V. Das Gottesvolk des Messias und zum Johannesevangelium

    A. Das Gottesvolk des Messias


 

  1. Israel wird durch die Nationen erweitert

  2. Der L E I B des M E S S I A S: die Ekklesia, die neue Gemeinschaft von Juden und

Heiden, die das Gesetz Gottes erfüllen


 

1. ISRAEL wird durch die NATIONEN erweitert


 

(1) Die Kirche - das in Christus gesammelte und erneuerte Israel der Endzeit
 (2) Die Gemeinde Gottes - eine eigene Größe neben Juden und Griechen
 (3) Das Israel Gottes


 

(1) Die Kirche – das in Christus gesammelte und erneuerte Israel der Endzeit

(a) Der Perspektivenwechsel gegenüber dem Judenchristentum
 (b) Die Kirche als Volk Gottes
 (c) Same Abrahams und neuer Bund
 (d) Israel und die Kirche
 (e) Die Kirche – das in Christus gesammelte und erneuerte Israel der Endzeit

J. Roloff (1993)


 

(a) Der Perspektivenwechsel gegenüber dem Judenchristentum : Für die Jerusalemer Urgemeinde war die ekklesia das endzeitlich gesammelte und erneuerte Volk Israel. Das Hinzukommen von Heiden blieb die Ausnahme, die der besonderen Rechtfertigung bedurfte und bestimmten Bedingungen unterlag (117).

Für Paulus war das Hinzukommen der Heiden zur Heilsgemeinde nicht mehr die besonderer Begründung bedürftige Ausnahme, sondern der Normalfall, denn er wusste sich aufgrund seiner Berufung von Gott selbst dazu gesandt, Jesus Christus “unter den Heidenvölkern zu verkündigen“ (Gal 1,16) und zwar ohne die Tora. Grundlegend war dabei für ihn die theologische Einsicht geworden, dass durch das Christusgeschehen das Gesetz zum Ende gekommen sei (Gal 3,10-14; Röm 10,4) und dass sich in der gegenwärtigen endzeitlichen Situation Christus und das Gesetz als einander ausschließende Größen gegenüberstehen. Nach seiner Überzeugung entfaltet das Evangelium nur da, wo Heiden ohne Bindung an Tora und jüdische Tradition zum Glauben an Christus kommen, seine volle Leuchtkraft. Während die Mission unter den Juden schwere Rückschläge erlitt, gelang Paulus innerhalb weniger Jahre die Gründung heidenchristlicher Gemeinden in nahezu allen bedeutenden Zentren Griechenlands und Kleinasiens (117f).

Das Gottesvolk-Problem: Auf dem Apostelkonvent (48 n.Chr.) bemühte sich Paulus, gemeinsam mit Barnabas, als Delegat der gemischten Gemeinde von Antiochia, um die Anerkennung der gesetzesfreien Heidenchristen als vollgültige Glieder der Heilsgemeinde durch die Jerusalemer Urgemeinde. Er trat den Jerusalemern im Bewusstsein entgegen, das Recht des Evangeliums voll auf seiner Seite zu haben. Dass die Antiochener sich um diese Anerkennung bemühten, lässt darauf schließen, dass für ihr Selbstverständnis als Kirche die Verbindung mit Jerusalem von großer Bedeutung war, bedeutete sie doch den Eintritt in die heilsgeschichtliche Kontinuität mit dem Gottesvolk (118).

Der antiochenische Konflikt (Gal 2,11-21): Petrus hatte mit Rücksicht auf Jakobus und die Jerusalemer Judenchristen die Tischgemeinschaft mit den unreinen Heidenchristen abgebrochen. Dahinter stand die Furcht, dass durch die uneingeschränkte Tischgemeinschaft mit den Heiden die Verbindung mit dem Judentum abgeschnitten werden könnte. Petrus meinte diesen Bruch der heilsgeschichtlichen Kontinuität der Kirche mit Israel nicht verantworten zu können und nicht nur Barnabas, sondern auch die Mehrheit der antiochenischen Judenchristen ist ihm darin gefolgt. Für Paulus stand die “Wahrheit des Evangeliums“ auf dem Spiel (2,14). Er entschied sich dafür, dass das gesetzesfreie Evangelium, das die durch das Gesetz befestigten Unterschiede zwischen Juden und Heiden in Christus aufhebt, im Leben der Kirche die einzig bestimmende Kraft bleiben müsse und er war bereit dafür notfalls auch einen Abbruch äußerer Kontinuität in Kauf zu nehmen (118f).

Bei seiner missionarischen Arbeit geriet Paulus immer wieder in akute Konflikte mit Juden. Da er mit seiner Verkündigung in erster Linie die Gottesfürchtigen, die am Rande des Judentums stehenden Heiden, zu erreichen suchte, ist es kein Wunder, dass er mit den Synagogengemeinden in einen religiösen Konkurrenzkampf geriet und dass diese mit allen Mitteln versuchten, seinen Einfluss auf ihre eigene missionarische Zielgruppe auszuschalten (Apg 17,5; 18,12-17).

 

(b) Die Kirche als Volk Gottes: Dass Paulus einen Zusammenhang zwischen Israel und der Kirche voraussetzt, wird aus der Typologie 1Kor 10,1-13 ersichtlich. Die Gegenüberstellung von Kirche und Wüstenzeitgeneration Israels setzt nicht nur voraus, dass beide mit demselben Gott zu tun haben, sondern dass dieser Gott beiden gegenüber in derselben Weise handelt. Es geht um den Aufweis einer Grundkonstante des Handelns Gottes in Bezug auf die ihm zugehörigen Menschen. Weil die Wüstenzeitgeneration Israels es mit dieser Grundkonstante in gleicher Weise zu tun hatte wie die Kirche jetzt, darum lassen sich aus der damaligen Erfahrung Israels Konsequenzen für die nunmehrige Problemlage in der korinthischen Gemeinde ziehen (119f).

Gegenüber einer heidenchristlichen Gemeinde nennt Paulus die Israeliten der Exoduszeit “unsere Väter“ (10,1). Er setzt damit ein Vater-Kinder-Verhältnis voraus, das nicht auf biologischer Erbfolge, sondern auf der Identität Gottes in seinem Handeln in der Geschichte beruht. Gott sammelt, errettet und geleitet Menschen mit seinen Heilsgaben, so dass sie sein Volk werden. An diesen biblischen Grundgedanken knüpft Paulus an, wenn er vom Israel der Vorzeit als unseren Vätern spricht. Darin, dass sich die Israeliten und die an Jesus Glaubenden demselben Handeln Gottes verdanken, ist ihre Zusammengehörigkeit begründet (120).

Der Gottesvolk-Gedanke (1Kor 10,1-13) markiert die heilsgeschichtliche Verwurzelung der Kirche. Zugleich aber steht die Kirche nach Paulus am Ende der Heilsgeschichte; sie ist die Schar derer, “auf die das Ende der (Welt-)Zeiten gekommen ist“ (10,11c). Das Handeln Gottes, das sie erfährt, ist nicht einfach Wiederholung des Früheren, sondern dessen abschließende Überbietung. Von ihm erschließt sich für die Kirche der Sinn des Früheren. Sie vermag das, was den Vätern damals in der Exoduszeit widerfuhr und was in der Heiligen Schrift aufgezeichnet ist, erst in seiner wahren Bedeutung zu begreifen: “aufgeschrieben wurde es aber zu unserer Warnung“ (10,11b). Beides, die Einsicht, mit Israel durch das geschichtliche Handeln des sich selbst treu bleibenden Gottes verbunden zu sein und die Überzeugung, im Zielpunkt dieses Handelns zu stehen, verbindet sich bei Paulus in dem Anspruch, dass erst der Kirche das volle, abschließende Verstehen der Heiligen Schrift möglich sei, dass sie der eigentliche Adressat der Schrift ist (120).

Paulus hat nicht die geringsten Skrupel, das AT als Besitz der Kirche zu reklamieren. Er behauptet, dass es in ihrem Gebrauch erst sein Eigentliches sage, sowie dass alles in ihr Gesagte für die Kirche gelte – freilich in einer vom Geist erschlossenen Weise (2Kor 3,12-18). Für Paulus geht es bei der Auslegung um die vom Geist gewirkte Erschließung jenes Bereichs, dem sie von Anfang an zugeordnet war (121).

 

(c) Same Abrahams und neuer Bund: Noch deutlicher lässt sich an den Aussagen über die Kirche als “Same (=Nachkommenschaft) Abrahams“ erkennen, wie Paulus den heilsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen der Kirche und Israel bestimmt.

Nach traditionellem jüdischen Verständnis ist Abraham aufgrund der Verheißung Gottes, ihm zahllose Nachkommenschaft zu erwecken(Gen 15,5), der das Land gehören soll (Gen 15,7), zum Stammvater Israels und zum Ausgangspunkt seiner Geschichte geworden. Darüber hinaus gilt Abraham als Vater der Frommen aus allen Völkern, als das Urbild aller sich dem Gott Israel zuwendenden Proselyten. Die ihm geltende Verheißung hat einen universalen Horizont. Paulus bekräftigt das erste ausdrücklich (Röm 4,12), legt den Akzent jedoch auf das zweite, indem er Abraham als “Vater all derer, die in der Unbeschnittenheit glauben“, d.h. der Heidenchristen, herausstellt (Röm 4,11). Was Abraham zum Empfang der Verheißung Gottes qualifiziert, ist weder seine Gesetzestreue, noch seine Beschneidung, sondern sein Glaube (Röm 4,3; Gal 3,6). Abraham “glaubte an den, der den Gottlosen rechtfertigt“ (Röm 4,5). Damit stellte er sich ganz auf Gottes Zusage. Er nahm Gott beim Wort, indem er sich bedingungslos auf seine Treue einließ. Sein Glaube war das einzige der Verheißung Gottes angemessene Verhalten. Nachkommen erhielt Abraham nicht aufgrund physischer Zeugungsfähigkeit, durch die eine normale Volksgenealogie entstanden wäre, sondern allein aufgrund des Glaubens an jenen Gott, der die Toten zum Leben erweckt. Abrahams Kinder sind die, die “aus Glauben leben“ (Gal 3,9). Identitätsmerkmal Israels kann darum nicht die biologische Geschlechterfolge, sondern nur der Glaube sein (121).

Den auf Glauben beruhenden Bundschluss Gottes mit Abraham sieht Paulus als Anfang einer bis in die Gegenwart reichenden Geschichte des Glaubens. Diese wurde verdrängt und überlagert durch die vom Sinai ausgehende Geschichte des Gesetzes (Gal 3,19-22), nach dem Urteil des Paulus einer Unheilsgeschichte. Denn das Gesetz verleitete Israel dazu, seine Identität und die Kontinuität im Vorfindlichen und Machbaren zu suchen, nämlich in der äußeren Gesetzeserfüllung, in der Beschneidung sowie in der Wahrung der heiligen Institutionen Tempel und Sabbat (Röm 2), statt sich wie Abraham als glaubender Sünder ganz auf Gottes lebenschaffende Macht einzulassen (Röm 4,18). Trotzdem sieht Paulus in und unter dieser pervertierten Geschichte des Gesetzes die mit Abraham begonnene Geschichte des Glaubens weiter am Werk: Es hat in Israel immer Menschen gegeben, die “in die Fußstapfen des Glaubens Abrahams“ treten (Röm 4,12). Sie sind das eigentliche, wahre Israel (Röm 9,6). Dass es sich um eine reale Geschichte handelt, erschließt sich nur dem Blick des Glaubens, der hinter den einzelnen Widerfahrnissen und Ereignissen die Identität und Treue des Handelns Gottes an seinem Volk zu sehen vermag (121f).

Paulus rechnet mit diesem verborgenen Weiterwirken der Glaubensgeschichte Abrahams in Israel bis in seine Gegenwart hinein. Christus hat durch sein Kommen in die Welt (Gal 4,4) und vor allem durch seinen Kreuzestod (Gal 3,13; Röm 7,1-6) die verderbenbringende Herrschaft des Gesetzes vernichtet. Er hat damit den Weg des Glaubens Abrahams sichtbar und abschließend als Heilsweg für alle Menschen eröffnet. Nun dürfen die Heiden hinzukommen. An ihnen erfüllt sich jener Universalismus, der den Horizont der Gottesverheißung an Abraham gebildet hatte (Gal 3,8.14). Es geschieht durch Israel hindurch. Christus ist “geboren aus dem Samen Davids nach dem Fleisch“ (Röm 1,3), d.h.: in ihm erfüllen sich die messianischen Hoffnungen Israels. Die Glaubensgeschichte Israels findet in ihm ihr Ziel. Jesus ist und bleibt allererst der Messias Israels. Er bestätigt Israels Geschichte als Gottes Volk, gerade indem er sie korrigiert und auf ihre wahre Mitte zurückführt (122).

Wenn ihr aber Christus zugehört, seid ihr folglich Same Abrahams, Erben gemäß der Verheißung“ (Gal 3,29). Durch Christus, den Samen Abrahams, werden die Heiden “Same Abrahams“. Christus gehört der Geschichte Gottes mit Israel zu. Die Heiden gewinnen durch Christus ihre neue Identität des Seins in Christus. Das bedeutet, dass die Heiden kraft ihrer Zugehörigkeit zu Christus in die Geschichte Gottes mit Israel hineingenommen werden und an ihr Anteil bekommen (123).

Der Bund, den Gott gegenüber Abraham gesetzt hat, bleibt in Kraft (Gal 3,15-18). Christus machte ihn durch sein Kommen nicht zunichte, sondern bekräftigte ihn und setzte ihn umfassend in Geltung. Der “neue Bund“ hat eschatologische Qualität, er ist neu, weil vom endzeitlich wirkenden Geist bestimmt. Er bleibt der Ausrichtung der den Vätern geschenkten Bundschlüsse treu, insofern er gnädige Setzung Gottes ist, die Gott seinem ganzen Volk gewährt.

Den Mosebund am Sinai positiv zu würdigen, ist Paulus unmöglich. In Gal 4,24 kommt er einer völlig abwertenden Darstellung nahe, während er sich in 2Kor 3,6.14 darauf beschränkt, den Abstand zwischen dem alten Bund, dessen Diener Mose war und dem neuen, dessen Diener der Apostel ist, in seiner ganzen Größe herauszustellen (123).

 

(d) Israel und die Kirche: Paulus betont durch den schroffen Antagonismus zwischen Christus und dem Gesetz, dass das Kommen Christi die entscheidende Krise für Israel war (123).

Gal 4,21-31 entstammt dem Kampf gegen die judaisierenden Neigungen der galatischen Gemeinden. Wenn die gesetzestreuen Juden mit Ismael, dem von Abraham auf Gottes Geheiß verstoßenen Sohn, gleichgesetzt werden, so läuft das auf eine Enterbung der unter der Tora verharrenden Juden hinaus. Die legitimen Erben des Abrahambundes und damit die Vertreter des wahren Israel wären demnach nur die Freien, weil ohne Gesetz Glaubenden (125).

Das obere, himmlische Jerusalem (Gal 4,26) ist die Wirklichkeit des im Anbruch befindlichen eschatologischen Heils, auf das die Kirche verweist und das in ihr als pneumatische Wirklichkeit in die gegenwärtige Weltzeit hineinragt. Insofern ist es die “Mutter“ der an Christus Glaubenden. Gal 4,21-31 läuft auf eine Unterscheidung innerhalb der irdisch-natürlichen Nachkommenschaft Abrahams hinaus. Demnach wären nur die an Christus Glaubenden in gültiger Weise Abrahams Nachkommen und die Auseinandersetzung zwischen ihnen und jenen Juden, die unter dem Gesetz verharren, wäre der Kampf zwischen dem legitimen Gottesvolk und denen, die sich den Anspruch, Israel zu sein, illegitim anmaßen. Das “Israel Gottes“ ist die Kirche, die jenseits der Knechtschaft des Gesetzes steht und aus der in Christus gegebenen Freiheit lebt (126).

Die konsequente Enterbungstheorie des Galaterbriefes ist nicht das letzte Wort des Paulus zu diesem Thema. In Röm 9 – 11 greift Paulus erneut auf den Gottesvolk-Gedanken zurück und kommt dabei zu neuen Ergebnissen. Nun durchdenkt er ihn von der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes her (126).

Gottes Gerechtigkeit, die Zusage seiner Gemeinschaftstreue, rettet jeden, der glaubt, “den Juden zuerst, aber auch den Griechen“ (1,16). Diese Gerechtigkeit ist nicht erst mit Christus neu in die Welt gekommen; bereits vorher hatte Israel sie erfahren. Nur dann kann diese Gerechtigkeit als unverbrüchlich gelten, wenn Gott seine Gemeinschaftstreue gegenüber diesem Volk nicht zurücknimmt: “Es ist nicht so, dass Gottes Wort hinfällig geworden wäre“ (9,6a). Jene Setzungen und Gaben, die die Juden von Gott empfangen haben, werden als bleibend bestätigt (9,4). So bringt Paulus die Spannung zwischen seinem rechtfertigungstheologischen Ansatz, der das Heil nur von der im Glauben vollzogenen Christusbindung abhängig machen kann, und seiner heilsgeschichtlichen Perspektive, die von der übergreifenden Kontinuität und Identität des Handelns Gottes ausgeht, auf den Punkt (126f).

9,6b-29Nicht alle, die aus Israel stammen, sind Israel“ (9,6b). Israel ist nicht eine durch Abstammung und natürliche Generationenfolge definierte Größe. Das von Gott erwählte Israel war immer nur ein Teil des empirischen Israel, aber dieser Teil stand in der Sicht Gottes für das Ganze. Als Zeichen seiner Treue hat Gott in Israel einen “Rest“ übriggelassen (9,24-29; 11,1-10). Gemeint sind damit die Judenchristen. Ihre Existenz gilt für Paulus als Erweis, dass Gott seine Verheißungstreue gegenüber Israel bewährt hat (127).

9,30-10,21 Gott ist Israel nichts schuldig geblieben. Er hat ihm in der Verkündigung der Glaubensboten das Angebot des Glaubens, das um Christi willen ergeht, ganz nahe kommen lassen. In Christus, nicht in der Tora, erfüllt sich endzeitlich die Verheißung der unmittelbaren Nähe des Wortes Gottes zum Mund und Herzen des Volkes (10,6-8). Es ist allein Israels Schuld, wenn es den Weg des rettenden Glaubens an Christus verfehlt hat, um stattdessen am Weg des Gesetzes festzuhalten und so zu scheitern. Paulus deutet die Möglichkeit an, dass das Gericht, das Gott gegenwärtig über seinem Volk vollzieht, ein Läuterungsgericht sein könnte (10,19b). Gott wartet “den ganzen Tag mit ausgebreiteten Händen“ auf sein ungehorsames Volk (10,21=Jes 65,2) (127f).

11,1-36 Gott hat sein Volk nicht auf Dauer verstoßen! Gott hat in Israel einen Rest übriggelassen. Der Restgedanke wird Paulus zum Indiz für die bleibende Treue Gottes zu dem Volk, das er sich “vorher ausersehen“ hat (11,2). Seine eigene Erwählung und Berufung zum Apostel ist Zeichen der Hoffnung, dass Gott darum in Israel einen Rest gelassen hat, weil er mit seinem Volk noch nicht am Ende ist (11,1b). Israel ist, indem es den Glauben verweigerte, nur gestolpert, aber es war kein Stolpern “zum Fall“, kein Herausfallen aus seiner Erwählung, sondern nur eine vorübergehende Episode (11,11a) (128).

Das Motiv der Völkerwallfahrt zum Zion wird von Paulus gleichsam auf den Kopf gestellt: “Vielmehr kam durch ihr Versagen das Heil zu den Heiden, um sie selbst eifersüchtig zu machen. Wenn aber schon ihr Versagen zum Reichtum der Welt und ihre Minderung zum Reichtum der Heiden geworden ist, wieviel mehr wird dann ihre Vollzahl bedeuten“ (11,11bf). Durch seine Verweigerung des Glaubens hält Israel den Raum frei für die Sammlung der Heiden.

Paulus erwartet für die nahe Zukunft, dass die Heiden, die aufgrund ihrer Christusgemeinschaft Glieder des Gottesvolkes geworden sind, das erfahrene Heil so zum Leuchten bringen, dass die Juden darin das wiedererkennen, was für sie Inhalt der Verheißung Gottes ist. Das Lebenszeugnis der Kirche soll die Juden zum Glauben an Christus gewinnen (128).

Das Ölbaumgleichnis (11,16b-24) knüpft an die Gleichsetzung Israels mit einem “üppigen Ölbaum von schöner Gestalt“ (Jer 11,16) an. Indem die Heiden zum Glauben kommen, werden sie Teil des “Baumes“ Israel und empfangen ihre Kraft aus dessen von Gott selbst gepflanzter Wurzel, nämlich aus Abraham und den Vätern des Glaubens. Dabei geht es um eine Hineinnahme in jene Geschichte Gottes mit Israel, deren Grund gelegt wurde mit der Verheißung an die Väter und die allein kraft der Treue Gottes eine Zukunft hat. Diese Geschichte ist von Abraham her eine Geschichte des Glaubens (Gal 3,19; Röm 4,16). Gott hat die Möglichkeit, die ausgebrochenen Zweige dem Baum Israel wieder einzupflanzen (11,24), vorausgesetzt diese Zweige haben den Unglauben, der zu ihrer Entfremdung geführt hatte, hinter sich gelassen (128f).

Paulus enthüllt ein Geheimnis, jene Schau der Zukunft Israels, die ihm Gott selbst eröffnet hat (11,25-36). Der Inhalt des Geheimnisses ist Gottes Plan zur endzeitlichen Rettung ganz Israels: Die Zeit der Verstockung Israels ist durch Gottes Ratschluss begrenzt. Sie währt bis die Vollzahl der Heiden eingegangen sein wird: “Und so wird dann ganz Israel errettet werden“ (11,26). Sobald der Einzug der zum Glauben an Christus gekommenen Heiden in das Heil vollendet ist, wird das Gottesvolk insgesamt des Heils teilhaftig werden wie die Heiden, allein aus Gnade, ausschließlich aufgrund der Gerechtigkeit Gottes, seiner sich durchhaltenden Treue zu seinem Volk (129).

Nach 11,26 wird diese Rettung durch das Auftreten des “Retters“, d.h. des Parusie-Christus, vom Gottesberg Zion her erfolgen. In ihm wird Israel dann seinen Herrn erkennen, durch ihn die Vergebung seiner Sünden erfahren und der vollendeten Heilsgemeinde zugeführt werden. Gott selbst wird dabei durch seine Gnade das Wunder bewirken, dass Israel in Jesus seinen Messias wahrnimmt und allein von ihm sein Heil erwartet (129f).

 

(e) Die Kirche – das in Christus gesammelte und erneuerte Israel der Endzeit: Heils-geschichtlich gesehen ist die Kirche nach Paulus das Ziel jenes Handelns Gottes, durch das er Israel, sein Volk, ins Dasein rief und mit dem er ihm auf seinem Weg durch die Zeit unbeirrt seine Treue erwies. Hinsichtlich ihrer aktuellen Entstehung gesehen, ist die Kirche die Gemeinschaft von Menschen, die durch die Heilsgabe Jesu Christi gesammelt und zu einem von der Gegenwart des Geistes bestimmten Miteinander zusammengeführt werden. Die Kirche erweist sich als die Endphase der Geschichte Gottes mit Israel. Diese Endphase setzt nicht das Vorige in linearer Kontinuität fort, sondern ist geprägt durch die Geschichte Jesu von Nazareth und das Handeln Gottes an Jesus. Jesus ist die große Krise Israels. Durch ihn kam es zu der Scheidung der den Heilsweg des Glaubens Akzeptierenden von den ihn Verweigernden und durch ihn erfolgte die Öffnung des Gottesvolkes für das Hinzukommen der Heiden, in der sich Israels Funktion für die Völkerwelt erfüllte (130).

A. Lindemann (1999): Paulus Aussage in Röm 11,29 (“Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“) besagt nicht, dass Gott am empirischen, nicht an Christus glaubenden Israel als seinem Volk festhält, als gäbe es gleichsam zwei Ölbäume, einen eigenen Weg Israels zu Gott, an Christus vorbei (186).

A. Lindemann (2001):

(2) Die Gemeinde Gottes – eine eigene Größe neben Juden und Griechen : Jesus war Jude und auch diejenigen, die ihm nachfolgten, hatten nicht die Absicht, das Judentum zu verlassen.

Der Glaube an die Auferweckung des gekreuzigten Jesus durch Gott bedeutete nicht unmittelbar die Entstehung eines Christentums und dessen Trennung vom übrigen Judentum, da die Glaubenden sich unverändert als Teil des Volkes Israel sahen. Nach Apg 2,46; 3,1 nahmen sie am Tempelgottesdienst teil, sie versammelten sich aber auch zu eigenen Feiern (2,42.46f). Dass der Glaube an die Auferweckung Jesu prinzipielle Auswirkungen auf das Verhältnis zum übrigen Judentum haben konnte, wurde erstmals in der Debatte des Stephanus mit Angehörigen von Jerusalemer Synagogengemeinden sichtbar (Apg 6,8-15). Seine Tempel- und Torakritik führte aber nicht nur zu seinem Märtyrertod (Apg 7), sondern zugleich auch zu einem Bruch innerhalb der Jerusalemer Jesusgruppe: Die (griechisch-sprechende) Gemeinde wurde vertrieben, die toratreuen Jesusgläubigen dagegen brauchten Jerusalem nicht zu verlassen (Apg 8,1) (Kampf gegen die ekklesia 8,1.3) (630).

Der Pharisäer Paulus verfolgte “die Gemeinde Gottes“ (Gal 1,13; 1Kor 15,9); d.h. die torakritische Jesusgruppe war nach wie vor Teil des Judentums, da sonst der Pharisäer Paulus weder ein Interesse an der Verfolgung noch eine Möglichkeit dazu gehabt hätte. Eine Trennung der Gemeinde vom Judentum setzte erst ein, als die Christusverkündigung unter Nichtjuden nicht mit der Verpflichtung auf die Tora, insbesondere das Beschneidungsgebot verbunden war. Der Christ Paulus begreift sich durch seine Berufung als Apostel der Völker (Gal 1,15).

Die von Paulus gegründeten Gemeinden waren nicht Teil des Synagogenverbandes. Die ekklesia war eine eigene Größe neben Juden und Griechen (1Kor 10,32) (631).


 

A. Lindemann (1995):

Der jüdische Jesus als der Christus der Kirche : Historische Beobachtungen am NT

Angehörige der Jesus-Bewegung, Juden wie Jesus selbst, behaupteten bzw. bekannten bald nach Jesu Tod, der am Kreuz Gestorbene sei von Gott auferweckt und erhöht worden. Damit sagen sie, dass Gott die Predigt Jesu gleichsam bestätigt habe. Zugleich sagen sie, dass Gott in diesem Handeln an Jesus sein eigentliches Wesen und seinen Willen geoffenbart habe. Gott wird nun vom Jesus-Geschehen her definiert (34).

Ein Teil der Jesus-Gruppe vertrat eine Lehre und eine Lebenspraxis, die innerhalb des Judentums nicht mehr tolerierbar war. Deshalb wurde der Stephanus-Kreis verfolgt, ihr Führer gesteinigt und der Kreis aus Jerusalem vertrieben. Der Pharisäer Paulus bemühte sich, die ekklesia Gottes zu vernichten (Gal 1,13). Dieses Bemühen setzt voraus, dass die von Paulus verfolgten Jesus-Anhänger bereits eine identifizierbare Gruppe bildeten. Der Eifer des Paulus richtete sich nicht gegen Heiden, sondern gegen an Jesu Auferstehung glaubende griechischsprachige Juden. Diese Juden haben sich wahrscheinlich als ekklesia Gottes verstanden (Gal 1,13; 1Kor 15,9; Apg 8,1) (34f).

Diese Judenchristen verkündigten nicht einen anderen Gott als die anderen Juden, aber sie machten über das Handeln dieses Gottes eine Aussage, die für sie selbst identitätsstiftend war, während die übrigen Juden diese Aussage grundsätzlich verwarfen. Außerdem zogen Angehörige des Stephanus-Kreises aus ihrem Bekenntnis zum Auferweckungshandeln Gottes am Gekreuzigten Folgerungen, die auch den Bereich dessen betrafen, was durch die Tora geregelt wurde: die Unterscheidung zwischen Israel als dem von Gott erwählten Volk und den Völkern, die Gott nicht kennen. Ein Teil des verfolgten Stephanus-Kreises scheint bald auf den Gedanken gekommen zu sein, die Botschaft von Gott und seinem Handeln am gekreuzigten Jesus soll auch bei den Völkern – ohne dass diese ihren Status als von Israel unterschiedene Heiden aufzugeben hätten – Gehör und Glauben finden. Wenn innerhalb der ekklesia Gottes die fundamentale Unterscheidung zwischen Israel und den Völkern, zwischen Juden und Heiden, nicht mehr anerkannt wurde, dann hatte sich diese ekklesia selbst aus Israel ausgeschlossen (35f).

Die Verkündigung der Auferweckung des gekreuzigten Jesus durch Gott wendet sich spätestens seit der Entstehung der antiochenischen Gemeinde nicht mehr nur an Juden, sondern auch an Nichtjuden. Die Aussage in 1Thess 1,9f enthält keinen christologischen Hoheitstitel, d.h. die Christologie ist noch eine Funktion der Theologie, denn die Worte “sein Sohn“ und “der uns rettet“ sind Aussagen über Jesu Beziehung zu Gott (und zu uns), keine Titel im eigentlichen Sinne. Nichts lässt erkennen, dass die von Paulus angeredeten Mitglieder der ekklesia thessalonika in irgendeiner Weise der Synagoge zugeordnet gewesen wären (39f).

Möglicherweise wurde die Selbstbezeichnung ekklesia Gottes zunächst nur von dem griechisch-sprechenden Stephanus-Kreis verwendet. Die semitisch-sprechende judenchristliche Gruppe um die Zwölf bzw. später um Jakobus besaß zumindest in Jerusalem noch während eines längeren Zeitraums keine eigene feste Organisationsform und Selbstbezeichnung (40f).

Jesu Sterben “für uns“ bzw. “für Gottlose“, “für Sünder“ (Röm 5,6.8.u.ö.) geschah für alle Menschen, Juden wie Heiden. Dem entspricht es, dass für Paulus auch die Heidenmission nicht ein kirchengeschichtlich sekundäres Ereignis ist, sondern immer schon dem Willen Gottes entsprach (Röm 3,29). In Christus ist die Unterscheidung von Jude und Grieche aufgehoben (Gal 3,28; 1Kor 12,13) (44).

Die Juden und Christen voneinander trennende Christologie beginnt mit dem Satz: “Gott hat Jesus von den Toten auferweckt“, einem Satz, der von Anfang an nicht die Wiederbelebung eines Verstorbenen meint, sondern die Erhöhung zum Herrn. Dieses Bekenntnis trennt Christen und Juden. Jüdischer Glaube kann diesen Satz um der eigenen Identität willen nicht akzeptieren. Christlicher Glaube kann aus demselben Grunde nicht auf ihn verzichten (49).


 


 


 


 

R. Senk 

(3) Das Israel Gottes

(a) Niemand gehört zum Volk Gottes ohne Glauben an Jesus Christus
 (b) Was ist mit Israel und den Weissagungen des Alten Testaments?
 (c) Was ist mit dem 'Tausendjährigen Reich?
 (d) Was ist mit der Wiederherstellung des national-ethnischen Israels?
 Anhang: Die apokalyptische Vorstellung von einem tausendjährigen Reich (Offb 20)

(a) Niemand gehört zum Volk Gottes ohne Glauben an Jesus Christus : Der eine Ölbaum Gottes (Röm 11)

Das NT lehrt, dass nur die Menschen zu Gott gehören, die an Jesus Christus glauben – egal ob Jude oder Heide (Jh 10,1ff;  14,6; Apg 3,22; Röm 3; Eph 2,1ff; Gal 5). Deshalb kann man Menschen nicht zu Gott zugehörig zählen, die Christus ablehnen. Nur der an Christus Glaubende gehört zu den Nachkommen Abrahams und ist Erbe der Verheißung (Gal 3,29). Gott hat nur ein Volk (14).

Die Schrift lehrt keine 'Ersatz-Theorie' (Substitutionstheorie); sie zeigt die Kontinuität des göttlichen Plans auf, sich ein Volk für seinen Namen zu erwählen. Gott hat sich Abraham auserwählt (1Mose 12,1-3), um durch seinen Nachkommen (Christus) alle Nationen zu segnen, also ein Volk aus allen Nationen zu sammeln. Das war Gottes Plan. Dieses neue, auserwählte Volk Gottes aus vielen Nationen ist das wahre Israel – das wahre Gottesvolk des Messias (Jh 10,14-18; Eph 2,11ff; Offb 7) Israel wird nicht durch die Gemeinde ersetzt, sondern Israel wird erweitert durch die Nationen. Das neue Israel besteht aus den erwählten Jesusjüngern, aus Juden und Heiden. In Eph 1,4 wird deutlich gemacht, dass Gottes Pläne mit Israel und der Gemeinde schon vor Grundlegung der Welt festgelegt und nicht erst durch spontane Umstände verändert wurden. Eph 3,1-6 beschreibt die Tatsache, dass die Teilhabe der Heiden an der Gemeinde ein Geheimnis war, das nun durch die Apostel und Propheten offenbart worden ist. Im AT hatte Gott dies zwar schon in seine Verheißungen mit eingeschlossen und erklärt, dass der Neue Bund sich an dem 'neuen Israel' erfüllen wird (Röm 1,1f;  16,25f) aber erst im NT wird dieses neue Heilsvolk des Neuen Bundes in Christus offenbar. Durch den Heiligen Geist wurde den Aposteln offenbart, dass schon das AT von Christus und seiner neuen Heilsgemeinde sprach. Daher sahen sie die atl Verheißungen in Christus und seinem neuen Gottesvolk aus Juden und Heiden als erfüllt an (14f).

Jesus, der Repräsentant des 'erneuerten Gottesvolkes' erwählte sich 12 Apostel (Mt 10,1ff), um damit das neue Gottesvolk zu gründen. Ihre 'Nachkommen' sind die, die durch ihr Wort an Christus glauben (Jh 17,20) (s. auch die Vervollständigung der Zwölfzahl: Apg 1,15ff). Die Berufung der zwölf Jünger (Mk 1,17) soll das erneuerte endzeitliche Zwölfstämmevolk Gottes repräsentieren. Im Kontext von Jer 16 ist die Rede von der endzeitlichen Sammlung Israels (16,14f) und von der endzeitlichen Bekehrung der Nationen (16,19-21). In Mt 23,37par; 12,30par spricht Jesus davon, dass er im Auftrag Jahwes das endzeitliche Israel sammelt. Diese Sammlung ist für Jesus eine Aufgabe, die ihm von Gott aufgetragen ist und der er in seinem Verkündigungs- und Heilungsdienst nachkommt. Auch seine Nachfolger sind daran beteiligt (Mt 28,19f; Jh 17,18;  20,21; Apg 1,8) (15).

In Röm 15,8-12 (vgl Apg 13,46-49) beschreibt Paulus anhand von vier atl Zitaten (LXX: Ps 18,50, Mose 32,43; Ps 117,1; Jes 11,10) die Heidenmission als Erfüllung der Väterverheißungen und als Beginn der endzeitlichen Sammlung der Heiden. Schon in Röm 1,3 greift Paulus auf die Davidsverheißung (Messias) zurück, die auch für die Heiden Wirklichkeit und Heilsgrundlage werden sollte und nun geworden ist (Röm 9-11; vgl. Apg 15,13-21) (Anm 5).

Die Gerichtsaussagen über das ethnische Israel haben endgültigen Charakter: „Der Zorn Gottes ist über sie gekommen“ (1Thess 2,16). Ihnen wird (bis auf den auserwählten Rest) das Heil genommen und den Heiden gegeben (Lk 13,34f; 19,41ff; 10,13ff; Jh 8,37-59;  Röm 9-11; 1Ptr 2,6-8). Wenngleich Gott mit Israel im AT immer wieder Geduld hatte, so nimmt das mit dem Kommen Christi ein Ende (Mt 21,33-46; Apg 7,51-53). Wer Christus ablehnt, hat keine andere Möglichkeit des Heils mehr (Hebr 10,26ff), sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm (Jh 3,36). Alle, die den Messias ablehnen, sollen aus dem Volk Gottes ausgeschlossen werden (Apg 3,21f). Die ungläubigen Juden verlieren ihre Zugehörigkeit zum Volk Gottes und es erwartet sie das Gericht Gottes. Wenn man von einer zukünftigen Bekehrung des nationalen Israel ausgeht, bedeutet dies, dass die ungläubigen Juden heute nicht Gottes Volk sind. Niemand gehört zum Volk Gottes ohne Glauben an Jesus Christus (Apg 3,21f; Jh 3,36) (16f).

Christen sind durch den von Gott geschenkten Glauben „in Christus“. Diese existentielle und rechtliche Verbundenheit mit dem Samen Abrahams, dem Davidsspross, macht den Gläubigen zu einem rechtmäßigen Nachkommen Abrahams und Israels. Diese Verbundenheit lässt ihn auch Anteil am Heilswerk Christi in Tod und Auferstehung haben: Seine Gerechtigkeit wird unsere Gerechtigkeit, sein Leben unser Leben, sein Vater unser Vater. Israel wird neu definiert. Alle Verheißungen des AT werden auf die wahren Nachkommen Abrahams, das „Israel Gottes“ (Gal 6,16) transferiert (17).

Atl Bezeichnungen – ntl Entsprechungen: Geliebte Gottes (2Mose 15,13 / Eph 5,1); Kinder Gottes (2Mose 4 / 1Jh 3,1); Herde Gottes (Hes 34 / Jh 10); Haus Gottes (4Mose 12,7 / 1Tim 3,15); Volk Gottes (2Mose 6,7 / Tit 2,14; Priester Gottes (2Mose 19,6 / 1Ptr 2,5); Weinberg Gottes (Jes 5,3 / Lk 20,16);   Braut Gottes (Jes 54 / 2Kor 11,2); Kinder Abrahams (2Chr 20,7 / Röm 4,11;   Gal 3,1ff); erwähltes Volk (5Mose 7,7 / Kol 3,12); Jerusalem (Gal 4,26; Hebr 12,22); Beschneidung (Röm 2,28f;  4,11;  Phil 3,3; Kol 2,11); Erster ('alter') Bund (neuer Bund); Verheißung des neuen Bundes Jer 31; Hes 36; (Erfüllung in der Gemeinde: 1Kor 11,25; 2Kor 3,6; Hebr 8,6;  9,15;   12,24) (17).

Der Kontext von Röm 9,6ff macht deutlich, dass das 'andere Israel' die christusgläubigen Heiden (und Juden) sind. Denn das Thema ist, dass Israel (bis auf einen Rest) das Heil genommen und den auserwählten Heiden (und Juden 9,24) gegeben wird: (9,25) „Ich will das mein Volk nennen, das nicht mein Volk war, und meine Geliebte, die nicht meine Geliebte war. (26) Und es soll geschehen: Anstatt dass zu ihnen gesagt wurde: Ihr seid nicht mein Volk, sollen sie Kinder des lebendigen Gottes genannt werden“. Paulus identifiziert die neue Heilsgemeinde aus Juden und Heiden mit dem durch Hosea angekündigten neuen Gottesvolk. Auch Gal 6,16 macht deutlich, dass die christusgläubige Gemeinde aus Juden und Heiden das „Israel Gottes“ ist. Die Christusgläubigen sind das wahre Israel, die wahren Nachkommen Abrahams (Gal 3,1ff; Jh 8,37ff;  10,16) (18).

In Eph 2,11ff wird gesagt, dass die Heiden in Israel eingebürgert wurden, das Bürgerrecht Israels bekommen haben, was die Gemeinde mit Israel identifiziert. Gal 3 macht deutlich, dass alle Christen Abrahams Nachkommen und Erben sind. Israel wird (Röm 9-11) – bis auf einen auserwählten Rest – verstockt und herausgenommen. Dafür werden die auserwählten Heiden in den Ölbaum Israel eingepfropft. In Phil 3,3 spricht Paulus von den Christusgläubigen als die „wahre Beschneidung“. Die erwählte Gemeinde aus Juden und Heiden ist das einzige, wahre, erneuerte Israel und Volk Gottes (18f).

Petrus zitiert Jes 28,16: (1Ptr 2,6) „Siehe, ich (Gott) lege in Zion einen auserwählten, kostbaren Eckstein; wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden“. (2,7) „Für euch, die ihr glaubt, ist er kostbar, für die Ungläubigen aber gilt: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden, (8) ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses. Da sie nicht gehorsam sind, stoßen sie sich an dem Wort, wozu sie auch bestimmt sind. (9) Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, eine heilige Nation, ein Volk zum Besitztum, damit ihr die Tugenden dessen verkündigt, der euch aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht berufen hat, (10) die ihr einst nicht mein Volk wart, jetzt aber ein Volk Gottes seid; die ihr nicht Barmherzigkeit empfangen hattet, jetzt aber Barmherzigkeit empfangen habt“ (vgl. Eph 2,11ff). Petrus schreibt vor allem an Heidenchristen. Er nennt sie „Fremdlinge in der Zerstreuung“ (1Ptr 1,1). Auch in 1Ptr 1,14;  2,11 wird deutlich, dass die Christen diese 'Fremdlinge' sind, das neue Israel, das neue Gottesvolk. Ihnen – den Christusgläubigen aus Juden und Heiden – gelten die Privilegien des atl Volkes Gottes. In 1Ptr 2,4ff wird gesagt (Röm 9-11), dass viele Juden verstockt wurden, sich an Christus stießen und ihre Teilhabe am Gottesvolk und damit ihren Anteil am Heil verloren hatten. Demgegenüber wurden viele Heiden zum Heil und zur Teilhabe am Gottesvolk erwählt (19f).

Die Gemeinde war vor Grundlegung der Welt (Eph 1,4ff) schon erwählt und beschlossen. Paulus schreibt über sie: (2,13) „Jetzt in Jesus Christus seid ihr, die ihr einst fern wart, durch das Blut Christi nahe geworden... (19) So seid ihr nicht mehr Fremde und Nichtbürger, sondern ihr seid Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen. (20) Ihr seid aufgebaut auf der Grundlage der Apostel und Propheten, wobei Jesus Christus der Eckstein ist“ (Eph 2,11ff). Paulus lehrt hier, dass in Christus die erwählten Heiden – zusammen mit dem erwählten Rest aus dem nationalen Israel – jetzt zum Volk Gottes, zu Israel, gehören und dadurch Anteil an allen Verheißungen und Bündnissen Israels bekommen. Diese neue Schöpfung in Christus ist das „Israel Gottes“ (Gal 6,15f). Damit wird nicht nur die Gemeinde deutlich als das neue und wahre Israel (wahre Beschneidung: Apg 7,51; Röm 2,28f;   4,11; Phil 3,3; Kol 2,11f) bezeichnet, sondern es wird klar, dass die christusgläubigen Heiden Anteil haben an allen Bündnissen und Verheißungen des AT. Sie bekommen vollen Anteil am Ölbaum Gottes und gehören als wahre Nachkommen Abrahams uneingeschränkt dazu (Gal 3,1ff) (20f).

Gottes Verheißungen an Israel gehen am wahren Israel in Erfüllung. In Christus kommt Gott mit seinen Bündnissen und Verheißungen an sein angekündigtes Ziel (23).

 

(b) Was ist mit Israel und den Weissagungen des Alten Testaments?: Die atl Verheißungen werden im Neuen Bund zur Erfüllung gebracht. Sie erfüllen sich an dem neuen „Israel Gottes“, der Christusgemeinde aus Juden und Heiden. Denn dieses wahre Israel und neue Gottesvolk bekommt Anteil an allen Verheißungen und Bündnissen Israels (28).

Erfüllte atl Verheißungen

•     bereits im AT (Jes 45,1ff; Jer 29,10) Dies gilt auch für die Landverheißungen. Gott hat alles – die ganze Landverheißung – erfüllt (Jos 21,43ff) (29).

•     in Johannes dem Täufer: Jesus identifiziert Johannes als den wiedergekehrten Elia (Mt 3,1-12; 11,1-19par);

•     in Christus: Er ist der Davidssohn (Mt 9,27; 16,13-20); er ist der wahre Tempel – mit seiner Gemeinde (Jh 2,19ff; 1Kor 3,16ff); der Menschensohn (Dan 7,13-28 / Mk 14,26); der Gottesknecht (Jes 43,3-5; 52,13-53,12 / Mk 9,31.10,45;  8,36fpar); der gute Hirte (Hes 34,1ff; 37,15ff / Jh 10,1ff) (29f);

•     im Neuen Bund (Lk 22,20; Jer 31,31ff; Hes 36,26; Hebr 8,6-10,22; 2Kor 3,6): Gerade der Neue Bund macht deutlich, dass im NT die atl Verheißungen auf das „neue Israel“ aus Juden und Heiden übertragen wurden. Da im NT Israel neu definiert wird, haben auch die Heiden in Christus Anteil daran.

•     in der Gemeinde (Apg 2,14ff; 15,16-18): Auf dem Apostelkonvent in Jerusalem bezeichnet Jakobus, die Bekehrung des römischen Offiziers Kornelius und damit die Anfänge der Heidenmission als gnädige Heimsuchung Gottes (Apg 15,14). In der Heidenmission erfüllt Gott seine Absicht, „aus den Nationen ein Volk zu nehmen für seinen Namen“. Waren die Heiden im Alten Bund von Gottes Volk und Heil ausgeschlossen, werden sie hier von Jakobus als dazugehörig beschrieben. Er sieht durch den Heiligen Geist darin die Erfüllung der Prophezeiung der Wiederherstellung und Herrschaft Israels („Hütte Davids“) aus Amos 9,11ff. Da durch die Mission das Heil bereits jetzt zu den Heiden kommt, muss der vorausgesetzte Wiederaufbau der „Hütte Davids“ bereits geschehen sein. Da Christus das neue Israel repräsentiert, ist sein Kreuzeswerk und seine Auferstehung die Wiederherstellung der „Hütte Davids“. Diese Wiederherstellung hat die Teilhabe aller Menschen an diesem Heil ermöglicht (31).

Jesus repräsentiert das neue Volk Gottes, das stellvertretend durch Christus Gottes Gesetz befolgt und gehorsam ist. Er ist der wahre Israelit, der wahre Gottesknecht, an dem sich Gott verherrlicht (Jes 49,3). Er ist der im AT angekündigte Messias, der gute Hirte und Sohn Davids, der über sein Volk herrscht und es führt. Die „Hütte Davids“ kann auch den wiederhergestellten Tempel meinen (Jh 2,19-22; Mk 14,58 u.a.): Christus selber ist dieser Tempel, in Verbindung mit seiner Gemeinde als Wohnort Gottes (1Kor 3,16; 6,19) (Anm.25).

Jakobus erkennt durch den Heiligen Geist (Apg 15,28), dass Amos die Bekehrung der Heiden vorausgesagt hatte, was nun mit der messianischen Heilszeit begonnen hat. Damit wird deutlich, dass die an Jesus Christus Glaubenden aus Juden und Heiden dieses endzeitliche Gottesvolk sind und sich an ihnen die Verheißungen Gottes für Israel erfüllen. Jakobus verteidigt und begründet die Heidenmission mit der Amos-Prophetie, die er auf die Gemeinde aus Juden und Heiden überträgt, und er sieht in der Mission die Sammlung des neuen Volkes Gottes als Erfüllung dieser Verheißung (32f).

In Gottes Plan über die Herrschaft des Messias waren die Heiden von Anfang an mit eingeschlossen (1Mose 12,3; Jes 9,5f; 11,1ff; 49,5-7; Ps 2,7ff; 110,5-7). Die atl Aussagen über die eschatologische Heilszeit Israels und die Regierung des Messias erfüllen sich in der Heidenmission und der daraus gebildeten Gemeinde (Anm 27).

Ein Volk für seinen Namen“, d.h. ein Volk, das ganz ihm gehört (Apg 15,14). Einst war nur Israel Gottes besonderes Volk (Ex 19,5; Dt 7,6; 14,2; 26,18f; 32,8f; Ps 135,4). Das hier gemeinte Gottesvolk schließt die glaubenden Nichtjuden mit ein (vgl. Apg 18,10; Röm 10,19; Tit 2,14; 1Ptr 2,9f; Jh 10,16) (33).

Zukünftige Erfüllung in der himmlischen Vollendung (Jes 11; 65,17ff; Offb 20-22; Hebr 11,16; 12,22): Die Tempelvision Hesekiels (Kp. 40ff): Wenn man mit einer wörtlichen Interpretation zu der Schlussfolgerung kommt, in der Zukunft werde die atl Heilsordnung samt den Sündopfern (vgl. Hes 45,17.22.f) wieder eingeführt, dann greift man damit in die Heilslehre ein. Diese Lehrmeinung entwürdigt das Opfer Jesu (Hebr 10,26ff), durch das ein für allemal die Sünden endgültig gesühnt und vergeben sind (Hebr 6-10) (33f).

Dass Paulus in der Apg Opfer brachte und sich an atl Riten hielt, muss als missionstaktische Taten des Apostels oder als Rücksichtnahme auf Schwache im Glauben gewertet werden. Dies geschah zumeist 'um der Juden willen', damit sie sich nicht anstoßen und meinen, die Apostel würden gegen Mose und das Gesetz reden. So kann Paulus den Timotheus aus missionstaktischen Gründen beschneiden und an anderer Stelle diejenigen verfluchen, die neben Christus noch die Beschneidung einführen wollen (Apg 16,3; Gal 1,8; 5,1-10) (Anm. 29).

Die Vision Hesekiels wird sich im himmlischen Jerusalem erfüllen. Parallelen zwischen Hesekiel und der Offenbarung: Thron, Gegenwart Gottes (Hes 43,7; 48,35 / Offb 21,3; 22,1b.3); Sündlosigkeit, absolute Heiligkeit (Hes 43,7-9 / Offb 21,4f.8.27; 22,3.14f); ewig (Hes 43,7b.9 / Offb 22,5); Maße, einzelne herrliche Beschreibungen (Hes 43,10b.13, 48.16f / Offb 21,15-17); Wasserstrom aus dem Tempel bzw. vom Thron Gottes (Hes 47,1ff / Offb 22,1-5); Baum am Flussufer, der jeden Monat Früchte trägt (Hes 47,12 / Offb 22,2); Tore der Stadt mit den Namen der Söhne Israels (Hes 48,30-35 / Offb 21,12f) (36).

Argumente gegen einen Wiederaufbau des Tempels bei der Wiederkunft Christi:
 a) Christi Sühnopfer hat sämtliche Opfergaben für immer null und nicht gemacht (Hebr 10,18).
 b) Erbe des Reiches ist nicht mehr die jüd. Nation, sondern das neue Israel aus Juden und Heiden, in dem das alte Israel seine wahre Stätte finden soll (Mt 21,43; 1Ptr 2,9f ; Röm 11,26).
 c) In der Offb legt Johannes diese Kapitel seiner Beschreibung der Kirche im Reich Gottes zugrunde (Offb 21,9.22;  22,5) (36).

Die Erfüllung begann mit Christi erstem Kommen in der Gemeinde (vgl. Jh 2,21; 1Kor 3,16f) und wird in Offb 21-22 vollendet, da Jesus sowohl in der Jetztzeit als auch in der Vollendung der neue Tempel ist.

Parallelen zwischen Sacharja und dem NT: Wehklage bei der Wiederkunft Christi (Sach 12,10 / Offb 1,7f); Christi letztendlicher Sieg (Sach 12,1ff; 14,1ff / Offb 19,1ff;  20,7-10); Wasser des Lebens (Sach 14,8 / Offb 22,1ff).

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich die Verheißungen entweder (1) schon erfüllt haben: bereits im AT, in Johannes dem Täufer, in Christus; zu Pfingsten, mit dem Evangelium und in der beginnenden Heidenmission; oder (2) sich gegenwärtig in der Gemeinde erfüllen; oder (3) in der Zukunft erfüllen werden (37f).

 

(c) Was ist mit dem 'Tausendjährigen Reich?: Der biblische Gesamtbefund : Die Schrift kennt keine Theologie über das sog. 'Tausendjährige Reich'. Nur wenige Verse (Offb 20,1-10) nennen eine Jahresspanne von eintausend Jahren, ohne damit atl Verheißungen aufzugreifen (39).

Die Verheißungen Israels sind im NT auf das 'neue Israel' übertragen. Wenn man die Auslegung auf Israel mit dem Hinweis begründet, dass wichtige atl Verheißungen für die Zukunft Israels als Nation noch unerfüllt seien und eben im Millennium erfüllt werden, stellt sich das hermeneutische Problem, dass die atl Eschatologie Priorität bekommt gegenüber dem Verständnis der 'Endzeit', des „Neuen Bundes“ und des neuen Gottesvolkes bei Jesus und den Aposteln (Anm 31).

Weitere Argumente gegen ein irdisches Zwischenreich: Die atl Verheißungen sprechen zumeist von einer ewigen Herrschaft, nicht von einer zeitlich begrenzten (Jh 9,6 / Lk 1,32f). Zudem wird in Offb 20 das Volk oder das Land Israel nicht erwähnt (42).

Jesus und die Apostel erwarteten kein Zwischenreich, sondern mit der Wiederkunft Jesu den neuen Himmel und die neue Erde (Mt 24,29ff; 1Thess 4,13ff; 2Thess 2,1ff). Bei anderen Schriftstellen finden sich ebenfalls keine Hinweise auf ein Zwischenreich mit einer Sonderstellung des nationalen Israels (42):

a) 1Kor 15,23ff erwähnt kein Zwischenreich. Die Herrschaft, von der dort die Rede ist, ist Jesu jetzige Machtstellung zur „Rechten Gottes“ (Mt 28,18b; Apg 2,36;  7,55b; Eph 1,20-22; Phil 2,9-11; Kol 2,15;  3,1; 1Ptr 3,22), die mit der endgültigen Vernichtung des Feindes vollendet wird. Dann wird Jesus alle Herrschaft dem Vater übergeben (42f).

b) In Eph 1,20-22 will Paulus den Ephesern die Größe, Macht und Gnade Gottes in Christus verdeutlichen (1,18ff). Es geht um den Namen und die Person Jesus. Dieser wird immer über allen anderen Mächten und Personen stehen – in jeder Herrschaftsepoche! Die innertrinitarische Unterordnung wird sich nicht verändern (Jh 3,35;  5,19.22;  6,37;  7,16;  17,2.5; Mt 28,18). Immer wird davon gesprochen, dass dem Sohn die Herrschaft vom Vater gegeben wurde, was die Unterordnung des Sohnes unter den Vater verdeutlicht. 1Kor 11,3ff; 15,28 erfüllt sich im gemeinsamen Thron/Tempel/Licht von Offb 21,22f;  22,3. D.h. die Herrschaft des Sohnes wird auch im zukünftigen himmlischen Reich (zusammen mit dem Vater) vorhanden sein, in der schon immer da gewesenen innertrinitarischen Unterordnung. Die Heilige Schrift kennt nur zwei Zeitalter: das gegenwärtige irdische und das ewige himmlische Zeitalter (bzw. Verdammnis) – und nichts dazwischen (43).

c) Der Kontext des Hebräerbriefes macht deutlich, dass die zukünftige Welt die himmlische Welt und kein irdisches Zwischenreich ist. Der Autor des Hebräerbriefes sagt in 12,22f, dass alle Christusgläubigen zum wahren „Zion“ und zu dem „himmlischen Jerusalem“ gekommen sind. Dort erfüllen sich die entsprechenden Prophezeiungen des AT. Aufschlussreich ist dabei, dass Abraham (der diese zukünftigen Dinge mit Freuden sah, Jh 8,56; Hebr 11,13-16) und die anderen Gläubigen des AT ihr Bürgerrecht nicht auf der Erde sahen und auch kein irdisches Reich und Vaterland erwarteten, sondern eben dieses himmlische und die himmlische Stadt: das neue Jerusalem (Hebr 11,13-16; Gal 4,25f; Phil 3,20). Die Vergleiche zwischen dem „irdischen, schattenhaften Heiligtum des AT“ gegenüber dem „himmlischen Heiligtum“ machen dies deutlich und schließen ein irdisches Zwischenreich und einen weiteren Tempel im Millennium aus (vgl. Heb 9,23f) (43f).

d) Petrus erwartet mit der Wiederkunft Jesu die Vernichtung der alten Welt und die Aufrichtung der neuen: die neue Erde und den neuen Himmel (2Ptr 3,10-13). Hier ist keine Rede von einem irdischen Reich, geschweige denn von einer besonderen Herrschaft Israels. Außerdem verdeutlicht dieser Text, dass die Christen bis zur Wiederkunft Jesu auf der Erde bleiben werden und keine 'Vor-Entrückung' zu erwarten haben (44).

e) In Mk 10,30 wird das kommende Zeitalter mit dem „ewigen Leben“ identifiziert und nicht mit einem irdischen Millennium bzw. Zwischenreich.

f) In Lk 21,27f ist von der Erlösung der Jesusjünger die Rede, die im gesamten NT die himmlische Herrlichkeit meint. Die Ereignisse um die Zerstörung Jerusalems herum sollen als Vorzeichen der Wiederkunft Jesu und der ewigen Erlösung dienen und meinen nicht die Erlösung selber. Überall im NT wird deutlich, dass mit und bei der Wiederkunft Jesu die Entrückung der Gemeinde in das himmlische Reich stattfindet bzw. beginnt (45).

Die tausend Jahre in Offb 20 : Das jüd. Volk bzw. die Judenchristen haben in der Offb keine gesonderte Rolle. Im NT wurde die Trennung zwischen Gläubigen aus Israel und den Nationen aufgehoben (Eph 2,14) und 'Israel' neu definiert. Besonders Offb 14,1-5 macht deutlich, dass mit den 144.000 die Gemeinde aus Juden und Heiden gemeint ist, das neue Israel. Bezeichnungen dieser Versiegelten: der Name Gottes steht auf ihren Stirnen (Offb 3,12); sie sind jungfräulich (2Kor 11,2); sie singen ein neues Lied (Offb 5,9;  15,3); sie sind erkauft (Offb 5,9); sie sind eine Erstlingsfrucht (Jak 1,18); sie sind untadelig (Eph 5,27; Kol 1,22; Phil 2,15; Jud 24). Die 144.000 repräsentieren die gesamte Christusgemeinde, das neue Israel (47).

Die Aussageabsicht der Offenbarung mit ihren einzelnen Bildern ist klar: Sie soll der verfolgten Gemeinde Mut und Kraft für die schwere Zeit der „Drangsal“ geben und sie zum erneuten Ausrichten auf Gott und sein Wort ermahnen. Sie macht deutlich, dass Gott alles in seiner Hand hält und für seine Kinder zu einem guten Ende führen und die Feinde Gottes endgültig bestrafen wird (48).

Im NT wird deutlich, dass mit der Wiederkunft Jesu alle eschatologischen Ereignisse eintreten werden: Entrückung und Auferstehung zum ewigen Leben der Erwählten, der Anbruch von Gottes ewigem Reich mit neuem Himmel und neuer Erde und einer neuen Leiblichkeit einerseits, andererseits Gericht und Verdammnis über die Ungläubigen und über Satan samt seinen Dienern (49).

Das NT macht deutlich, dass nach der irdisch-vergänglichen Zeit kein neues irdisches Zeitalter in Form eines Zwischenreiches zu erwarten ist, sondern vielmehr das himmlische und ewige Reich Gottes, das mit der Wiederkunft Jesu beginnt. Diese Botschaft des NT ignoriert man, wenn man ein biblisch unbegründetes Tausendjähriges Reich auf Erden vor der Ewigkeit postuliert (50).

In der Vision vom tausendjährigen Reich selbst (Offb 20,4-6) fehlt jeder Hinweis darauf, dass es sich um das zu Christus bekehrte Israel handelt (Anm. 36).

 

(d) Was ist mit der Wiederherstellung des national-ethnischen Israels?Das Heil ist nicht mehr in Israel, im Land Kanaan, im Tempel oder in irgendeinem irdischen Reich zu finden, sondern in einer Person: in Jesus Christus, der uns in sein himmlisches Reich aufgenommen hat. Die irdischen Landverheißungen für Israel haben sich schon erfüllt. Die übrigen Prophetien über Zion und die Wiederherstellung Israels beziehen sich auf Christus, die Gemeinde und den neuen Himmel und die neue Erde. Das 'Land' erben die seliggepriesenen sanftmütigen Jünger aus Mt 5,5. Die Christusgläubigen sind die wahren Nachkommen Abrahams und damit die Erben aller Verheißungen an ihn (Gal 3,1ff; Röm 4,13: „der Welt Erbe“; vgl. Jh 8,37ff) (51).

Röm 9-11: Paulus will im Römerbrief u.a. die Gerechtigkeit Gottes aufzeigen. Er wendet sich gegen den Vorwurf, dass seine Evangeliumsverkündigung – mit den Schwerpunkten Heidenmission und Freiheit vom Gesetz – Gott als ungerecht und untreu gegenüber seinen Verheißungen für Israel erscheinen lässt. Es geht um Jesus Christus, die Zuverlässigkeit der Verheißungen Gottes, das Heil und die Zugehörigkeit zu denen, die das Heil und die Verheißungen erben: dem wahren, auserwählten Gottesvolk (52).

Es geht um die Bundestreue und Gerechtigkeit Gottes, die allein durch Glauben empfangen wird, im AT angekündigt und vorbereitet wurde und in Christus erschienen und begründet ist. Der Großteil der Juden hat diese Bundestreue und Gerechtigkeit Gottes von sich gewiesen und sich dadurch von den Zusagen Gottes getrennt. Paulus Dankbarkeit für die Liebe Christi lässt ihn an seine ungläubigen Volksgenossen denken. Er bedauert, dass sie nicht dazugehören, obwohl ihnen zuerst das Evangelium gilt (1,16). Die christliche Heilsgewissheit ist verankert in Gottes Berufung und Erwählung (8,28-30.33). Dadurch ist Paulus zum Nachdenken über den Weg Israels gezwungen. Israel war einmal von Gott erwählt, geliebt (5Mose, 7,6ff) und mit Verheißungen beschenkt worden. Mehrheitlich hatte es aber das Evangelium Christi nicht angenommen. Das Fazit in 11,32 lautet: „Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen“ (53).

In Röm 9-11 geht es um die Frage nach dem Volk Gottes und die Treue Gottes zu seinem Wort und Bund (vgl. 9,6; 11,1 und die endgültige Antwort in 11,29: „Denn Gottes Gaben und Berufungen können ihn nicht gereuen“). Paulus hat von Beginn des Briefes an deutlich gemacht, dass das Evangelium in Kontinuität zum AT steht. Wie kann Gott treu zu seinen Verheißungen stehen, wenn sich diese jetzt an der Gemeinde anstatt an Israel erfüllen? Nach Kp 1-8 stehen sich zwei auserwählte Bundesvölker gegenüber. Wurde die neue Heilsuniversalität (Juden und Heiden) auf Kosten der Erwählung und Verheißungen Israels eingeführt? Paulus Antwort: Gott hat schon immer nach Gnadenwahl und Glauben gehandelt und nicht nach dem bloßen Faktum der Blutsverwandschaft. Gottes Verheißungen haben Bestand (55).

Der jüd. Unglaube in der Jetztzeit bedeutet nicht, das Gottes Verheißungen an Israel aufgehoben sind. Denn:

a) Gott hat nie verheißen, alle Nachkommen Abrahams oder alle Menschen zu retten. Die Errettung ist für alle immer eine Gabe Gottes (9,6b-29). (Gott schenkt Heil nach seiner Erwählung nicht nach Werken oder Abstammung) (56).

b) Gott sammelt sein Volk – wie vorher verheißen – nun aus Juden und Heiden (9,30-10,21).

c) Gottes Verheißungen an das ethnische Israel fallen nicht unter den Tisch, da Gott einen Rest Israels zum Glauben führt (11,1-10).

d) Durch dieses Sammeln von Juden und Heiden in ein Volk erfüllt Gott seine Verheißungen und kommt so zu einem „ganzen Israel“ (11,26): „Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jes 59,20; Jer 31,33): Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeiten von Jakob“.

Röm 11,12-32 ist keine Verheißung, dass sich das ethnische Israel am Ende der Zeiten zum Herrn bekehren wird. Paulus stellt sich der Frage, ob überhaupt Juden gerettet werden. Er erklärt, dass Gott sein Volk nicht völlig verstoßen hat und nennt sich selber als Beispiel (11,1f) und betont, dass Gott sich einen Überrest auserwählt hat, der nun zum Glauben kommt. Die gegenwärtige Verstockung der Juden gibt den Heiden die Möglichkeit, die Versöhnung zu empfangen, was die Juden zur Eifersucht und damit zum Glauben anreizen soll (10,14). Dieser Prozess findet „jetzt“ statt (11,31) (56).

Die Rettung der Vollzahl (11,12) meint die Errettung der auserwählten Juden in der Gegenwart und keine kollektive Bekehrung in der Zukunft. Auch die Vollzahl der Heiden (11,25) meint die Auserwählten aus den Nationen (Anm. 41).

Das Geheimnis, dass Gott Israel nicht sofort richtet, ermöglicht, dass in dieser Zeit sowohl Heiden als auch der erwählte Rest aus dem nationalen Israel zum Glauben kommen. Erst wenn die Vollzahl der Heiden in Israel eingegangen sein wird, wird das Gericht an den Gefäßen des Zorn vollstreckt. Von einer national-kollektiven Bekehrung Israels ist nicht die Rede (Anm 42).

In 9,6-8 (vgl. 2,25-29) wird Israel neu definiert und in 9,1-8 werden die Verheißungen auf das neue Israel übertragen – die Gemeinde (Jer 31; /Röm 6-8). Dieses erneuerte Israel ist in 11,26 gemeint – aus Juden und Heiden (vgl. Gal 6,16; Phil 3,2-11; Eph 2,11ff). Israel wird durch die Heidenchristen erweitert. Die atl Zitate in 11,26ff beziehen sich nicht auf die Wiederkunft Jesu, sondern auf die jetzige Heidenmission. Das verdeutlicht der Verweis auf Jer 31, wo vom Neuen Bund und dem Hinzukommen der Heiden die Rede ist. In Christus ist dies alles Wirklichkeit geworden:

a) (9,26): so, auf diese Art und Weise (57)

b) Israel wird neu definiert (9,6-8)

c) ein Thema von 9-11 ist die Erwählung durch das Mittel des Glaubens der durch die Predigt gewirkt wird. Dabei ruft Gott Menschen aus Juden und Heiden (9,24-10,13).

d) In Kp.11 wird dieses Thema auf das Verhältnis zwischen dem Unglauben der Juden und der Bekehrung der Völker zugespitzt. Die Bekehrung der Völker zielt auf die Bekehrung und Aufrichtung Israels. Die Heiden werden in Israel eingepfropft (11,14-24). Die Aufforderung zur demütigen Einstellung der Heidenchristen gegenüber den Juden wird damit begründet, dass ihre Bekehrung im Zusammenhang mit der Vollendung von Israel steht.

e) Den Vers 11,23 hätte Paulus nicht konditional formuliert, wenn er mit einer zukünftigen Wiederherstellung des politischen Israels gerechnet hätte. „Aber auch jene, wenn sie nicht im Unglauben bleiben, werden eingepfropft werden...“.

f) Das Eingehen der Fülle der Heiden meint im Kontext den Ölbaum (11,17-19.24). D.h. die Heiden gehen neben den auserwählten Juden („Überrest“) in den Ölbaum ein, d.h. ins Gottesvolk mit allen Heilsverheißungen. Auf diese Art und Weise wird ganz Israel gerettet werden. Israel ist das erneuerte Israel aus Juden und Heiden, die zusammen die wahren Nachkommen Abrahams sind (Gal 3,1ff; 6,16; Phil 3,2ff; Eph 2,11ff). Die auserwählten Juden bleiben Israel (Rest) und die auserwählten Heiden werden es (58).

g) Die Zitate aus dem AT beziehen sich auf Christi erstes Kommen und wollen sagen, dass das Heil aus den Juden kommt (vgl. 9,5 und die Rückbezüge auf den Neuen Bund in Jes 59,20 und Jer 31,33f, der nicht erst mit der Parusie beginnt). Deshalb dürfen die Heiden sich nicht überheben. Die Juden sind einerseits Feinde (Verwerfung und Verfolgung), andererseits als Rest Geliebte (vgl. 9,31 / 11,7 und 9,27; 11,1f.5-7, wo Paulus sich selber als Beispiel nennt). Einen Augenblick werden die Juden ohne den erwählten Rest als Volk der Verfolger betrachtet. Andererseits wird der erwählte Rest als das Volk angesehen, das um der Väter Willen geliebt ist. In 11,29 denkt Paulus an den auserwählten Rest (Jes 10,21; Jer 23,3), den Teil der ethnischen Israeliten, der glaubt und errettet wird. Das AT ist die Grundlage, von der aus Paulus argumentiert (58f).

Paulus will in Röm 9-11 zeigen, dass Gottes Verheißungen – wenn sie richtig verstanden werden – weiterhin gültig sind. Er erfüllt seine Verheißungen an seinem Volk Israel, doch wird dieses Volk nun an Jesus Christus gebunden und von ihm her definiert. Die vielen Prophezeiungen zeigen, dass Gottes zuverlässiges Wort dies bereits gesagt hatte. Diese zusätzlich von Paulus aufgeführte Israel-Theologie in Röm 9-11 soll den Zusammenhang dieses Themas zum Evangelium nachweisen. Die Aussagen in 11,12-32 zeigen, dass die Heiden in der römischen Gemeinde ihre unentbehrlichen atl-jüd. Wurzeln geringschätzten und auf sie herabschauten. Auch die Heiden sind allein auf Gottes Gnade angewiesen und gehörten ursprünglich nicht zur „Wurzel“. Die Kp. 9-11 sind auch Grundlage für den praktischen Teil (12,1-15,13), um das Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen zu ordnen (59f).

Paulus spricht in Röm 9,14ff sowohl die kollektive als auch die individuelle Prädestination aus. Gott ist nicht ungerecht (9,14-18), weil er tun und machen kann, was er will – er ist souverän und niemandem Rechenschaft schuldig und daher ist sein Handeln immer gerecht im Sinne Gottes. Er bestimmt was recht ist und was nicht. In 9,19-24 macht Paulus deutlich, dass eine Anklage gegen die Souveränität Gottes Sünde ist, weil der Mensch als Ton kein Recht hat, den Töpfer zu hinterfragen. In 11,26 spricht Paulus von einem ganzen Israel, das durch die souveräne Auswahl Gottes aus Juden und Heiden zustande kommt. Dazu verwendete er in den vorhergehenden Versen das Bild vom Ölbaum: Einige Juden wurden herausgenommen, etliche Heiden werden eingepfropft, bis ihre „Vollzahl“ (11,25) erreicht ist. In Röm 9 zeigt Paulus, dass Gott schon immer nach Auswahl gehandelt hat und dies auch jetzt noch tut. Er verstockt und erlöst, wen er will. Er kommt zu einem ganzen Israel, einer Vollzahl von Kindern Gottes (9,8; 8,16.21), einem vollständigen Volk Gottes. Indem er einige Juden verstockt, die nicht zum erwählten Rest gehören und dafür die erwählten Heiden Anteil am Heil des Messias bekommen, kommt Gott zu seinem Ziel. Dies war schon immer Gottes Plan. Gerade die drei ersten Kp. des Röm, die die Verlorenheit aller Menschen verdeutlichen, zeigen, dass Gottes Wahl, einige zu erretten, ein Akt der Barmherzigkeit ist (61).

(9,22): „Da Gott seinen Zorn erzeigen und seine Macht kundtun wollte, hat er mit großer Geduld ertragen die Gefäße des Zorns, die zum Verderben bestimmt waren, (23) damit er den Reichtum seiner Herrlichkeit kundtue an den Gefäßen der Barmherzigkeit, die er zuvor bereitet hatte zur Herrlichkeit, (24) (nämlich an) uns, die er auch berufen hat, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Nationen“.

Das Ertragen und Dulden der Gefäße des Zorns meint hier, dass Gott diese nicht sofort richtet (vgl. Röm 3,25f; 2,4). Nirgendwo im Text wird die Möglichkeit genannt, dass die Gefäße des Zorns das Heil noch erlangen könnten (62).

Paulus nimmt zwei Beispiele aus dem AT, um Gottes jetziges Vorgehen zu veranschaulichen (Pharao und Esau). Pharao und die Gefäße des Zorns sind geschaffen, damit Gott daran seine Macht erzeige. Paulus nimmt Pharao und Esau als atl Beispiele, um Gottes erwählende Souveränität auch für die Jetztzeit zu begründen. Der Text schließt ausdrücklich aus, dass die Gefäße des Zorns später Gefäße des Erbarmens werden könnten, da er die Gefäße des Zorns als „zum Verderben bestimmt“ beschreibt (63f).

Auch beim Bild des Töpfers und des Tons geht es um ein (vorheriges) Schaffen des jeweiligen Gefäßes – ganz wie Gott es will (vgl. Buch Sir 33,10-16) (64).

Der Begriff Herrlichkeit wird von Paulus für die ewig-himmlische Teilhabe am Heil gebraucht (Röm 2,10; 8,18; 1Thess 2,12; 2Tim 2,10; Kol 3,4) (65).

Gott ist der Töpfer (9,21), er tut, was er will! Er kann tun, was er will und schuldet niemandem Rechenschaft. Die rhetorischen Fragen in Röm 9,19f beschreiben Gottes tatsächliches Handeln (Esau, Pharao, Juden und Heiden – alle Menschen) – Gott hat bestimmt und geschaffen, verhärtet und erbarmt sich (und tut es bis heute). Paulus macht (wie in Eph 1,4 und 2Thess 2,13) in Röm 9,10-18 am Beispiel des Pharao (und Esau) deutlich, dass bereits vor der Geburt Gott darüber entschieden hat, ob er sich erbarmt oder ob er verstockt (65).

Die Menschen sind der „Ton“. Die „Gefäße zur Ehre“ sind mit den „Gefäßen der Herrlichkeit“ identisch. Sie sind die Gläubigen, die das Reich Gottes und das ewige Leben erben werden. Die „Gefäße zur Unehre“ sind mit den „Gefäßen des Zorns“ identisch. In 9,24 werden die „Gefäße der Herrlichkeit“ als Christen aus Juden und Heiden beschrieben. Dies macht deutlich, dass mit den „Gefäßen des Zorns“ die übrigen Menschen gemeint sind (65).

In 2Kor 3,15f spricht Paulus von den Juden, auf deren Herzen eine Decke liegt und die daher Christus nicht erkennen, auch nicht aus den Schriften des ATs (vgl. 2Mose 34,34). Da in 9,15 der Plural verwendet wird (ihren Herzen), ist der Wechsel zum Singular in 9,16 auffällig. Dies führt zu dem Schluss, dass die Decke nicht kollektiv von den Juden weggenommen wird, sondern wenn Gott die Decke bei einem einzelnen Juden wegnimmt, dann wendet sich dieser zum Herrn: „Sobald sich aber einer dem Herrn zuwendet, wird die Hülle entfernt“ (Einheitsübersetzung) (67f).

Mt 23,39: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn“! Hier handelt es sich um ein Gerichtswort an die ungläubigen Juden: Sie werden Jesus erst bei seiner Parusie unfreiwillig als von Gott kommend begrüßen. Angesichts der offenbar gewordenen Herrschaft Jesu erweisen sie ihm eine notgedrungene Huldigung, die ihnen für ihr Heil aber nichts mehr nützt. Man beachte dazu auch den Kontext von Lk 13,22-35, wo es ein Zuspät für die Juden geben wird (68).

Die Endzeitrede in Mt 24  -  25: In Mt 24,15 und 13,14 spricht Jesus zu Judenchristen – zu den Teilhabern des Neuen Bundes und den Mitgliedern des neuen Gottesvolkes. Unhaltbar ist die Sicht, dass Mt 24,15ff sich auf ein endzeitliches Jerusalem beziehe. Auch Lk 21,22 zeigt, dass sich hier die Prophetie aus Dan 9 erfüllt. Im Licht des NT wird ersichtlich, dass Dan 9,26f christologisch zu interpretieren ist. Jesus ist der in 9,26 genannte Gesalbte, der geopfert wird. Dann wird von der Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. berichtet. Dies signalisiert den endgültigen Bruch zum Alten Bund. Daher ist in Dan 9,27 von der Errichtung des Neuen Bundes durch den Messias die Rede, der den Alten Bund und dessen Opfer aufheben wird (Hebr 8  -  10) (70).

Apg 1,6: Wenn Jesus hier auf die Frage des „Reichs für Israel“ eingeht, dann verweist er auf die Neudefinierung des Reichs Israel! Die Wiederherstellung der Königsherrschaft Gottes wird in der weltweiten Mission und Sammlung der Erwählten Wirklichkeit, wenngleich die Vollendung des in Christus begonnenen Reichs Gottes noch aussteht. Jesus hat verdeutlicht, dass das Reich Gottes anders ist, als die Juden und zunächst auch seine jüd. Jünger erwartet haben. Erst mit Pfingsten haben die Jünger erkannt, dass das Reich Gottes „nicht von dieser Welt“ ist (Jh 18,36), sondern ein geistliches Reich aus Juden und Heiden – ein neues Israel (Gal 6,16; Röm 11,26; 1Kor 10,18; Eph 2,11f). D.h. das „Reich (Gottes)“ hat mit Jesus begonnen und wird bei seiner Wiederkunft vollendet. Jesus sagt, dass die nächste Phase im Reich Gottes das Abendmahl mit seinen glaubenden Jüngern sein wird (Mk 14,25par) – d.h. mit den glaubenden Christen (71f)!

Nirgendwo im NT wird dem ethnischen Israel eine besondere Bedeutung verheißen. Im Gegenteil: Israel wird das Reicht Gottes weggenommen und einer Nation gegeben, die ihre Früchte bringt (Mt 21,35  -  22,1-22par; Lk 13,29par). Die Heiden werden mit Abraham zu Tisch liegen etc. An vielen Stellen wird deutlich, dass das Reich Gottes für die Gemeinde bestimmt ist als dem neuen Israel (Jh 3,3; Apg 14,22; 19,8; 28,23.31; Röm 14,17; 1Kor 4,20; 6,9; 15,50; Gal 5,21; Eph 5,5; 2Thess 1,5). Das NT sagt, dass Israel das Reicht Gottes genommen wird, aber es sagt nicht, dass es stattdessen ein anderes Reich bekommen werde. Das Reich Gottes war für Israel bestimmt, aber es hat es nicht bekommen, sondern es wurde ihm weggenommen (Mt 21,35ff) (72).

Apg 3,21: Die „Wiederherstellung aller Dinge“ zielt inhaltlich weder auf ein Millennium noch auf eine nationale Wiederherstellung Israels ab. 2Ptr 3,11ff meint die erneuerte, himmlische Welt Gottes (Jes 65,17ff;   66,22; 2Ptr 3,10-13). Das NT sagt klar, was mit der Wiederkunft Jesu geschehen wird: Entrückung, Gericht, Vernichtung von Himmel und Erde und die Wirklichkeit des neuen Himmels und der neuen Erde (Jes 65,17ff;  66,22; Mt 25,31ff; 2Thess 1,4 – 2,1ff; 2Ptr 3,10-13) (73).


 

Anhang: Die apokalyptische Vorstellung von einem tausendjährigen Reich (Offb 20)

(a)“Ein im NT singulärer Gedanke”: Ph. Vielhauer: Im Zusammenhang mit der Parusie finden wir zwei im NT singuläre Gedanken: Einmal die Vorstellung vom tausendjährigen Reich, einem messianischen Friedensreich auf dieser Erde zwischen Parusie und Weltuntergang. Diese Vorstellung eines messianischen Zwischenreiches stammt aus der jüdischen Apokalyptik (4 Esra 7,28ff; syr Bar 29,3ff) und ist eine Kombination der nationalen und transzendenten Eschatologie. Mit dem Gedanken des tausendjährigen Reiches ist die zweite singuläre Vorstellung der Apk eng verbunden: der Gedanke einer zweifachen Auferstehung, einer vor und einer nach dem messianischen Zwischenreich (20,4-6.12-15); das ist eine Kombination zweier jüdischer Anschauungen, einer älteren von der Auferstehung nur der Gerechten und einer jüngeren von der allgemeinen Totenauferstehung (506).

(b) “Ein Fremdkörper in der ntl Verkündigung”: A. Vögtle: Von der Erwartung eines tausendjährigen Zwischenreiches Christi und der auferweckten Märtyrer auf dieser Erde weiß das gesamte übrige Neue Testament schlechthin nichts. Dasselbe kennt nur ein noch zu erwartendes Offenbarwerden des erhöhten Christus zum Gericht und zur Heilsvollendung. Eine dem Endgericht vorausgehende lange irdische Herrschaft Christi, innerhalb der Geschichte, ist ein Fremdkörper, der in einem unausgleichbaren Widerspruch zur übrigen ntl Verkündigung steht. Johannes lässt hier jüdische Überlieferung einfließen, die theologischer ‘Sachkritik’ unterzogen werden muss, diese Erwartung kann nicht als (verpflichtende) ntl Glaubensaussage gelten (153).

(c) “Verworfen als Irrlehre”: M. Luther: Auch werden verworfen etliche jüdische Lehren, die sagen, dass vor der Auferstehung der Toten eitel Heilige, Fromme ein weltlich Reich haben und alle Gottlosen vertilgt werden.

Hier werden verworfen diejenigen, die die jüdische Meinung lehren, die Verheißung von der Eroberung des gelobten Landes müsse leiblich verstanden und, dass vor dem jüngsten Gericht die Gottlosen allenthalben von den Heiligen unterdrückt werden und sie das zeitlich Regiment unter sich bringen.


 







 

J.J. Meuzelaar

2. Der L E I B des M E S S I A S: die Ekklesia, die neue Gemeinschaft von Juden und Heiden, die das Gesetz Gottes erfüllt.

(1) Einleitung
 (2) Juden und Griechen
 (3) Der Leibgedanke und der jüdische Proselytismus
 (4) Das Haupt und die Glieder
 (5) Zusammenfassung

(1) Einleitung : Das Bild vom Leib und seinen Gliedern: Der Leib wird durch Christus konstituiert und die Unterschiede der Glieder, weil und sofern sie zu Christus gehören, kommen nicht in Betracht. Nicht die Gemeinschaft der Gläubigen untereinander ist primär, sondern die Gemeinschaft der Gläubigen mit Christus. Im hellenistischen Bild ist die Einheit des Leibes durch die Natur gegeben in der natürlich-menschlichen Sympathie, während Paulus die ‚übernatürlichen‘ Kräfte und Gaben betont, auf denen die Ekklesia und ihre Einheit beruht. Das hellenistische Bild gewinnt in der pln Sprache eine reale Bedeutung, dadurch, dass er die Kirche in ihrem Wesensgefüge als die sichtbar in Erscheinung tretende, pneumatische Lebenseinheit der Christen in und mit Christus besagt. Es handelt sich um diese Realität, die metaphorisch zum Ausdruck gebracht wird (4f).

Gnostischer Einfluss?: Paulus geht es nicht um eine Befreiung von der Materie, sondern um eine Befreiung von der Sünde. Auch schließt bei ihm die Gemeinschaft der Gläubigen mit Christus und seinem Leib eine persönliche Entscheidung in sich ein, wie die Gnosis sie nicht kennt (9).

Man kann annehmen, dass Paulus das geschichtliche Heilsereignis des christlichen Glaubens mit der Begrifflichkeit der gnostischen Sprache der damaligen Zeit dargelegt hat, vielleicht, weil er im Eph und besonders im Kol gerade gegen eine gnostische Häresie zu kämpfen hatte. Von einer rein gnostischen Interpretation kann ebenso wenig die Rede sein, wenn der hellenistische Organismusgedanke bei Paulus einen so breiten Raum eingenommen hat, dass schon dadurch eine nur gnostische Ausprägung seiner Gedanken unmöglich war (10) .

 

(2) Juden und Griechen

(a) Der 1Korintherbrief
 (b) Der Römerbrief
 (c) Das Mysterium
 (d) Der Kolosserbrief
 (e) Der Epheserbrief
 (f) Exkurs zu Röm 7,4


 

(a) Der 1Korintherbrief: Die Tischgemeinschaft mit den Heiden war den Juden unmöglich, wenn sie die Vorschriften des Proselytengesetzes Lev 17,7-15 einhalten wollten, das den Genuss des Geopferten nicht nur, wie sonstige Speisegesetze, den Juden verbot, sondern auch den Fremdlingen. Aus dem Mischnatraktat Aboda Zara (4,8-5,10) ist bekannt, dass es ebenso verboten war, Wein von Heiden anzunehmen und zu kosten, weil man nicht wusste, ob davon Libation für die Götter gemacht worden war. Wurden die ‚gottesfürchtigen‘ Heiden schon deshalb zur Befolgung der sog. ‚noachidischen Gesetze‘ verpflichtet, damit sie in beschränkter Weise als Juden behandelt werden konnten, so war bei deren Teilnahme am Passahmahl für die Tischgemeinschaft die Beschneidung unbedingt notwendig (20f).

Dass gerade die Frage der Tischgemeinschaft zwischen Juden und Heiden in der Urgemeinde eine wichtige Rolle spielte, offenbart sich in dem Streit, der dem Apostelkonvent (Apg 15) vorausging und der entschieden wurde in dem Sinn, dass auch in der messianischen Urgemeinde den Heidenchristen einige ‚noachidische Gesetze‘ auferlegt wurden, allerdings ohne dazu die Beschneidung von ihnen zu verlangen. Die gleiche Frage wird ebenso deutlich in dem Vorgehen des Petrus bei seinem Besuch in Antiochia (Apg 11,3;  Gal 2,12).

Man wird diese Problematik besonders beim Herrenmahl empfunden haben und das um so mehr, weil in den urchristlichen Gemeinden das Herrenmahl, wie das jüdische Passahmahl, eine richtige Mahlzeit war, die man begann und beendete mit dem Brot und dem „Kelch des neuen Bundes“ (11,25) (21).

Es handelt sich um Juden und Griechen in der einen Ekklesia und um die Gemeinschaft mit der Muttergemeinde in Jerusalem. Der Berufung auf die Freiheit und die Erkenntnis seiner Leser hat Paulus zugestimmt. Er hat aber zugleich darauf verwiesen, dass er selber seine Freiheit angewandt hat, um allen zu dienen und alle zu gewinnen (9,19-23). Er wollte auch der Gemeinde dieselbe Bereitschaft zumuten. Die Einheit zwischen Juden und Griechen musste unbedingt beibehalten werden (26f).

Der Apostel führt aus, dass die wahren Geistesgaben und die Geistesmenschen bei aller Verschiedenheit ihrer Gaben immer der Einheit der Ekklesia dienen, weil das jüdische Bekenntnis zur Einheit Gottes, „der alles in allen wirkt“ (12,6), die Einheit des Geistes und die Einheit in demselben Herrn in sich einschließt (12,4ff). Der Verwirrung und den Streitigkeiten in der Ekklesia begegnet Paulus mit einer Belehrung und Darlegung, wie die Einordnung der Geistesgaben in das Leben der Ekklesia vorgenommen werden kann (14,26-40). Für Geistesmenschen ist die Liebe der Weg, der zum Ziel einer nicht mehr unmündigen, sondern erwachsenen Ekklesia führt (Kp 13). So bleibt die Einheit gewahrt. In diesem Zusammenhang steht die Auswirkung der Metapher von dem einen Leib mit den vielen Gliedern, der Juden und Griechen, Sklaven und Freie umfasst (12,12). Wie der Leib eins ist und die vielen Glieder einen Leib bilden, so bewirkt dies auch der Messias (12,12). Durch die Spaltungen innerhalb der Ekklesia wurde „Christus zerstückt“, der Leib in Stücke zerrissen (1,13). „Ihr aber seid ein Leib, der Christus gehört“  (12,27) (39f).

 

(b) Der Römerbrief: Im Röm wird noch deutlicher als im 1Kor, wie das Thema ‚Juden und Griechen‘ die Aussage des Apostels kennzeichnet, nicht nur in den Kp 9-11, sondern auch im einheitlichen Aufbau des Briefes. Im Schlussabschnitt (15,7-13) geht Paulus von dem Gegensatz zwischen ‚Starken‘ und ‚Schwachen‘ (14,1-15,6) über zu dem von Heiden und Juden. Die ‚Schwachen‘ enthielten sich des Fleisches (14,2.21) und des Weines (14,21), weil sie möglicherweise ‚unrein‘ waren. Die ‚Starken‘ glaubten, dass sie alles essen durften (14,21), konnten aber damit leicht bei den Brüdern Anstoß erregen (14,12.20f) und dem musste vorgebeugt werden um der Einheit und des Aufbaus der Ekklesia willen (14,19f;  15,2). Das ist dasselbe wie im 1Kor 8-10 (41).

Es handelte sich auch in Rom um die Erhaltung der Tischgemeinschaft zwischen den Juden mit ihrer Treue zu den Reinheitsgesetzen und den Heidenchristen, die zum größten Teil zu den ‚Gottesfürchtigen‘ der Synagoge gehörten. Den ‚Schwachen‘ ging es auch um den Vorzug des einen Tages vor dem anderen (14,5), was sich auf den Eifer der Juden bei der Sabbatfeier bezog. Da viele ‚Gottesfürchtige‘ den Sabbat feierten, lag es für die Juden auf der Hand, von allen in der Ekklesia die Feier des Sabbats zu fordern (41f).

In Röm 12,3-8 finden wir eine Mahnung hinsichtlich der Geistesgaben mit dem Gebot, sich nicht den Anderen überlegen zu glauben. Der nicht-jüdische Teil der Gemeinde durfte sich nicht den Juden überlegen fühlen und sich geistlich überheben (11,20.25), weil die Eintracht und die Gemeinschaft sonst gefährdet (15,5ff), das Geheimnis verletzt (11,25ff) und das Werk Gottes gebrochen würde (14,20). In diesem Zusammenhang kommt auch hier die Metapher von dem einen Leib zur Sprache (12,4f): „Wie wir (Menschen) an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir, die Vielen, ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des anderen Glied“. Wie im 1Kor 13 ist auch im Röm 12,9-21;  13,8-10 die Liebe das Stichwort (wie in Lev 19,18) (42f).

 

(c) Das Mysterium:Im Kol und Eph ist oft die Rede von einem Mysterium, von dem „Geheimnis des Messias, das in früheren Generationen nicht bekannt gemacht ist den Menschenkindern, wie es nun enthüllt ist seinen Heiligen, Aposteln und Propheten durch den Geist“ (Eph 3,4f). Hier wird besonders deutlich, was mit dem Mysterium gemeint ist, nämlich „dass die Heiden Miterben und mit zum Leib gehörig Mitanteilhaber sind an der Verheißung in dem Messias Jesus durch das Evangelium“ (Eph 3,6). Der Apostel stellt im Eph 3,1-6 nachdrücklich fest, dass die Leser an den Ausführungen über die Berufung der Heiden seine Auffassung von diesem Geheimnis erkennen konnten. Dieses Geheimnis der mannigfaltigen Weisheit Gottes soll durch die Ekklesia kund gemacht werden. Dasselbe Mysterium finden wir im Kol 1,26f: „das verborgen war, nun aber ist es offenbart seinen Heiligen, denen Gott bekannt machen wollte, was der herrliche Reichtum dieses Geheimnisses unter den Heiden ist, nämlich Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit“. Die Übereinstimmung dieser Anschauung mit der Terminologie des Röm ist auffallend. Auch im Röm 11,25;  16,25f wird ein Geheimnis bekannt gemacht und ebenfalls ist der Inhalt des Geheimnisses die Anteilhabe der Heiden am Heil, zusammen mit Israel. Der Hymnus 1Tim 3,16 über das Geheimnis der Gottesfurcht läuft ebenfalls hinaus auf die Verkündigung unter den Heiden und den „Glauben in der Welt“ (43f).

Hinter dem Mysterium liegt die verborgene Weisheit Gottes (1Kor 2,6ff vgl Eph 1,8;  3,10). Diese Weisheit haben „die Herrscher dieses Äons“ nicht gekannt. Sie ist identisch mit dem Inhalt des Geheimnisses, der kein anderer ist als die Botschaft des gekreuzigten Messias für Juden und Griechen (1Kor 1,22-25), die Zusammenfassung des Alls im Messias (Eph 1,10), die identisch ist mit der Schöpfung des neuen Menschen aus Juden und Heiden (Eph 3,6;  2,15). Mit dem Mysterium eng verbunden ist der Heilsplan Gottes (Eph 1,10;  3,2.9;  Kol 1,25), der durch die Verwaltung des Apostelamtes des Paulus zur Durchführung und zur Offenbarung kommt (Eph 3,2;  Kol 1,25;  vgl 1Kor 4,1;  9,17). Es handelt sich hier um seinen Auftrag und Dienst als Apostel der Heiden (Kol 1,25ff;  Eph 3,2). Um dieses Geheimnisses willen war Paulus ein Gefangener, hat gelitten und war „ein Gesandter in Ketten“ (Kol 4,3;  Eph 6,19f vgl Kol 1,24ff;  Eph 3,13) (45).

Das „Mysterium des Messias“ (Eph 3,4;  Kol 4,3): Der Genitiv ‚des Messias‘ ist entweder ein genitivus objektivus, wie im Kol 4,3 mit der Bedeutung: ‚Das Mysterium wie es in dem Messias enthüllt ist‘, oder ein Genitiv abhängig von ‚Gott‘, mit der Bedeutung: ‚das Mysterium von dem Gott des Messias‘, wie einige Varianten des Textes vermuten lassen. Bemerkenswert ist dabei, dass die Erkenntnis des Geheimnisses (Kol 2,12) zugleich ‚Einheit in Liebe‘ bedeutet. Dies ist das große pln Thema, das wir im 1Kor, im Röm und auch im Eph Kp. 2 und 4 vorfinden. Mit Mysterium bezeichnet Paulus eine Weisheit, die zur Prophetie gehört. Es handelt sich dabei an allen erörterten Stellen im Kol und Eph um die gemeinsame Anteilnahme von Juden und Heiden am messianischen Heil (45f).

In der ‚Haustafel‘ Eph 5,22-6,9 nimmt der Apostel bei allen Mahnungen immer wieder Bezug auf die Zugehörigkeit seiner Leser zur Ekklesia (5,30). Gen 2,24 wurde von den Rabbinern angeführt in Beziehung auf die zum Judentum übergetretenen ‚Noachiden‘ und im Einklang mit dem jüdischen Recht hinsichtlich der Familienverhältnisse für die Proselyten. Eph 5,31 (Gen 2,24): „Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seiner Frau hängen und die zwei werden ein Fleisch sein“. Eph 5,32: „Dies Geheimnis ist groß; ich deute es auf Christus und die Gemeinde“. Eph 2,15: Durch das Opfer seines Leibes „hat er abgetan das Gesetz mit seinen Geboten und Satzungen, damit er in sich selber aus den zweien einen neuen Menschen schaffe und Frieden mache (16) und die beiden versöhne mit Gott in einem Leib durch das Kreuz, indem er die Feindschaft tötete durch sich selbst“. Dem Sprachgebrauch an dieser Stelle liegt die Übertragung des jüdischen Proselytenrechts zugrunde „auf den Messias und auf die Ekklesia“ (Eph 5,32), wie durch die Anführung von Gen 2,24 ausgedrückt wird. Die zur Ekklesia übergetretenen Heiden haben mit ihren alten verwandtschaftlichen Beziehungen und dem dazugehörigen Verhalten gebrochen, um sich, auch in der Ehe, den neuen Verhältnissen zu fügen, die durch die Zugehörigkeit zum Messias und zur Ekklesia bestimmt sind (47f).

 

(d) Der Kolosserbrief:In dem Wechsel zwischen ‚ihr‘ und ‚wir‘ zeigt sich, dass Paulus hier an zwei Gruppen gedacht hat, eine, der er nicht zugehört und eine, mit der er sich selbst identifiziert hat. Das ‚ihr‘ gilt den Heiden (Kol 1,21.27): „Auch euch, die ihr einstmals entfremdet wart und feindlicher Gesinnung... hat er nun versöhnt“ und „die Herrlichkeit des Geheimnisses unter den Heiden“ ist „der Messias unter euch“ (den Heiden). Kol 2,13f: „Auch euch, die ihr tot wart in den Übertretungen und der Unbeschnittenheit eures Fleisches hat er mitlebendig gemacht mit ihm, indem er uns alle Sünden vergab, indem er beseitigte die gegen uns zeugende Handschrift, die durch Satzungen uns entgegen war. Die hat er aus dem Weg (aus der Mitte) geschafft, indem er sie an das Kreuz heftete“. Sie ist zum Schuldschein gegen Israel geworden, weil Israel es auf sich genommen hat, wie geschrieben steht (Ex 24,3f;  Dtn 27,14-26), das Gesetz zu erfüllen, so dass es durch seine Übertretungen schuldig geworden ist. Die Heiden waren durch ihre Übertretungen nicht in demselben Sinn schuldig, sondern tot, weil sie das Gesetz damals nicht gekannt hatten. Nun aber ist diese Handschrift ans Kreuz geschlagen und Gott hat Israel seine Übertretungen vergeben. Das ist das Leben auch für die Heiden, denn es heißt, dass jetzt kein Unterschied mehr ist (Kol 3,11 vgl. Röm 3,21-30). Die Handschrift ist „aus dem Weg geschafft“ (vgl Eph 2,14 Zwischenwand)  (48f).

Der Nachdruck auf dem „auch ihr“ (Kol 3,4) ergibt als die beste Lesung: „Wenn der Messias erscheinen wird, unser Leben, dann werdet auch ihr mit ihm erscheinen in Herrlichkeit“ (derselbe Gegensatz, der im Kol 2,13f vorliegt). Dabei ist es möglich, dass die ‚wir‘ in Kol 1,5f.9ff Paulus selbst und seine Mitarbeiter sind, wie es auch Kol 4,3 wahrscheinlich macht. Es ist ein Beweis des jüdischen Selbstbewusstseins beim Apostel, dass er das ‚wir‘ in diesem Sinn anwenden konnte. Es zeigt, dass die jüdischen Grundlagen des pln Denkens in seinem Urteil über Juden- und Heidentum ungemindert nachwirken (50).

Im Kol 1,24 handelt es sich für den Apostel um ein bestimmtes Leiden, das ihm widerfahren ist wegen seiner Mission unter den Heiden, damit das große Geheimnis unter ihnen offenbar werde (Kol 1,25-29 vgl Eph 3,1.13, wo er seine Gefangenschaft ein solches Bedrängnis genannt hat). Darum sah er seine Leiden an als „euch (Heiden) zugute“ (Kol 1,24; Eph 3,13), was für ihn dasselbe bedeutete wie „zu Gunsten des Leibes des Messias, nämlich der Ekklesia“. Der Gedanke des Geheimnisses und der Leibgedanke waren für Paulus miteinander verbunden und seine Arbeit kam den Heiden darin zugute, dass sie eingegliedert wurden in den einen Leib des Messias (Kol 3,15) (50f).

Der Sprachgebrauch bezüglich des Leibes der Ekklesia ist derselbe, den wir im 1Kor und im Röm finden. Die Heiden (ihr) sind „in einem Leib berufen“ (Kol 3,15) und in deutlich metaphorischer Rede wird über „den ganzen Leib“ gesprochen (Kol 2,19), beide Male im Blick auf denselben Realismus der Praxis im Zusammenhang mit der Einheit, der Ablehnung des Unterschieds zwischen Juden und Griechen, Beschnittenen und Unbeschnittenen, Sklaven und Freien (Kol 3,11 vgl 1Kor 12,13) also mit den neuen Lebensverhältnissen in der Ekklesia. Der Hymnus über den Geliebten des Vaters als Erstgeborenen aller Kreatur und als Haupt „des Leibes der Ekklesia“ (Kol 1,15-20) läuft hinaus auf die Versöhnung aller Geschöpfe. Das nachfolgende „auch euch“ (Kol 1,21) zeigt, dass dabei namentlich die Heiden, „die einstmals entfremdet und feindlicher Gesinnung“ waren, gemeint sind. Sie sind versöhnt „im Leib seines Fleisches“ (Kol 1,22) (51).

Kol 2,11: „In ihm seid auch ihr beschnitten worden mit einer Beschneidung, nicht mit Händen gemacht, als ihr euer fleischliches Wesen ablegtet in der Beschneidung durch Christus“. Es geht um das Ablegen „des alten Menschen“. Der Nachdruck dieses Abschnitts liegt auf der Versöhnung aller Geschöpfe (Kol 1,20), auch „von euch Heiden“ (Kol 1,21). Paulus war Diener des Evangeliums „allen Geschöpfen unter dem Himmel“ (Kol 1,22ff) (52).

Kol 2,11 ist polemisch gemeint. Für die kolossischen Irrlehrer war die Beschneidung „mit Händen gemacht“, sehr wichtig und wurde von ihnen praktiziert. Die jüdische Art der Irrlehre tritt deutlich zu Tage (Kol 2,16): „Also darf keiner über euch richten in Speise und Trank und in der Frage des Festfeierns, sei es Neumond oder Sabbat“. Dass diese Irrlehrer zur Ekklesia gehörten, zeigt Kol 2,18f. Es handelt sich um denselben Gegensatz zwischen Juden und Griechen, den wir in den anderen Briefen gefunden haben (1Kor 10,29-31;  Röm 14,4-7.13.17). Die Absicht der Irrlehrer mit ihrer Forderung der Beschneidung, der Reinheitsgesetze (Kol 2,21f vgl Mt 15,17;  1Kor 6,12f;  8,8;  Röm 14,17) und Sabbatgebote sah Paulus an als einen „Leib des Fleisches“, eine Zusammengehörigkeit aus fleischlichen Gründen. Die Versöhnung mit Gott und der Friede zwischen Juden und Heiden sind gegeben „im Leib des Fleisches“ des Messias und „durch sein Blut am Kreuz“ (53).

Diese ‚Wirklichkeit‘ ist die Leib-Wirklichkeit der messianischen Ekklesia (2,19). Wenn wir diesen Leib verstehen als die Ekklesia aus Juden und Griechen, wird der Zusammenhang mit den Gedanken des Paulus über das Gesetz deutlich (vgl Röm 3,16f;  Gal 3,15-29). Dabei zeigt sich die Verwandtschaft des Gedankens vom Leib, der durch Bänder und Sehnen zusammengehalten wird (Kol 2,19), mit dem Leibgedanken im 1Kor und im Röm (53f).

 

(e) Der EpheserbriefDie Enthüllung des Mysteriums von der Einigung von Juden und Heiden in dem einen Leib der messianischen Ekklesia ist der Hauptinhalt und Grundgedanke des Eph. In dieser Hinsicht steht der Eph auf gleicher Linie mit den anderen Briefen. Der Wechsel zwischen ‚wir‘ und ‚ihr‘ weist darauf hin, dass es um die zwei Gruppen geht: Juden und Nichtjuden. Aus dem Zusammenhang kann man ableiten, dass der Apostel aus seiner jüdischen Überzeugung spricht von „Gott unserem Vater“ (1,2), dem „Gott unseres Herrn“ (1,17) und dem Geist, „der ein Angelt ist für unser Erbe“ (1,14), während es die Heiden sind, die auch Anteil haben dürfen an den Gaben dieses Vaters und Herrn (1,2.14.17ff). Die Juden waren „tot in ihren Übertretungen“ wie die Heiden, „Kinder des Zorns wie auch die Anderen“ (die Heiden 2,1-3). Der Apostel hat das ‚uns‘ und das ‚wir‘ auch gebraucht im Sinn des ‚wir beide‘ (2,18;  4,7.13ff) (54f).

Das Thema wird besonders in 2,11-22 hervorgehoben. Die beiden Gruppen, die Juden und die unbeschnittenen „Heiden im Fleisch“ (2,11) sind in einem Leib versöhnt mit Gott und zu einem neuen Menschen geschaffen (2,15f). Die Feindschaft zwischen ihnen ist aufgehoben denn der Messias hat Frieden gemacht, weil er „die durch den Zaun gebildete Zwischenwand“ beseitigt hat (2,14). Mit diesem Zaun ist der ‚Zaun für die Tora‘ gemeint, der Israel scheidet und unterscheidet von allen übrigen Völkern (55f).

Der Aufruf an die Leser, sich um die Wahrung der Einheit zu bemühen und einander in Liebe zu ertragen (4,2f.13-16 vgl 3,18), war notwendig, weil die Einheit der Ekklesia gefährdet war. Auch hier liegt der Realismus der Praxis vor. Die Gefahr, die die Einheit der Gemeinde bedrohte, kann nur eine Spaltung zwischen Juden und Nichtjuden sein. Der „Bund des Friedens“ steht mit dem Frieden zwischen den in 2,14-18 genannten Gruppen im Zusammenhang (57).

 

(f) Exkurs zu Röm 7,4„Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet durch den Leib des Messias, so dass ihr einem anderen angehört, nämlich dem, der von den Toten auferweckt ist, damit wir Gott Frucht bringen“. Mit dem Leib des Messias muss auch hier die Ekklesia und die Zugehörigkeit zu der in ihr gegebenen neuen Gemeinschaft zwischen Juden und Heiden gemeint sein. Auch an dieser Stelle geht es darum, dass der Messias „das Gesetz der Gebote in Satzungen“ außer Kraft gesetzt hat. Das hat er „in seinem Fleisch“ gemacht, damit er die Zwei, Juden und Heiden „in einem Leib“ mit Gott versöhne. Mit diesem einen Leib (Eph 2,16) kann nur die Gemeinschaft zwischen Juden und Griechen in der Ekklesia gemeint sein. Auch im Kol 1,22; 2,11-21 geht es um ein Begraben-sein mit dem Messias und ein Auferweckt-sein mit ihm, wie im Röm 6 (Kol 2,12). Die Aussage im Röm 7,4: „ihr seid dem Gesetz getötet“, ist eng verwandt mit dem Gedanken, dass die Gläubigen „mit dem Messias den Elementen der Welt gestorben sind“ (Kol 2,20). Im Eph 2,14ff;  Kol 1,22 und 2,17 bezieht sich der Leib des Messias auf die Ekklesia, wahrscheinlich ebenso im Röm 7,4 (57f).


(3) Der Leibgedanke und der jüdische Proselytismus

(a) Die Nahen und die Fernen
 (b) Der neue Mensch
 (c) Der neue Wandel
 (d) Die Beschneidung 

Es ist anzunehmen, dass Paulus bei seiner rabbinischen Ausbildung mit der Problematik des Proselytismus vertraut geworden ist. In der neuen heilsgeschichtlichen Situation, die mit Jesus, dem Messias, angebrochen war, hat er sich von neuem hiermit auseinandersetzen müssen. Von den Juden wurde auf Grund des Gesetzes der kultische Unterschied zwischen Juden und Heiden aufrechterhalten. Paulus sah das Verhältnis messianisch, nicht gesetzlich. Darin lag der Unterschied zwischen ihm und der Urgemeinde einerseits und seinen gesetzlichen Gegnern andererseits (59f).


 

(a) Die Nahen und die Fernen:Nun aber im Messias Jesus seid ihr, die ihr einstmals fern wart, nahe geworden in dem Blut des Messias. Er ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart und Frieden denen, die nahe waren. Denn durch ihn haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum Vater“ (Eph 2,13.17f).In Jes 57,19 handelt es sich gleichfalls um Frieden für die Fernen und für die Nahen (wie Apg 2,39). ‚Nahebringen‘ (Eph 2,18) war die übliche Redeweise für ‚einen Nichtjuden als Proselyten annehmen‘. Auch Paulus hat an Nichtjuden gedacht: Denkt daran, „dass ihr zu jener Zeit ohne Christus wart, ausgeschlossen vom Bürgerrecht Israels und Fremde außerhalb des Bundes der Verheißung; daher hattet ihr keine Hoffnung und wart ohne Gott in der Welt“ (Eph 2,12). Für Paulus sind die Fernen nahegebracht „in dem Blut des Messias“, ohne dass sie Proselyten geworden waren im gesetzlichen Sinn. Paulus ist sich bei seiner Erörterung, dass Juden und Heiden „in einem Leib versöhnt sind mit Gott“ (Eph 2,14-18), dieses Gegensatzes zwischen ihm und der gesetzlichen Auffassung hinsichtlich der Einverleibung der Heiden bewusst gewesen. Für Paulus sind die Heiden in dem einen Leib der Ekklesia „nicht mehr Fremdlinge und Beiwohner, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes“ (Eph 2,19) (60f).

In der Tora werden zwei Gruppen von Heiden unterschieden: einerseits kannte man Fremdlinge, die aus dem Ausland eingewandert, sich in Israel aufhielten und sich eng der theokratischen Lebensgestaltung Israels angeschlossen hatten. Andererseits gab es Eingeborene des Landes, aus den kanaänitischen Völkerschaften stammend, die im Land geduldet wurden (Beiwohner, Eingeborene). In der nachexilischen Zeit wurde der Fremdling zum Fremden, zum Proselyten, der die jüdische Religion in allen Stücken angenommen hat. Der Eingeborene oder Beiwohner wurde der dauernd im Land Israel wohnende Heide (61f).

Eine Zwischengruppe bildeten die unbeschnittenen Fremdlinge, die sich dem Judentum annäherten, mit dem Götzendienst brachen und einige der wichtigsten Gesetz beachteten. Sie waren die ‚Gottesfürchtigen‘, die am jüdischen Gottesdienst teilnahmen, den Sabbat feierten und mehr oder weniger die Speisegebote einhielten, jedoch ohne zur vollen Annahme des Gesetzes verpflichtet zu sein. Für die Juden blieben sie Heiden, wie die Beiwohner, während die Proselyten wie Israel selbst waren. Paulus aber hat der messianischen Gemeinde vorgehalten, dass man in dem einen Leib des Messias die Heiden nicht betrachten durfte als ob sie ‚Fremdlinge und Beiwohner‘ wären. Sie seien im Gegenteil „Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes“ (Eph 2,19) gworden (62f).

Der Proselyt hat an der Heiligkeit Israels Anteil bekommen, sobald er zum Judentum übergetreten war. So sagt auch Paulus hinsichtlich der Heiden in dem einen Leib des Messias, dass sie „Mitbürger der Heiligen“ sind und in diesem Sinn konnte er die messianische Gemeinde als „die Heiligen“ bezeichnen. Bezog die Erbschaft sich ursprünglich im AT auf die Landnahme des Volkes Israel, so ist schon im Judentum die Landnahme dem ‚In-Besitz-Nehmen der Gottesherrschaft‘, der Teilhaberschaft am künftigen Äon, gleichbedeutend geworden. Paulus hat Gen 28,14 auf ‚den Besitz der ganzen Erde‘ bezogen. An Abraham und seine Nachkommen erging die Verheißung, dass er ein Erbe der ganzen Erde, des Kosmos, sein sollte (Röm 4,13). Abraham war aber damals noch unbeschnitten (Röm 4,10). Deshalb war er nicht nur der Vater der Beschnittenen, sondern auch der Unbeschnittenen (Röm 4,11f). Im Gegensatz zu der Beschränkung auf Juden und Proselyten sah Paulus die Erbschaft nun ausgeweitet: Die Heiden sind nicht durch das Gesetz (Röm 4,13f; Gal 3,6-18), sondern „im Messias Jesus“ und „durch das Evangelium“ „Miterben, Mit-Leib und Mitteilhaber der Verheißung“ (Eph 3,6). Das dreimal wiederholte ‚mit‘ bezieht sich darauf, dass die Heiden mit den Juden zu demselben Leib gehören (64f).

 

(b) Der neue MenschIn den Paulusbriefen ist der Gedanke vom „neuen Menschen“ eng mit dem Leibgedanken verbunden. Es handelt sich dabei um ein „Geschaffen-werden“ (Eph 2,15) und um ein „Anziehen“ des neuen Menschen (Eph 4,24; Kol 3,10). Bei Paulus ist auch die Rede von einem Anziehen des Messias (Röm 13,14; Gal 3,27). An den beiden Stellen Gal 3,27f und Kol 3,10f wird ausgesprochen, dass da, wo man den Messias, oder den neuen Menschen, angezogen hat, nicht der Gegensatz besteht zwischen Jude und Grieche, Beschneidung und Unbeschnittenenheit, Sklave und Freier, männlich und weiblich. Der Messias ist der neue Mensch schlechthin, der aus den Zweien, Juden und Heiden, einen neuen Menschen schafft (Eph 2,15). Es geht darum, dass „alle“, die den neuen Menschen angezogen haben, „hinkommen zu der Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zu einem erwachsenen Mann, zum Mass der Reife der Vollkommenheit des Messias“ (Eph 4,13). Alle sind eins im Messias Jesus und wenn sie ihm zugehören, sind sie auch alle Nachkommen Abrahams (Gal 3,28f). Diese Nachkommenschaft realisiert sich darin, dass alle, deren „Vater“ Abraham ist, in die Fusstapfen des Glaubens ihres Vaters treten (Röm 4,12), wodurch sie „hinkommen zu“ dem neuen Menschen, der der Messias in seiner „Vollkommenheit“ und „Reife“ schlechthin ist (Eph 4,13). Der Messias hat Frieden gemacht, „damit er die Zwei in sich schüfe zu einem neuen Menschen“ (Eph 2,15). Der neue Mensch, den man angezogen hat, ist „nach Gottes Willen geschaffen in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,24) und wird „erneuert nach dem Bild dessen, der ihn geschaffen hat“ (Kol 3,10) (66f).

Adam ist nicht der alte Mensch, den man ausgezogen hat (Eph 4,22; Kol 3,9), sondern der erste Mensch überhaupt (1Kor 15,45-49; Röm 5,12-21). Der neue Mensch ist der Messias, der (Eph 2,15) „die Zwei in sich zu einem neuen Menschen schafft, indem er Frieden machte“. Es ist die Rede von einem „zu einem Fleisch Werden“ (vgl. 1Kor 6,16). Der Messias ist für den Apostel der wahre neue Mensch, der den Fernen Mut macht, sie nahebringt und ihnen den Zugang geöffnet hat zum Vater (Eph 2,18). Der alte Mensch „mit seinen Taten“ (Kol 3,9) und seinen „Waffen der Finsternis“ (Röm 13,12) ist abgelegt, ausgezogen. Der neue Mensch ist jetzt auf dem Plan, wo es nicht mehr heißt „Grieche und Jude, Sklave und Freier, sondern Alles und in Allen der Messias“ (Kol 3,11) (68f).

In dem Messias als dem wahren neuen Menschen steht der neue Mensch vor uns in seiner Vollkommenheit, nach dem Bilde Gottes (2Kor 4,4; Kol 1,15). Es kommt für alle Glieder der Ekklesia darauf an, dass auch sie hinkommen zu dieser Reife und zu dem Erwachsensein, „damit wir nicht mehr unmündige Kinder sind“ (Eph 4,14 vgl. Kol 1,28) (69f).

(c) Der neue WandelAuffallend ist in den Paulusbriefen die immer wiederholte Mahnung zur Demut und die Warnung vor Eigendünkel. „Seid gleichen Sinnes gegeneinander. Sinnt nicht das Hohe, sondern gebt euch hin den Niedrigen, haltet euch selbst nicht für verständig“ (Röm 12,16). Auch den Schwachen gegenüber kommt es darauf an, „gleichen Sinnes zu sein“ (Röm 15,5). Wenn Paulus an die Korinther über Israel als warnendes Vorbild (1Kor 10,1-13) geschrieben hat, so mahnt er sie, dem Götzendienst zu fliehen. Er setzt dabei voraus, dass er zu „Verständigen“ redet (1Kor 10,15). Der ‚Unordnung‘ bei der Feier des Abendmahls in Korinth liegt für Paulus eine „Verachtung“ der Ekklesia Gottes zugrunde (1Kor 11,22) (71).

Die Epheser hat Paulus berufen, zu wandeln „in aller Demut und Sanftmut, in Langmut, einander ertragend in Liebe, sich bemühend zu bewahren die Einheit des Geistes durch das Band des Friedens: ein Leib und ein Geist“ (Eph 4,2-4). Im 1Kor und Eph zeigt der Zusammenhang dieselben Verhältnisse. Was hier helfen kann, ist nur die Liebe. Paulus ermahnt immer wieder zur Liebe und hat die Liebe als das ‚Einheitsband‘ (Kol 3,14) des Leibes der Ekklesia gepriesen (1Kor 13; Röm 13,8-10; Eph 1,4; 3,18; 4,15; 5,2; Kol 2,2; 3,14). Wenn alle zu der Einheit des Glaubens und dem Maß der Reife der Vollkommenheit des Messias kommen, „so sind sie nicht mehr unmündige Kinder“ (Eph 4,14). „Lasst uns wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus“ (Eph 4,15). „Zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,24) (72f).

Die Kollekte des Paulus für die Muttergemeinde in Jerusalem: Es war eine feste Regel, nicht nur für die Proselyten, sondern auch für die Gottesfürchtigen, dass sie die Tempelsteuer bezahlten. Dass Paulus auch in dieser Hinsicht an der jüdischen Praxis festgehalten hat und durch die Kollekte auf die Anerkennung der Mutergemeinde in Jerusalem ein so großes Gewicht gelegt hat, ist bezeichnend für die Weise, wie er die Einheit von Juden und Heiden in dem einen Leib des Messias gesehen hat. Die Kollekte ist ein Tatbekenntnis der Heidenchristen zur Einheit der Ekklesia, eine Anerkennung, dass sie an den Geistesgaben der Heiligen Anteil bekommen haben und dadurch in Israel eingegliedert sind (Röm 15,27) (74).

 

(d) Die BeschneidungNach jüdischer Anschauung konnten Heiden nur als Proselyten in den Bund Gottes mit seinem Volk eintreten durch Beschneidung, Tauchbad und Blutbesänftigung, d.h. Opferdarbringung, wie Israel selbst. Die Forderung der Beschneidung als Bedingung für die Aufnahme der Heiden in die Ekklesia hat Paulus immer entschieden abgelehnt (75).

Für Paulus waren die Heiden, die in den einen Leib des Messias aufgenommen waren, den Gottesfürchtigen gleichgestellt. In der durch den Messias herbeigeführten neuen heilsgeschichtlichen Situation galt es besonders, diese Heiden als „Mitbürger der Heiligen und Miterben der Verheißung“ (Eph 2,19; 3,6) zu begrüßen. So würde die alte prophetische Erwartung Gestalt annehmen, dass sich die Völker zusammen mit Israel vor dem König, dem Herrn, beugen (Sach 14,16; Jes 25,6ff) (79f).

Es war Paulus feste Überzeugung, dass die Erwählung Israels nie widerrufen worden ist (Röm 9-11). Er war aber auch davon überzeugt, dass man das heilsgeschichtliche Faktum dieser Erwählung nicht zum Gesetz für andere machen durfte (Röm 4,9-17; Gal 3,17-24). Die Tora war Israel zur Erhaltung der Verheißung gegeben (Gal 3,17f.23f). Sie wendet sich an diejenigen, die unter dem Gesetz leben (Röm 3,19), damit sie sich nicht mit ihren Vorrechten brüsten (Röm 3,1f.9), sondern es ist ihr Vorrecht zu wissen, dass die ganze Welt verschuldet ist vor Gott (Röm 3,19). Die Beschneidung gehört zum Gesetz, denn die Verheißung ist Abraham in seiner Unbeschnittenheit gegeben (Röm 4,10) (81).

Wenn Paulus in Kol 2,11f schreibt, dass die Taufe die ‚messianische Beschneidung‘ ist, so will er damit sagen, dass in der Taufe „der Leib des Fleisches“ abgelegt ist. Die Aussage ist polemisch gemeint, genau wie in Phil 3,3: „Wir sind die Beschneidung, die wir im Geist Gottes ihm dienen und uns des Messias Jesus rühmen und nicht aufs Fleisch die Zuversicht setzen“. Das Gesetz, das Israel zur Erhaltung der Verheißung gegeben ist, soll nicht den Boden bilden, aus dem man sich gegenüber den gesetzlosen Heiden Rum ableitet (Röm 3,9.19f.27), weil es dann, umgeben mit einer Vielzahl von Satzungen, zu einem Dokument der Feindschaft gemacht wird, zu einem Hindernis für das Teilhaben der Heiden am Heil (Eph 2,14). Das Gesetz in diesem verzerrten Sinn hat der Messias außer Kraft gesetzt, nicht das Gesetz überhaupt (Eph 2,15 vgl. Röm 8,4; 13,8; Gal 5,14) (83f).

Am Unterschied zwischen Juden und Griechen hat Paulus laut dem „erst dem Juden und auch dem Griechen“ immer festgehalten, wie auch an der verschiedenen Aufgabe und daher dem verschiedenen Platz von Sklaven und Herren (Kol 3,22 - 4,1). Der Sklave sollte sich als Sklave, der Herr sich als Herr ‚im Messias‘ bewähren. Der Abschnitt 1Kor 7,17-24 zeigt, dass es sich nicht um einen Verlust der natürlichen Persönlichkeit handelt, sondern um die Gewissheit, dass Gott jeden ruft auf seinem eigenen Weg. Die Berufung Gottes reißt den Menschen nicht aus seiner natürlichen Lage (85f).

Nach pln Auffassung ist der Leib des Messias der Ort, die Gemeinschaft, wo Juden und Heiden, Sklaven und Freie, Männer und Frauen das Gesetz Gottes erfüllen. Paulus hat bei den messianischen Gemeinschaften in Antiochia und in Rom diese Sachlage vorgefunden (86f).

Eph 4,4 „Ein Leib und ein Geist...“. Die zum messianischen Glauben Gekommenen sind „versiegelt mit dem heiligen Geist der Verheißung“ (Eph 1,13 vgl. 4,30) und so sind auch sie Anteilhaber geworden an dem Erbe, zu dem die Juden schon vorherbestimmt waren (Eph 1,11f). „Denn durch ihn haben wir beide (Juden und Heiden) durch einen Geist in einem Geist den Zugang zum Vater“ (Eph 2,18) (90f).


 


 

(4) Das Haupt und die Glieder

(a) Das Ganze
 (b) Das Haupt
 (c) Das Wachstum
 (d) Der Bau
 (e) Die vollkommene Menschlichkeit
 (f) Die Glieder
 (g) Zusammenfassung


 

(a) Das GanzeIm Eph 1,10-24 handelt es sich um das Geheimnis, alles im Messias zusammenzufassen. Im Kol 1,19-23 wird die Versöhnung aller Dinge bezogen auf die Vereinigung der Heiden mit den Juden zur Einheit in dem einen Leib. Paulus führt im Gal 3,22 aus, dass die Schrift „alle Dinge“ in die Sünde eingeschlossen hat, damit die Verheißung den Gläubigen gegeben würde. Röm 11,32: „Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, damit er sich aller erbarme“ (der Juden und der Heiden) (102).

Der Messias ist der himmlische Mensch schlechthin (1Kor 15,47;  Kol 3,1). Er ist der Mensch nach dem Bilde Gottes (2Kor 4,4;  Kol 1,15 vgl 3,10). Mit dem lebendigen Messias sind die nach den Himmlischen und den Irdischen erschaffenen Menschen, (die, wenn sie und indem sie sündigen, dem irdischen Adam gleichen 1Kor 15,48) zu Himmlischen gemacht und unter die Himmlischen aufgenommen worden (Eph 2,5f). Sie sollen dem Himmlischen gleich sein (1Kor 15,48), zu ihm heranwachsen (Eph 4,14) und sich richten auf das, was oben ist und auf den, der oben ist, auf dass sie leben (Kol 3,1-4) (105f).

Es gibt verschiedene Gnadengaben, „doch nur einen Gott, der das Ganze in allen wirkt“ (1Kor 12,4-6). Das Ganze manifestiert sich in dem einen Leib, nicht aber in Einförmigkeit, sondern in Vielheit und Vielfarbigkeit (vgl Eph 3,10). „Die Schrift hat das Ganze unter die Sünde beschlossen“ (Gal 3,22). Es ist das Geheimnis des Willens Gottes, dass Er „das Ganze wirkt“ (Eph 1,10f vgl 4,11ff;  1Kor 12,6), damit Juden und Heiden an demselben Erbe Anteil haben (Eph 1,12ff). Das Ganze ist aus Gott, der in dem Messias den Kosmos d.h. ‚uns‘ und ‚euch‘, mit sich versöhnt (2Kor 5,18ff). Es ist Gott, der das Ganze erschaffen hat (Eph 3,9) und dem es darum gefiel, „das Ganze zu versöhnen“ (Kol 1,20), indem der Messias „das Ganze erfüllt“ (Eph 4,10), nämlich in den Menschen (Eph 4,11ff). In dem einen Leib wächst das Ganze auf ihn hin (Eph 4,15f) (109f).

Wo von dem ‚All‘ die Rede ist, handelt es sich um eine historische Aufgabe für die Ekklesia. Es geht Paulus um die Einheit und den Frieden zwischen Israel und den Heiden. Das Heilsgeheimnis dieser von Gott von Anfang an gewollten Einheit war jahrhundertelang verborgen geblieben. Es ist aber seinen Gesandten und Zeugen jetzt im und durch den Messias Jesus offenbar geworden. Die Engelfürsten haben sich immer gegen diesen Frieden aufgelehnt. Die Geschichte Israels hat gezeigt, wie Feindschaft zwischen den Völkern und in Israel selbst immer wieder den Sieg davongetragen hat. So war es auch bei der Kreuzigung des Messias. In Wirklichkeit aber hat der Friede Gottes die Feindschaft (repräsentiert in den Engelfürsten) überwunden. Die Ekklesia verkündigt in ihrem Dasein diesen Frieden, weil in ihr Juden und Heiden gemeinsam den „einen Leib" bilden. Der Messias hat den Frieden gestiftet und nur dieser Friede zeigt, dass Gott den Messias verherrlicht und ihn als Herrn der Ekkklesia gegeben hat (116f).

 

(b) Das HauptDer Messias als der Mensch im Bilde Gottes, indem das Ganze erschaffen ist und seinen Bestand hat, ist das Haupt des Leibes der Ekklesia (Kol 1,15-18). Christus ist das Haupt, der auch Anfang, Erstgeborener jedes Geschöpfes (Kol 1,15) und Erstgeborener von den Toten ist (Kol 1,18). Im AT werden Israel oder der König Erstgeborene genannt (Ex 4,22;  Ps 89,28). Der Erstgeborene ist auch der ‚Anfang‘ (Gen 49,3;  Dt 21,17). Er hat eine größere Autorität als seine Brüder und ist der besonders Gesegnete und zugleich der Segenspender für seine ganze Familie oder das ganze Volk (David), auch in der Nachkommenschaft und für alle, die sich an ihn anschließen (Joseph). Er ist der Anfang, der Erste und der Beste, in dem das Ganze repräsentiert wird und eingeschlossen ist (117).

Es handelt sich bei dem Gedanken, dass der Messias Anfang, Erstgeborener und Haupt ist, um eine Rangordnung. Er ist der Erste und der Beste einer Reihe (‚vor allem‘ Kol 1,17). Das zeigt sich im Sprachgebrauch des Apostels: 1Kor 11,3: „Das Haupt jedes Mannes ist der Messias, das Haupt der Frau ist der Mann, das Haupt des Messias ist Gott“. Eph 5,23: „Der Mann ist das Haupt der Frau, wie der Messias das Haupt der Ekklesia ist“. Es geht um den Begriff der Unterordnung (Eph 5,24) und der Liebe (Eph 5,25), die zur Reinigung und Heiligung führt (Eph 5,26). Der ‚Anfänger‘ ist darin den Brüdern überlegen, dass er vorangeht im Gehorsam, im Glauben und in der Liebe. Es geht um einen Gehorsam mit ihm und in seiner Nachfolge, so dass man mit ihm gehorchend auch ihm gehorcht, dass man mit ihm liebend auch ihn liebt, dass man mit ihm glaubend auch an ihn glaubt. In diesem Sinn nennt Paulus den Herrn das Haupt. Er ist der Erste, damit er der Erste werde (Kol 1,17f vgl Röm 8,29) (119f).

Wir sollen „in Liebe zu ihm heranwachsen“ (Eph 4,15) und uns „an das Haupt halten“ (Kol 2,19). Die Gedanken vom Wachstum, vom Bau und von der Vollkommenheit sind mit dem vom Haupt verbunden (Kol 2,9f;  Eph 1,22;   4,15f). Der Begriff Haupt sowie die Begriffe Anfang und Erstgeborener lassen sich auf den atl Sprachgebrauch und das jüdische Denken zurückführen. Der Leibgedanke liegt als metaphorische Rede vor, sowohl im 1Kor 12 und im Röm 12 , wo vom Leib und seinen Gliedern gesprochen wird, als auch im Eph und Kol, wo im Eph 4,16 und Kol 2,19 die verschiedenen Glieder zu Bändern und Sehnen dieses Leibes werden. Auch den Begriff Haupt finden wir im 1Kor 11,3 wie im Kol und Eph (120f).

Der Messias ist das Haupt der Ekklesia, die sein Leib ist (Eph 1,22f;  5,23;  Kol 1,18) (123).

Die Wendung vom „Zusammenfassen des Ganzen im Messias“ (Eph 1,10) hängt mit dem Begriff Haupt zusammen, obwohl das Verb von dem Begriff Hauptsumme, Hauptpunkt, Zusammenfassung abgeleitet ist. Im Eph 1,22 wir der Begriff Haupt gebraucht. Die Bedeutung des Wortes ‚Haupt‘ ist im pln Sinn nicht mit Chef oder Herrscher identisch. Die Verwendung und Bedeutung der Begriffe Haupt-Anfang-Erstgeborener lässt sich auf den jüdischen Gedanken der sog. ‚Gesamtpersönlichkeit‘ zurückführen. Es handelt sich dabei um seine Repräsentation, seine Autorität in Bezug auf die Gesamtheit. Nicht der Gedanke vom ‚Leib-Christi‘ in seiner ‚mystischen‘ Verwendung geht auf diese jüdische Wurzel zurück, sondern nur der Gedanke vom Messias als dem Haupt. Er setzt die Zusammengehörigkeit von Messias und messianischer Ekklesia voraus. Durch die Verbindung mit dem Begriff des Hauptes wird auch die Vorstellung des Leibes mit dem Gedanken der Gesamtpersönlichkeit verknüpft. Das Moment der menschlichen Verantwortlichkeit, neben der Wirklichkeit des Daseins vom Haupt-Anfang-Erstgeborenen, wird in diesem Gedanken vom Haupt stark hervorgehoben. Hierin sieht Paulus die Verbindung zwischen dem Werk, das der Messias vollbracht hat, seinem Leben und Sterben und der Aufgabe und Verantwortung, die diese Wirklichkeit für die Gläubigen in der Gegenwart bedeutet. Die Paulusbriefe setzen eine Analogie voraus zwischen dem Leben der Ekklesia und dem Leben des Messias. Das Haupt ist die Quelle, Anfang, Grund und daher auch Vorbild des Lebens in der Ekklesia (Eph 5,23-28;  Kol 3,13;  1Kor 11,1;  Eph 3,21;  4,21;  5,2;  Phil 2,5;  Gal 4,19;  Eph 3,17). Bemerkenswert ist das Nebeneinander des „mit dem Messias“ und des „in dem Messias“ (Eph 2,5f;  Röm 6,8;  8,11;  2Kor 4,14;  13,4;  Kol 21,1f), das Ineinander von Indikativ und Imperativ, von Sein und Werden, Sein und Sollen. Diese Analogie ist eine Analogie des Glaubens, des Gehorsams, der Liebe. Hier herrscht der Realismus der Praxis vor, der von der geschichtlichen Stellung des Messias Jesus her bestimmt wird (124f).

 

(c) Das Wachstum: Beim Wachstum handelt es sich um Wahrheit und Liebe (Eph 4,15ff), um den Glauben (2Kor 10,15) und um Erkenntnis (Kol 1,10). Das Wachstum geht vom Messias aus (Eph 4,16;  Kol 2,19). Es ist zugleich ein Wachstum auf ihn hin (Eph 4,15). Der Leib vollzieht das Wachstum, indem er „durch Bänder und Sehnen unterstützt und verbunden wird“ (Kol 2,19;   Eph 4,16). Damit ist die Einheit und Zusammengehörigkeit der Glieder gemeint. Indem sie „die Wahrheit sagen in Liebe“, lassen sie „das Ganze (des Leibes vgl 1Kor 12,12) auf den Messias hinwachsen, der das Haupt ist“ (Eph 4,15). Nur wenn sie sich an das Haupt halten, wird der Leib zur Einheit verbunden und „vermehrt er das Wachstum Gottes“ (Kol 2,19). Das „Wachstum Gottes“ ist das von Gott herkommende Wachstum, das seinen Anfang und sein Ziel hat im Messias. Alle wachsen auf ihn hin, werden seinem Bilde gleichgestaltet (Röm 8,29) und bekommen Anteil an seiner Vollkommenheit (Eph 4,13;  Kol 2,9) (126f).

 

(d) Der BauFür Paulus war bei seiner Bewertung nur die Frage entscheidend, ob beim Bauen die Einheit des Glaubens gefördert wurde. Nur so wird der Leib des Messias aufgebaut (Eph 4,12f). Nur so wächst der Leib auf ihn hin, der das Haupt ist. Es ist unbedingt notwendig, dass jedes Glied den ganzen Leib vor Augen hat (Eph 4,15f). Es geht um die Einheit von Juden und Heiden. Die Fernen sind „Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes“ geworden, „aufgebaut auf dem von den Aposteln und Propheten gelegten Grund, wo der Messias Jesus der Eckstein ist, in welchem der ganze Bau wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn,. Durch ihn werdet auch ihr Heiden miteingebaut zu einer Wohnung Gottes im Geist“ (Eph 2,19-22 vgl 1Kor 3,16f;  2Kor 6,16). Es handelt sich um dieselbe Einheit, wenn Paulus hinsichtlich der Frage des Götzenopferfleisches sagt, dass nur die Liebe erbaut (1Kor 8,1) und wenn er der Losung „alles ist erlaubt“ gegenüberstellt: „aber nicht alles baut auf“ (1Kor 10,23). Es kommt alles darauf an, dass die Baumeister weise und kundig sind (1Kor 3,10), gerade weil „nicht alles erbaut“. Es sind die Starken in der Ekklesia, die sich um die Erbauung der Schwachen kümmern sollen (Röm 15,2) (129f).

 

(e) Die vollkommene MenschlichkeitDas Ziel des Baues wird erreicht sein, wenn „wir alle gelangt sind zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes“ (Eph 4,13). Der Zusammenhang mit dem Gedanken des Wachstums auf den Messias hin (Eph 4,15) weist darauf hin, dass es hier um eine Anteilnahme an dem von ihm gelebten Glauben geht, indem man sich dem Haupt anschließt und zu ihm hinwächst. Die Einheit des Glaubens und der Erkenntnis, zu der man kommen soll, wird weiter erläutert in dem Gegensatz von „dem erwachsenen Mann“ und der Unmündigkeit einer leicht verführbaren Gemeinde (Eph 4,14) (130f).

Eph 4,13: „Wir sollen den Sohn Gottes immer besser kennen lernen, so dass unser Glaube zur vollen Reife gelangt und wir ganz von Christus erfüllt sind“ (Neues Leben). „Du bist zum Himmel emporgestiegen“. Bei der jüdischen Deutung von Ps 68,19 (Eph 4,8) auf Mose hin wird gedacht an den Aufstieg zu Gott und den Abstieg vom Berg herab. Die Judenchristen haben in Jesus den einzigartigen prophetischen Mann gleich Mose gesehen, den von Mose verheißenen messianischen Propheten, den Gott aufstellen würde ‚wie mich‘ (Dtn 18,15). Im Eph 4,10 geht es Paulus um „eine Erfüllung“ der Ekklesia, über der die Aussage von Ps 68 steht. Mit dem ‚All‘ sind an dieser Stelle ‚die Menschen‘ (Eph 4,8 vgl Ps 68,19) gemeint. Es ist die Gesamtheit der Ekklesia, die zur Vollkommenheit gebracht wird, indem ihr Apostel, Propheten, Evangelisten Hirten und Lehrer gegeben sind, „zur Zurüstung der Heiligen zum Werk des Dienstes, zum Aufbau des Leibes des Messias“ (Eph 4,11f). Das höchste und letzte Ziel dieses Aufbaus ist die vollkommene Menschlichkeit, die zum Ausdruck gebracht wird in dem Begriff vom ‚erwachsenen Mann‘. Weil aber für Paulus der Messias der neue Mensch schlechthin ist, wird dieses ‚Erwachsensein‘ wieder gekennzeichnet durch „das Mass der Reife und Vollkommenheit des Messias“, zu dem die Ekklesia hinkommen soll durch den Dienst von Aposteln und Propheten. Mit dem Aufstieg ist die Himmelfahrt gemeint, mit dem Abstieg die Einwohnung des heiligen Geistes und die Wirkung der Geistesgaben (135f).

Die Vollkommenheit des Messias und die der Ekklesia verhalten sich wie Urbild und Abbild, Sein und Werden, wie die Vollkommenheit des Erstgeborenen zu der seiner geistlichen Nachkommenschaft, des Sohnes Gottes zu der der Söhne Gottes (Eph 4,13;  Röm 8,14). Mit der „Vollkommenheit Gottes“ (Eph 3,19) ist die Vollkommenheit gemeint, die Gott gibt. Auch beim Begriff Wachstum ist vom „Wachstum Gottes“ die Rede (Kol 2,18) in dem Sinn, dass Gott als der Gebende gesehen wird. Kol 1,19f: „Denn in ihm gefiel es Gott, die ganze Vollkommenheit wohnen zu lassen und durch ihn das Ganze zu versöhnen auf ihn hin“. Diese Vollkommenheit wohnt im Messias. Er braucht nicht mehr zu ihr zu gelangen, wie die Ekklesia (Kol 2,9f;  Eph 3,19). Seine Vollkommenheit ist deshalb das Ziel für die Vollkommenheit der Ekklesia (Eph 4,13). Paulus kann den Messias als Haupt-Anfang-Erstgeborenen bezeichnend auch sagen, dass die Ekklesia „in ihm“ schon zur Vollkommenheit gebracht ist (Kol 2,10). In ihm wohnt die Vollkommenheit der Gottheit „leibhaft“, nicht „schattenhaft“ (Kol 2,9.17). Alle Verbalformen im Kol 2,16ff weisen auf diese im Haupt realisierte Vollkommenheit hin: „ihr seid zur Vollkommenheit gelangt, ihr seid beschnitten, ihr seid mitauferweckt“ (Kol 2,10-15). Daraus folgert Paulus, dass sie sich nicht an das Schattenhafte, sondern an das Haupt halten sollen, von dem her diese Leib-Wirklichkeit der Ekklesia wächst und wachsen soll (Kol 2,19) (139f).

Erfüllen heißt „den Menschen mit geistigen Gütern beschenken und bereichern“. Es handelt sich bei diesen Gütern um die Erkenntnis des Willens Gottes (Kol 1,9 vgl 4,12), die Einsicht (Kol 2,2) und den Geist (Eph 5,18). Die Vollkommenheit ist eine qualitative Fülle rein geistiger Güter, nämlich der sittlichen Reife und Tatkraft. Sie steht bei Paulus im Zusammenhang mit der Erkenntnis der Liebe des Messias (Eph 3,19), mit der Festigkeit des Glaubens (Kol 2,7) und mit einer Gesinnung, die der Feindschaft der bösen Werke gegenübersteht (Kol 1,21ff). Im Röm 15,7ff appelliert Paulus an die Gemeinschaft in der Ekklesia. „Darum nehmt einander an, wie auch der Messias euch angenommen hat zu Gottes Ehre“. Er schließt mit dem Segenswunsch: „Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, damit ihr reich seid an Hoffnung in der Kraft des heiligen Geistes“ (15,13) (140f).

Wie die Ekklesia der Leib des Messias ist, so ist sie auch die Vollkommenheit dessen, der das Ganze in allen zur Vollkommenheit bringt. Die Vollkommenheit ist im Haupt gegeben und ist zugleich von ihm aus im Werden begriffen (Eph 3,19;  4,10;  Kol 1,9.18). Der Pleroma-Begriff stammt in den Paulusbriefen nicht aus der Welt hellenistischer Spekulationen, sondern aus dem Judentum (142).

 

(f) Die GliederBei der metaphorischen Rede vom Leib und seinen Gliedern handelt es sich um den einen Leib des Messias (1Kor 12,12;  Eph 4,16;  5,30). Der Gedanke einer gegenseitigen Hilfeleistung, eines Aufbaues und der Sorge der Glieder für einander rückt in den Vordergrund „Denn wir sind untereinander Glieder“ (Eph 4,25), zum gegenseitigen und gemeinsamen Aufbau in der Liebe berufen „nach der Wirksamkeit, die dem Maß eines jeden Gliedes entspricht“ (Eph 4,16). „Untereinander ist eines des anderen Glied“ (Röm 12,5) und kein Glied soll meinen, dass es das einzige sei, dass es die anderen nicht nötig habe oder nicht zum Leibe gehöre. Sie sollen vielmehr miteinander leiden und miteinander sich freuen, einander ehren und für einander sorgen (1Kor 12,12-26). „Ihr aber seid ein Leib, (nämlich) des Messias, und Glieder, jeder an seinem Teil“ (1Kor 12,27). Der Organismusgedanke ist an allen Stellen zu erkennen. In Eph 5,30 geht es Paulus um das Verhältnis von Mann und Frau in der Ehe und als Glieder der einen Gemeinde, in der es nicht mehr heißt männlich oder weiblich (und nicht mehr Jude oder Grieche). Alle Glieder sollen fortan nur noch Glieder untereinander sein, zum Aufbau des einen Leibes in der Liebe bestimmt (143f).

Eph 4,16: Das Haupt ist die Quelle des Wachstums des Leibes, während die Glieder sich betätigen am Aufbau des Leibes in der Liebe, indem sie miteinander verbunden werden und ihre Aufgabe miteinander vollbringen. Die Glieder sind nicht Glieder des Messias, sondern Glieder seines Leibes d.h. Glieder untereinander. In dem Leibgedanken ist das Haupt eins der Glieder. Mit dem Haupt ist dann aber nicht der Messias gemeint. Wird jedoch der Messias das Haupt genannt, so wird er nicht als Glied des Leibes gesehen. Er wird wie in Eph 4,16 von den Gliedern unterschieden. Das Haupt schließt das Ganze in sich ein, setzt in seiner Existenz die Gesamtheit der Brüder voraus. Dagegen setzen die Glieder in ihrer Existenz einander und ihre Zugehörigkeit zueinander voraus (beim Begriff ‚Glieder‘ geht es nicht um das Christusverhältnis, sondern um das gegenseitige Verhältnis der Glieder untereinander). Wo es sich um diesen Gedanken handelt, wird im Eph in demselben Sinn gesprochen wie im 1Kor und im Röm (144).

Nur von den Gliedern im ‚sterblichen Leib‘ behauptet Paulus, dass sie „Glieder des Messias“ sind, dass sie also Gott zur Verfügung gestellt werden sollen, damit nicht die Sünde (der böse Trieb) über sie herrsche: Von den Gliedern im Leib des Messias sagt Paulus nie, dass sie Glieder des Messias seien, sondern nur, dass sie Glieder untereinander sein sollen. Man kann im pln Sinn nicht sagen: Christus ist das Haupt und wir sind seine Glieder, sondern nur: Der Messias ist das Haupt der Ekklesia und wir sind (deshalb) einer des anderen Glied. Von einer ‚ehelichen Verbindung‘ der Glieder mit ihrem Herrn ist niemals die Rede. Wo von den Gliedern im Leibe des Messias gesprochen wird, kommt es an auf das Verhältnis von Schwachen und Starken, Edlen und Unedlen, Juden und Heiden, Sklaven und Freien, Männern und Frauen untereinander und miteinander (147f).

Röm 12,4f: „Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir viele ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des anderen Glied“. Im Leib des Messias sind die Glieder nicht eingesetzt (1Kor 12,18.24), damit jedes Glied sich ein individuelles Verhältnis mit dem Herrn sichere, sondern damit sie „einträchtig für einander sorgen“ (1Kor 12,25). Nur so wachsen sie in der Liebe auf ihn, der das Haupt ist, hin und bekommen Anteil an seiner vollkommenen Menschlichkeit (Eph 4,13-16) (148).

 

(g) ZusammenfassungDie Ekklesia ist für Paulus der „Leib des Messias“ (Eph 1,23;   Kol 1,24;  1Kor 12,27;  Eph 4,12). Paulus ging es um die messianische Gemeinschaft. Die jüdisch geprägten Begriffe vom Haupt-Anfang-Erstgeborenen, vom Wachstum und Bau, sowie von der Vollkommenheit, hat Paulus nach seinen eigenen Gedanken und Zwecken mit der Metapher vom Leib verknüpft. Das macht seine Variation des geläufigen Themas aus (mit der griechischen Sprache wurden griechische Denkformen übernommen, die auch sachlich zu einer Hellenisierung führten, A6) (169f).

Dass die Gemeinde wirklich der Leib Christi ist, hat sich zu bewähren. Dass Juden und Griechen, Sklaven und Freie, zu einem Leib getauft worden sind, dass ‚die Vielen‘ ein Leib sind, weil der Messias Juden und Heiden in einem Leib versöhnte mit Gott, hat sich zu bewähren in der Liebe, in gegenseitiger Erbauung und im Wachstum auf den Messias hin, indem sie sich an ihn halten und Anteil bekommen an seiner Vollkommenheit. Die Bedeutung des Leibgedankens in den Paulusbriefen ist eine praktische. Bei seiner Verwendung der Metapher hat Paulus an ihrem ursprünglich ethischen Sinn festgehalten. Gerade deshalb kann der Leibgedanke bei Paulus nicht gnostisch erklärt werden. Es handelt sich nicht um eine mystische Erhabenheit der Kirche, sondern um eine Anregung für die messianische Gemeinschaft zu Liebe und zu gemeinsamem Dienst (171f).

Es gehört zur jüdischen Vorstellung vom Haupt, dass die Geschichtsereignisse, die mit dem Leben des Hauptes-Erstgeborenen verbunden sind, der Tod und die Auferstehung des Messias, in einer messianischen Ekklesia nicht bloß als ein Faktum der Vergangenheit verstanden werden, sondern dass sie die Gegenwart der Ekklesia bestimmen und sie sozusagen ‚erneuert‘ werden im Leben, im Glauben und in der Liebe, im Leiden und in der Hoffnung der Gemeinde. Der Begriff vom Haupt-Anfang-Erstgeborenen bei Paulus kann nicht mit einer ‚Mystik‘ verknüpft werden, weil er in der jüdischen Geschichtsauffassung wurzelt. Es handelt sich immer um eine Praxis des Lebens, um eine Analogie des Glaubens und des Gehorsams, der Liebe und der Erkenntnis, die von der geschichtlichen Stellung des Erstgeborenen her bestimmt wird und die darauf die Antwort ist. Im Zusammenhang mit der Heilsgeschichte hat Paulus die Metapher vom Leib in erster Linie auf das Verhältnis von Juden und Griechen in der einen Ekklesia angewandt. In der ökumenischen Perspektive des Apostels geht es um eine messianische, dh ökumenische Ekklesia aus Juden und Nichtjuden. Die Metapher von dem einen Leib hat er benutzt, damit gerade diese Perspektive verstanden werde von ‚Juden‘ und ‚Griechen‘ und sich bewähre in einer gemeinsamen Bemühung, „die Einheit des Geistes zu bewahren durch das Band des Friedens“ (Eph 4,3) (173f).


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


B. Zum Johannesevangelium

1. Zur Theologie des Johannesevangeliums
 2. Glauben an Jesus - ein Verstoß gegen das zweite Gebot?
 3. Die john Christologie vor dem Anspruch des Hauptgebotes (Dtn 6,4f)
 4. Vergottung Jesu im Johannesevangelium?
 5. Jesus als König im Johannesevangelium
 6. Anhang: Die Sendung des Sohnes als Endgericht


 

   

1. Zur Theologie des Johannesevangeliums

(1) Die Einheit Jesu mit Gott
 (2) Die Werke
 (3) Der Tod Jesu am Kreuz ist schon seine Erhöhung und Verherrlichung
 (4) Die Sakramente


 

R. Bultmann : Die Offenbarung der Doxa

(1) Die Einheit Jesu mit Gott: In der Abschiedsstunde richtet Philippus an Jesus die Bitte: „Herr, zeige uns den Vater“. Er erhält die Antwort: „Solange bin ich bei euch und du hast mich nicht erkannt? Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen...Glaubst du nicht, dass ich im Vater (bin) und der Vater in mir ist“ (14,8-10)? In der Person des Menschen Jesus begegnet Gott selbst: „Niemand kommt zum Vater, wenn nicht durch mich“ (14,6). In immer neuen Wendungen wird die Einheit Jesu als des Sohnes mit Gott als dem Vater betont: „Ich und der Vater sind eins“ (10,30). Mit der Formel des Mythos heißt es: er ist nicht allein, sondern der Vater, der ihn gesandt hat, ist bei ihm (8,16.29; 16,32). Formeln der Mystik dienen dazu, die Einheit zu beschreiben: das gegenseitige Einander-Kennen von Vater und Sohn (10,14.38) wie das gegenseitige Ineinander Sein (10,38; 14,10f.20; 17,21-28). Der Vater „liebt“ den Sohn (3,35; 5,20; 10,17; 15,9; 17,23f.26) und der Sohn „bleibt in der Liebe des Vaters“ (15,10). „Die Worte, die ich euch sage, rede ich nicht aus mir selbst, sondern der in mir bleibende Vater tut seine Werke“ (14,10). Im Wirken Jesu begegnet Gott und wird wahrnehmbar nur für den Menschen, der sich vom Wirken Jesu treffen lässt, der sein Wort „hören“ kann (8,43) (402f).

Dass in Jesus Gott selbst begegnet und zwar gerade in Jesus als einem Menschen, an dem nichts Außerordentliches wahrnehmbar ist als seine Behauptung, dass in ihm Gott begegne – darin liegt die Paradoxie des Offenbarungsgedankens. Johannes stellt die Tatsache, dass in Jesus Gott begegnet in anscheinend widerspruchsvoller Weise dar: einerseits in Sätzen, die besagen, dass Jesus gleiche Würde und gleiches Recht wie Gott hat, dass Gott seine Rechte gleichsam an Jesus abgetreten hat; andererseits so, dass es heißt, dass Jesus nur im Gehorsam gegen den Willen des Vaters redet und handelt und nichts von sich aus tut. Einerseits heißt es, dass Gott Jesus ‚alles‘ in die Hand gegeben hat (3,35; 13,3), dass er ihm „Vollmacht über alles Fleisch“ verliehen hat (17,2), dass er ihm gegeben hat „Leben in sich zu haben“, wie er selbst „das Leben in sich hat“ (5,56) und entsprechend, dass er ihm die Vollmacht gegeben hat, Gericht zu halten (5,22.27); er wirkt wie der Vater (5,17). Auf der anderen Seite erklärt Jesus: „Ich bin vom Himmel herabgekommen, nicht damit ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat“ (6,38). Er handelt im Gehorsam gegen die ‚Aufträge‘, die er vom Vater empfangen hat (10,18; 12,49f; 14,31; 15,10). Nur darin hat er seine Existenz: „Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen dessen der mich gesandt hat und vollende sein Werk“ (4,34) und so lautet das letzte Wort des Gekreuzigten: „Es ist vollbracht“ (19,30). Sein Wirken ist das Vollbringen des ihm von Gott aufgetragenen Werkes (5,36; 9,4; 10,32.37; 17,4) und das tut er um der Ehre des Vater willen (7,18; 8,49f; vgl. 11,4); für seine Ehre sorgt der Vater (8,50.54; vgl. 16,14) (403f).

Jesus ist nicht von sich aus, in eigener Autorität, gekommen, sondern der Vater hat ihn gesandt (7,28f; 8,42; vgl. 5,43). Von sich aus kann er nichts tun; er handelt nur nach der Anweisung des Vaters (5,19f.30; 8,28). Er lehrt und redet nicht von sich aus, sondern spricht nur die Worte, die ihm der Vater aufgetragen hat (7,17f; 12,49; 14,10.24; 17,8.14). Weil Jesus nicht von sich aus redet, kann es heißen, dass er die Worte Gottes redet (3,34), dass, wer ihn hört, hört die Worte Gottes, sofern er nicht verstockt ist (8,47) und wer sein Wort hört, hat das Leben, sofern er glaubt (5,24). Die Juden haben in ihrer Empörung darin Recht, dass Jesu Worte eine frevelhafte Vermessenheit wären, wenn sie vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet würden. Nicht Jesu Demut, sondern seine Autorität als die paradoxe Autorität eines Menschen, der Gottes Worte redet, soll deutlich gemacht werden. Der Offenbarungsgedanke soll zur Darstellung gebracht werden (404).


 

(2) Die Werke, die Jesus im Auftrag des Vaters tut (5,20.36; 9,4; 10,25.32.37; 14,12; 15,24), sind im Grunde nur ein einziges Werk: Wie es am Beginn seines Wirkens heißt: “Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen dessen, der mich gesandt hat und vollende sein Werk“ (4,34) und zum Schluss als Rückblick: “Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue“ (17,4) (405). 

Bei Johannes ist die Menschwerdung Christi das entscheidende Heilsereignis. Bei Paulus ist sie dem Ereignis des Todes untergeordnet, bei Johannes dagegen ist der Tod Jesu dem Ereignis der Menschwerdung untergeordnet. Genauer gesehen bildet die Menschwerdung als das 'Kommen' des Gottessohnes mit dem Tod als seinem 'Gehen' eine Einheit. In dieser Einheit liegt aber nicht, wie bei Paulus, der Schwerpunkt auf dem Tod. Dieser hat bei Johannes keine ausgezeichnete Heilsbedeutung, sondern ist die Vollendung des Werkes, das mit der Menschwerdung beginnt, die letzte Bewährung des Gehorsams (14,31), unter dem das ganze Leben Jesu steht. Das “gehorsam bis zum Tod“ (Phil 2,8) ist von Johannes in der ganzen Breite seiner Darstellung entfaltet worden. Die Kreuzigung ist Jesu Erhöhung (3,14; 8,28; 12,32.34) und seine Verherrlichung (7,39; 12,16.23; 13,31f; 17,1.5). Der Weg Jesu zur Erhöhung geht natürlich durch den Tod (“wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt“ 12,24). Im Tod erfüllt sich der Sinn der Sendung Jesu (12,27: “deswegen bin ich in diese Stunde gekommen“). Aber der Tod ist nicht ein Ereignis, dem durch die ihm folgende Auferstehung der Charakter der Katastrophe genommen werden müsste, vielmehr ist er selbst als solcher schon die Erhöhung. D.h. der Tod Jesu ist unter den Offenbarungsgedanken gestellt: in ihm handelt Jesus selbst als der Offenbarer und ist nicht das leidende Objekt einer göttlichen Heilsveranstaltung. Vom Leiden Jesu redet Johannes nicht. In 14,31 heißt es nicht: “so muss es geschehen“ (Mt 26,54), sondern “so tue ich“. Die john Passionsgeschichte zeigt Jesus nicht als den Leidenden, sondern als den Handelnden, als den Sieger (405f). 

Die Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer für die Sünden bestimmt die john Anschauung nicht. Wenn der Täufer auf Jesus hinweist (1,29), so wird Jesus damit als der bezeichnet, der die Sünde der Welt hinwegnimmt (fortschafft, wegträgt). “Er erschien, damit er die Sünde wegnehme“ (1Joh 3,5). Beim Bild vom Lamm ist an das Opfer zu denken. Aber nichts fordert, dass der Evangelist dieses Opfer nur im Tod und nicht, seiner Gesamtanschauung entsprechend, im gesamten Wirken Jesu gesehen hat. Der Satz 1Joh 1,7 (“das Blut Jesu... reinigt uns von aller Sünde“) steht unter dem Verdacht, redaktionelle Glosse zu sein. Er konkurriert mit 1Joh 1,9: “Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er (Gott) treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns von aller Ungerechtigkeit reinigt“. Ebenso sind die beiden Sätze 1Joh 2,2; 4,10, die Jesus “als Versöhnung für unsere Sünden“ bezeichnen wahrscheinlich redaktionelle Glossen (406f).

Vom Blut Jesu ist außer 1Joh 1,7 die Rede in Joh 6,53-56, d.h. in dem von der kirchlichen Redaktion eingefügten Abschnitt, in dem die vorangehende Rede, in der sich Jesus als das Brot des Lebens offenbart, auf das Sakrament des Herrenmahls umgedeutet wird, ferner in 19,34b, wo die kirchliche Redaktion dem Lanzenstich einen tieferen Sinn abgewinnt durch den Zusatz “und heraus kam sofort Blut und Wasser“. In 1Joh 5,6 (“Dieser ist der durch Wasser und Blut Gekommene, Jesus Christus“) bezeichnen das Wasser und das Blut nicht die Sakramente sondern den Anfangs- und Endpunkt seines Wirkens: seine Taufe und seinen Tod. Der doketischen Gnosis gegenüber soll die Realität des menschlichen Lebens des Erlösers festgestellt werden. Deshalb geht es weiter: “nicht nur im Wasser, sondern im Wasser und Blut“, d.h. der Erlöser hat sich nicht etwa nur in der Taufe mit dem Menschen Jesus verbunden und sich dann vor dem Tode wieder von ihm getrennt, sondern er hat auch den Tod erlitten. Von einer Heilsbedeutung des Todes bzw. des Blutes Jesu ist hier nicht die Rede (407).

Der Gedanke vom Tod Jesu als Sühnopfer spielt bei Johannes keine Rolle. Charakteristisch ist es, dass Johannes die Einsetzung des Herrenmahles nicht erzählt, dessen Liturgie in dem “für uns“ (bzw. “für die vielen“) den Sühnopfer-Gedanken enthält. Er hat sie durch das Abschiedsgebet Jesu ersetzt: “für sie heilige ich mich“ (17,19). Diese Worte bezeichnen Jesu Tod als Opfer. Aber der Tod ist wie sonst bei Johannes im Zusammenhang seines Lebens als die Vollendung seines Wirkens zu verstehen. Dass dieses als Ganzes ein Opfer ist, ist in der Charakteristik Jesu ausgesprochen als dessen, “den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat“ (10,36). “Dass er den einziggeborenen Sohn gab“ (3,16), meint nicht speziell die Hingabe in den Tod, sondern die Sendung Jesu. Auch ist nicht davon die Rede, dass das Opfer ein Sühnopfer für die Sünden ist. Von der Vergebung der Sünden wird weder in Joh 17 noch sonst in den Abschiedsreden gehandelt. Überhaupt ist von der Sündenvergebung im Evangelium nur in Joh 20,23 die Rede, wo die Vollmacht der Jünger, Sünden zu vergeben, auf ein Wort des Auferstandenen zurückgeführt wird: “Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben, wem ihr die Sünden behaltet, denen sind sie behalten“. Wie hier auf die kirchliche Praxis Bezug genommen wird, so auch im 1Joh, der überhaupt mehr als das Evangelium die Gemeindeterminologie berücksichtigt. Hier wird zweimal von der Sündenvergebung geredet: sie wird von Gott dem geschenkt, der seine Sünden bekennt (1,9) und ihr Empfang charakterisiert die Gemeindeglieder “euch sind die Sünden vergeben wegen seines Namens“ (2,12). Im Evangelium aber wird die Befreiung von den Sünden durch das Wort Jesu bzw. durch die im Wort vermittelte Wahrheit verheißen: “Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaftig meine Jünger und ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“ (8,31f), freimachen von der Sünde: “Jeder der sündigt, ist der Sünde Knecht“ (8,34). Dem entspricht, dass derjenige 'rein' ist, der den Dienst Jesu an sich hat geschehen lassen: “Wer gewaschen ist, muss sich nicht waschen, nur die Füße“ (13.10). Dieser Dienst besteht darin, dass Jesus den Seinen den Namen des Vaters offenbart hat, dass er ihnen die Worte gebracht hat, die ihm der Vater gegeben hatte: “Ich habe den Menschen, die du mir gegeben hast aus der Welt, deinen Namen offenbart. Sie gehörten dir, du hast sie mir gegeben und sie haben dein Wort festgehalten“. “Die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben und sie haben sie angenommen und haben wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin und sie sind zum Glauben gekommen, dass du mich gesandt hast“ (17,6.8). So heißt es: “Ihr seid schon rein wegen des Wortes, das ich euch gesagt habe“ (15,3). So wird jenes “Ich heilige mich für sie“ (17,19a) verständlich, denn es geht weiter: “damit auch sie geheiligt sind in der Wahrheit“ (17,19b), wozu ausdrücklich die Erläuterung gefügt ist: “dein Wort ist die Wahrheit“ (17,17). Der Tod Jesu ist nicht ein besonderes Werk, sondern ist in Einheit mit dem ganzen Wirken Jesu als dessen Vollendung verstanden (407f).


 

(3) Der Tod Jesu am Kreuz ist schon seine Erhöhung und Verherrlichung, deshalb kann er kein Ereignis von besonderer Bedeutung sein, denn das Kreuz ist selbst schon der Sieg über die Welt und ihren Herrscher gewesen. Die Stunde der Passion ist die Krisis der Welt, die den Sturz des “Herrschers dieser Welt“ bedeutet (12,31; 16,11). Als der Sieger, dem “der Herrscher dieser Welt“nichts mehr anhaben kann (14,30: “Er hat keine Macht über mich“), schreitet Jesus in die Passion (16,33: “Ich habe die Welt besiegt“). Es ist nicht die Rede davon, dass erst die dem Tode folgende Auferstehung und Erhöhung ihn zum Herrn aller kosmischen und dämonischen Mächte macht (z.B. Phil 2,11; Eph 1,20f; 1Ptr 3,21f). Jesus hat seine lebenschaffende Kraft nicht erst durch die Auferstehung erhalten, sondern der Vater hat ihm von vornherein gegeben “Leben in sich zu haben“ (5,26). Als der, der die Auferstehung und das Leben ist, tritt er den Menschen entgegen (11,25; 14,6). Den Glaubenden ruft sein Wort schon jetzt ins Leben (5,24: “Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tod in das Leben hinübergegangen“ und 11,25f: “Ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben“. Daher findet sich in den john Jesusworten nicht wie bei den Synoptikern die Weissagung von seiner Auferstehung bzw. Auferweckung. Der Evangelist redet davon nur in einer Anmerkung 2,22: “Als er nun auferweckt worden war von den Toten, erinnerten sich seine Jünger...“. Das Auferstehen findet sich nur in einer redaktionellen Glosse 20,9: “Denn noch nicht kannten sie die Schrift, dass es nötig sei, dass er auferstehe“. Das Auferwecken findet sich im redaktionellen Nachtragskapitel 21,14: “Dieses Mal offenbarte sich Jesus schon zum dritten Mal den Jüngern, auferweckt von den Toten“. In den Johannesbriefen fehlen die Termini ganz (408f).

Wenn der ursprüngliche Schluss 20,30 im Anschluss an die Ostergeschichten sagt: “Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern“, so sind die Erscheinungen des Auferstandenen auch als Zeichen verstanden wie die Wunder Jesu. Sie veranschaulichen den Sieg Jesu über die Welt und die Erfüllung der Verheißung von 16,22: “Ihr habt jetzt zwar Kummer, ich aber werde euch wiedersehen und euer Herz wird sich freuen“ (vgl. 16,16). Sofern sie wirkliche Ereignisse sind, sind sie auch darin den Wundern als Ereignissen gleich, dass sie der Schwachheit der Menschen konzidiert werden. Thomas Wunsch, den Auferstandenen leibhaftig sehen und betasten zu dürfen, wird ihm erfüllt. Aber gleichzeitig wird er beschämt: “Weil du mich gesehen hast, bist du gläubig geworden. Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben“ (20,29). In diesem letzten Wort Jesu liegt die Kritik des Kleinglaubens und eine Warnung, die Ostergeschichten für mehr zu nehmen, als sie sein können. Sie sind Zeichen, Bilder, Bekenntnisse des Osterglaubens (409f). 

Der Osterverheißung 16,16-24 mit dem “ich werde euch wiedersehen“ (16,22) geht parallel die andere 14,18: “Ich werde euch nicht verwaist zurücklassen, ich komme zu euch“, also die Verheißung seiner Parusie. Wenn es aber weitergeht: “Noch kurze Zeit und die Welt sieht mich nicht mehr, ihr aber seht mich, weil ich lebe und auch ihr werdet leben“ (“denn wie ich lebe, werdet auch ihr leben“) (14,19), so gleitet damit die Parusieverheißung in die Osterverheißung über. D.h. Auferstehung und Parusie Jesu sind für Johannes identisch. Wenn nun ferner mit diesen Verheißungen die Verheißung des Geistes (Parakleten) parallel geht (14,15-17), also die Pfingstverheißung, so sind für Johannes Ostern, Pfingsten und die Parusie nicht drei verschiedene Ereignisse, sondern ein und dasselbe. So geht die Oster- und die Parusie-Terminologie ständig durcheinander: vom Wiedersehen redet 14,19; 16,16.19.22, davon, dass er lebt 14,9 und von seiner Erscheinung vor den Jüngern 14,21f. Andererseits reden von seinem Kommen 14,3.18.23.28. Das für die eschatologische Erwartung so charakteristisch “an jenem Tag“ findet sich 14,20; 16,23.26 und “es kommt die Stunde“ 16,25. Dazwischen schiebt sich die Verheißung des Geistes 14,15-17; 16,7-11.13-15. Das eine Ereignis, das in alledem gemeint ist, ist kein äußeres Geschehen, sondern das innere: der Sieg, den Jesus gewinnt, indem sich aus der Überwindung des Anstoßes im Menschen der Glaube erhebt. Der Sieg über den “Herrscher dieser Welt“, den Jesus errungen hat, ist die Tatsache, dass es jetzt den Glauben gibt, der in ihm die Offenbarung Gottes sieht. Dem “ich habe die Welt besiegt“ (16,33) entspricht das Bekenntnis des Glaubenden: “dies ist der Sieg, der die Welt besiegt hat, unser Glaube. Wer ist der die Welt Besiegende, wenn nicht der Glaubende, dass Jesus ist der Sohn Gottes“ (1Joh 5,4f). Dass es sich um ein inneres Geschehen handelt, wird in dem kurzen Dialog zwischen Judas und Jesus festgestellt: “Herr, was bedeutet es, dass du dich uns offenbaren willst und nicht der Welt“? Jesus antwortet: “Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen“ (14,2). Das Gleiche gilt von der Sendung des Geistes, “dem Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und kennt. Ihr kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird“ (14,17). Die Parusie ist für Johannes nicht ein bevorstehendes dramatisch-kosmisches Ereignis, denn schon das Kommen Jesu ist die Krisis. Dementsprechend fehlen bei Johannes die synoptischen Parusieweissagungen vom Kommen des Menschensohnes in der Doxa seines Vaters, auf den Wolken des Himmels und dgl. (Mk 8,38; 13,26f usw.) (410f).


 

(4) Die Sakramente: Bei Johannes spielen die Heilstatsachen im traditionellen Sinn keine Rolle. Das ganze Heilsgeschehen: Menschwerdung, Tod und Auferstehung Jesu, Pfingsten und die Parusie ist in das eine Geschehen verlegt: die Offenbarung der Wahrheit Gottes im irdischen Wirken des Menschen Jesus und die Überwindung des Anstoßes im Glauben. Dieser Tatsache entspricht es, dass auch die Sakramente keine Rolle spielen. Zwar setzt Johannes die Taufe als kirchlichen Brauch voraus, wenn er 3,22 berichtet, dass Jesus Jünger wirbt und tauft. Korrigierend wird 4,2 versichert, dass nicht er selbst getauft habe, sondern seine Jünger. In dem überlieferten Text von 3,5: “Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen“ ist 'das Wasser' eine Einfügung der kirchlichen Redaktion, denn im Folgenden ist nur noch von der Wiedergeburt aus dem Geist und nicht mehr von der Taufe die Rede. Dem Wort vom freien Wehen des Geistes (3,8) widerspricht es, dass der Geist an das Taufwasser gebunden sein soll. In der Fußwaschung findet man vielfach die Taufe dargestellt – zu Unrecht. Sie bildet vielmehr den Dienst Jesu überhaupt ab, der die Jünger rein macht. Sie sind nach 15,3 rein durch das Wort, das Jesus zu ihnen gesprochen hat. Die kirchliche Redaktion hat den Bericht vom Lanzenstich (19,34a) glossiert (19,34b.35) und in dem der Wunde entströmenden Blut und Wasser die Sakramente des Herrrenmahls und der Taufe abgebildet gesehen. Die Salbung, die die Gemeinde empfangen hat und die ihr Erkenntnis verleiht (“bleibt in euch und... belehrt euch über alles“ 1Joh 2,27), ist der Geist der Wahrheit, von dem das Gleiche gilt (14,17: “weil er bei euch bleibt und in euch sein wird“ und 14,26: “der wird euch alles lehren“, vgl. 16,13). Wie der Geist der Wahrheit (14,17.26; 16,13) die Kraft des in der Gemeinde wirkenden Wortes ist, so wird auch die Salbung (1Joh 2,27) das machterfüllte Wort sein (411f).

Das Herrenmahl (im JohEv) ist wie in 19,34b, so in 6,51b-58 durch die kirchliche Redaktion eingebracht worden, denn das “Brot des Lebens“ der vorhergehenden Worte Jesu meint zweifellos nicht das sakramentale Mahl, sondern bezeichnet, wie das Lebenswasser und das Licht Jesus selbst als den, der das Leben bringt, indem er es ist (11,25; 14,6). Auch passt die in 6,51-58 enthaltene Vorstellung von der 'Arznei zur Unsterblichkeit' nicht zur Eschatologie des Johannes. Der Anstoß, den die Juden daran nehmen, dass Jesus sein Fleisch als Speise darbietet, ist ganz anderer Art als die john Skandala, die in dem eigentümlichen Dualismus des Johannes begründet sind, von dem hier nicht die Rede ist. Im Bericht vom letzten Mahl erzählt Johannes nichts von der Einsetzung des Herrenmahls, die er vielmehr durch das Abschiedsgebet Jesu ersetzt hat. Den 'neuen Bund', von dem die traditionellen Abendmahlsworte reden (1Kor 11,25), hat er durch das 'neue Gebot' ersetzt (13,34) (412).




2. Glauben an Jesus – ein Verstoß gegen das zweite Gebot?

(1) Einleitung
 (2) Das Problem: johanneische Christologie und jüdischer Monotheismus
 (3) Joh 9-10: Auseinandersetzung mit dem Vorwurf des Götzendienstes
 (4) Das JohEv zwischen Christen und Juden

T. Kriener


 

(1) Einleitung : Die polemischen Passagen im JohEv sind untrennbar mit seiner Christologie verbunden. Weil Jesus “der Weg, die Wahrheit und das Leben“ genannt wird und weil “niemand zum Vater kommt denn durch mich“ (14,6) – darum kommt es zur Auseinandersetzung mit denen, die diesen Anspruch bestreiten (2).

Das JohEv hat wie keine andere Schrift des ntl Kanons (den Röm ausgenommen) die christliche Dogmenbildung und Frömmigkeitsgeschichte beeinflusst. Weder das trinitarische noch das christologische Dogma der Alten Kirche sind vorstellbar ohne die gedankliche Grundlage der john Präexistenz- und Identitätsaussagen (2).

Einerseits schlagen sich im JohEv die Spuren eines realen Konfliktes zwischen der john Gemeinde und dem sich konsolidierenden rabbinischen Judentum nieder. Dieser Konflikt hatte für die jüdisch-geborenen Christen zur Folge, dass sie sich gegen ihren Willen und entgegen ihrem Selbstverständnis außerhalb der Synagoge wiederfanden. Die john Polemik gegen 'die Juden' ist zu verstehen als Reaktion auf diese Ausgrenzung. Diejenigen, die sich zur Synagoge halten und im Sinne des entstehenden normativen Judentums als Juden gelten, werden im JohEv als “Söhne des Teufels“ geschmäht (4).

Andererseits erweist sich der Konflikt als der Ausdruck einer großen Nähe der john Gemeinde zum entstehenden normativen Judentum. Es handelt sich um einen jüdisch-judenchristlichen Konflikt. Die Schärfe der Polemik beruht darauf, dass das JohEv sich an eine Leserschaft wendet, die sich zu einem erheblichen Teil dem Konfliktgegner noch eng verbunden weiß. Diese Verbundenheit scheint so eng gewesen zu sein, dass sich für nicht wenige Mitglieder der john Gemeinde die Frage stellen konnte, ob die Verbundenheit mit der Synagoge nicht schwerer wiege als die Verbundenheit mit dem von ihnen als Herrn bekannten Messias Jesus, so dass sie von diesem Herrn und seiner Gemeinde abzufallen vermochten, um die Verbindung zu den anderen Juden wiederherzustellen. Demgegenüber war es das Anliegen des Evangelisten, unsicher Gewordene zum Bleiben beim Herrn Jesus zu bewegen (4).

Das JohEv unternimmt den Versuch, die Alternative von Jesusbekenntnis und Treue zu den Ursprüngen der judenchristlichen Gemeindeglieder als Scheinalternative zu erweisen, indem es das Bekenntnis zu Jesus als Bekenntnis zum Glauben Israels an den einen Gott ausweist. Das JohEv hat sich in diesem Bemühen mit jüdischen Argumenten auseinanderzusetzen, die es evident machen sollten, dass Jesus nicht der Messias oder eine andere Heilsgestalt der jüdischen Enderwartung sein kann. Solche Argumente können ein Motiv für die Rückwendung zum Synagogenverband abgegeben haben – neben der primären Motivation, die aus der Situation sozialer Bedrängnis entstand, die sich mit dem Abgeschnittensein von allen sozialen Bezügen, auch dem Verlust der Schutzfunktion der religio licita gegenüber den römischen Behörden einstellte. Vor allem aber treffen solche Argumente den Nerv jedes judenchristlichen Bekenntnisses zu Jesus, insofern sie nun nicht mehr die Rückwendung von der Gemeinde der Jesusbekenner zum Judentum als Abfall, sondern das Bekenntnis zu Jesus als Abfall vom jüdischen Bekenntnis erscheinen lassen. Eine solche Argumentation konnte den Abtrünnigen das Verlassen der Gemeinde erleichtern, indem sie ihnen ermöglichte, ihre Entscheidung als Aufgabe einer vorübergehenden Verwirrung zu verstehen, die sich nun durch Einsicht in die Wahrheit geklärt hatte (5).

Die Überlebensfähigkeit der Gemeinde wird sich an ihrer Fähigkeit entschieden haben, ihren Gliedern Lebensperspektiven eröffnen zu können, die die Nachteile des Ausschlusses aus dem Sozialverband des jüdischen Volkes aufwiegen konnten. Jedenfalls ist es für den Verfasser des JohEv, der selber jüdischer Herkunft war, äußerst wichtig gewesen, die Übereinstimmung seines Evangeliums mit dem überlieferten Bekenntnis behaupten zu können (5f).

 

(2) Das Problem: johanneische Christologie und jüdischer Monotheismus : Mein Herr und mein Gott“ (20,28)! Wie Juden auf das so formulierte Bekenntnis der Gemeinde zu Jesus reagiert haben, zeigt 10,33: “Es antworteten ihm (Jesus) die Juden: Wegen eines guten Werkes steinigen wir dich nicht, sondern wegen Blasphemie und weil du, der du ein Mensch bist, dich selbst zu Gott machst“. Während der Vorwurf der Blasphemie in allen Evangelien erhoben wird, wird der Vorwurf, sich als Mensch Gott gleich zu machen, nur im JohEv erhoben (8).

Form- und traditionsgeschichtliche Überlegungen machen es wahrscheinlich, dass das Messiasbekenntnis Jesu vor dem Synhedrin als Gemeindebekenntnis nachträglich in die Passionsgeschichte eingefügt wurde, d.h. dass der Blasphemie-Vorwurf in der Darstellung der Synoptiker vom Prozess Jesu keinen historischen Hintergrund in den Vorgängen um Jesu Hinrichtung hat. Der Vorwurf der Blasphemie spielt im JohEv außer in 10,33 keine Rolle, während der Vorwurf, dass Jesus sich selbst Gott gleich mache, noch einmal in 5,18 vorkommt. Das deutet darauf hin, dass der Vorwurf des Sich-zu-Gott-Machens für das JohEv den Blasphemie-Vorwurf konkretisiert. Die john Gemeinde sah sich von seiten ihrer jüdischen Gegner dem Vorwurf ausgesetzt, in ihrem Bekenntnis Jesus “Gott gleich zu setzen“ (8f).

In den jüdischen Texten der vorrabbinischen Epoche findet sich keine antichristologische Polemik, weil die Ausbildung der Christologie bis hin zur Identifikation Jesus mit Gott zeitlich zusammenfällt mit dem Verschwinden der nicht rabbinischen jüdischen Strömungen nach dem jüdischen Krieg 66-70 n.Chr. (11).

Auf die entschiedene Ablehnung der Rabbinen stoßen vor allem zwei christologische Aussagen: die über die göttliche Natur Jesu (Zweinaturenlehre), denn Gott ist kein Mensch und die über die Offenbarung Gottes in Jesus (Trinitätslehre), denn Gott ist einzig. Er hat keinen Vorfahren, keinen Nachfolger und keinen Nachkommen. Wer in solchen Termini über Gott redet, verlässt die Basis der jüdischen Treue und Einzigkeit des Gottes Israels (24).

Die Erhebung eines Menschen zu einem weiteren Gott stellt für jüdisches Verständnis die absolute Gegenposition zur eigenen zentralen Grundüberzeugung von der Einheit und Einzigkeit Gottes dar (24).

Das JohEv hat nicht nur die christologische Lehrbildung entscheidend befruchtet, sondern es ist auch der entscheidende Anstoß für die rabbinische antichristologische Polemik gewesen (25).

 

(3) Joh 9-10: Auseinandersetzung mit dem Vorwurf des Götzendienstes : Aufgrund des Entschlusses 'der Juden', die gläubig gewordenen Juden aus der Synagogengemeinschaft auszuschließen – wäre für einen Gläubiggewordenen konsequenterweise der nächste Schritt, zum 'Jünger Jesu' zu werden, der bereit ist, sein Judesein aufzugeben. Ist er dazu nicht bereit, dann geht das nicht anders, als dass er sich dem Beschluss 'der Juden' unterwirft und vom 'Glauben' wieder abfällt. Dieses Dilemma, das nach Sicht des Evangelisten auf einem Beschluss 'der Juden' beruht, wird in 8,30-59 theologisch gedeutet (Anm. 239).

Jüdische Mitglieder der john Gemeinde, die immer noch meinen, ihre Zugehörigkeit zu beiden Gruppen ließe sich miteinander vereinbaren, geraten durch den christologischen Anspruch Jesu in ein unlösbares Dilemma. “Wenn ihr in meinem Wort bleibt“ (8,31) würde ankündigen, dass es Juden angesichts dieser Worte schwerfallen wird, zu bleiben (119, Anm.239).

Über die Gründe dafür, dass dieses Dilemma nicht auflöslich ist, gibt Kap. 9 Auskunft. Der Evangelist meint nicht, dass die Christologie der Gemeinde das Dilemma verursacht, sondern der Ausschluss der gläubig gewordenen Juden durch die Rabbinen. Der Unvereinbarkeitsbeschluss besteht für den Evangelisten nur in einer Richtung: Zum Glauben-Gekommensein ist nicht unvereinbar mit Judesein! (Anm. 239).

Im gesamten Kp 8 geht es um die Vaterschaft. 'Die Juden' sagen: “Wir sind nicht unehelich geboren; wir haben einen Vater: Gott“ (8,41) (119).

Der Polytheismus 'der Juden' besteht nach dem Vorwurf des john Jesus darin, dass sie “des Teufels sind“ (8,44), weil sie “die Begier eures Vaters tun“ wollen. Das ist identisch damit, dass sie das zu tun versuchen, “was Abraham nicht tat“ (8,40): Jesus töten, d.h. nichts anderes, als den Repräsentanten Gottes aus dem Weg schaffen, womit Gott entmachtet und der Andere, der Diabolos, ermächtigt wird. Der Vorwurf lautet, dass 'die Juden' in ihrem Verhalten Jesus gegenüber einen praktischen Dualismus an den Tag legen, mit dem sie ihren theoretischen Monotheismus desavouieren (120).

Was für die Jesus-Bekenner “den Vater fürchten“ (8,49) ist, ist in den Augen 'der Juden' 'samaritanisch' und 'dämonisch' (8,48). Stein des Anstoßes ist der Vollmachtsanspruch des john Jesus, Leben zu spenden (8,51). 'Die Juden' vergleichen den Menschen Jesus mit dem Menschen Abraham, sprechen ihm also diese Fähigkeit als eine Gott vorbehaltene ab und verstehen seinen Anspruch darum als Überheblichkeit: “Zu was machst du dich selbst“ (8,53)? - als blasphemischen Anspruch. Der john Jesus widerspricht dem Vorwurf der Selbsterhöhung. Sein Anspruch dient nicht der eigenen Ehre (8,50.54), sondern besteht in der Funktion, die ihm vom 'Vater' (8,54) übertragen wurde. Als der Beauftragte des Vaters war er schon, “bevor Abraham geboren wurde“ (8,58), nämlich wie im Prolog ausgeführt, das Wort Gottes, das von Anbeginn bei Gott war, durch das Gott alles Leben geschaffen hat. Zur Debatte steht: Entweder begegnet in Jesus Gott selber, und wer sich zu Jesus nicht bekennt, zeigt, dass er Gott verkennt, oder Jesus ist ein dämonischer Scharlatan, und die sich zu ihm als Täter von Gottestaten bekennen, verehren einen Abgott (120f).

Der Gegensatz ist nicht überbrückbar und gipfelt in dem Versuch der Lynchjustiz (8,59).

Joh 9: Wie ein Jude zum Jesus-Bekenner wird und was er dafür in Kauf nehmen muss. Eine paradigmatische Geschichte

(1) “Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. (2) Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist“? Es geht um mehr als diese konkrete Krankenheilung; es geht um die Frage des Götzendienstes, mithin um die Treue zum Gott der Väter.

(3) “Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm“. Die Frage nach der Sünde beantwortet Jesus negativ, weil die Blindheit gegenüber Gott nur durch Gott selbst aufgehoben werden kann. Diese Gottestat wird sich jetzt ereignen (122f).

(4) “Wir müssen die Werke dessen, der mich gesandt hat, wirken, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“. Jesus tut diese Werke Gottes.

(5) “Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt“. Nur wenn Jesus da ist, können diese Werke getan werden. Verlässt er die Welt, ist auch das Licht wieder aus der Welt. Bevor er in die Welt kam, war kein Licht in der Welt. Solange Jesus nicht in der Welt war, konnte der Blindgeborene nicht sehen. Ohne die Erleuchtung durch Jesus ist die Welt – einschließlich der Juden – blind für Gott (123).

(6) “Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder“. Die Ingredienzien der Verkündigung von Jesus, die zur Gotteserkenntnis führt und durch die die Gemeinde gesammelt und konstituiert wird, sind die Traditionen der jüdischen Väter und Mütter im Glauben an den einen Gott (123f).

(8) “Die Nachbarn und die, die ihn früher als Bettler gesehen hatten, sprachen: Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte“? Die Heilung wird zweimal erzählt: für das 'einfache Volk' und anschließend für die jüdischen Autoritäten (124).

(9) “Einige sprachen: Er ist's; andere: Nein, aber er ist ihm ähnlich. Er selbst aber sprach: Ich bin's“. Für die Feststellung der Identität reicht gegenüber den Nachbarn die Aussage des Befragten (125).

(10) “Da fragten sie ihn: Wie sind deine Augen aufgetan worden? (11) Er antwortete: Der Mensch, der Jesus heißt, machte einen Brei und strich ihn auf meine Augen und sprach: Geh zum Teich Siloah und wasche dich! Ich ging hin und wusch mich und wurde sehend. (12) Da fragten sie ihn: Wo ist er? Er antwortete: ich weiß es nicht. (13) Da führten sie ihn, der vorher blind gewesen war, zu den Pharisäern“. Die Pharisäer sind im JohEv 'die Repräsentanten des Judentums', die als Behörde dargestellt werden und obrigkeitliche Funktionen ausüben.

(14) “Es war aber Sabbat an dem Tag, als Jesus den Brei machte und seine Augen öffnete“. So interessiert sie an dem Wundertäter sein mögen: Die Übertretung der Sabbathalacha erfordert zumindest eine amtliche Klärung. D.h. in erster Linie hat nicht die Christologie zwischen john Gemeinde und Judentum trennend gewirkt, sondern trennend wirkt vor allem, dass die Gemeinde sich in einer lebenspraktischen Frage, in einem der die Juden unterscheidenden Merkmal anders verhält. Das entfremdet sie auch den einfachen Leuten, die der Botschaft von dem gekommenen Erlöser gegenüber aufgeschlossen sind (125).

(15) “Da fragten ihn auch die Pharisäer, wie er sehend geworden wäre. Er aber sprach zu ihnen: Einen Brei legte er mir auf die Augen, und ich wusch mich und bin sehend. (16) Da sprachen einige der Pharisäer: Dieser Mensch ist nicht von Gott, weil er den Sabbat nicht hält. Andere aber sprachen: Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun? Und es entstand Zwietracht unter ihnen“. Das ist das Dilemma, in dem die Verkündigung der john Gemeinde sich befindet: Ihre Botschaft von dem Gesandten, der die Taten Gottes getan hat, stößt bei Juden auf den Einwand, dass jemand, der seine Nachfolger zum Übertreten der Halacha anhält, mit Gott, der den Sabbat angeordnet hat, nichts zu tun haben kann. Andererseits ist dieses Zeichen, die Heilung eines Blinden als ein exklusiv göttliches Werk nicht einem Sünder zuzuschreiben (126).

(17) “Da sprachen sie wieder zu dem Blinden: Was sagst du von ihm, dass er deine Augen aufgetan hat? Er aber sprach: Er ist ein Prophet“. Die 'Behörde' befragt den Sehendgewordenen nach seinem Bekenntnis. Der Zusammenhang von Prophetenbekenntnis, Halachaübertretung und Wunder erinnert an Dtn 13,1-6. Dort wird vor einem Propheten gewarnt, der Wunder tut und in diesem Zusammenhang dazu auffordert, anderen Göttern zu folgen. Das ist eine von Gott selbst gestellte Probe, “ob ihr ihn von ganzem Herzen und von ganzer Seele liebt. Dem Herrn, eurem Gott, sollt ihr folgen und seine Gebote sollt ihr halten... Jener Prophet aber soll getötet werden, denn er hat gegen den Herrn, deinen Gott, Abfall gepredigt, um dich abzubringen von dem Weg, den zu wandeln der Herr, dein Gott, dir geboten hat“. Das Bekenntnis zu Jesus als Prophet löst also keineswegs die Fragen, sondern wirft neue auf. Das Verhör wird dadurch nicht beendet, sondern das Misstrauen der Pharisäer erst recht geweckt. Vor allem ist die Frage nach der Vereinbarkeit von Bekenntnis zu Jesus und zweitem Gebot weiter akut (126f).

(18) “Nun glaubten die Juden nicht von ihm, dass er blind gewesen und sehend geworden war, bis sie die Eltern dessen riefen, der sehend geworden war. (19) Und sie fragten und sprachen: Ist das euer Sohn, von dem ihr sagt, er sei blind geboren? Wieso ist er nun sehend“? Wie konnte es dazu kommen, dass Kinder von jüdischen Eltern behaupteten, in ihrem Bekenntnis zu Jesus überhaupt erst zur Erkenntnis des Gottes Israels gekommen zu sein (127)?

(20) “Seine Eltern antworteten ihnen und sprachen: Wir wissen, dass dieser unser Sohn ist und dass er blind geboren ist und wer ihm seine Augen aufgetan hat, wissen wir auch nicht. (21) Aber wieso er nun sehend ist, wissen wir nicht. Fragt ihn, er ist alt genug; lasst ihn für sich selbst reden“. Das Dilemma, wie das Phänomen der Christen zu beurteilen sei, die einen als Täter der Taten Gottes bekennen, ohne die Halacha Gottes zu halten, bleibt bestehen. In der Aussage der Eltern spiegelt sich, auf welches Unverständnis und welche Hilflosigkeit es bei den Familien traf, wenn eine/r sich der christlichen Gemeinde anschloss. Und es zeigt sich, dass das Bekenntnis zu Jesus die Entfremdung von der Familie mit sich bringt (128).

(22) “Das sagten seine Eltern, denn sie fürchteten sich vor den Juden. Denn die Juden hatten sich schon geeinigt: wenn jemand ihn als den Christus bekenne, der solle aus der Synagoge ausgestoßen werden“. In diesem Vers manifestiert sich deutlich die gegenwärtige Erfahrung der john Gemeinde: eine Atmosphäre der Angst vor jüdischen Behörden, weil das Bekenntnis zu Jesus als Messias den Ausschluss aus der jüdischen Gemeinschaft zur Folge hat (128).

(23) “Darum sprachen seine Eltern: Er ist alt genug, fragt ihn selbst. (24) Da riefen sie noch einmal den Menschen, der blind gewesen war und sprachen zu ihm: Gib Gott die Ehre! Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist“. Für das Verständnis der jüdischen Kontrahenten der john Gemeinde gehört zum Bekenntnis zu Gott die Distanzierung von Jesus, der sündigt bzw. zum Sündigen anhält – abzulesen an der Verletzung der Sabbat-Halacha durch die christliche Gemeinde.

Im JohEv wird verschiedentlich unterstrichen, dass Jesus für sich keine Ehre gesucht habe (5,41; 7,18; 8,50.54), sondern einzig die Ehre dessen, der ihn gesandt hat (7,18; 17,5.22.24). Umgekehrt wird 'den Juden' vorgeworfen, dass sie voneinander Ehre annehmen (5,44), bzw. 'den Oberen', dass sie die Ehre bei den Menschen mehr lieben als die Ehre bei Gott (12,43). Die jüdische 'Behörde' verdächtigt die Jesus-Anhänger, Gott nicht zu verehren. Das JohEv wirft 'den Juden' dasselbe vor (128f).

(25) “Er antwortete: Ist er ein Sünder? Das weiß ich nicht. Eins aber weiß ich: dass ich blind war und nun bin ich sehend“. Relevant ist allein, dass durch Jesus Gotteserkenntnis ermöglicht und erlangt wird. Relativiert ist demgegenüber die Herkunft aus dem Judentum oder die Verpflichtung auf die rabbinische Halacha. Z.B. können Samariter ebenso Gotteserkenntnis erlangen, ohne dass sie zu halachisch zweifelsfreien Juden konvertieren müssen (129).

(26) “Da fragten sie ihn: Was hat er mit dir getan? Wie hat er deine Augen aufgetan? (27) Er antwortete ihnen: Ich habe es euch schon gesagt, und ihr habt's nicht gehört! Was wollt ihr's abermals hören? Wollt auch ihr seine Jünger werden“? Gottestat und Sabbatübertretung passen nicht zusammen. Der Konflikt und die eingetretene Entfremdung waren längst so weit fortgeschritten, dass eine Hoffnung auf Überzeugen der jüdischen Seite aussichtslos erschien.

(28) “Da schmähten sie ihn und sprachen: Du bist sein Jünger; wir aber sind Moses Jünger“. Die Schmähung besteht in der Bezeichnung als Jünger Jesu. Einzig an dieser Stelle im JohEv wird Mose als Alternative zu Jesus benannt. Für die jüdischen Autoritäten existiert demnach eine Alternative von Jesus-Anhängern und Mose-Gefolgschaft. Wer dem einen gehorsam ist, setzt sich in Gegensatz zum anderen. Diese Auffassung wird daher kommen, dass die christliche Gemeinde in ihrer Gesamtheit als Gemeinschaft von Juden, Samaritern und Heiden die Tora nicht gehalten hat. Von daher sind Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft und Zugehörigkeit zur Gemeinschaft Jesu Christi unvereinbar (129f).

Der john Jesus behaftet seine Diskussionsgegner bei Mose (5,45; 7,19.22f). Das Auftreten Jesu stellt keine Konkurrenz zu Mose dar. Vielmehr steht es im Einklang mit dem, was Mose und die Propheten geschrieben haben (1,45) (Anm. 264).

(29) “Wir wissen, dass Gott mit Mose geredet hat. Woher aber dieser ist, wissen wir nicht. (30) Der Mensch antwortete und sprach zu ihnen. Das ist verwunderlich, dass ihr nicht wisst, woher er ist, und er hat meine Augen aufgetan“. Die Gottestat erweist den Täter als Gottes 'Genossen'. Eigentlich sollte, wer Jünger des Mose ist, das erkennen können. Dass 'die Juden' das nicht tun, ist verwunderlich.

(31) “Wir wissen, dass Gott die Sünder nicht erhört, sondern den der gottesfürchtig ist und seinen Willen tut, den erhört er“. Dieses Wissen ist dem Sehendgewordenen, 'den Juden' der christlichen Gemeinde und der jüdischen Gemeinschaft gemeinsam, weil es in beider Bibel steht: (Gott an das sündige Israel): “Auch wenn ihr viele Gebete macht, höre ich nicht. Eure Hände sind voll Blut. Wascht euch! Reinigt euch! Entfernt das Böse von euch“ (Jes 1,15f). “Hätte ich in meinem Herzen Unrecht ersehen, hätte mein Herr nicht gehört. Doch Gott hat gehört, er hat auf die Stimme meines Gebetes geachtet“ (Ps 66,18f)! “Er tut den Willen derer, die ihn fürchten. Er hört ihr Schreien und hilft ihnen“ (Ps145,19). “Das Gebet der Gerechten erhört er“ (Spr 15,29).

(32) “Von Anbeginn der Welt an hat man nicht gehört, dass jemand einem Blindgeborenen die Augen aufgetan habe. (33) Wäre dieser nicht von Gott, er könnte nichts tun. (34) Sie antworteten und sprachen zu ihm: Du bist ganz in Sünden geboren und lehrst uns? Und sie stießen ihn hinaus“. Das Verhalten 'der Juden' wird als reine Willkür hingestellt. Das Argument mit dem aus der Schrift Bekannten ist schlagend. 'Die Juden' halten dem Argument nicht stand und weisen darauf hin, dass der Betreffende blind, also ganz in Sünden geboren wurde, dass er daher in Sachen Sünde und Nichterhörung von Sündern gar nichts zu sagen habe (130f).

Der Hinauswurf ist der praktische Vollzug des in 9,22 erwähnten Beschlusses, die Christusbekenner aus der Synagoge auszuschließen.

(35) “Es kam vor Jesus, dass sie ihn ausgestoßen hatten. Und als er ihn fand, fragte er: Glaubst du an den Menschensohn“? Die Initiative geht von Jesus aus, der die Betreffenden aufsucht und um ihr Bekenntnis nachsucht (131).

(36) “Er antwortete und sprach: Herr, wer ist's, dass ich an ihn glaube. (37) Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen und der mit dir redet, der ist's. (38) Er aber sprach: Herr, ich glaube und betete ihn an. (39) Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit die, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden“. Sehen und Blindheit sind Gerichtsfolgen. Gotteserkenntnis und Blindheit für Gott beruhen nicht auf der Entscheidung der Menschen, sondern sind Folge des Gerichtshandelns Gottes in Jesus (131f).

(40) “Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm waren und fragten ihn: Sind wir denn auch blind? (41) Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde. Weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde“. Die Sünde, die mit Blindheit verurteilt wird, ist die Behauptung, sehend zu sein, ohne an Jesus zu glauben. Solches 'Sehendsein' wird darum mit Blindheit gestraft.

In diesem letzten Abschnitt von Kap. 9 werden Blindheit und Sehenkönnen metaphorisch verwendet: Das 'Natürliche', der Zustand 'von Geburt an', ist Blindheit für Gott. 'Die Juden' sind gerade darin sündig, dass sie von sich behaupten, nicht blind zu sein, also Gott zu erkennen. Sehfähigkeit, Gotteserkenntnis, kann aber nur Jesus selbst, der bevollmächtigte Täter der Taten Gottes, verleihen. Ob jemand 'blind oder sehend' ist, erweist sich daran, ob er oder sie an Jesus als den Propheten, Menschensohn, d.h. den bevollmächtigten Gesandten Gottes, glaubt (132f).

Die Polemik des JohEv gegen 'die Juden' ist ebenso grundsätzlich wie die gegen die “Teufelskinder“(8,44). Der Konflikt wird als gegenseitige Exkommunikation erlebt: Die einen werden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, worauf die anderen mit der Bestreitung der Gottesgemeinschaft antworten (133).

Joh 10: Das Misslingen eines letzten Erklärungsversuchs

(1) “Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und Räuber“. Die 'Hirtenrede' setzt die Polemik gegen die Pharisäer als die führende Gruppe des zeitgenössischen Judentums fort.

(2) “Der aber, der zur Tür hineingeht, der ist der Hirte der Schafe. (3) Dem macht der Türhüter auf und die Schafe hören seine Stimme. Und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie hinaus. (4) Und wenn er alle seine Schafe hinausgelassen hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm nach, denn sie kennen seine Stimme. (5) Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen vor ihm, denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht“. Diese Bildrede (10,6) ist ganz auf den Gegensatz zwischen Hirte und Fremdem ausgerichtet. Es geht um Besitzverhältnisse und ihre Auswirkungen: Dem Besitzer, der das Vertrauen seiner Herde hat, weil sie ihn aus dem täglichen Kontakt kennt, steht der Fremde gegenüber, der bei den Schafen Angst auslöst.

(6) “Dieses Gleichnis sagte Jesus zu ihnen. Sie verstanden aber nicht, was er ihnen damit sagte. (7) Da sprach Jesus wieder: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen“. Indem Jesus sich mit der Tür identifiziert, wird seine Rolle zunächst noch von der des Hirten unterschieden. Wenn das JohEv Jesus als Tür bezeichnet, weist es ihm somit zunächst die Funktion zu, Zugang Gottes zu seiner Herde Israel zu sein (134f).

(8) “Alle, die vor mir gekommen sind, die sind Diebe und Räuber. Aber die Schafe haben ihnen nicht gehorcht“. Der Hirte hat sich bisher noch nicht blicken lassen, sondern die, die zu Israel gekommen sind, sind Diebe, weil sie nicht die Tür benutzen (10,1).

(9) “Ich bin die Tür. Wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden und wird ein- und ausgehen und Weide finden“. Das Thema ist jetzt die Tür in ihrer Schutzfunktion für die Schafe: Schafe, die die Tür finden und in die Hürde gelangen, sind vor Raubtieren sicher.

(10) “Ein Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen. Ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben. (11) Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte riskiert sein Leben für die Schafe“. Jetzt identifiziert sich der john Jesus mit dem Hirten. Jesu Kreuzestod wird interpretiert als die Konsequenz seines Einsatzes für das Leben der ihm Anvertrauten (135f).

(12) “Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen, verlässt die Schafe und flieht - und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie -, (13) denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. (14) Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich“. Die Formulierung erinnert an Ez 34,30f, wo Israel den Herrn als seinen Gott (er)kennen wird und Gott die Isrealiten als “meine Schafe, die Schafe meiner Weide“ bezeichnet.

(15) “wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe“. Die Intimität des Verhältnisses zwischen ihm und seinem Vater, entspricht also seiner Sendung, ist auftragsgemäß. Dazu gehört die Bereitschaft, das Leben für die Seinen zu geben. Der Kreuzestod ist auftragsgemäß.

(16) “Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall. Auch sie muss ich herführen und sie werden meine Stimme hören und es wird eine Herde und ein Hirte werden“. Damit wird auf die Samariter und Heiden in der john Gemeinde angespielt und darauf, dass sich aus den Mittgliedern verschiedener Herkunft eine neue soziale Einheit bildet durch den einen 'Hirten' Jesus (136f).

(17) “Darum liebt mich mein Vater, weil ich mein Leben lasse, dass ich's wieder nehme. (18) Niemand nimmt es von mir, sondern ich selber lasse es. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wieder zu nehmen. Dies Gebot habe ich empfangen von meinem Vater“. Der Kreuzestod Jesu ereignet sich in vollem Willen Jesu. Ihm wird nicht etwa das Leben genommen, sondern er kann es geben und wieder an sich nehmen. Die Macht dazu hat er, weil er in absoluter Willenseinheit mit dem Vater agiert.

(19) “Da entstand abermals (9,16) Zwietracht unter den Juden wegen dieser Worte. (20) Viele unter ihnen sprachen: Er hat einen bösen Geist und ist von Sinnen. Was hört ihr ihm zu? (21) Andere sprachen: Das sind nicht Worte eines Besessenen. Kann denn ein böser Geist die Augen der Blinden auftun“? Das Gotteswerk des Augenöffnens ist keinem Dämon zuzutrauen. Das Dilemma ist offensichtlich. Wenn sie konsequent wären, müssten 'die Juden' / 'die Pharisäer' ebenso “an den Menschensohn glauben“, wie der Sehendgewordene (9,38). Was sie davon abhält, ist wiederum, dass ein Mensch göttliche Qualitäten für sich in Anspruch nimmt.

(22) “Es war damals das Fest der Tempelweihe (Chanukka) in Jerusalem und es war Winter (23) und Jesus ging im Tempel in der Halle Salomos umher. (24) Da umringten ihn die Juden und sprachen zu ihm: Wie lange hältst du uns im Ungewissen? Bist du der Christus, so sage es frei heraus“. In Kap. 7 wurden drei Argument zur Frage, woran der Messias zu erkennen sei, erwogen: (a) Vom Messias weiß niemand, woher er kommt, von Jesus weiß man es (7,27). (b) Die Zeichen, die den Messias ausweisen (7,31), (c) die Herkunft des Messias aus Bethlehem, Jesus dagegen kommt aus Galiläa (7,41f). Jesus gibt in diesen Erörterungen keine Auskunft, ob er der Messias ist (137f).

Der Messias wird “in Ewigkeit bleiben“ (12,34), ist die Überzeugung. Wie verträgt sich das mit Jesu Ansage seiner 'Erhöhung', d.h. seinem Aus-der Welt-Gehen (12,32)?

Anhänger Jesu bezeichnen ihn als Messias (1,41; 11,27). Das Bekenntnis zu Jesus als Messias ist Ziel des JohEv (20,31). Es gilt als Kennzeichen der Mitglieder der Gemeinde, das den Ausschluss aus der Synagogengemeinschaft nach sich zieht (9,22).

Jesus bekennt sich nur ein einziges Mal dazu, der “Messias, genannt Christus“ (4,25) zu sein, nämlich gegenüber der samaritanischen Frau. Er greift damit eine spezifisch samaritische Erwartung auf (138).

(25) “Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt und ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich tue in meines Vaters Namen, die zeugen von mir“. Gemeint ist 5,36, wo Jesus in seiner Apologie der Heilung des Lahmen am Sabbat 'den Juden' gegenüber eine ähnliche Formulierung gebraucht: “Die Werke nämlich, die mir der Vater gegeben hat, damit ich sie vollende, diese Werke, die ich tue, bezeugen über mich, dass der Vater mich gesandt hat“. Ein solches Werk ist auch die Blindenheilung. Entscheidendender für die Bedeutung, die das JohEv Jesus zuschreibt, als die Frage der Messianität ist, ob und wie er in Einklang mit “dem Vater“ agiert (139).

(26) “Aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen. (27) Meine Schafe hören meine Stimme und ich kenne sie und sie folgen mir“. Das greift zurück auf 10,3f: Der Hirte ruft die Schafe, die zu seiner Herde gehören. Sie kommen auf seinen Zuruf hin zu ihm gelaufen. Die Schafe, die anderen Schäfern gehören, folgen ihm natürlich nicht. Es gibt also die einen, die dazugehören und es gibt andere, die nicht dazugehören und nicht mitgenommen werden können, weil sie auf einen anderen Hirten 'gepolt' sind (139f).

(28) “Und ich gebe ihnen das ewige Leben und sie werden nimmermehr umkommen. Und niemand wird sie aus meiner Hand reißen“. Auch diese Formulierung wiederholt bereits früher Gesagtes: “...wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben...“ (5,24). “Das ist aber der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat“ (6,39) (140).

(29) “Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen“. Die Aussagen über die Machtfülle Jesu werden sofort zurückgebunden an Gott: In seiner Machtfülle ist die Macht Jesu begründet. Ohne oder gar gegen ihn, der größer ist als alle, wäre Jesus völlig unbedeutend (141).

(30) “Ich und der Vater sind eins“. Im Licht der vorangegangenen Sätze ist dies keine Aussage über die Würde Jesu, sondern eine Aussage über die vollständige Abhängigkeit seiner Würde von Gott.

(31) “Da hoben die Juden abermals Steine auf, um ihn zu steinigen. (32) Jesus sprach zu ihnen: Viele gute Werke habe ich euch erzeigt vom Vater; um welches dieser Werke willen wollt ihr mich steinigen“? Die Argumentation des john Jesus bezieht sich immer wieder auf die Werke, die er tut – ist also funktional orientiert. Damit soll die auf die Wesensidentität zielende Kritik der antichristologischen Argumentation der Rabbinen unterlaufen werden (141f).

(33) “Die Juden antworteten ihm und sprachen: Um eines guten Werkes willen steinigen wir dich nicht, sondern um der Gotteslästerung willen, denn du bist ein Mensch und machst dich selbst zu Gott“. Als konkreter Sachverhalt, der den Vorwurf der Blasphemie begründet, wird hier genannt, dass ein Mensch sich selbst zu Gott macht. Dies ist im synoptischen Material vorgebildet in dem Vorwurf, Jesus maße sich die Vollmacht zur Sündenvergebung an, die allein Gott zusteht. Derselbe Vorwurf wird Jesus bereits in 5,18 gemacht in Verbindung damit, dass Jesus Gott seinen Vater genannt hatte. Hier erfolgt die Beschuldigung der Blasphemie auf die Behauptung der Einheit Jesu mit Gott hin (10,30). Das Skandalöse liegt darin, dass Jesus “sich selbst gottgleich macht“ (142f).

(34) “Jesus antwortete ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz (Ps 82,6): Ich habe gesagt: Ihr seid Götter“? Das JohEv zieht zur Verteidigung gegen den Vorwurf, die eigene Christologie sei Blasphemie, diesen Psalmvers heran, weil die Bedeutung des john Jesus auf derselben Ebene mit der Bedeutung Israels gesucht wird. Die Kategorien für das Verstehen werden in positiver Anknüpfung an Aussagen der Schrift und jüdisches Selbstverständnis gewonnen und nicht in der Entgegensetzung (143f).

(35) “Wenn er die Götter nennt, zu denen das Wort Gottes geschah - und die Schrift kann doch nicht gebrochen werden -, (36) wie sagt ihr denn zu dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: Du lästerst Gott -, weil ich sage: Ich bin Gottes Sohn“? Der Vergleichspunkt ist das Wort, das an die einen ergeht – die darum 'Götter' genannt werden -, und das Jesus in Person ist – weshalb nicht sein kann, dass es Gotteslästerung ist, wenn er 'Gott' genannt wird. Aber gilt das auch, wenn er sich selbst “Gottes Sohn“ nennt?

(37) “Tue ich nicht die Werke meines Vaters, so glaubt mir nicht“. Das Kriterium zur Beurteilung von Jesus, an dem sich entscheidet, ob er 'glaubwürdig' ist, ob also an ihn geglaubt werden kann und soll, ist sein Tun: Wenn er nicht die “Werke des Vaters“ tut, verbietet sich der Glaube an ihn. Ob Jesus geglaubt werden kann, ob also ein christologisches Bekenntnis zulässig ist, entscheidet sich daran, ob in Jesu Wirken Gottes Werke deutlich werden, ob das christologische Bekenntnis die theologische Erkenntnis befördert. Christologie, die nicht im Dienst der Erkenntnis des Vaters Jesu, der der Gott Israels ist, steht, verdient keinen Glauben (145).

Bei den Werken des Vaters ist zunächst an die Wundertaten Jesu zu denken. So lautet die Überschrift über der Heilung des Blinden (9,3f). Mit diesem Begriff wurde auch das Wunder an dem Lahmen (5,20.36) bezeichnet. Die Wunder stehen repräsentativ für das Werk Gottes (3,1; 4,34; 14,10ff; 17,4). Die Wunder Jesu im JohEv sind Taten der Restitution der Schöpfung. “Die Werke“, die der Vater dem Sohn gegeben hat, sie zu vollenden (5,36), bestehen in der Vollendung oder Zurechtbringung der Schöpfung, wie sie einzig dem Logos, dem Schöpfungsmittler, übertragen werden kann.

(38) “tue ich sie aber, so glaubt doch den Werken, wenn ihr mir nicht glauben wollt, damit ihr erkennt und wisst, dass der Vater in mir ist und ich in ihm“. Damit wird die Klimax der christologischen Argumentation gegenüber der Kritik durch die Repräsentanten der jüdisch-rabbinischen Lehre im Zusammenhang der Kap. 9-10 wie überhaupt des gesamten Evangeliums erreicht (145).

Bemerkenswert ist die Bereitschaft, die Christologie, zugunsten der göttlichen 'Ökonomie' zurücktreten zu lassen. Die Erwartung ist, dass die Christologie angesichts der göttlichen Ökonomie bestätigt werden wird. Sie ist dieser völlig untergeordnet (146).

(39) “Da suchten sie abermals, ihn zu ergreifen. Aber er entging ihren Händen. (40) Dann ging er wieder fort auf die andere Seite des Jordans an den Ort, wo Johannes zuvor getauft hatte und blieb dort. (41) Und viele kamen zu ihm und sprachen: Johannes hat keine Zeichen getan, aber alles, was Johannes von diesem gesagt hat (1,15-18.26f.29-34) das ist wahr. (42) Und es glaubten dort viele an ihn“. Damit hat der Appell Jesu (10,37f) doch noch Frucht gezeitigt.

Thesen zur johanneischen Christologie in Apologie gegen den Vorwurf des Götzendienstes

Das JohEv sieht Jesus in der Rolle des auf die Erde gesandten Wortes Gottes. Zurückgreifend auf Vorstellungen über die Weisheit wird das Wort Gottes als Schöpfungsmittler gedacht. Es wird personifiziert. Es wurde Mensch: Jesus von Nazareth.

Indem der Prolog (1,1-18) das JohEv einleitet, sollen alle Aussagen über das Verhältnis zwischen Gott und Jesus unter diesem Aspekt verstanden werden. Der Sohn ist so ununterscheidbar vom Vater, vom Sender, wie der Redende von seinem Wort (146).

Die john Christologie überschritt für jüdische Ohren die kritische Grenze erst damit, dass in ihr Jesus immer wieder für sich selbst in Anspruch nimmt, Sohn und Gesandter Gottes zu sein. (In den synoptischen Evangelien wird Jesus von anderen als Messias bekannt oder gesalbt) (147).

In der Situation, in der das sich etablierende rabbinische Judentum sich um der Integrität des jüdischen Volkes willen von 'heterodoxen' Gruppen und Strömungen trennte, konnte gegen die Christen der Vorwurf erhoben werden, gegen das 2. Gebot, das Verbot der Verehrung von Geschaffenem, zu handeln.

Die Offenheit gegenüber den Samaritern erfolgte aus dem christologischen Bekenntnis. Die mit der der Rabbiner nicht übereinstimmende Sabbat-Halacha ist auf die Praxis Jesu selber zurückzuführen. Insofern traf die rabbinische Polemik präzise den Punkt, der dafür verantwortlich war, dass Judenchristen nicht in das rabbinische Konzept von Judentum integrierbar waren.

Unter dem sozialen Druck des Ausschlusses aus der jüdischen Gemeinschaft waren die jüdisch geborenen Gemeindemitglieder beeindruckbar durch solche Polemik.

Um die Schwankenden zum 'Bleiben' zu bewegen, greift das JohEv im 9. Kap. den Vorwurf des Götzendienstes auf und kehrt ihn um: Durch Jesus wird der für Gott blinde Mensch zur Erkenntnis Gottes erst befähigt (147).

Damit geht eine Präzisierung der christologischen Funktion Jesu einher: Jesus beansprucht keinerlei Ehrung oder gar Verehrung für sich, vielmehr ist sein gesamtes Reden und Tun nichts anderes als ein einziger Verweis auf Gott – wie es dem Verhältnis des Wortes zu demjenigen, der es redet, entspricht. Vertrauen auf Jesus ist nichts anderes als Vertrauen auf Gott und keineswegs Abfall vom wahren Glauben (148).

Das JohEv wirft seinerseits dem rabbinischen Judentum vor, den wahren Glauben zu verkennen, 'blind' zu sein, also Götzendienst zu begehen.

 

(4) Das JohEv zwischen Christen und Juden : Die antijüdische Polemik des JohEv beschränkt sich nicht auf bestimmte Stellen. Der Vorwurf der Teufelskindschaft (8,44) ist nur für unsere Ohren die anstößigste Formulierung des Vorwurfs der völligen Gottlosigkeit, die sich z.B. im Vorwurf der Blindheit (9,39ff) ebenso ausspricht. 'Den Juden' wird im JohEv durchgehend die Gotteserkenntnis abgesprochen. Die theologische Delegitimierung des zeitgenössischen Judentums ist im JohEv so grundsätzlich wie in keiner anderen Schrift des NT (149).

Das JohEv reklamiert die biblischen Schriften als Bestätigung seines Zeugnisses. Es beharrt darauf, dass es sich bei Jesus um die Offenbarung des Gottes Israels handelt, wie er in der Bibel und der jüdischen Tradition bekannt wird.

Die Delegitimierung erfolgte aufgrund der Nähe zwischen john Gemeinde und frühen rabbinischem Judentum. Beide benutzen denselben Bestand an Schriften und teilen im Wesentlichen die Interpretation dieser Schriften. Beide behaupten von sich, mit ihrem Bekenntnis und ihrem Verhalten den einzigen, wahren Gott zu ehren und ihm zu dienen (150).

Der Zusammenhalt der Juden untereinander erforderte nach der Zerstörung des Tempels als der verbindenden Institution eine stärkere Kongruenz als zuvor. Deshalb war kein Platz mehr für Gruppierungen, die in einer für das Judentum so zentral kennzeichnenden Frage wie dem Sabbat eine eigenständige Praxis weiterführten.

Der Mangel der john Gruppen an 'Kompatibilität' wird vertieft durch die Gemeinschaft mit Samaritern. Soziologisch verläuft die Entwicklung von christlichen Gruppierungen und an der rabbinischen Halacha orientiertem Judentum in diametral entgegengesetzte Richtungen: Hier das Zusammenkommen von Juden und außerhalb des Judentums stehenden Gruppen, dort der Zusammenschluss im Zeichen der Vereinheitlichung zur Wahrung des unterscheidend Jüdischen.

Der Konflikt wird ausgetragen in der Frage der Christologie als der gruppenbildenden Kernüberzeugung, die für die abweichende Lebenspraxis ursächlich ist. Das beschränkt sich keineswegs auf das Problem, ob Jesus unerlaubterweise Göttlichkeit zugesprochen wird, sondern spielt sich bereits auf dem Feld der Frage nach seiner Messianität ab. Das entscheidende Kriterium jedoch für die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft ist die Orthopraxie, nicht die Orthodoxie (150f).

In der Christologie bekommt der jüdisch-christliche Gegensatz eine grundsätzliche Wendung. Entsprechend der speziellen Form der john Christologie, nämlich ihrer Betonung der Einheit von Vater und Sohn, von Entsender und Gesandtem, des Redenden mit seinem Wort, spitzt sich die Auseinandersetzung zu auf die Frage der Zulässigkeit der Identifikation des Menschen Jesus mit Gott (151).

Personen oder Gruppen gegenüber, die Jesus nahe stehen, wird die exklusive Orientierung auf Jesus, verbunden mit der Androhung von (göttlichem) Gericht im Falle der Nichtanerkennung der exklusiven Bedeutung Jesu, hervorgehoben. Die Funktion solcher Passagen ist es, unsicher Gewordene 'bei der Stange' zu halten. Ihnen wird die zentrale Bedeutung Jesu für die christliche Existenz eingeschärft und die Konsequenzen für den Fall eines Abfallens drastisch vor Augen gestellt (152).

Im Gegenüber zu 'den Juden' schlägt das JohEv dagegen ganz andere Töne an. Es hebt hervor, dass Jesus nicht an sich Bedeutung hat, sondern einzig als Überbringer des Willens Gottes. Auch auf diese Weise wird Jesu Bedeutung unterstrichen, aber eben in apologetischer Absicht. Daher wird nicht seine exklusive Bedeutung in den Vordergrund gestellt, sondern seine Zuordnung zu und Unterordnung unter Gott.

Die john Christologie ist in einem funktionalen Sinne 'subordinatianisch', d.h. der john Jesus ordnet sich als Person, in seiner Sendung und in der Ehre, die ihm entgegengebracht werden soll, dem einen Ziel ein und unter: dass Gott die Ehre gegeben werde.

Ohne Rückbindung an das 2. Gebot läuft die Christologie Gefahr, zum Ditheismus zu mutieren. Das Zeugnis Israels von dem einen Gott ist eine für die Kirche bleibende Anfrage an die Integrität ihres hinsichtlich der Einheit (Gottes) gleichlautenden Bekenntnisses. Es ist damit Krisis einer jeden Christologie, die nicht eindeutig von der Voraussetzung der klaren Unterordnung des Sohnes Gottes unter Gott selbst entworfen und so zugleich funktional orientiert ist (152f).

Die Wahrheit ist nicht das JohEv und keine Auslegung dieses Evangeliums, sondern nach Joh 14,6 Jesus allein – in seiner Funktion als Wort des einen und wahren Gottes Israels: “Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich“.


 

3. Die johanneische Christologie vor dem Anspruch des Hauptgebotes (Dtn 6,4f) 

(1) Der Vorwurf der Gotteslästerung
 (2) Das Verhältnis zwischen Gott Vater und dem Sohn Jesus Christus

Das Hauptgebot fordert nicht eine Relativierung sondern eine theozentrische Radikalisierung der Christologie (199).

(1) Der Vorwurf der Gotteslästerung : T. Söding: Die Sabbatheilung des Gelähmten am Teich von Betesda wird zur Provokation: “Darum trachteten die Juden noch viel mehr danach, ihn zu töten, weil er nicht allein den Sabbat brach, sondern auch sagte, Gott sei sein Vater und machte sich selbst Gott gleich“ (5,18) (177).

Jesus beantwortet die Fragen nach seiner Messianität (10,24) mit dem Hinweis auf seine 'Werke' und folgert aus seinen Werken seine Einheit mit dem Vater (10,30). “Die Juden antworteten ihm und sprachen: Um eines guten Werkes willen steinigen wir dich nicht, sondern um der Gotteslästerung willen, denn du bist ein Mensch und machst dich selbst zu Gott“ (10,33). In der Passionsgeschichte lässt Johannes die Juden (die Hohenpriester) sagen: “Wir haben ein Gesetz und nach diesem Gesetz muss er sterben, weil er sich selbst zum Sohn Gottes gemacht hat“ (19,7) (178).

Die Vorhaltung, Jesus lästere Gott, weil er sich mit ihm auf eine Stufe stelle, steht inmitten einer Vielzahl von Einwänden. Nach der Tempelaustreibung wird ihm vorgehalten: “Welches Zeichen gibst du uns, dass du solches tun darfst“ (2,18)? Nach dem ersten 'Ich bin' (8,12) wird er gefragt: “Wer bist du“ (8,25)? Einerseits lesen die Gegner aus Jesu Worten und Taten einen ungeheuren Anspruch heraus, so dass sich die Frage nach seiner Messianität stellt (9,13-34). Andererseits ist ihres Erachtens die menschliche Geschichte Jesu ein schlagendes Argument gegen sein Auftreten: Er beansprucht, Gottes Sohn zu sein, ist aber der Sohn Josephs (6,42; 7,27; 8,19). Er beansprucht, der Messias zu sein, der in Bethlehem geboren sein muss, kommt aber aus Nazareth (7,41f.52). Die Diskrepanz zwischen Sein und Schein lässt einige seinen Größenwahn auf dämonische Besessenheit zurückführen (8,48f.52; 10,20). Das Synhedrion befürchtet eine politische Verführung des Volkes, der man zuvorkommen müsse (11,46-54) (179).

Im Zuge der Offenbarung Gottes als Vater wird aufgedeckt, dass die Menschen, auch die Kinder Israels, die Finsternis mehr lieben als das Licht (3,19), damit hervorscheinen kann, wessen “Taten in Gott vollbracht sind“ (3,21). Jesus provoziert den Widerspruch gegen seine Person und Verkündigung, weil auf diese Weise sichtbar wird, was auf dem Spiel steht und dass Jesus tatsächlich gekommen ist, “damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (10,10) (180).

Was der Evangelist auf die Situation Jesu zurückprojiziert, ist ein Bild gegenwärtiger Vorhaltungen: “Du bist ein Mensch und machst dich selbst zu Gott“ (10,33), d.h. auf das Christusbekenntnis bezogen: 'Er ist nur ein Mensch, ihr aber macht ihn zu Gott' (183).

Die johanneische Antwort Jesu: Johannes ist herausgefordert, auf den jüdischen Vorwurf der Blasphemie zu antworten. Dem Evangelisten ist es weder erlaubt, die Theologie zu relativieren und das monotheistische Bekenntnis zu tangieren, noch die Christologie herabzuschrauben und damit das Christusbekenntnis zu dämpfen. Vorgegeben ist ihm sowohl das Zeugnis Israels von dem einen Gott als auch das urchristliche Zeugnis von dem einen Kyrios als dem einen Sohn des Vaters (3,16.18) (184).

An wichtigen Stellen sind Theozentrik und Christozentrik gemeinsam herausgestellt: “Euer Herz verzage nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich“ (14,1)! Der Glaube an Gott und der Glaube an Jesus Christus stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern bedingen einander: Gott handelt, wie Jesus es offenbart, “damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat“ (5,23). Gott allein die Ehre zu geben, ist das bekannte Gebot. In gleicher Weise gilt, weil Gott es will, Christus zu ehren, der offenbart, worin Gottes Wille besteht (184f).

Die Einzigkeit Gottes des Vaters: Der Anspruch des Hauptgebotes verpflichtet Christen nicht weniger als Juden. Die Einzigkeit Gottes ist d a s Kriterium der Christologie (185).

Der eine Gott als Vater Jesu Christi: Das JohEv ist ein herausragendes Zeugnis ntl Theologie. Jesus selbst setzt sich mit Macht und Hingabe dafür ein, dass seine Jünger Gott 'erkennen' (14,7; 17,3; 8,19.55), Gott 'glauben' (14,1; 5,24) und Gott 'lieben' (5,42) (187).

Den einen Gott zu lieben im Sinne des Hauptgebotes umschließt nach Johannes um Gottes willen die Liebe zu Jesus. Von ihr handelt die Abschiedsrede (14,15-28), weil durch sie die Gottesliebe neu geprägt wird. Der Glaube an Gott führt um Gottes willen zum Glauben an Jesus, zu dem alle Welt geführt werden muss, weil er das Heil des ewigen Lebens vermittelt (20,30f). “Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht, der ihn gesandt hat“ (5,23). “Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat“ (12,44f). Der Glaube an Jesus zielt auf den Glauben an Gott, der Glaube an Gott umfasst den Glauben an Jesus (188).

Christologie lässt sich nur treiben, wenn sie das Hauptgebot bejaht und die Einzigkeit Gottes nicht nur nicht in Frage stellt, sondern deutlicher hervorleuchten lässt.

Gott ist der Eine und Einzige als Vater Jesu. Die Vaterschaft Gottes ist der Inbegriff seiner Einzigkeit. Gott will als Vater Jesu geliebt, erkannt und verehrt werden. Die Verkündigung Gottes setzt die Christologie voraus – in dem Sinne, dass Gott als der zur Sprache kommen muss, als den ihn Jesus verkündet, weil Gott der ist, als der er sich durch die Inkarnation, das Wirken, die Passion und die Auferstehung Jesu offenbart (188f).

Jesus Christus – Gottes Sohn: Auf der einen Seite steigert Johannes die christologischen Hoheitstitel bis zu der Aussage, dass Jesus Christus 'Gott' ist. Es beginnt mit dem Prädikat theos für den präexistenten Logos (1,1c). Das uranfängliche 'Wort' ist kein anderer als der präexistente Gottessohn. Er ist weder 'göttlicher Art' noch 'gottgleich'. So wenig der Logos der Gott und Vater Jesu ist, so sehr hat der Logos an seiner Gottheit teil. Er ist auf den Vater ausgerichtet und bleibt als solcher zu Gott gehörig. Er ist in allem von ihm bestimmt. Das Prädikatsnomen theos bringt beides zum Ausdruck: Die Unterscheidung zwischen Gott und dem Logos und die Partizipation des Logos am Gottsein Gottes. Der Logos ist monogenes (1,14), der eine Sohn (3,16.18) des einen Gottes und insofern theos, eins mit dem Vater (191f).

Thomas bekennt: “Mein Herr und mein Gott“ (20,28). Jesus ist für ihn und für jeden Jünger 'mein Herr' als der auferstandene Herr der Gemeinde, der die Seinen bevollmächtigt und sendet. Er ist 'mein Gott' als derjenige, der ihm und jedem Christenmenschen das Leben Gottes selbst vermittelt (5,21.26), weil er schon 'am Anfang' war und deshalb auch 'bis zum Ende' (13,1) die Liebe Gottes schenkt (192f).

Auf der anderen Seite ist der Logos “Fleisch geworden“ (1,14), ein Mensch, der sich bis zum Tod den Bedingungen geschichtlichen Daseins unterwirft: “Ecce homo“ (19,5). Der Mensch Jesus bleibt der inkarnierte Gottessohn, der Auferstandene bleibt der Gekreuzigte, der noch die Wundmale trägt (20,20.25.27; 19,37) (193f).

Beides, Jesu Partizipation am Gottsein und seine Anteilnahme am Menschsein der Menschen, bringt Johannes im Hoheitstitel Gottessohn zusammen. 'Sohn' ist Jesus als derjenige, der von Gott gesandt worden ist, um ihn als den Richter und Retter zu offenbaren (3,17) und der als Gesandter in vollkommener Weise an Gottes Vollmacht, ja an Gottes Leben teilhat (5,20f), so dass der Sohn seinerseits Richter und Retter ist (3,17). Er ist Spender des ewigen Lebens (5,21f; 11,27), das den Glauben an ihn voraussetzt (6,40), und Befreier von der Sünde, die Unglaube ist (8,36). Die Gottessohnschaft Jesu verbindet sich mit seiner Präexistenz (1,1-18), die ihn als Einzigen zum eschatologischen Offenbarer des Vaters macht (1,18) und mit seiner Menschwerdung (1,14), die es ihm erlaubt, den Menschen in der Welt Kunde von Gott zu bringen (1,18) (194f).

Als Sohn Gottes steht Jesus in dauernder, heilswirksamer Verbindung mit dem Vater. Dass er ihn fortwährend 'sieht' (5,19-23), so wie schon als Präexistenter (1,18), begründet die Autorität und Effektivität seines Wirkens. So wie er von Gott, dem Vater, geheiligt (10,36), gesandt (10,36 u.ö.), bevollmächtigt (3,35; 13,3), bezeugt (5,32.37; 8,18f) und verherrlicht (8,54) wird, so offenbart (1,18) und verherrlicht (14,13) Jesus seinerseits den Vater, zu dem er mit seinem Tod am Kreuz zurückkehrt (13,1) und an den er sich fürbittend wendet, um den Seinen den Parakleten zukommen zu lassen (14,15). Als Sohn bezeugt Jesus: “Der Vater ist größer als ich“ (14,28c). Er ist größer, weil er der Vater ist und weil er das Ziel des Weges ist, den der Sohn geht (14,28ab) und selbst ist (14,6). Als Sohn kann Jesus “nichts von sich aus tun“. Deshalb tut er alles “in gleicher Weise“, was der Vater tut (5,19). Deshalb kann er ihn nicht nur nachahmen, sondern an seinem Tun teilnehmen (195).

Getragen ist diese umfassende Anteilgabe und Anteilnahme von der Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn. Weil er der Sohn ist, wird Jesus von Gott geliebt (3,35; 5,20; 10,17; 15,9; 17,23f.26). Weil er der Vater ist, wird Gott von Jesus geliebt (14,31). Von der Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist alles Heilshandeln bestimmt. Einerseits handelt Gott als er selbst durch, in und mit Jesus, weil er ihn liebt. Andererseits ist Jesus radikal auf den 'immer größeren Gott' ausgerichtet, weil er ihn liebt (195f).

Als 'Sohn' ist Jesus einerseits derjenige, dem Gott alles gibt (3,35; 5,26), andererseits selbst derjenige, den Gott als Inbegriff seiner Liebe der Welt gibt, damit die Glaubenden gerettet werden (3,16). Der, der selbst ganz Gottes Gabe ist, ist für die Menschen der Geber ewigen Lebens. Der, der selbst alles von Gott empfangen hat, wird von den 'Seinen' als Grund ihres Lebens empfangen (1,13). Als 'Sohn' ist er einerseits ganz zu Gott gehörig, andererseits ist er vom Vater radikal unterschieden. Einerseits ist er leibhaftig Gottes Gegenwart unter den Menschen (2,13-22), andererseits ist er der Wegbereiter der Menschen zu Gott (14,6) (195f).

Der von Ewigkeit her Gottes Sohn ist, ist Mensch geworden, um die Größe und Liebe des Vaters mitten in der Welt zu bezeugen. Er gibt Gott dadurch die Ehre, dass er sich als Offenbarer des Vaters zur Sprache bringt. Das Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu ist immer zuerst ein Bekenntnis zu Gott, dem Vater (3,16). Nur unter der Voraussetzung, dass die Einzigkeit Gottes feststeht, kann Jesus der 'Retter der Welt' (4,42) sein (196).

Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30): Johannes will dem Anspruch des Hauptgebotes dadurch gerecht werden, dass er Jesus als den menschgewordenen Gottessohn vorstellt und er will dem Anspruch des Christusbekenntnisses gerecht werden, indem er Gott als den Vater Jesu zur Sprache bringt. Wie eng beides zusammengehört, macht der christologisch-theologische Kernsatz 10,30 deutlich. Die Differenz zwischen Vater und Sohn ist die Voraussetzung der Einheit, von der die Rede ist. Es ist die Einheit des 'Wir' (14,23), in der der Vater 'größer' bleibt und der Sohn vom Vater geheiligt wird. Es ist eine Einheit des Wirkens, insofern es um die Rettung der Schafe geht, für die Jesus sein Leben hingibt (10,17), weil ihn der Vater der Welt 'gegeben hat'. Es ist eine Einheit des Wesens, insofern es die Liebe des Vaters zu seinem Sohn und des Sohnes zum Vater ist, die beide vereint und zum Heil der Welt wirken lässt. Wenn Jesus 'eins' mit dem Vater ist, handelt er nicht anstelle des Vaters, sondern “im Namen meines Vaters“ (10,25) und “aus dem Vater“ (10,32). Niemand kann einen Erwählten aus dessen Hand entreißen (10,29). Der Sohn empfängt alles aus der Hand des Vaters (3,35; 5,26). Weil Gott eins ist mit seinem Sohn, 'heiligt' und 'sendet' er ihn (10,36), so dass Jesus in der Vollmacht 'Gott wirken' kann. Die Einheit besteht darin, dass Jesus den Vater erkennt und der Vater Jesus erkennt (10,15) (erkennen = lieben). Jesus weiß als Einziger, wer Gott ist, und liebt ihn über alles. Gott weiß als Einziger, wer Jesus ist und liebt ihn über alles (197f).

Glaubt den Werken, damit ihr erkennt und wisst, dass der Vater in mir ist und ich im Vater bin“ (10,38). Die Metaphorik des wechselseitigen 'in' verweist auf die relationale Einheit zwischen Vater und Sohn und erklärt ihre soteriologische Effektivität. Der Vater ist so sehr 'in' Jesus, dass Jesus ganz 'aus dem Vater' wirken kann (10,32) und dass Gott sieht, wer Jesus anschaut (14,9). Jesus ist so sehr 'in' Gott, dass Gott alles, die ganze Schöpfung und die volle Erlösung 'durch' ihn wirkt (1,3.17) und sich selbst offenbart, wenn Jesus spricht und handelt. Wie Gott rückhaltlos im Sohn gegenwärtig ist, so gehört der Sohn vollkommen in das Geheimnis Gottes hinein. Dass Jesus ganz 'in' Gott ist, folgt daraus, dass er immer schon Gottes Sohn ist, wie Gott immer schon der Vater Jesu ist (198f).

 

(2) Das Verhältnis zwischen Gott Vater und dem Sohn Jesus Christus : U. Schnelle: (1,1a) “Im Anfang war das Wort (b) und das Wort war bei Gott (c) und von gottgleichem Wesen war das Wort. (2) Dieses war im Anfang bei Gott“.

Der Logos weilt von Anfang an bei Gott, beide sind gleichursprünglich und Gott ist nicht ohne sein Wort zu denken. Sein Wort ist Leben schaffendes Schöpfungswort. In 1,1c kommt dem Logos das Prädikat theos zu. Weder ist der Logos einfach mit Gott identisch, noch gibt es neben dem höchsten Gott einen zweiten Gott, sondern der Logos ist vom Wesen Gottes. Allein dem einen Gott gebührt das Prädikat ho theos. Sehr überlegt steht in 1,1c das Prädikatsnomen theos, um so gleichermaßen das göttliche Wesen des Logos und seine Unterschiedenheit vom höchsten Gott auszudrücken. Der Logos hat Teil an der Gottheit des Vaters. Der Vers 1,1c enthält die Spitzenaussage über das Sein und Wesen des Logos, er ist an Würde und Bedeutung nicht zu übertreffen. Das Wort ist schon im Anfang kein anderes als Jesus Christus. Die Relationierung zielt auf eine ursprüngliche und umfassende Partizipation des Logos an dem einen Gott, der Ursprung und Grund allen Seins ist. Das Wort ist göttlichen Ursprungs, es verweilt bei Gott und beginnt von dort sein Wirken (372f).

Betonte der Vers 1,1 die Gleichursprünglichkeit des Logos mit Gott hinsichtlich seines vorweltlichen Seins, so wird in 1,18 die einzigartige Beziehung Jesu zum Vater in ihrer geschichtlichen Dimension entfaltet. Jesus ist der Exeget Gottes, er allein vermag wirklich Kunde vom Vater zu bringen. Mit der Inkarnation ging auch die einmalige und unmittelbare Gotteserfahrung Jesu in die Geschichte ein und ist nun für die Menschen als Offenbarung des Gottessohnes vernehmbar. Dadurch werden die Aussagen des Prologs auf die folgende Darstellung der Geschichte Jesu Christi appliziert: Was sich in den Taten, Reden und dem Leiden Jesu Christi vollzieht, entsprach von Anfang an dem Willen Gottes. Die Exklusivität des Christusgeschehens ist auf zweifache Weise gesichert: Allein Jesus Christus vermag Kunde von Gott zu geben und seine Offenbarung liegt im uranfänglichen Sein des Logos bei Gott begründet. Das typisch john Thema der ausschließlichen Gottesoffenbarung in Jesus Christus (5,37; 6,46; 16,28) sowie das monogenes und ekeinos lassen 1,18 als Bildung des Evangelisten erkennen. Johannes betont die Gottheit Jesu, die ihm von Anfang an zu eigen war. Mit “mein Herr und mein Gott“ (20,28) formuliert er das höchste Bekenntnis, das gegenüber Jesus Christus abgelegt wird (373f).

Der Offenbarer “ist von oben her“ (8,23), er kommt vom Himmel und ist über allen (3,31; 6,38). Über dem Inkarnierten ist der Himmel offen. Als auf- und absteigender Menschensohn ist er mit der himmlischen Welt verbunden. In ihm vereinen sich Himmel und Erde (1,51; 3,13). Der natürliche Mensch ist auf das 'Untere' ausgerichtet (8,23), er muss deshalb 'von neuem' d.h. 'von oben' geboren werden (3,3.5.7). Die john Relationierung zielt auf Partizipation, denn die Glaubenden sollen teilhaben am besonderen Verhältnis von Vater und Sohn (374f).

Die Einheit von Vater und Sohn wird in 5,17-30 in besonderer Weise entfaltet. Jesus Christus nimmt für sein Handeln nicht nur die Autorität Gottes in Anspruch, er handelt gottgleich und somit auch am Sabbat. Damit verletzt Jesus aus jüdischer Perspektive die Einzigartigkeit Gottes. Den Vorwurf des Ditheismus versucht Johannes mit dem Hinweis auf die Parallelität des Tuns von Vater und Sohn zu lösen (5,19.21.23.30). Das Tun des Sohnes hat seinen Ursprung im Willen des Vaters und kann somit nicht gegen den Vater gerichtet sein. Weil Jesu Sein ganz in Gott gründet und aus ihm hervorgeht, handelt er in voller Übereinstimmung mit dem Vater. Die Liebe des Vaters zum Sohn (5,20; 3,35; 10,17) ist Ausdruck der wesensmäßigen Verbundenheit zwischen ihnen. Deshalb zeigt der Vater dem Sohn auch alles, was er selbst tut (375).

Wie der Vater die Toten auferweckt und macht sie lebendig, so macht auch der Sohn lebendig, welche er will“ (5,21). “Denn der Vater richtet niemand, sondern hat alles Gericht dem Sohn übergeben“ (5,22). Als Herr über Leben und Tod, Heil und Gericht ist der menschgewordene Gottessohn Jesus Christus dem Vater gleich. Es gilt, den Sohn in gleicher Weise wie den Vater zu ehren (5,23). Im Hören des Wortes und im Glauben an den von Gott gesandten Sohn vollzieht sich der Schritt vom Tod zum Leben, ist das Heilsgut des ewigen Lebens bereits gegenwärtig. Der Glaubende kommt nicht ins Gericht, denn er hat schon teil an der in Jesus Christus erschienenen Lebensmacht Gottes (375f).

Die Einheit von Vater und Sohn vollzieht sich in 5,17-30 als Willens-, Handlungs- und Offenbarungseinheit in der Konzentration auf die Begegnung mit Jesus Christus, der in ungebrochener Kontinuität zum Vater und in direkter Abhängigkeit von ihm als Lebensspender agiert (376).

Ich und der Vater sind eins“ (10,30) bildet die Mitte des john Denkens. In Jesus wurde Gott Mensch und Gott begegnet nur im Menschen Jesus. Allein die Wesens-, Offenbarungs- und Wirkeinheit von Vater und Sohn (1,1; 17,20-22) begründet Jesu Stellung als 'guter Hirte'. Sein Wirken gründet umfassend in der Einheit mit dem Vater und nur aus dieser Einheit bezieht er seine einzigartige Würde. Die reziproke Immanenzaussage in 10,38: “...damit ihr erkennt, dass der Vater in mir ist und ich im Vater“ und in 14,10: “Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir“? bringt die john Konzeption prägnant zum Ausdruck. Weil Jesus aus der vom Vater gewollten Einheit lebt, offenbart sich in seinem Reden und Wirken der Vater selbst (376f).

Nach 17,5 soll der Vater den Sohn 'bei sich selbst' verherrlichen, d.h. ihn endgültig wieder aufnehmen in den göttlichen Bereich und in jene Herrlichkeit, die dem Sohn schon vor Grundlegung der Welt zu eigen war (17,24). Die Inkarnation wird von Johannes als Offenbarwerden der Doxa verstanden (2,11; 11,4.40). Die Bindung an den Vater erscheint als Grundlage des Heilswerks Jesu, das vor aller Zeit begann und in Ewigkeit bleiben wird. Der Evangelist bestimmt das Verhältnis zwischen Vater und Sohn einerseits und den Glaubenden andererseits als gegenseitige 'Inexistenz': Wie Christus in Gott ist und Gott in ihm, so sind die Glaubenden im Vater und im Sohn (377f).

In den 'Ich-bin-Worten' (6,35; 8,12; 10,7.11; 11,25; 14,6 ;15,1) verdichten sich in einzigartiger Weise Christologie und Soteriologie (378) : Wer den Sohn sieht, sieht den Vater (12,45;14,9). Wer den Sohn hört, hört den Vater (14,24). Wer an den Sohn glaubt, glaubt an den Vater (14,1) und wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht (5,23) (378f).


 

Die Unterordnung des Sohnes

Mein Vater... ist größer als alle“ (10,29). Der Vater hat Jesus gesandt (3,16;5,23f.30.37; 6,29.38f.44.57; 7,16.18f.33; 8,16.18.26.29.42; 10,36; 12,44f.49; 13,16.20; 14,24.26; 15,21.26; 16,5.6; 17,3.8.18.21.23.25; 20,21). Der Vater ist der 'alleinige' Gott (5,44). Er hat dem Sohn alle Macht gegeben, so dass dieser von sich aus nichts tun kann (5,19f; 6,37). Der Sohn verherrlicht den Vater (14,13b) und bezeugt ausdrücklich: “Der Vater ist größer als ich“ (14,28c). In 17,1ff betet Jesus zu seinem Vater, dem einen, wahren Gott. Durchgängig hebt Johannes das wahre Menschsein des präexistenten Gottessohnes hervor: er wurde 'Fleisch' (1,14), er unterwarf sich damit den Bedingungen des irdischen Daseins und lebte als Jude (4,9). Jesus feiert auf einer Hochzeit (2,1ff). Auf Wanderungen ist er müde und durstig (4,6f). Er liebt seinen Freund Lazarus (11,3) und weint über ihn. Er wird als Mensch bezeichnet (5,12; 8,40; 9,11; 11,50; 18,29). Er ist der Mensch schlechthin: “Seht, welch ein Mensch“ (19,5)! (379).

Nur der Vater ist der Gott! Er sendet und ermächtigt den Sohn, der allein aus der ihm verliehenen Vollmacht heraus handelt. Deshalb sagt der Auferstandene zu Maria Magdalena: “Ich steige auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“ (20,17). Die Wesenseinheit von Vater und Sohn realisiert sich als Willens- und Wirkeinheit. Die Verehrung des einen Gottes wird ausgeweitet auf seinen Sohn. So wie der Sohn auf den Vater ausgerichtet ist, so sollen sich die Menschen auf Jesus Christus ausrichten, “damit sie eins seien wie wir“ (17,11). Die Relationierung zielt auf Partizipation. Der Sohn kehrt zurück zum Vater (13,1) und nimmt die Glaubenden zu sich (14,3), so dass sie teilhaben an der besonderen Beziehung zwischen Vater und Sohn (379f).


K.-J. Kuschel (1990)

4. Vergottung Jesu im Johannesevangelium?

(1) Am Anfang: Jesus – Messias der Juden
 (2) Spiegelfiguren: der Täufer und Nikodemus
 (3) Blasphemie: Der Ausschluss aus der Synagoge
 (4) Spannungen unter den Anhängern Jesu
 (5) Jesu Herrlichkeit in aller Niedrigkeit
 (6) Der Prolog: Menschwerdung des Logos
 (7) Der Gesandte – kein präexistentes Himmelswesen
 (8) Das Problem des Erzählers Johannes
 (9) Jesus gleich Gott
?


 


 

(1) Am Anfang: Jesus – Messias der Juden : Die Passage 1,35-51 schildert die Sammlung der ersten Jünger (Andreas, Simon Petrus, Philippus, Nathanael), die in Jesus (und nicht mehr in Johannes dem Täufer) den erwarteten Messias gefunden hatten: “Wir haben den gefunden, über den Mose und die Propheten geschrieben haben: Jesus aus Nazareth, den Sohn Josefs“ (1,45). Jesus ist nicht göttlicher Herkunft, sondern ganz im Einklang mit Dtn 18,15ff ein Mensch aus der Mitte seiner Volksgenossen, der Sohn Josefs von Nazareth, von Gott zum Messias erwählt (475f).

Unmittelbar auf das judenchristliche Bekenntnis des Nathanael: “Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel“, antwortet ihm Jesus: “Du wirst noch Größeres sehen“ (1,50). Was kann es Größeres geben als den Messias, den Sohn Gottes, den König von Israel? Für die john Gemeinde muss es zur Gewissheit geworden sein: Jesus ist nicht nur ein Messias nach landläufiger Vorstellung, nicht irgendein Gottessohn oder König Israels, sondern er ist der Messias, der Gottessohn und der König Israels, weil er der von Gott gesandte Sohn ist, weil er schon immer bei Gott, seinem Vater war (477).

 

(2) Spiegelfiguren: der Täufer und Nikodemus : Beide Figuren verkörpern Glaubensbewegungen innerhalb des Judentums seiner Zeit, mit denen die Jesusbewegung in Konkurrenz stand. Die john Gemeinde musste sich gegenüber der Täuferbewegung offensichtlich behaupten. Die Täuferbewegung war eine messianische Bewegung, die Jesus deshalb ablehnte, weil sie ihren Helden Johannes für den Messias oder wenigstens für den letzten Boten Gottes gehalten haben wird (477f).

Der Evangelist tut zu Beginn alles, den Täufer selbst zum Vorläufer Jesu zu machen, ja, ihn zum Zeugen für Jesus einzugemeinden. Auch der Täufer ist ein Gesandter Gottes (1,6); aber nur Jesus ist der eigentliche Messias, der gesandte Sohn. Auch der Täufer verspricht die Reinigung von den Sünden, aber nur Jesus ist das 'Lamm', das die Sünden selbst hinwegnimmt. Auch der Täufer predigt Gottes Wort, aber nur Jesus ist Gottes Wort. Der Täufer gibt Zeugnis für das Licht, aber Jesus ist das Licht. Wie hätte die john Gemeinde die unvergleichliche Überlegenheit ihres Jesus stärker unter Beweis stellen können als dadurch, dass sie dem Hauptkonkurrenten die Sätze in den Mund legte: “Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ (3,30)! Was kann stärker dem eigenen Wahrheitsanspruch zugute kommen als die Erkenntnis des früheren Rivalen: Es ist Jesus, der “von oben“, der “aus dem Himmel kommt“ und der deshalb über allem steht (3,2). Es ist Jesus, der gewesen ist, noch bevor Johannes war. Es ist Jesus, der allein Gott “gesehen“ und “am Herzen des Vaters“ geruht hat (1,18). Das Täuferzeugnis ist dem Evangelisten so wichtig, dass er es auf kürzestem Raum zweimal bringt (1,15.30): “Nach mir kommt ein Mann, der mir voraus ist, weil er vor mir war“! Johannes der Täufer wird für die john Gemeinde zur ersten innerjüdischen Legitimationsfigur für den spezifischen Selbstanspruch Jesu: Gesandte Gottes gibt es viele. Nur einer ist der wahre Gesandte, der Sohn “aus dem Himmel“, der als einziger Gott “gesehen“ hat. Die Präexistenz beim Vater als Voraussetzung der Sendung macht das spezifische Profil dieses Jesus aus (478f).

Die zweite entscheidende Spiegelfigur des john Christus stammt aus der Gruppe der Pharisäer: Nikodemus war “ein führender Mann unter den Juden“. Zu Jesus kommt nicht irgendeiner, sondern einer der führenden “Lehrer Israels“ (3,10) – und zwar nachts! Schon ab Kp 4 sind die eigentlichen Gegner des john Christus die Pharisäer. Sie sind es, die mit dem feindseligen Kollektivstereotyp 'die Juden' im John-Ev bezeichnet werden (479).

Gleich zu Anfang des JohEv kommt mit Nikodemus ein 'guter' Pharisäer zu Jesus, der später gegen die feindseligen Vertreter dieser Gruppe abgegrenzt werden kann. Schlüsselthema ist “der Geist“, die Geistgeburt, die Wiedergeburt aus dem Geist.

Schlüsselthema ist das Hinabsteigen Jesu aus dem Himmel. Ziel dieses Hinabsteigens ist die Liebe Gottes und die Rettung des Menschen.

Der Pharisäer Nikodemus wird für die john Gemeinde zur zweiten innerjüdischen Legitimationsfigur für den spezifischen Selbstanspruch Jesu: Hingabe gibt es vielerlei auf der Welt. Aber nur eine Hingabe bringt die Rettung: die Hingabe des himmlischen Sohnes an die Welt. An der Figur des Nikodemus demonstriert der Evangelist, welche Chancen innerjüdisch bestanden hätten, hätte man Jesus als den wahren Sohn Gottes begriffen: “Du bist ein Lehrer Israels und verstehst das nicht“ (3,10) (479f)?

In 7,50 taucht Nikodemus noch einmal auf, damit beschäftigt, die Erregung der jüdischen Priesterhierarchie (Hoherpriester) und des frommen Laienestablishments (Pharisäer) über Jesu ungeheuren Anspruch in vernünftigen Bahnen zu halten.

 

(3) Blasphemie: Der Ausschluss aus der Synagoge : Die nächste große Auseinandersetzung mit 'den Juden' in Kp 5 hat bereits eine lebensbedrohende Dimension. Nach einer Sabbatheilung hatte der john Jesus 'den Juden' erklärt: “Mein Vater ist noch immer am Werk und auch ich bin am Werk“ (5,17). “Darum waren die Juden noch mehr darauf aus, ihn zu töten, weil er nicht nur den Sabbat brach, sondern auch Gott seinen Vater nannte und sich damit Gott gleichstellte“ (5,18).

Wir wissen nicht, wie die john Gemeinde zu ihrer Präexistenzchristologie gelangte. Die Folgen waren schwerwiegend, ja lebensbedrohend. Denn die jüdische Synagoge hatte offensichtlich die judenchristliche Gemeinde des Johannes aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen und zwar vermutlich unter dem Vorwurf der Blasphemie. Joh 5,18 zeigt, dass das jüdische Establishment nicht bereit war, einen Anspruch zu tolerieren, der Jesus in irgendeiner Weise Gott gleichstellte (480f).

Im Licht ihres neuen Christusverständnisses hatte die john Gemeinde offenbar alle bisher bekannten Glaubensbekenntnisse gesprengt. Neben dem Täuferzeugnis (1,15.30) gibt es vier weitere Texte im JohEv, in denen der Evangelist Jesus selber unzweideutig auf seine eigene vorzeitige Existenz 'beim Vater' anspielen lässt: “Ich sage, was ich beim Vater gesehen habe“ (8,38) und “noch ehe Abraham wurde, bin ich“ (8,58). “Was werdet ihr sagen, wenn ihr den Menschensohn hinaufsteigen seht, dorthin, wo er vorher war“ (6,62)? “Vater, verherrliche du mich jetzt bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, bevor die Welt war“ (17,5).

Dieser so formulierte Anspruch des john Christus musste in traditionellen jüdischen Ohren wie Blasphemie geklungen haben: “Wir steinigen dich nicht wegen eines guten Werkes, sondern wegen Gotteslästerung, denn du bist nur ein Mensch und machst dich selbst zu Gott“ (10,33). Hier verkündeten Judenchristen (!) offenbar einen zweiten Gott neben dem einen Gott und verletzten so das in jedem Gottesdienst eingeschärfte Grundprinzip jüdischer Glaubensidentität: “Höre, Israel, der Herr unser Gott, der Herr, ist einer“ (Dtn 6,4) (481).

Nach der Katastrophe des Jahres 70 (Tempelzerstörung und Verwüstung Jerusalems) hatte sich der Pharisäismus in der Stadt Jabne (bei Jaffa) als jüdische Orthodoxie neu zu etablieren versucht. Die Tempelhierarchie war funktionslos geworden, die sadduzäische Oberschicht zerstreut, die Zeloten in einem aussichtslosen Todeskampf mit den Römern verwickelt. Als geschlossene Gruppe übriggeblieben waren die Pharisäer, die offenbar nun als eine Art 'normatives Judentum' andere jüdische Gruppen 'auszuschalten' versuchten. Jabne war zum neuen Zentrum des Judentums geworden und das pharisäische Rabbinat hatte streng darauf zu achten begonnen, dass niemand von der vorgezeichneten Linie abwich. Nur in diesem Rahmen ist der Text der 'Ketzterverfluchung' zu verstehen, der in dieser Zeit entstand und als 12. Benediktion in das 'Achtzehn-Gebet' eingefügt wurde – in das jüdische Gebet, das dreimal täglich gesprochen wurde und Bestandteil der Liturgie war. Es lautet: “Den Abtrünnigen sei keine Hoffnung und die überhebliche Herrschaft rotte schnell aus in unseren Tagen. Die Nazarener und die Minim (Häretiker) mögen plötzlich zugrunde gehen. Sie mögen ausgewischt werden aus dem Buch des Lebens und mit den Gerechten nicht hineingeschrieben werden“. Hier tauchen die Nazarener, die Jesusgläubigen auf als Verfluchte, als Ketzer. Im JohEv steht dieser Ausschluss als ständige Bedrohung für die potentiellen Anhänger Jesu im Hintergrund (9,22; 12,42) (482).

Der Ausschluss aus der Synagoge um 80 ist nicht bloß als rein religiöse Maßnahme zu verstehen. Eine Brandmarkung als Ketzer und ein Ausschluss aus der Glaubensgemeinschaft hatte vor allem soziale und ökonomische Folgen, die das ganze Leben der Beteiligten veränderten: Alte Bindungen wurden total zerschnitten, jeder persönliche und geschäftliche Verkehr unterbunden und jede Hilfe ausgeschlossen. Die Eltern des blindgeborenen Mannes können nicht zugeben, dass Jesus der wundertätige Heiler war, “weil sie sich vor den Juden fürchteten“ (9,22). Führende Männer Israels wagen nicht, ihren Glauben an Jesus offen zu bekennen, “um nicht aus der Synagoge ausgestoßen zu werden“ (12,42). Nikodemus kam nachts zu Jesus und Josef von Arimathea blieb nur ein “heimlicher Jünger Jesu aus Furcht vor den Juden“ (19,38) (483).

 

(4) Spannungen unter den Anhängern Jesu : Die john Gemeinde fühlte sich nicht nur von 'den Juden' bedroht und verfolgt, sondern sie glaubte sich auch von 'der Welt' abgelehnt und gehasst. Die Wirkungen der john Präexistenzchristologie dürften in einzigartiger Weise polarisierend gewesen sein. Im heftigsten Streitgespräch mit 'den Juden' (Kp 8) wird in konfrontativen Schemata geredet: Ich von oben, ihr von unten, Wahrheit und Freiheit hier – Sünde und Sklaverei dort; Gott zum Vater hier – den Teufel zum Vater dort. Jesu Erscheinen ist das Gericht über die Welt (9,39; 12,31). Die Welt wird von “Söhnen der Finsternis“ bewohnt und hasst diejenigen, die nicht “von dieser Welt“ sind (17,14). Jesus selbst weigert sich, für 'die Welt' zu beten (17,9). Er hat 'die Welt' besiegt' (16,33) und den satanischen Fürsten aus dieser Welt hinausgetrieben (12,31; 14,30) (483).

In der Konfrontation mit den Juden geht es um den messianischen Anspruch Jesu, um die Konkurrenz zweier messianischer Glaubensverständnisse. In der Konfrontation Jesu mit 'der Welt' geht es um Glauben und Unglauben schlechthin. Eine Präexistenzchristologie, die mit einem konkreten Menschen einen solch hohen Anspruch verbindet, wirkt in äußerstem Maße exklusiv. Sie ist polarisierend, spaltend. Immer wenn der Evangelist das Verhältnis des Gesandten zur Welt beschreiben will, dann geht es um Licht oder Finsternis, Wahrheit oder Lüge, Leben oder Tod, Oben oder Unten, Freiheit oder Knechtschaft (483f).

Ein solch konfrontativer Dualismus konnte nicht ohne Auswirkungen bis in die Anhängerschaft Jesu selber bleiben. Bei Johannes gibt es nicht nur zahlreiche heimliche Christen, Krypto-Gläubige, sondern auch zahlreiche ehemalige Anhänger Jesu, auch inadäquate Jünger. Der Preis, den die john Gemeinde für ihre Präexistenzchristologie zahlte, war extrem hoch: Nicht nur den Ausschluss aus der Synagoge nahm sie in Kauf, nicht nur den Hass 'der Welt', sondern auch eine Trennung von ehemaligen judenchristlichen Anhängern und Spannungen zu anderen christlichen Gruppen (484).

Hatten nicht “viele seiner Jünger“ die Brotrede in der Synagoge von Kafarnaum (“Ich bin das lebendige Brot“) “unerträglich“ (6,60) gefunden? Und hatte Jesus diese seine murrenden und Anstoß nehmenden Jünger an gleicher Stelle nicht noch dadurch zusätzlich abgeschreckt, dass er das paradoxe Brot-Wort mit der nicht weniger paradoxen Präexistenz- und Postexistenzaussage gleichsam noch übertrumpfte: “Daran nehmt ihr Anstoß? Was werdet ihr sagen, wenn ihr den Menschensohn hinaufsteigen seht, dorthin, wo er vorher war“ (6,61)? Auch Jesu nächste Verwandte, “seine Brüder“, glaubten nicht an ihn (7,3-5). Sind die Kontrahenten in den großen Streitgesprächen mit 'den Juden' in Kp 8 nicht ausdrücklich “Juden, die an ihn glaubten“ (8,31), die dann durch das “noch ehe Abraham wurde, bin ich“ zur gewaltsamen Reaktion gleichsam gezwungen werden (“Da hoben sie Steine auf...“ 8,58) (484)?

In diesen Passagen dürften sich die Erinnerungen an judenchristliche Anhänger Jesu aufbewahrt haben, die weder zur Synagoge zurückgingen noch in der john Gemeinde aufgingen. Die weder bereit waren, Jesus als Messias der Juden zu verwerfen, noch die hohe Christologie mitzumachen. Solch doktrinäre Meinungsverschiedenheiten, die zur Trennung von der john Gemeinde führten, sind von solchen Verlusten zu unterscheiden, die durch Verfolgungen bedingt waren: “Die Stunde wird kommen und sie ist schon da, da ihr zerstreut werdet, ein jeder an seinen Ort. Und ihr werdet mich verlassen“ (16,32). Es geht um die selbstverschuldeten Abschiede von Jesus, aufgrund eines – in den Augen der Judenchristen – unerträglichen Anspruchs (485).

Nach der Trennung von “vielen Jüngern“ bleiben “die Zwölf“ übrig. Dem Simon Petrus legt Johannes das Bekenntnis in den Mund: “Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes“ (6,69). Wie ist es zu erklären, dass in einem Moment, der für Jesu Leben den Ernstfall bedeutete (ab Kp 13) plötzlich nicht Petrus, sondern der Lieblingsjünger der wichtigste Anhänger Jesu wird? Wie ist es zu erklären, dass die john Gemeinde nun ihren eigenen Helden klar von Petrus abgrenzt? Nur dieser Jünger hatte “an Jesu Brust“ beim letzten Mahl (13,23-26) gelegen. Nur er hatte dem Petrus (!) Zugang zum Palast des Hohenpriesters verschafft (18,15f). Er war am Ostermorgen der erste Zeuge an Jesu Grab gewesen. Er war der einzige, der angesichts des leeren Grabes gleich 'richtig' glaubte (20,8) und er war es, der nach der Auferstehung den wiedererschienenen, erhöhten Herrn sofort erkannt hatte (21,7). Nirgendwo wird der Kontrast zwischen der Leitfigur der john Gemeinde und dem Repräsentanten der apostolischen Kirche, Petrus, deutlicher als unter dem Kreuz, dort steht der Jünger, “den Jesus lieb hatte“ (19,26), während Petrus in der entscheidenden Stunde zu den Verrätern gehört. Durch die Kontrastierung ihres Helden mit dem berühmtesten Mitglied des Zwölferkreises setzt sich die john Gemeinde von den apostolischen Kirchen ab, die Petrus und die Zwölf verehren (485f).

Auch am Ende seines irdischen Wirkens muss Jesus resigniert feststellen: “Schon so lange bin ich bei euch und du kennst mich nicht, Philippus“ (14,9)? Selbst im Zwölferkreis ist Jesu göttliche Herkunft offenkundig nicht verstanden worden. Jesu Präexistenz war den Aposteln fremd. Denn was der Lieblingsjünger sofort angesichts des leeren Grabes verstand (“er sah und glaubte“), muss dem Zwölferkreis erst durch eine Erscheinung des Auferstandenen nach Ostern glaubhaft gemacht werden. Das Bekenntnis des Thomas “mein Herr und mein Gott“ (20,28) ist nachgereicht und der Ungläubigkeit abgerungen (486).

Ein Bewusstsein von der göttlichen Abstammung Jesu hatte sich offensichtlich selbst im engsten Jüngerkreis nur zögernd durchzusetzen vermocht. Beide, die apostolischen und die john Christen sagen, Jesus ist der Sohn Gottes. Die john Christen sind freilich zu einem Verständnis gelangt, das bedeutet: Jesus ist schon immer an der Seite des Vaters (1,18), nicht zu dieser Welt gehörig (17,14), sondern zur himmlischen Welt dort oben (3,13.31). Vom Mt-Ev haben wir Kenntnis von Christen des späten 1.Jh.s, die Jesus aufgrund von Empfängnis ohne menschlichen Vater als Sohn Gottes anerkannten. In deren Christologie wird kein Hinweis auf Präexistenz gemacht. Sie kennen einen Jesus als König, Herrn und Retter vom Moment seiner Geburt in Bethlehem an, aber nicht einen Jesus, der sagt: “Bevor Abraham war, bin ich“ (486f).

 

(5) Jesu Herrlichkeit in aller Niedrigkeit :Bei all dem, was zwischen 'den Juden' und dem john Jesus umstritten war, seine Menschlichkeit war es nie. Jesu glanzlose Herkunft und sein schmähliches Ende werden nicht verschwiegen, obwohl die Gemeinde im missionarischen Disput dadurch in die Defensive geraten musste. Jesus ist unzweideutig der Sohn Josefs und Marias. Er hat nicht studiert. Er war vor seinem öffentlichen Auftritt nicht apokalyptisch im Irgendwo verborgen, sondern stammt aus Galiläa. Er war kein Davide, was den Glauben an seine Messianität erschwert. Er wurde aus dem engsten Jüngerkreis schmählich verraten. Signale der menschlichen Niedrigkeit gibt es genug (488f).

Die Erkenntnis der Herrlichkeit trotz und in aller Niedrigkeit ist das Sinnziel der john Christologie. Der Blick des Glaubens richtet sich nicht auf das Kreuz, sondern auf die eigentliche Erhöhung, Jesu Heimkehr in den Himmel (489).

Der Gottessohn ist im JohEv kein anderer als Jesus von Nazareth, der Verherrlichte ist der Fleischgewordene und Gekreuzigte. Inkarnation und Kreuz sind Zeichen der Hingabe und Liebe Gottes für die Menschen. Das ist die Paradoxie, dass die doxa nirgends anders zu sehen ist als in der sarx (490).

 

(6) Der Prolog: Menschwerdung des Logos: Der Verfasser benutzt ein älteres jüdisches Logos-Lied, das vom präexistenten Logos wie von der Weisheit zu sprechen scheint und so in den Strom des hellenistisch-jüdischen Weisheitsmythos hineingehört. Gut jüdisch war in diesem Lied von nichts anderem als von Gott selbst in seiner Offenbarung (Logos) und seiner Schöpfung (alles ist durch ihn geworden) die Rede. Auch der christliche Prologautor ändert daran nichts. Am Anfang (1,1-9) ist nur vom Logos asarkos die Rede. Erst 1,14 macht unmissverständlich christlich klar: “Das Wort ist Fleisch geworden“ und identifiziert so den Logos asarkos mit einem konkreten Menschen, dessen Name erst in 1,17 fällt: Jesus Christus (492).

In diesem jüdischen Logos-Lied werden zwei Urerfahrungen des Menschen zum Ausdruck gebracht: (1) Die Welt ist ein Produkt der Weisheit Gottes und diese Weisheit ist in Gestalt der Tora von Gott zu den Menschen gesandt worden. (2) Die Menschen haben die göttliche Weisheit abgelehnt, die Zerstörung des Tempels war die Folge. Auch Jesus, der Gesandte Gottes, war abgelehnt, ja gekreuzigt worden. Jesu Schicksal war wie das Schicksal der Weisheit, wie das Geschick des Logos selbst. Jesus ist die Weisheit Gottes in menschlicher Gestalt. Die Offenbarungs- und Schöpfungsaussagen bereiten die christliche Inkarnationsaussage vor. Der Logos des Prologs wird Jesus. Jesus ist der fleischgewordene Logos, aber nicht der Logos als solcher. Von einer Präexistenz des Menschen Jesus kann hier keine Rede sein. Dem JohEv geht es nicht um ein spekulatives Verhältnis von Theos und Logos. Sein christologischer Schwerpunkt liegt bei der Menschwerdung des Logos (492f).

 

(7) Der Gesandte – kein präexistentes Himmelswesen : Johannes dürfte ein Stück entmythologisiert haben, indem er nur den Logos, nicht aber den Sohn als Schöpfungsmittler tätig sein ließ. Die Schöpfungsmittlerschaft ist eine Bekenntnisaussage. Die frühen Gebete, Hymnen und ähnliche Formulierungen des NT sprechen häufig vom präexistenten Christus (494).

Das Grundthema john Christologie ist nicht die Präexistenz für sich, sondern die Sendung des Sohnes Gottes durch Gott zum Heil der Menschen. Nicht der überweltlich präexistente Zustand Christi interessiert, sondern die Initiative Gottes im Akt der Sendung dieses Sohnes. Nicht die Protologie als Raum von Spekulation und Mythologie ist wichtig, sondern die Soteriologie als Bewegungsdynamik Gottes zugunsten der Befreiung hier auf Erden. Es geht bei Johannes nicht um die Epiphanie eines Gottwesens, sondern um die Inkarnation des Wortes Gottes selbst. Nicht um die mirakulöse Gestaltwerdung eines göttlichen Wesens geht es, sondern um das Offenbarwerden Gottes in einem geschichtlichen Menschen, nicht um den apokalyptisch-visionär ausgemalten Weg des Abstiegs und Aufstiegs, sondern um die Beschreibung dessen, was einzig wirklich beschrieben werden kann: es geht um den geschichtlichen Offenbarungsweg des Inkarnierten, dessen Ende das Kreuz, die äußerste Niedrigkeitsform ist, die aber zugleich die irdisch höchstmögliche Erhöhungsform bei Johannes bedeutet. Weder die Präexistenz wird geschildert (keine Himmelsgespräche des Sohnes mit dem Vater vor seiner Inkarnation), noch der Vorgang der Inkarnation (es gibt keine Jungfrauengeburt). Geschildert wird nur, was sich nach der Inkarnation ereignet, das Auftreten Jesu in der Welt. Präexistenz und Inkarnation bilden die Folie dieser Schilderung: sie bezeichnen das unanschauliche Woher (495).

Johannes hat ebensowenig wie Paulus eine isolierte Präexistenzchristologie, sondern eine Sendungs- und Offenbarungschristologie, in der die Präexistenzaussage die Funktion hat, die Herkunft des Offenbarers Jesus aus Gott und die Einheit Jesu mit Gott zu unterstreichen. Der Wunsch, die Heilsmacht des christlichen Erlösers zu begründen, führt zu einer stärkeren Hervorhebung seiner Präexistenz, so dass nun sein Weg deutlicher 'oben' beginnt und sich dorthin wieder zurückwendet. Die Präexistenzaussagen haben dem Offenbarungsgedanken gegenüber eine dienende Funktion. Die Präexistenz Christi ist im JohEv um der Sendung und Offenbarung willen wichtig, nicht umgekehrt (495f).

 

(8) Das Problem des Erzählers Johannes : Johannes erzählt zwei Generationen nach Jesu Tod die Geschichte Jesu. Die Autorität Jesu selber soll für den neuen Glauben des Evangelisten in Anspruch genommen werden: Zu diesem Zweck wird die Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Judenchristentum in die Zeit Jesu zurückprojiziert. Die Einwände des Judenchristentums gegen den neuen Glauben erscheinen im Munde der ungläubigen Juden z.Zt. Jesu, die Begründung und Apologie des neuen Glaubens hingegen erscheint als Verkündigung Jesu selbst, der sagt, was Gott ihm aufgetragen hat. Der Ursprung der johanneischen Christologie ist nicht die Präexistenz, sondern die Ostererfahrung des pneumatischen Christus präsens (497f).

Das JohEv zeigt, in welche Probleme man als Erzähler gerät, wenn man mit dem Problem der paradoxen Gleichzeitigkeit konfrontiert wird: Der, von dem hier erzählt werden soll, ist ganz menschlich und doch mehr als menschlich; ist wie ein Mensch begrenzt und doch wie Gott vorauswissend; ist geschichtlich Opfer und doch metageschichtlich wie ein Sieger; ist ganz irdische Niedrigkeit und doch auch ganz göttliche Hoheit (499f).

 

(9) Jesus gleich Gott? Johannes schildert nicht objektiv, sondern - im Lichte des Christus präsens, im “Geist der Wahrheit“ (16,13) - sein und seiner Gemeinde Bekenntnis zu diesem Jesus. Seine Grundüberzeugung ist, dass Jesus und kein anderer der Offenbarer Gottes ist. Von einer Selbstvergottung Jesu kann vom Text her keine Rede sein. Jesus hat sich nicht als 'Gott' verkündet. Er ist nach Ostern 'im Geist' von der Gemeinde als Wort Gottes in Person verstanden worden. Dieser Anspruch der john Gemeinde muss genügt haben, um von der traditionellen jüdischen Umwelt als Blasphemie empfunden zu werden. Rückprojiziert erscheint er jetzt als moralischer Vorwurf an die Adresse Jesu selber. Johannes berichtet von dem Vorwurf, dass traditionelle jüdische Kreise die john Christologie als blasphemisch empfunden haben (500).

Die Jünger Jesu behaupten nicht, Jesus sei Gott, auch sie haben ihren Helden nicht vergottet. Nirgendwo erscheint der john Christus als zweiter Gott neben Gott. Der Gott (ho theos) ist auch im JohEv ganz selbstverständlich der Vater. Der Sohn ist sein Gesandter, sein Offenbarer: “der Vater ist größer als ich“ (14,28). In diesem Sinne muss auch das Thomas-Bekenntnis “Mein Herr und mein Gott“ (20,28) verstanden werden, das sich auf den Auferstandenen bezieht und die Geistsendung (20,22) voraussetzt. Sachlich bedeutet dies eine Bestätigung dessen, was im Prolog eingeleitet und was auch 1Joh 5,20 abschließend zum Ausdruck bringt, dass Gott in der Gestalt Jesu sichtbar geworden ist, dass Jesus transparent ist für den Vater als seinen Offenbarer. Die Durchgängigkeit solch niedriger christologischer Aussagen bei Johannes zeigt, dass die john Gemeinde aus Jesus keinen Gott-Rivalen gemacht hat (500f).

W. Thüsing: Die Begründung “denn der Vater ist größer als ich“ muss in dem Sinn interpretiert werden, in dem das Verhältnis von Vater und Sohn sonst im Evangelium dargestellt ist: Der Vater ist dem Sohn gegenüber immer der Gebende, derjenige, der die Initiative hat, der den Auftrag erteilt. Der Sohn hört und empfängt immer vom Vater, er erfüllt den Willen des Vaters, er führt das aus, was der Vater begonnen hat, aber nicht umgekehrt. Auch sonst im NT drückt 'größer sein' ein Verhältnis der Über- und Unterordnung aus (W. Thüsing 210).

 

E. Stegemann und W. Stegemann

5. Jesus als König im Johannesevangelium

Das Stichwort “Königsherrschaft Gottes” bzw. “Reich Gottes”, das Hauptwort der Verkündigung Jesu nach den Synoptikern, fehlt im JohEv fast völlig. Dennoch ist Jesus nach dem JohEv ein König, der ein Reich hat: im Himmel. Diesen “himmlischen Bereich”, in den der göttliche Gesandte führt (14,3: 12,26; 17,24), meint denn auch “Reich Gottes” an den zwei einzigen Stellen, an denen dieses Stichwort bei Johannes vorkommt 18,36: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt" und 3,3.5: nur wer von neuem geboren ist, kann das Reich Gottes sehen; nur wer aus Wasser und Geist geboren ist, kann in das Reich Gottes kommen (41).


 

Der Königstitel in der john Passionsgeschichte (18,37): Die Distanzierung von politisch-aufrührerischen Gegenkönigen geschieht durch Pilatus, der dreimal Jesu Unschuld beteuert. Johannes läßt die ‘Juden’ nicht nur bewusst falsches Zeugnis von Jesus geben, sie verleugnen vielmehr noch gleich mit ihm auch den Ewigen im Himmel: “Wir haben keinen König außer dem Kaiser” (19,15). Nach Johannes wird hier Gott als König verleugnet, der König aller Könige und Herr aller Herren. Jesus sagt: “Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege” (18,37). Dieser Anspruch, der in die Welt gekommene himmlische König zu sein, verbindet sich nicht mit Machtentfaltung, nicht mit dem Anspruch auf ein Königreich auf der Erde. Wenn das so wäre, dann würden seine Diener für ihn kämpfen. Er verbindet sich allein mit dem Zeugnis von der Wahrheit. Die göttliche Hoheit leuchtet, gleichsam immer wieder am Fleischgewordenen auf, wie der gesamte, die Souveränität Jesu herausstellende Duktus zeigt. Erinnert sei an die Situation, als die Kohorte Jesus gefangen nehmen will und auf sein “Ich bin’s” hin zu Boden fällt wie bei einer Epiphanie (43f).

Der Königstitel in der john Einzugsgeschichte (12,13): Jesus wird akklamiert mit dem auch bei den Synoptikern zu findenden Hosianna-Ruf, zugespitzt mit dem Titel: “Der König Israels”! Bei Johannes fehlt der Bezug auf die davidische Königstradition (Mk 11,10 lautet: “Gesegnet ist die kommende Königsherrschaft unseres Vaters Davids”). Johannes vermeidet den davidischen Bezug, der die Vorstellung einer irdischen Basileia enthält. Im JohEv fehlt jegliche Beziehung Jesu zur davidisch-messianischen Tradition, auch wird keine davidische Abstammung behauptet. Jesus wird mit der Akklamation als “König Israels” von Johannes gerade nicht als messianisch-davidischer König der Juden, d.h. als irdischer Königsprätendent und damit aus röm. Sicht als Aufrührer, sondern als Erscheinung des Königs Israels, also Gottes, gekennzeichnet. In Sach 9,9 (“Tochter Zion freue dich, denn dein König kommt zu dir”) ist das Erscheinen Gottes gemeint. In Zeph 3,15 (“Der Herr, der König Israels, ist bei dir, dass du dich vor keinem Unheil fürchten mußt”) meint den in der Mitte seines Volkes erscheinenden Gott Israels (45f).

Das Bekenntnis des Nathanael: “Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König Israels” (1,49).
Johannes schafft die Erstberufung des Petrus kurzerhand ab, und ebenso dessen überaus wichtige Rolle, Jesus zuerst als Christus er- und bekannt zu haben. Dem Leser wird die Messianität Jesu nebenbei von Andreas mitgeteilt: “Wir haben den Messias gefunden” (1,41). Später bekennt Petrus dann Jesus nicht als Christus sondern als “den Heiligen Gottes” (6,69), womit ausgedrückt wird, dass Jesus der Welt schlechthin als der Jenseitige gegenübersteht und zu Gott gehört. Hier scheint nach der Kennzeichnung Jesu als Sohn Gottes das Messiasbekenntnis sozusagen nach oben transformiert zu werden. Nathanael bekennt Jesus als Gottessohn, als König Israels, weil er Jesu göttliche Fähigkeit des Allwissens erkannt hat. Auf das Bekenntnis des Nathanael stellt Jesus sich selbst als den Menschensohn dar, der nicht nur in ständiger Verbindung mit dem Himmel steht, sondern gleichsam die Himmelsleiter, der Weg zum Himmel bzw. die Verbindung mit ihm selbst ist 1,51: “Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf und herabfahren über dem Menschensohn” (vgl. 14,6: “Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich”) (46f).

Apokalyptische und weisheitliche Königstradition: Jesus ist “König Israels” und dazu in die Welt gekommen, dass er Zeugnis für die Wahrheit ablege. Sein Königreich ist nicht von dieser Welt. Jesus beansprucht keine irdisch-politische Herrschaft als “König der Juden”, er lehnt es ab, zum (Gegen-)König (6,15) gemacht zu werden. Die john Eschatologie kennt keine Hoffnung auf die Königsherrschaft Gottes auf Erden. Johannes distanziert sich von jeglichem Anspruch irdisch-königlicher Herrschaft Jesu. Dagegen interpretiert er Jesu Königswürde positiv im Stile eines weisheitlichen Königtums.

Die apokalyptische Tradition rechnet mit einer zukünftigen Königsherrschaft Christi auf Erden, errichtet durch Gottes eigene Aktion, gegebenenfalls herbeigeführt durch Mittlergestalten - wie den Messias. Sie hofft auf ein gerechtes Friedensreich, das Ungerechtigkeit und Unterdrückung beseitigt. In der weisheitlichen Tradition geht es eher um die Gegenwart als um die Zukunft. Ihr Interesse ist darauf konzentriert, wie man hier und jetzt unter der Herrschaft Gottes leben kann. Es ist eine Art ethische Königsherrschaft, die der Weise als König repräsentiert (48f).

•     Apokalyptisch-revolutionäre Königstradition : Im NT steht die lkn Christologie dieser Tradition am nächsten. In der lkn Vorgeschichte (Lk 1-2) wird mit der Geburt Jesu die Errettung Israels aus der Hand seine Feinde (1,74), die Aufrichtung der Theokratie (1,75), die Umwälzung der bisherigen gesellschaftlichen Verhältnisse (1,52) und die Befreiung des Gottesvolkes bzw. Jerusalems (1,68; 2,38) verknüpft. Lukas stellt Jesus als den erwarteten endzeitlichen messianischen König dar, der der dynastischen Herrschaft des davidischen Königshauses ewige Dauer verleiht. Für Lukas ist Jesus der verheißene endzeitliche König Israels auf dem Throne Davids. Dass er diese Verheißung während seiner irdischen Wirksamkeit noch nicht endgültig realisiert, sondern in seiner Verkündigung an die Armen und seiner wundertätigen Praxis partiell vorweggenommen hat, hängt nach Lukas mit den heilsgeschichtlichen Plänen Gottes zusammen: Israel hat den Kairos seiner gnädigen Heimsuchung nicht erkannt - und zwar auch aufgrund göttlicher Vorherbestimmung (19,41ff). Dieser Anspruch auf die Königswürde Jesu wird von Lukas nicht aufgegeben, sondern gleichsam auf den Parusie-Christus verschoben. Der vom Himmel wiederkommende messianische König Jesus wird für Israel die Königsherrschaft aufrichten, auch wenn über den Zeitpunkt noch nichts gesagt werden kann (Apg 1,6f) (50).

•     Weisheitliche Königstradition : Johannes folgt in 18,36ff und 19,10f der weisheitlichen Königstradition, in der die Distanzierung von irdisch-politischer Königsherrschaft neben der Behauptung begegnet, allein der Weise sei König. Die weisheitliche Tradition setzt Gottes Königsherrschaft über das Universum voraus und versteht alle menschliche Herrschaft als von Gott gegeben! “Du hättest (Pilatus) keine Macht über mich, wenn sie dir von oben her nicht gegeben wäre” (19,11). Der john Jesus ist ein König, doch seine Herrschaft stammt nicht von diesem Kosmos, ihm stehen keine Diener zur Verfügung. Er ist gekommen, um von der Wahrheit zu zeugen. Der Zeugenbegriff meint Jesus als den himmlischen Zeugen, der davon in der Welt redet, was er beim himmlischen Vater gesehen und gehört hat (3,32; 8,26). Dieses Wissen offenbart er den Menschen als heilbringende Wahrheit (8,32). Zu diesem Wissen gehört nicht nur das Wissen um Jesus als den Offenbarer und Bringer des Lebens, sondern auch um seine authentische Interpretation der Tora als der göttlichen Weltordnung. Deren Befolgung eröffnet ewiges Leben. So werden jene Toten, die das Gute getan haben, zum Leben auferstehen (5,29). In diesem Sinne wird das Verlangen nach Weisheit, das im Halten der Gebote und darin der Sicherung der Unvergänglichkeit gipfelt, als Weg zur Königsherrschaft gedeutet (51f).

Während Johannes Jesus vom irdisch-politischen Königtum distanziert, gibt er ihm Züge eines weisheitlichen Königs. Im Sinne dieser Tradition ist Jesus wie Gott “König Israels” (Jes 24,23; 33,22; 41,21; 43,14f; 52,7). Seine Königsherrschaft ist irdische Repräsentanz des Königtums Gottes. Schon der Prolog macht auf Jesu Distanz zur Welt aufmerksam, in dem die Herkunft Jesu aus der Einheit mit dem Vater jenseits des Kosmos vorausgesetzt wird (53).

Historisch-soziale Hintergründe : Lukas und Johannes reflektieren die Erfahrung des Konfliktes mit dem Judentum. Israels katastrophales Schicksal im jüd.-röm. Krieg wird von Johannes weder bedauert noch als göttliches Gericht interpretiert. Lukas bedauert diese Katastrophe. Sie scheint Zweifel an der Messianität Jesu ausgelöst zu haben. Er versucht die Frage zu beantworten, warum Jesus als messianischer König noch nicht während seiner irdischen Wirksamkeit die Königsherrschaft für Israel aufgerichtet hat. Israels Schicksal ist für Lukas von eminenter Bedeutung für sein eigenes heilsgeschichtliches Konzept. Johannes wirft mit seiner Distanz zu aller politischen Herrschaft nicht nur das apokalyptische Hoffnungsmodell über Bord, für ihn spielt Israels nationales Schicksal keine Rolle mehr im Heilsplan Gottes. Zwar gilt: “Das Heil (der Messias) kommt von den Juden” (4,22), aber nicht im Sinne eines messianisch-apokalyptischen Modells. Denn der john Jesus ist als Messias und König Israels ein Zeuge für die Wahrheit, nicht der apokalyptische Protagonist einer “Königsherrschaft für Israel”. “Es kommt die Stunde - und sie ist jetzt da -, wenn die wahren Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit (4,23) anbeten”. Der Gegensatz von Samaria und Jerusalem ist dadurch hinfällig geworden (55f).


 

J. Becker

6. Die Sendung des Sohnes als Endgericht 

Jesu Zuhörer stoßen sich daran, dass Jesus trotz des Anspruchs, die zentrale Heilsgestalt der Endzeit zu sein, von seiner Erhöhung zu Gott spricht (12,34ff). Muss nicht der Christus als endzeitlicher Heilsbringer für immer bei seinem Heilsvolk bleiben? Jesus beharrt auf seiner Rückkehr zum Vater, weil er dort – und nicht auf Erden – die Heilsgemeinde sammeln wird, denn er will von der Höhe her alle zu sich ziehen (12,32) (202).

Jesus betont immer wieder, er vollziehe jetzt das Endgericht. Diesem folgt traditionellerweise nur noch der Vollendungszustand, in dem der Endzeitherrscher für immer mit der Heilsgemeinde zusammen ist (1Thess 4,17; 5,10). Dass das Wirken des Gesandten und das Endgericht zusammenfallen, sagt nur der vierte Evangelist. Für ihn vollzieht der Gesandte die endzeitliche Scheidung zwischen Gut und Böse, also das Endgericht, in Gestalt seines Sendungsauftrages: “Um (das) Gericht (durchzuführen), bin ich in diese Welt gekommen“ (9,39). “Wer an ihn (den Gesandten) glaubt, wird nicht mehr gerichtet. Wer nicht glaubt, ist bereits gerichtet, weil er nicht zum Glauben an den Namen des einziggeborenen Sohnes Gottes gekommen ist“ (3,18). Der Sendungsauftrag des Sohnes besteht also darin, das Gericht zu vollziehen, freilich mit dem positiven Ziel zu retten. Gerettetwerden oder Verlorengehen hängen dabei am Glauben oder Unglauben. Der sich dann durchsetzende Trennungsprozess ist endgültig (202f).

Das aber ist das Gericht (, das sich jetzt mit der Sendung des Sohnes ereignet), dass das Licht in die Welt gekommen ist, aber die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse...“ (3,19-21). So scheidet das in die Welt gekommene Licht zwischen Gut und Böse. Darum gilt: Wer dem Sohn glaubt, hat ewiges Leben. Wer sich verweigert, sieht das Leben nicht, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm (3,36). Oder: Wer dem Wort der Selbstoffenbarung des Gesandten glaubt, kommt nicht ins Gericht. Er ist vom Tod zum Leben hinübergeschritten (5,24f; 12,31). Dieses Gericht als endzeitlicher Trennungsprozess ist sonst ausnahmslos der Zukunft vorbehalten (203).

Glaube oder Glaubensverweigerung, zum Licht kommen oder die Finsternis lieben geschehen weiterhin angesichts der Botschaft der Gemeinde (3,11-13.19-21). Der Trennungsprozess ist noch nicht zu Ende. Er wird beendet, indem der erhöhte Sohn vom Himmel aus zu sich zieht: “Wenn ich erhöht bin von der Erde, will ich sie alle zu mir ziehen“ (12,32). Die Glaubenden werden im Himmel die Herrlichkeit des Sohnes schauen (17,24). Dies ist der Vollendungszustand. Die, die sich der Offenbarung des Sohnes oder der Verkündigung der Gemeinde verweigern, werden unten in ihrem eigenen Unheil zugrunde gehen (3,36). Sie gelangen nicht zum ewigen Leben, das allein der Sohn ihnen geben könnte (204).

In der Regel werden im Frühjudentum mit der Besiegung der satanischen Macht die Endereignisse eingeleitet. Für den vierten Evangelisten findet dieser Akt mit der Rückkehr des Sohnes zum Vater statt. So kündigt der Gesandte angesichts seines bevorstehenden Todes an: “Jetzt ergeht das Gericht über diese Welt. Jetzt wird der Herrscher dieser Welt (aus seiner Machtstellung) herausgeworfen werden“ (12,31). Mit den Worten: “Es ist vollbracht“ (19,30) beschließt der john Christus sein Leben. Vollbracht hat er sein Werk der Sendung mit dem Ziel, Glaubenden Leben zu geben und mit dem Auftrag, die Herrschaft des Teufels zu beenden. Dabei besteht des Teufels Herrschaft im Verneinen des Lebens (8,44). Seine Herrschaft ist der Tod. Die Herrschaft des Teufels ist durch das Werk des Gesandten gebrochen. Deshalb ist der Weg frei, dass die Glaubenden von dem Erhöhten in die Höhe gezogen werden können (204).

Der Evangelist zeichnet die Zukunft der Glaubenden nicht mehr in der Sprache zukünftig-apokalyptischer Ereignisse, sondern benutzt diese Sprache, um die Sendung des Sohnes zu qualifizieren (205).

Zu diesem Konzept passt, dass die Glaubenden, die 'ewiges' Leben haben, durch den Parakleten bestimmt sind. Gott selbst ist Geist und Leben (4,24; 5,26). Der Geist macht lebendig (6,63) und mit der Gabe des Parakleten nimmt der Erhöhte selbst in den Gläubigen Wohnung (14,17f.22f), denn der Vater ist im Sohn, der Sohn in den Gläubigen und diese sind zugleich in ihm (14,21). Das ist eine präsentische Reinterpretation der Hoffnung, nach der am Ende der Tage Gott für immer bei den Menschen sein wird (Offb 21) und dass Gott seinen Geist auf alle ausgießen wird (Joel 3,1ff). Die vollkommene Gemeinschaft mit dem Erhöhten ist durch den Tod nicht zerstörbar (14,2f) (205).

Die Gerichtsrede in Joh 5,19-30: Der erste Teil (5,19-23): “Wahrlich, wahrlich ich sage euch...“ Üblicherweise sind die Machtübertragung und die Gerichtsvollmacht etwas, was Gott erst dem österlichen Christus gibt (1Kor 15,20ff; Phil 2,9; 3,20f; Röm 1,4). Für den Evangelisten vollzieht sich jetzt das Gericht, indem der gekommene Sohn Tote auferweckt und lebendig macht (5,21). Dabei deutet 5,21 noch an, dass auferwecken und lebendig machen eigentlich Gottes Aufgaben sind, übernimmt doch der Sohn diese Taten erst vom Vater. Für das Frühjudentum sowie für das Urchristentum ist Gott allein stärker als der Tod. Nur zögerlich erhält der auferstandene Christus ab und an solche Machtvollkommenheit Gottes (1Kor 15,26; Phil3,21). Der Evangelist beschreibt singulär im Urchristentum das irdische Wirken des Sohnes als “Tote auferwecken und lebendig machen“ (207f).

Der zweite Teil (5,24): “Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist vom Tod ins Leben hinübergeschritten“. Das Lebenspenden des Gesandten ist nicht Ankündigung für eine spätere Zeit, sondern ist gegenwärtiges Geschehen. Wer die Worte des Gesandten hört und aufgrund seiner Selbstoffenbarung zum Glauben kommt, hat im Augenblick der Botschaftsannahme sein Endgericht erlebt: Er ist vom Tod zum Leben hinübergeschritten. Darum kommt er nicht mehr ins Gericht (s.a. 11,25f.31f). Der Tod ist Kraft des Ziehens des Erhöhten Durchgang zum Leben. Eine ausstehende Parusie ist in diesem Gedankengang systemfremd. Durch den gekommenen Sohn geschieht in der Weltgeschichte das Gericht, das darin besteht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, jedoch das Verhalten der Menschen ihm gegenüber mehr zur Ablehnung als zur Zustimmung neigt (3,19-21). So setzt Jesus den endgerichtlichen Trennungsprozess in Gang 208).

Der dritte Teil (5,25-30): “Wahrlich, wahrlich ich sage euch...“ Ein drittes Mal setzt der Evangelist an, um den Gedanken zu festigen: “Es kommt die Stunde, in der die Toten die Stimme des Sohnes hören werden, und die, die sie hören, werden leben“ (5,25). Dieser Satz ist ein futurisch ausgerichtetes Trostwort. Er sichert als apokalyptische Prophetie der Gemeinde zu, dass die in Christus Entschlafenen (1Thess 4,13f.16) an der Vollendung teilnehmen werden. Wie in 5,21 ist der erhöhte Endzeitherrscher (durch die Macht seines Wortes) Auferwecker zum ewigen Leben. Mit einem kleinen Zusatz (“und sie ist schon da“) funktioniert der Evangelist diese Verheißung zu einer Gegenwartsaussage über das Wirken des Gesandten um. Dreimal hat er den Gedanken der im gekommenen Sohn vergeschichtlichten Parusieaussage formuliert (208).

Der Gesandte besitzt die Befähigung zum Ausüben des Endgerichts. Der Sohn hat für seine Sendung die Ausstattung des Lebens vom Vater erhalten (5,26) und hat Auftrag und Vollmacht, als Menschensohn das Gericht zu vollziehen (5,27). So fallen Sendung und Gerichtsvollzug zusammen (209).

Der Vers 5,30 ohne 28f passt als Abschluss vorzüglich. Der Gedanke der Gerichtsrede ohne 5,28f ist in voller Harmonie mit Joh 3; 11; 12; 14. Darum plädieren viele Exegeten dafür, Joh 5,28f sei nachgetragen. Das ist die exegetisch und systematisch befriedigendste Lösung (209).

Der Evangelist hatte das Werk des Gesandten dadurch groß herausgestellt, dass er den endgerichtlichen Trennungsprozess allein in der Stellung des Menschen gegenüber dem Gesandten verwirklicht sah. Dabei hatte er zwei Probleme bekommen: (1) Wie steht es mit der Verbindlichkeit der Lebensführung der Glaubenden? Und (2) soll die Welt nur sich selbst überlassen werden, wenn die Glaubenden “in die Höhe gezogen“ werden (12,32)? Der Bearbeiter korrigiert (5,28f): (1) Kein Mensch ist aus der Gottesbeziehung mit ihren Folgen für die Lebensführung entlassen. Das Endgericht wird solche Verbindlichkeit einfordern. (2) Die Geschichte bleibt nicht sich selbst überlassen. An ihrem Ende steht Gottes letztes Wort durch seinen Sohn (210).

Literatur A

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1961, Der Leib des Messias

Roloff, Jürgen
 1993, Die Kirche im NT

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 2006, Das Israel Gottes

Vielhauer, Philipp
 1978, Geschichte der urchristlichen Literatur 

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 1981, Das Buch mit den sieben Siegeln

Literatur B

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 2000, Die Hoffnung auf ewiges Leben im JohEv, in: ZNW 91

Bultmann, Rudolf
 1984⁹, Theologie des NT

Kriener, Tobias
 2001, Glauben an Jesus - ein Verstoß gegen das zweite Gebot?

Kuschel, Karl-Josef
 1990, Geboren vor aller Zeit?

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 2004, Trinitarisches Denken im JohEv, in: Israel und seine Heilstraditionen im JohEv, M. Labhahn u.a.

Söding, Thomas
 2002, "Ich und der Vater sind eins" (Joh 10,30), in: ZNW 93

Stegemann, Ekkehard und Stegemann, Wolfgang
 1993, König Israels, nicht König der Juden? Jesus als König im JohEv, in E. Stegemann (Hg), Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen