischen Hohenpriester bringen sie im himmlischen Kult Opfer dar. Sie bedürfen keiner Opfer zur Sühne mehr; wohl aber sollen sie aus Dankbarkeit Opfer darbringen. An die Stelle der Teilnahme am irdischen Opferkult und an dessen Kultmahl tritt das dem himmlischen Kult zugeordnete Lobopfer der Lippen und das Opfer der guten Werke. Es handelt sich um den lebenspraktischen Gehorsam (einschließlich Gebet und Lobpreis), von dem schon in 10,5-10 die Rede war. Darin verwirklicht sich das “Hinzutreten“ zum Gnadenthron (4,16) bzw. zum himmlischen Allerheiligsten (10,19-22). Was auf Erden an Gotteslob und Wohltun vollzogen wird, das gelangt als wohlgefälliges Opfer im Himmel vor Gott. Zum himmlischen Heiligtum hinzugetreten, empfangen die Adressaten nicht allein Gnade (4,16; 13,9), sie bringen auch ihren leiblichen, in irdischer Profanität geleisteten Gehorsam sowie Lobpreis und Bekenntnis durch Christus im himmlischen Kult als Lobopfer vor Gott (452f).

Zuordnung zum himmlischen Altar und Heimatlosigkeit außerhalb der irdischen Stadt (13,10.14): Der Zugang zum himmlischen Jerusalem und seinem Altar und die Teilhabe an der irdischen sakralen Sphäre schließen einander aus. “Wir“ sind zum himmlischen Jerusalem hinzugetreten und “haben“ den himmlischen Altar (13,10), wie wir auf Erden keine bleibende Stadt haben, diese vielmehr verlassen und aus der Ausrichtung auf das himmlische Jerusalem leben sollen (13,13f). “Wir haben einen Altar“, einen himmlischen Altar, dem zugeordnet zu sein, auf der Verbindung mit dem himmlischen Hohenpriester Christus beruht und Berechtigung zur Teilnahme am himmlischen Kult besagt. “Wir“ haben Anteil am Priestertum und -dienst des himmlischen Heiligtums und an dessen Altar. Der Altar des himmlischen Heiligtums, den wir haben, ist der, zu dem wir priesterlich “hinzutreten“ (455).

Die “dem Zelt Dienenden“ sind die Priester des irdischen Heiligtums. Irdisches Zeltheiligtum und himmlischer Altar stehen einander gegenüber (13,10) wie irdisches Abbild und himmlisches Urbildheiligtum (8,2.4f). Jeder der beiden Kulte hat seine eigene Priesterschaft: “Uns“ bzw. die “dem Zelt Dienenden“. Die Priesterschaft des irdisch-abbildhaften Zeltes vermag zum himmlischen Urbild-Heiligtum und zu seinem Altar nicht hinzuzutreten, weil der Mangel des irdischen Kults darin besteht, dass er den Zutritt zum himmlischen Heiligtum nicht erschließen kann (9,1-10, 10,1-4). Die Communio mit heiligen Speisen irdischer sakraler Mähler vermag nicht Anteil zu geben am himmlischen Kult und seiner Heilsvermittlung (13,10). Aber “wir“ haben zu diesem Kult und seinem Altar Zutritt und wir treten dort priesterlich hinzu. Auf dem himmlischen Altar werden die Gott wohlgefälligen Opfer der Adressaten (13,15f) dargebracht. Das ist der himmlische Kult, der den irdischen sakralen Mählern gegenübersteht. Ein Mahl der Adressaten wird nicht Thema des Hebr (456f).

Der Tod Christi (13,12) entspricht nicht der Darbringung auf einem Altar, sondern der unkultischen Verbrennung in der Profanität des Außerhalb (13,11), wo es keinen Altar geben kann. 13,10 gehört nach Komposition wie Thematik mit 13,14 zusammen. Deshalb darf man das Leiden “außerhalb“ (13,12) nicht mit dem Altar verbinden und es gegen die Intention des Hebr zu einem kultischen Opfer machen. Nicht der Kult bzw. das Kultmahl in irdischer Sakralität, sondern der Gehorsam außerhalb der sakral eingefriedeten Sphäre des “Lagers“ in Profanität und Schmach, entspricht der Zuordnung zum himmlischen Kult, ist der Ort, von dem aus das “Hinzutreten“ geschieht. Die Verse 13, 11-13 zeigen am Vorbild Christi, wie profaner Gehorsam auf Erden und himmlisches Kultgeschehen zugeordnet sind. Sie begründen, dass die Adressaten den irdischen sakralen Bereich verlassen müssen, dass ihr Tun in irdischer Profanität das Gott wohlgefällige Opfer ist (13,15f). Das ist ihre Teilnahme am himmlischen Kult, auf die 13,10 zielt (458).

Hebr 13,11-13 setzt die Diskurse über Heiligkeitszonen und Zugangsmöglichkeiten voraus, gibt ihnen aber einen neuen Sinn. Denn “wir“ haben den Zugang schon zum urbildlichen himmlischen Heiligtum. Die durch Christus begründete Reinheit und Vergebung übertrifft alle Sühne- und Reinigungsriten des irdischen Kults. Zugleich ergibt sich die Aufforderung zum Hinausgehen, in Umkehrung des Richtungssinnes der auf den irdischen Heiligkeitsmittelpunkt gerichteten Bewegung (460).

Wie Christus in die Gottespräsenz des himmlischen Allerheiligsten eintrat, so werden es auch “Wir“ in der eschatologischen Vollendung tun. Doch schon jetzt sind die Adressaten zum himmlischen Jerusalem “hinzugetreten“ (12,22), sind sie berufen, sich dem himmlischen Thron zu nahen (4,16). Die Adressaten können jetzt nicht “eintreten“ (eiserchesthai) im Sinne des eschatologischen Eingangs ins himmlische Allerheiligste. Daher müssen sie gegenwärtig ihre Zugehörigkeit zum Himmlischen unter irdischen Bedingungen als “Hinausgehen“ (exerchesthai) vollziehen. “Wir“ sind berufen, in die Sphäre der Profanität “außerhalb des Tores“ hinauszugehen. Dort hat Jesus gelitten. Jesus ist einen profanen Tod gestorben, der durch die Schmach des Kreuzes (12,2) gekennzeichnet war. Christi himmlischer, hohepriesterlicher Herrlichkeit entsprechen auf Erden Leiden, Sterben und Schmach. Wie Christi Tod auf Erden profan und schmachvoll war (13,12), so gilt es für die Adressaten, irdische Sakralität zu verlassen, ihre Heimat allein in der himmlischen Stadt (13,14) zu suchen und allein im Kult am himmlischen Altar (13,10) Gnade zu empfangen (460f).

Leiden “außerhalb des Tores“ und himmlischer Kultakt Christi (13,12), Zuordnung von irdischem “Außerhalb“ und himmlischer Orientierung: Der Hebr nimmt das Sterben Christi als profanes, schmähliches Leiden in den Blick (2,9; 12,2; 13,13). Das Opfer Christi versteht er als himmlisches Geschehen. Christi Leiden “außerhalb des Tores“ entspricht der Verbrennung der Kadaver der irdischen Opfertiere. Der Eintritt Christi in das himmlische Allerheiligste und die von ihm vollzogene Sühne entspricht dem Hineinbringen des Blutes in das irdische Allerheiligste. Während der Hohepriester in das Allerheiligste eintritt mit dem Blut der Opfertiere (9,7), ist Christus “mit seinem eigenen Blut“ in das himmlische Allerheiligste eingetreten (9,11f) “und hat eine ewige Erlösung erworben“. Die im Tode kulminierende Selbsthingabe der profanen irdischen Existenz wird im himmlischen Kult als Opfer dargebracht (463f).

Der Weg der Sarx Christi wird unser Weg zum himmlischen Heiligtum, wenn wir, gleich ihm, in irdischer Profanität gehorsam sind. Wie er den Ertrag seines irdischen Weges im Himmel als Selbstopfer Gott darbrachte, so wird auch unser in irdischer Profanität vollzogenes Tun zum wohlgefälligen Opfer vor Gott im himmlischen Kult (464f).

Die Situation der Adressaten ist bestimmt durch die Infragestellung ihres Heilsbesitzes durch die Profanität der eigenen irdischen Existenz und durch die Konfrontation mit irdischer Sakralität und deren Angeboten der Heilsvermittlung. Bei der Frage nach dem Hintergrund der sakralen Mähler derer, “die dem Zelt dienen“, handelt es sich um eine gegenwärtige Frage, von deren Beantwortung der Heilsbesitz abhängt und die deshalb zur Warnung Anlass gibt. Es kann nur um jüdischen Kult gehen, da das Zelt und die “ihm Dienenden“ für den irdischen Kult der ersten Diatheke stehen. Die Identifikation des “Lagers“ der Wüstenzeit mit der Stadt verweist auf Jerusalem als Stadt des Tempels und damit als sakrales Zentrum des Judentums, auch in der Diaspora: We can think of the sacrificial meals in the temple. But if the readers are far away in the Dispersion, the reference is probably to synagogue meals, held especially at festival times to give the whorshippers a stronger sense of solidarity with the whorship of the temple of Jerusalem where the whole sacrificial system, with its daily offerings, is performed on behalf of Jews everywhere (465f).

Ertrag: Die Adressaten leben in der Welt als Fremde, bestimmt durch ihre Zugehörigkeit zum Himmel. Sie sollen ausziehen aus der irdischen Stadt, fort von ihrem sakralen Zentrum, denn sie sind kultisch hinzugetreten zum himmlischen Heiligtum und Kult. Ihre irdische Existenz vollziehen sie als Fremdheit bzw. unkultisch-profan. Das ist Komplement ihrer himmlischen Verankerung. Ihre Existenz ist vom Himmlischen bestimmt. Die Heimat der Adressaten ist die himmlische Stadt. Hier sind sie bereits jetzt priesterlich hinzugetreten. Durch den himmlischen Hohenpriester Christus bringen sie bereits jetzt ihren Gehorsam, ihr Lob und ihr Wohltun als Opfer auf dem himmlischen Altar dar (466).



6. Ergebnisse

 

(1) Grundeinsichten
(2) Der rechte Gottesdienst – Möglichkeit und Wirklichkeit
(3) Das himmlische Selbstopfer Christi und die Funktion opferkultischer Kategorien für den Hebr
(4) Der Erhöhte als Hoherpriester
(5) Irdische Existenz und himmlischer Kult
(6) Die Bund-Theologie und der Zusammenhang von Eschatologie, Kulttheologie und anthropologischem Zugang zur Christologie
(7) Der Vollzug des himmlischen Kults'
(8)  Die theologische Leistung des Hebr

 

Die kosmische Erschütterung leitet nach dem Hebr nicht eine Neuschöpfung bzw. paradiesische Umgestaltung der Welt ein, sondern eine Verwandlung, bei der nur das “Unerschütterliche“ bestehen bleibt (12,27). Durch den Wegfall der irdisch-vorfindlichen Welt wird das “unerschütterliche Reich“ (12,28), die himmlische Stadt, die in irdischer Fremdlingschaft erwartet wurde (11,9f.14-16), allein übrigbleiben und von den Adressaten in Empfang genommen werden. Gott hat ihnen eine Stadt im Himmel bereitet (11,16), doch diese kommt weder auf die Erde herab noch legitimiert sie ein irdisches Heiligtum (469f).

Der Verf. spricht vom irdischen Heiligtum, weil und sofern es auf das himmlische verweist (9,2-10). Das irdische Heiligtum und sein Kult sind angesichts des himmlischen Heiligtums und des darin von Christus vollzogenen hohepriesterlichen Dienstes obsolet geworden. Die kultische Gemeinschaft mit den Engeln bzw. mit den Himmlischen hat ihren Ort im himmlischen Jerusalem, zu dem die Adressaten bereits hinzugetreten sind. In der Teilnahme am himmlischen Kult kommen die Zuordnung zum himmlischen Hohenpriester Christus und die Geltung seines Heilswerks zum Ausdruck. Die Kritik am gegenwärtig-irdischen Tempelkult wird zur Kritik an irdischem Kult überhaupt vertieft (470f).

Nach dem Hebr ist es die Pointe des irdischen Heiligtums, über sich hinaus auf das himmlische zu verweisen. Thema des Hebr ist das himmlische Kultgeschehen und dessen Überlegenheit und bleibende Geltung. Die Unzulänglichkeit des irdischen Kults ergibt sich aus seinem irdischen Charakter schlechthin. Die Rede des Hebr vom himmlischen Heiligtum in seinem Gegenüber zum irdischen entspringt der Wahrnehmung einer unüberbietbaren eschatologischen Heilsfülle. Das himmlisch-eschatologische Heilsgeschehen ist um seiner selbst willen von Belang. Die Adressaten dürfen sich als Teil der Kultgemeinde des himmlischen Jerusalems verstehen (471f).

 

(1) Grundeinsichten

 

a. Christi auf Erden gelebtes Leben sowie seine nicht-opferkultische Hingabe bis zum Tod und im Tod sind der Grund seiner Erhöhung. Durch die Erhöhung wird seine auf Erden vollzogene Selbsthingabe zum Inhalt seines himmlischen Opfers. Sein irdischer Weg führte Christus zum himmlischen Hohepriesteramt, das die Bedeutsamkeit seines irdischen Weges fortwährend zur Geltung bringt. So tragen die Aussagen über Christi irdisches Leben, Leiden und Sterben und die über seine Erhöhung und deren Konsequenzen gleichermaßen Gewicht. Aller wahrer Kult, alle wahre Sakralität sind mit der Erhöhung Christi in den Himmel verlegt. Was erst der irdische Weg Jesu Christi ermöglichte – den Zutritt zum himmlischen Heiligtum -, das hatte der irdische Kult erstrebt, ohne es bewirken zu können (473).

b. Wie Christus auf seinem irdischen Weg Gehorsam bewährte, den Willen Gottes erfüllte und deshalb zum himmlischen Hohenpriester erhöht wurde, so ist der auf Erden gelebte Gehorsam für die Adressaten der Zugang zum himmlischen Heiligtum und Kult, der Weg zu himmlischer Herrlichkeit. Daraus folgt: die Paränese fordert von den Adressaten ein gehorsames Leben auf Erden, wie es Christus führte. Dementsprechend tritt an die Stelle des bisherigen irdischen Opferkults kein neuer irdischer Kult, sondern eine gehorsame Existenz in irdischer Fremdlingschaft, fern von irdischer Beheimatung und irdischer Sakralität (473).

c. Wie Christus seine auf Erden im Gehorsam hingegebene Existenz als Opfer im himmlischen Kult darbrachte, so bringen die Adressaten ihren Lobpreis und ihr Wohltun durch seine Vermittlung auf dem himmlischen Altar dar. Auch für die Adressaten gilt, dass der wahre Kult und die wahre Sakralität in den Himmel verlegt sind. Die Existenz der Adressaten in irdischer Fremdlingschaft und irdischer Profanität ist kultisch geprägt, insofern sie im himmlischen Allerheiligsten verankert und zum himmlischen Jerusalem hinzugetreten sind und so am himmlischen Kult teilnehmen (474).

 

(2) Der rechte Gottesdienst – Möglichkeit und Wirklichkeit

 

Durch die Erhöhung Christi wurde das einmalige, eschatologische Opfer im Himmel vollzogen. Damit ist der Gott wohlgefällige Kult eingeweiht. Kraft der Erhöhung Christi sind auch wir (die Adressaten) im himmlischen Heiligtum verankert und kraft des Selbstopfers Christi sind wir gereinigt und zur Kultteilnahme befähigt. Aufgrund der in Christi irdischem Weg und himmlischen Werk verfassten Heilsfülle wird von uns gegenwärtig nichts anderes gefordert als der gelebte Gehorsam, das Festhalten an der Hoffnung, zu dem der himmlische Hohepriester verhilft (der Hoffnung, am Ende aufgrund des Heilswerks Christi ins himmlische Allerheiligste zu gelangen) und das Betätigen des Freimuts, gegenwärtig zum himmlischen Kult hinzuzutreten. Das Hinzutreten zum himmlischen Kult umfasst den Lebens- und Glaubensvollzug: Gebet, Lobpreis und im Gehorsam gelebtes Leben (474).

Das Betätigen des Freimuts bedeutet, sich durch irdische Schwachheit nicht anfechten zu lassen, bei irdisch-sakraler Heilsvermittlung nicht Zuflucht zu suchen, auf die Teilnahme an irdischem Kult, irdisch-sakralen Riten zu verzichten. Die Adressaten sollen sich ganz von ihrer Zugehörigkeit zum himmlischen Kult bestimmen lassen. Nur im himmlischen Kult können die Adressaten schon jetzt Anteil haben an der Heilsvollendung, können sie Vergebung der Sünden und die Hilfe zur Bewährung erlangen, die sie benötigen, um am Ende in das himmlische Allerheiligste einzugehen (475).

 

(3) Das himmlische Selbstopfer Christi und die Funktion opferkultischer Kategorien für den Hebr

 

Der Hebr deutet die Erhöhung Christi aus dem Tod als Eintritt in die kultisch verstandene Gottespräsenz, das himmlische Allerheiligste. Damit ist die Erhöhung zugleich seine hohepriesterliche Investitur und die Darbringung seines himmlischen Selbstopfers. Denn mit seinem Eintritt in das himmlische Allerheiligste überführt Christus die auf Erden erfolgte nicht-opferkultische Hingabe seines Lebens in die himmlische Gottespräsenz und bringt sie so als Opfer dar. Umgekehrt wird der einmalige irdische Weg Christi durch sein einmaliges himmlisches Selbstopfer ewig gültig gesetzt und geltend gemacht. Wahrer Kult, wahre Sakralität ist nun ausschließlich in der himmlischen Sphäre konzentriert. Die irdische Sphäre wird desakralisiert (475f).

Was im eigentlichen Sinn und mit vollem Recht als Opfer bezeichnet zu werden verdient, ist nach dem Hebr nur im eschatologischen, himmlischen Selbstopfer Christi vollzogen worden. Weil er das irdische Geschehen der Selbsthingabe Christi nicht opferkultisch deutet, kann der Hebr nun von seinem vollkommenen himmlischen Opfer sprechen. Nur hier ist der Sinn des Opferkults erfüllt. Der irdische Opferkult konnte nur in Abschattungen das himmlische Kultgeschehen darstellen. Nun aber ist der wahre, himmlische Opferkult an die Stelle des unvollkommenen irdischen getreten. Das besagt, dass das Verhältnis der Adressaten schon jetzt ganz durch ihre Zugehörigkeit zum himmlischen Hohenpriester bestimmt ist, zu dessen “Gnadenthron“ sie hinzutreten und durch dessen Vermittlung sie selbst am himmlischen Kult teilnehmen (476).

 

(4) Der Erhöhte als Hoherpriester

 

Das Bekenntnis zum Erhöhten erweist sich als Bekenntnis zum im Himmel gegenwärtig für uns hohepriesterlich wirkenden Christus. Seine eschatologische Inthronisation erweist sich als heilvoll für uns. Die Neuinterpretation des Kerygmas von Erniedrigung und Erhöhung Christi zielt auf die Wahrnehmung seines gegenwärtigen himmlischen Wirkens, auf das “haben“ als Audruck gegenwärtigen himmlischen Heilsbesitzes (8,1; 13,10). Durch sein einmaliges Opfer hat Christus die Seinen vollendet; es bedarf keiner Ergänzung (10,12.14). Die Hohepriesterchristologie erschließt, inwiefern schon jetzt von Vollendung die Rede sein kann. In dem Ausdruck “Gnadenthron“ (4,16) kommt die kulttheologische Deutung der Erhöhung zum Ausdruck: Als Hoherpriester verstanden, ist der Inthronisierte der, der pro nobis wirkt. Das hohepriesterliche Wirken Christi ist der Modus, in dem er gegenwärtig seine eschatologische Herrschaft für die Seinen heilvoll ausübt. Dies heilvolle Wirken beruht auf seiner Vergangenheit, bestimmt dadurch die Gegenwart und umgreift die Zukunft: “Jesus Christus gestern und heute und derselbe in Ewigkeit“ (13,8) (477f).

Der Hebr greift die Tradition über den irdischen Jesus und seine Erhöhung auf und bringt sie mittels der Kulttheologie in die Darstellung des erhöhten Christus und seines gegenwärtigen Wirkens ein. Christi gegenwärtige, himmlische Identität bleibt bestimmt durch seine Geschichte (“gestern“). Darum kann er uns in Leiden und Versuchungen beistehen. Diesen Beistand empfangen wir im Hinzutreten zum himmlischen Gnadenthron (4,14-16; 5,5-10). Der himmlische Hohepriester bringt sein einmaliges Selbstopfer für die Seinen vor Gott zur Geltung. Er vermittelt ihnen Vergebung und Hilfe in der Anfechtung. Beides ermöglicht ihnen die Teilnahme am himmlischen Kult und einst den eschatologischen Eingang in das himmlische Allerheiligste (478).

 

(5) Irdische Existenz und himmlischer Kult

 

Auf Erden sind die Adressaten Fremde, solange der Eingang in die himmlische Heimat aussteht (11,8-10). Sie leben außerhalb des “Lagers“, der irdischen, kultisch umfriedeten Zone, ohne Anteil an deren Sakralität (13,11-13). Doch leben sie schon jetzt auch in der himmlischen Welt, sofern sie (die dort verankert sind und Heimatrecht besitzen) zum himmlischen Kult “hinzugetreten“ sind, sich zur kultischen Festversammlung (12,22) des himmlischen Jerusalem zählen dürfen. Die Adressaten können und sollen am himmlischen Kult teilnehmen, weil sie einen Hohenpriester im Himmel haben (8,1f), durch dessen Vermittlung sie die Gnade empfangen, die zum Festhalten an der Zugehörigkeit zum himmlischen Heiligtum nötig ist (4,14-16) und durch den sie den Ertrag ihres im Gehorsam gelebten irdischen Lebens auf dem himmlischen Altar darbringen (13,15f) (478f).

Dazu bedarf es des Festhaltens an der Hoffnung, des Vertrauens auf das göttliche Verheißungswort, kurz, des Glaubens. Im irdischen Leben sich von der himmlischen Wirklichkeit bestimmen zu lassen, das heißt im Hebr glauben. Im Glauben und Festhalten ist der Glaubende bereits vom himmlischen Hoffnungsgut bestimmt. Indem die Adressaten festhalten an dem Wort, das selbst “fest“ (2,2) ist, gewinnen auch sie ihrerseits Anteil an jener Festigkeit, die dem Verheißungswort eignet. Das Festhalten an der Verheißung und an dem Heilsgut in seinem objektiven Gegebensein, gibt den Glaubenden schon jetzt an der Qualität des himmlischen Hoffnungsgutes Teil. Das Verhältnis der in der Welt lebenden Adressaten zur himmlischen Sphäre ist zu beschreiben als Ausrichtung auf die Heimat aus der Ferne heraus, als Glaube, als Festhalten, als Festwerden des Herzens, als Empfang der im Himmel herbeigeführten Reinheit (am Herzen) sowie als Hinzugetreten-Sein zum himmlischen Kult und als Teilnahme an ihm. In allen diesen Zusammenhängen geht es um die Zugehörigkeit zur himmlischen Sphäre, um das Bestimmtwerden durch sie (479).

Die endzeitliche Erschütterung des Geschaffenen (12,27) wird bewirken, dass die nicht erschütterlichen Dinge bleiben. Es sind dies die Dinge, die schon jetzt an der Unerschütterlichkeit des himmlischen Reiches Anteil haben (12,28). Es sind die Adressaten selbst und ihr Leben, soweit es von der Ausrichtung am Himmlischen bestimmt ist, die nicht erschüttert werden. Denn sie haben durch die ihnen vom Himmel her verliehene Festigkeit schon Teil an der Qualität des “unerschütterlichen Reiches“. Himmlische Festigkeit und himmlische Reinheit erlangt man nur aufgrund des himmlischen Selbstopfers Christi, durch das Hinzutreten zum himmlischen Gnadenthron. Die Kulttheologie des Hebr hat die Vermittlung von gegenwärtig-irdischem Leben und eschatologisch-himmlischer Heilsvollendung zum Thema (480).

 

(6) Die Bund-Theologie und der Zusammenhang von Eschatologie, Kulttheologie und anthropologischem Zugang zur Christologie

 

Im irdischen Weg von Leiden und Sterben Christi ist der Wille Gottes und damit die Verheißung des neuen Bundes erfüllt; das ist in der Erhöhung und im himmlischen , kultischen Wirken Christi für alle Zeit wirksam in Geltung gesetzt. Es gilt, in der irdischen Sphäre zu leben, bestimmt von der eschatologischen Heilsvollendung, deren Wirklichkeit im himmlischen Kult verfasst ist (480f).

Christus ist als der, der unter irdischen Bedingungen den Willen Gottes gehorsam erfüllt hat, der Mensch schlechthin (2,5-16). Die gehorsame Erfüllung des Gotteswillens (Bedingung und Grund der Erhöhung Christi) wird in Hebr 10,5-10 als die rechte, Gott wohlgefällige Darbringung auf Erden verstanden, die dem irdischen Opferkult als seine endzeitliche Überbietung gegenübersteht. Wer dem himmlischen Kult zugehört, lebt auf Erden in dem Gehorsam, den auch Christus auf Erden bewährte. So wird die menschliche Existenz in Schwachheit und Leiden als Bedingung und Modus des Zugangs zum himmlischen Kult gedeutet. Denn wer in irdischer Schwachheit so lebt, wie es Christus tat, der ist auf dem “Weg seiner (Christi) sarx“; dessen irdische Existenz ist schon bestimmt von der himmlischen Heilssetzung (diatheke). Wer so lebt entflieht nicht der irdisch-vorfindlichen conditio humana, sondern erkennt in ihr die unvermeidliche Gestalt des Fremdseins in der Welt. Unter dieser conditio humana ist die Zugehörigkeit zum himmlischen Kult auf Erden zu vollziehen. Gerade so gewinnt man Anteil an der eschatologischen Herrlichkeit, die dem Menschengeschlecht verheißen und die in der Erhöhung des einen 'Menschen' Jesus Christus erfüllt ist (481).

Auf Erden wird der Neue Bund vollzogen im nicht-opferkultischen, gelebten Gehorsam. Dieser wird im himmlischen Kult als Opfer dargebracht und erhält darin himmlisch-ewige Qualität. So gewinnt das irdische Leben unter dem neuen Bund schon jetzt Anteil an der ewigen Heilsvollendung in der Orientierung auf den himmlischen Kult hin und im Hinzutreten zu ihm. Diese ewige Heilsvollendung ist im Himmel gegenwärtige Wirklichkeit. Am Ende wird sie die alleinige Wirklichkeit sein. Schon jetzt schließt sie diejenigen ein, die sich in der irdischen Sphäre von ihr bestimmen lassen (481).

 

(7) Der Vollzug des himmlischen Kults

 

Der Vollzug des himmlischen Kults umfasst das einmalige, himmlische Selbstopfer Christi wie sein fortwährendes hohepriesterliches Wirken. Letzteres besteht aus seiner Fürbitte für die Seinen sowie aus der Darbringung ihres irdischen Gehorsams und Lobpreises als Opfer im himmlischen Kult, die er vermittelt. Im himmlischen Kult wird der gelebte Gehorsam als das wahre Opfer dargebracht. Die irdische Sphäre wird am Ende aufgehoben. Wenn sie erschüttert werden wird, dann wird vergehen, was in ihr nicht an himmlischer Festigkeit teilhat. Das Tun des Gotteswillens hat ewige Bedeutung, es bleibt. Die Darbringung als Opfer im himmlischen Kult ist gleichsam die Verwandlung des vergänglich, irdischen Daseins in bleibendes, himmlisch-ewiges. Ermöglichung und Paradigma dessen ist die Erhöhung Christi zur Darbringung seiner selbst im Himmel (482).

 

(8) Die theologische Leistung des Hebr

 

Der Verf. hat das überkommene christologische Kerygma neu ausgelegt und zwar so, dass mittels der Kulttheologie deutlich wird, dass und wie die Adressaten an der im Himmel gegenwärtigen Heilsvollendung schon jetzt Anteil haben, obgleich ihr eschatologischer Eingang in diese Heilsvollendung noch bevorsteht. Diese Kulttheologie erlaubt es dem Hebr, Kultkritik zu rezipieren und die Hingabe im gelebten Leben dem irdischen Opferkult entgegen zu stellen, um die auf Erden gelebte Hingabe zum Gegenstand des himmlischen Opferkultes zu erklären. Der Ausschluss vom Kult und vom “Lager“ ist in Wahrheit die Kehrseite der Zugehörigkeit zum himmlischen Heiligtum, himmlischen Kult und himmlischen Jerusalem. Das Leben im Fleisch, in Schwachheit und Versuchlichkeit ist in Wahrheit der Weg, der zur himmlischen Herrlichkeit führt (482f).

 

7. Zum historischen Ort

 

Für den Hebr ist der irdische, aronitische Opferkult und damit der Kult in Jerusalem durch das Christusereignis obsolet geworden. Zur Beurteilung des irdischen Opferkults wird eine Kulttheologie ex negativo entworfen. Der Hebr entwickelt eine Kritik am irdischen Opferkult und an dessen soteriologischer Wirksamkeit. Diese Kritik bezieht sich auf die Ausübung des Opferkults im irdischen Heiligtum und der dazugehörigen Reinigungsriten. Die “gegenwärtige Zeit“ (9,9) ist die Zeit, die durch die mosaisch-irdische Kultordnung und ihren Vollzug im irdischen Heiligtum bestimmt ist. Die Möglichkeit der irdisch-sakralen Heilsvermittlung durch irdische opferkultische Praxis nach Maßgabe des mosaischen Kultgesetzes steht dem Hinzutreten zum himmlischen Kult entgegen (484f).

Dieser kritische Bezug auf den irdischen Opferkult als eine bestehende Größe, die der Heilsaneignung durch Teilnahme am himmlischen Kult entgegensteht, lässt sich an zwei Stellen im Hebr besonders deutlich greifen: In 9,9f werden “gegenwärtige Zeit“ und “Zeit der richtigen Ordnung“ als zwei gleichsam überlappende Zeiten geschildert, in denen die Adressaten existieren: einerseits als auf Erden lebende Menschen, andererseits als im himmlischen Jerusalem hinzugetretene Kultteilnehmer. In 13,7-17 entspricht der Aufforderung zur Teilnahme am himmlischen Kult die Aufforderung zum “Hinausgehen“ aus dem irdischen sakral umfriedeten Bezirk des “Lagers“. In frühjüdischer und rabbinischer Kulttheologie wird der Jerusalemer Tempel bzw. die Stadt Jerusalem als das “Lager“ bezeichnet. Dass konkret an die Teilnahme an irdischen sakralen Mählern gedacht ist, zeigt die Auslegung von 13,9: Der Empfang der Gnade am himmlischen Gnadenthron steht im Gegensatz zu der Überzeugung, durch das Verzehren von Speisen irdisch sakraler Mähler Festigkeit des Herzens zu erlangen. Die Mahnung, das Unanschaulich-Himmlische nicht um einer vorfindlich-irdischen Speise willen zu verlieren (12,16), gewinnt durch die Abwertung irdischer sakraler Speisen (13,9) konkreten kultischen Bezug. Die Fremdheit und Schmach, die die Adressaten zu erleiden haben, ergeben sich durch den Auszug aus der identitätsstiftenden sakralen Sphäre (485f).

Die (vermeintliche) Möglichkeit, im irdischen Opferkult Vergebung zu erlangen, wird in 10,4.18 schroff abgewiesen. Hebr 9,24-28 stellt die Einmaligkeit und bleibende Gültigkeit des Selbstopfers Christi und der dadurch erwirkten Vergebung heraus (10,26). Im Hintergrund dieser Argumentation steht die Attraktivität des irdischen Opferkults (486).

Die Argumentation des Hebr bezieht sich, indem sie vom Zeltheiligtum der Wüstenzeit spricht, auf die Situation der Adressaten, die in der “gegenwärtigen Zeit“ leben, die durch den Bestand der mosaisch-irdischen Kultordnung und deren Objektivierung im irdischen Heiligtum bestimmt ist. Der Rückgriff auf die Gründungszeit des Kults (9,2-5) ist ein verbreiteter Topos der Kritik am zeitgenössischen Jerusalemer Tempel und Kult. Drücken frühjüdische Texte die Hoffnung aus, dass der rechte, Gott wohlgefällige Tempel und Kult in eschatologischer Zukunft wieder hergestellt werden wird, so spricht der Hebr davon, dass jener eschatologische Kult durch das einmalige Selbstopfer Christi bereits eingeweiht ist, dass die Adressaten durch Christi Erhöhung im himmlischen Allerheiligsten verankert sind, so dass ihre Teilnahme am himmlischen Kult gegenwärtige Wirklichkeit ist (487).

Ph. Vielhauer: In dem Schema von Katabasis und Anabasis spielt die Auferstehung keine Rolle (sie wird in 13,20 nur formelhaft erwähnt) und ist durch die Vorstellung der Himmelfahrt vom Kreuz aus ersetzt, die auch Phil 2,9 vorliegt. Die Erhöhung Christi wird als Einsetzung in die Weltherrschaft und als Einsetzung in die Hohepriesterwürde interpretiert. Der Name, der dem Erhöhtem verliehen wird, ist nicht 'Kyrios' (Phil 2,9-11), sondern 'Sohn' (Hebr 1,4ff). 'Sohn' ist im Hebr Königstitulatur des Erhöhten (245f).

 


 


 

8. Die Imitation Jesu im Brief an die Hebräer

 

A. Schulz

Der verherrlichte Herr hat seine Vollendung durch Gott empfangen (2,10; 5,9; 7,28) und vermittelt als der durch den Leidensgehorsam vollendete Hohepriester seinen Brüdern die eschatologische Heiligung (2,10f; 10,14) (293).

5,8f: Der Sohn Gottes hat in seiner Erniedrigung als Mensch den Gehorsam gegen den Willen des Vaters erlernt. Nachdem er von diesem vollendet worden ist, d.h. durch seine Einsetzung in die göttliche Herrlichkeit, ist Jesus zum Urheber des Heils für alle geworden, die ihm gehorsam sind. In diesem Text findet sich kein Imperativ, keine unmittelbare Aufforderung zur Nachahmung des Gehorsams gegenüber Gott, doch wird man die Angleichung im Ausdruck als einen mittelbaren Aufruf an die Leser zu einem dem Beispiel Jesu entsprechenden Bemühen verstehen dürfen. Sie sollen ihren Glaubensgehorsam gegen ihren Herrn Christus am Vorbild des gehorsamen Jesus neu entfachen (293f).

“Lasst uns den vor uns liegenden Wettkampf laufen“ (12,1): Gott hat der Gemeinde die Bewährung ihres Glaubens verordnet. Sie hat den Kampf “in Geduld“ auf sich zu nehmen und durchzustehen. Alle “hemmende Last“, die den vollen Einsatz der sittlichen Kräfte ausschließt, haben die Leser abzulegen. Auch steht der Gemeinde im Glaubensstreit eine “Wolke von Zeugen“ zur Seite. Diesen Gestalten aus der Heilsgeschichte eignet im Rahmen des Bildes vom Wettkampf zugleich die Stellung von Zuschauern in der Arena (294).

Die Christen haben vor allem auf Jesus zu blicken. Aus seinem vorbildlichen Verhalten in einer verwandten Situation sollen die Gläubigen für ihre eigene Entscheidung die rechten Folgerungen ziehen. Der Hohepriester Jesus, der als Mensch die Stadien sittlicher Bewährung an sich erfahren hat (2,14f; 2,18; 4,15f; 5,7f), ist als solcher der für seine Gemeinde vorbildliche Führer und Vollender ihres Glaubens (294f).

Die verschiedenen Stufen des Daseins Christi (12,2): “der wegen der vor ihm liegenden Freude, das Leiden in Schmach und Schande (als Gipfel der Erniedrigung) erduldete“ und anschließend “sich zur Rechten des Thrones Gottes gesetzt hat“. Die Leser, die alles für den Glaubenskampf Hinderliche zu verlassen haben, sollen auf Jesus, den Anfänger und Vollender ihres Glaubens blicken, der sich um seines göttlichen Heilsauftrags willen der ihm eigenen “Freude“, seiner göttlichen Doxa, entkleidet und dafür zunächst das schimpfliche Ende eines Verbrechers auf sich genommen hat. Die Leser sind gehalten, gleich ihrem Hohenpriester im Hinblick auf das ihnen von Gott bestimmte vollendete Heil als Kampfpreis die für den Anhänger Jesu notwendig gegebenen Schwierigkeiten geduldig zu ertragen und nicht mutlos zu werden (295f).

Der Vers 12,3 fordert eine intensive Betrachtung des Beispiels Jesu (“denkt“), durch die die Gemeinde vor einer vorzeitigen Ermüdung bewahrt werden soll. Sie haben von Jesus die Standhaftigkeit zu erlernen. Das gesamte messianische Wirken Jesu wird vom ungläubigen Widerspruch der Sünder, der Feinde Gottes, gegen den göttlichen Boten geprägt (296).

“Daher lasst uns hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen, denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ (13,13f). Die Leser sollen sich bewusst werden, dass die in Christi Erlösungstat gründende neue Heilsordnung für den Menschen des neuen Bundes eine schon gegenwärtige Wirklichkeit ist, deren abschließende Vollendung er im Glauben entgegenharrt. Diese Stadt des Hebr ist nicht nur zukünftig, sondern bereits jetzt ist sie eine himmlische Wirklichkeit und als solche die eigentliche, der gegenüber das Irdische nur Abbild (8,5), Schatten (8,5;10,1) und Gleichnis (9,9) ist (97f).

 

Literatur

 

Becker, Jürgen
 1975, Das Gottesbild Jesu und die älteste Auslegung von Ostern, in: FS für Hans Conzelmann
 1991, Das Evangelium nach Johannes

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 2004³, Im Anfang war Johannes

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 2003, Ein unerschütterliches Reich

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 1975, Die Verkündigung des Heils beim Evangelisten Lukas

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 1965¹⁴, Die Apostelgeschichte

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 1970, Die theologische Bedeutung des Todes Jesu
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 1973, Erwägungen zum Rätsel des Hebräerbriefes, in: FS H. Braun, NT und christliche Existenz

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1976, Ist der Gedanke des Sühnetodes Jesu der einzige Zugang zum Vertändnis unserer Erlösung durch Jesus Christus? In: K. Kertelge (Hg.), Der Tod Jesu, Deutungen im NT

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 1962, Nachfolgen und Nachahmen

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 2011, Bedeutung und Deutung des Todes Jesu im Neuen Testament

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 1978, Geschichte der urchristlichen Literatur

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1993, Die Theologie des LK Ev und der Apg, in: ders. Theologie des NT II