VII. Der Gott Jesu braucht kein Sühnopfer

A. Jesus und der Sühnegedanke

B. Abschied vom Verständnis der Hinrichtung Jesu als Sühnopfer und von dessen sakramentaler Nutzung in einer Opfermahlfeier

C. Die theologische Problematik des Sühnetodes Jesu

 

J. Vollmer (1997)

 Die Deutung des Todes Jesu muss Jesu Botschaft und Verhalten entsprechen. Jesus hat nicht einen unnahbar heiligen Gott verkündigt, der in seinem Volk nur gegenwärtig sein kann, wenn immer wieder (Lev 16) bzw. ein für allemal (Hebr) Sühne geleistet wird. Jesus hat Gott als den unendlich liebenden und unendlich gütigen Vater verkündet, der auch seine Feinde liebt und uns zumutet, seiner Feindesliebe zu entsprechen (Mt 5,43-48). Jesus hat die Vergebung und Liebe Gottes grundlos und bedingungslos ohne jeden Vorgriff und ohne jeden Verweis auf seinen Tod als Sühnetod, lange vor seinem Foltertod und der Deutung dieses Todes als Sühnetod zugesprochen und in seinen Mahlgemeinschaften und Heilungen zugeeignet. Er hat Gottes Liebe im hic et nunc für den Sünder in Anspruch genommen und sein Lebensopfer nicht als konstitutive Voraussetzung göttlicher Zuwendung verstanden. Der Irdische kündet das Reich Gottes an und dokumentiert in seiner Gemeinschaft mit Sündern die Vergebung Gottes. Jesus erlöst durch sein Leben und Handeln und nicht durch seinen Tod. Vielmehr ist unter das Versöhnungswerk Jesu Christi auch schon die Tatsache zu rechnen, dass er während seines irdischen Wirkens Menschen Sündenvergebung zugesprochen und diese Vergebung durch Praktizierung von (Tisch-)Gemeinschaft auch gelebt hat. Dabei wäre es eine abwegige Vorstellung, anzunehmen, diese Vergebung sei, weil sie vor dem Kreuzestod Jesu Christi geschehen ist – noch nicht voll gültig. Die Unmittelbarkeit seiner kindlichen Gottesbeziehung und seines abgrundtiefen Gottvertrauens ist mit der unnahbaren Heiligkeit eines, um uns seine Liebe zu erweisen, Sühne gewährenden und, um uns vor seinem Zorn zu retten, Sühne fordernden Gottes unvereinbar. Dass Gott in seiner Heiligkeit nicht mit der Sünde koexistieren kann, das gilt für das kultisch-priesterliche Denken, dass Gott als der gütige Vater mit dem Sünder koexistiert, dafür hat sich Jesus gerade gegen das kultisch-priesterliche Denken verbürgt (120).

Opferkult und Sühnedenken sind auch innerhalb der Traditionen des Ersten Testaments keineswegs unumstritten. Gott will keine Opfer (Am 5,21-25; Hos 6,6). Der neue Bund wird nach Jer 31,31-34 nicht mit blutigen Opfern verbunden, der neue Geist und das neue Herz werden ohne Sühnopfer vermittelt (Ez 36,26-28; Joel 3) (120f).

Der väterliche und mütterliche Gott Jesu vergibt grundlos und bedingungslos, ohne Blut, ohne Sühne und ohne Gewalt.... Gottes Liebe vermag zwischen Sünder und Sünde zu unterscheiden, Gottes Zorn und Heiligkeit nicht. Gottes Liebe vermag grundlos zu vergeben, Gottes Heiligkeit gebraucht Gewalt und fordert ein Sühnopfer...

Die Deutung des Todes Jesu als Sühnetod scheitert nicht zuletzt aber auch daran: dass erst durch das Widerfahrnis der Auferweckung Jesu die Heilsbedeutung seines Todes erschlossen wird: “Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist, dann... seid ihr noch in euren Sünden“ (1 Kor 15,17). Hier tut sich eine weitere Aporie der Deutung des Todes Jesu als Sühnetod auf, denn die Sühnewirkung seines Todes wird durch Jesu Auferweckung zunichte, weil der Auferweckte nicht stellvertretend für uns Sünder den ewigen Zorn Gottes im ewigen Gerichtstod auf sich nimmt.

Der Foltertod Jesu am Kreuz ist in der Perspektive von Jesu Bürgschaft für seinen Gott von Gott weder gewollt noch verfügt. Jesus hat bis in die letzte Konsequenz seines Kreuzestodes als ein Opfer der gottfeindlichen Mächte an Gottes Liebe festgehalten und sie so beglaubigt. Und Gott hat seinen Bürgen auferweckt und sich zu ihm bekannt. Sein Tod am Kreuz ist nicht die Ursache und Voraussetzung unserer Erlösung, sondern die Folge unserer Erlösung durch Gottes bedingungslose Liebe, die Jesus lange vor seinem Tod bezeugt und die in der Bezeugung durch ihn gerade zu seinem Tod geführt hat (121).


 


 


 

Zum Sühnetod Jesu gibt es kein analoges Jüngerverhalten.

Das 'nach OSTERN' übernommene heidnische Sühnopferdenken passt nicht zu JESU VERKÜNDIGUNG

 Jesu zentrale Botschaft von der unbedingten Liebe Gottes widerspricht der Deutung seines Todes als Sühnopfer.
 Von seiner Gottesbeziehung her hat Jesus den Kampf der Propheten und der Weisheit dagegen, dass die Menschen zwischen sich und Gott ein Drittes stellen, das sie vertreten soll, wieder aufgenommen.
 Doch mit diesem Kampf ist er an Paulus und der christlichen Kirche gescheitert.

Paulus sieht die Kreuzigung Jesu als gottgewolltest Heilsereignis.
 Die Sühnevorstellung entsprach den damaligen Denkvorraussetzungen im Judentum, aus dem Paulus stammte.

 

Ist die ERMORDUNG Jesu ein gottgewolltes HEILSEREIGNIS?

 "Als Judas Iskariot, der ihn verraten hatte, sah, dass er (Jesus) zum Tode verurteilt war, reute es ihn...und er sprach: Ich habe Unrecht getan, dass ich unschuldiges Blut verraten habe...Und er warf die Silberlinge in den Tempel, ging fort und erhängte sich (Mt 27,3ff).

In Europa haben wir die Todesstrafe abgeschafft, aber wir verkünden einen Gott/Vater, der die grausame Ermordung seines Sohnes braucht, um gnädig zu sein!

 

Welch ein schrecklicher Gott/Vater braucht die grausame Ermordung seines Sohnes, um gnädig zu sein? Kann man einen derart schrecklichen Gott/Vater lieben? Welch ein Rückschritt hinter das atl Gottesbild!

Im AT braucht Gott kein Menschenopfer, um gnädig zu sein. Die Ermordung Isaaks hatte Gott verhindert (1Mo 22,12f).
 Jer 31,20: "
Ist nicht Ephraim mein teurer Sohn und mein liebes Kind? Denn sooft ich ihm auch drohe, muss ich doch seiner gedenken, darum bricht mir mein Herz, dass ich mich seiner erbarmen muss, sprich der HERR"
 Jes 54,10: "
Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer".

Gottes Liebe: Hos 11,8ff;  14,5ff.
 Der Gott Jesu will keine Ofer, auch kein Sühnopfer, er will das Herz des Menschen. 

In Ps 136 preist der Sänger Gottes Wunder in der Schöpfung und in der Geschichte Israels. 26 mal hören wir: "...denn seine Güte währet ewiglich". Dieser Sänger würde nicht auf den Gedanken kommen, Gottes heilige Liebe von der grausamen Ermordung seines Sohnes abhängig zu machen.
 Ps 103,3f: "
Lobe den HERRN...der dir alle deine Sünde vergibt und heilt alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit".
 Ps 103,8.12: "
Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte". "So fern der Morgen ist vom Abend, lässt er unsere Übertretungen von uns sein". 

Lied
Die Güte des Herrn hat kein Ende, kein Ende.
 Sein Erbarmen hört niemals auf.
 Es ist neu jeden Morgen, neu jeden Morgen.
 Groß ist seine Treue.

"G O T T  hat  A L L E  eingeschlossen in den U N G E H O R S A M,  damit er sich  A L L E R  E R B A R M E" (Röm 11,32)


 

1. Jesu Todesverständnis

2. Jesus hat seine Jünger bevollmächtigt, als Söhne und Töchter Gottes die ‚Gottessohnschaft‘ anzunehmen und einander Sünden zu vergeben

3. Abschied von der Vorstellung, der Tod sei "der Sünde Sold" (Röm 6,23)

4. Abschied von Sühnopfergedanken

 

1. Jesu Todesverständnis

Sein Leben riskieren und sein Leben opfern sind zwei grundverschiedene Handlungsweisen. Der gute Hirte riskiert sein Leben für die Schafe (1Sam 17,34-37), aber er opfert es nicht für die Schafe.

R.Laufen: Sowohl für den Menschen Jesus in seiner Hingabe an den Vater als auch für die ihm Nachfolgenden und ihr Hineingenommenwerden in seine Hingabebewegung gilt, dass sie umfangen ist von der sie erst ermöglichenden Hingabebewegung Gottes zu den Menschen. Die Liebe des Vaters ist Ursprung der Hingabe des Sohnes (Joh 3,16). Alle Initiative des Heils geht von Gott aus. Das Handeln Gottes und die Antwort des Menschen dürfen nicht als konkurrierend gedacht werden. Eine Vorstellung von christlicher Erlösungslehre, nach der Gott durch ein blutiges Opfer versöhnt werden muss, ist abwegig (192).

A. Vögtle (1985): Die Erlangung des Endheils aufgrund der dem Sünder Vergebung schenkenden und zu schöpferischer Liebe verpflichtenden Vatergüte Gottes oder aufgrund des heilsbedeutsamen Sterbens Jesu sind zwei qualitativ verschiedene heilsmittlerische Aktionen (153f).

Jesus hat seine Botschaft bis zuletzt als einzig möglichen Zugang zum Heil der Gottesherrschaft verstanden und verfochten. Warum soll er in letzter Minute von der definitiven Gültigkeit dieses Heilsweges abgerückt sein und das Sühnesterben für Israel konzipiert haben? Das schmachvolle Ende Jesu am Schandpfahl des Kreuzes wurde nicht nur von der Führungsschicht Israels sondern auch von der Majorität des Volkes als Widerlegung seines Heilsmittleranspruchs bzw. jeglicher göttlicher Sendung bewertet. Jesu Kreuzigung war selbst für die Elf ein so schwerer Schock, dass sie in ihre galiläische Heimat zurückkehrten, sich als Jüngerkreis auflösten und Simon/Petrus daselbst die erste Christophanie zuteil wurde (156).

Jesus wollte bei seinem letzten Jerusalembesuch den Glauben an seine Heilsbotschaft, nicht aber seine Hinrichtung provozieren. Es finden sich keine Worte oder sonstigen Anhaltspunkte, die auf eine Unsicherheit Jesu hinsichtlich der unbedingten Gültigkeit seines an Israel ergangenen Heilsangebots schließen ließen. Der in seiner substantiellen Herkunft von Jesus nicht umstrittene sog.‚ eschatologische Ausblick‘ (Mk 14,25) kann mit guten Gründen als ursprüngliches Kelchwort gelten und damit als Beleg, dass Jesus seinen Jüngern nicht nur seine Todesbereitschaft bekundete, sondern dieselbe auch mittels des traditionellen Bildes vom eschatologischen Mahl der neuen Gemeinschaft in der volloffenbaren Gottesherrschaft versicherte und damit auch bezeugte, dass er im Angesicht seines Todes an seiner Reich-Gottes-Erfahrung festhält und sich selbst als den Ansager derselben von Gott bestätigt fühlt (157f).

Ein Wort, mit dem Jesus den Jüngern den Auftrag zur verbalen Verkündigung seines Heilstodes erteilt hätte, findet sich in den Abendmahlsberichten (einschließlich 1Kor 11,23-26) nicht. Die Gesamtüberlieferung berechtigt uns auch nicht zur Annahme, die Jünger hätten aufgrund eines Auftrags Jesu oder aufgrund ihres Sonderwissens es nach Ostern für ihre Pflicht gehalten, möglichst umgehend im ganzen Wirkungsbereich Jesu, in Jerusalem wie vor allem in Galiläa, Jesu Sühnesterben als neue Ermöglichung oder Voraussetzung der Heilserlangung zu verkünden und die Israeliten zur Aneignung der geleisteten Sühne aufzufordern. Merkwürdig ist, dass der Gesichtspunkt des ‚noch einmal‘erfolgenden (auf neue Weise Sündenvergebung vermittelnden) Heilsangebots nicht auch die Artikulierung der nachösterlichen Todesverkündigung mitprägte. Die Verkündigung des errettenden Handelns Gottes am hingerichteten Jesus hätte für die Jünger die missionarisch grundlegende Aussage sein müssen, wenn sie vom letzten Mahl das sie sicher schockierende, deshalb auch unvergeßliche Wissen um Jesu ausdrückliche Deutung seines erwarteten Todes als Sühnesterben mitgebracht hätten: Dass Jesus vom Vergossenwerden seines Blutes „für die Vielen“ gesprochen hatte (Mk 14,24). Die als älteste kerygmatische Formel anerkannte Aussage lautete: „Gott erweckte Jesus aus (den) Toten“, ohne auf eine dem Tod Jesu innewohnende Heilseffizienz hinzuweisen. Warum sollte die nachösterliche Verkündigung unter der genannten Voraussetzung zur Bewältigung des Todesschicksals Jesu, seiner so skandalösen Hinrichtung als Falschmessias, nicht von Anfang an die Sühne und Bund stiftende Kraft dieses Sterbens geltend gemacht haben? Dürfte man nicht erwarten, dass in Formeln, die der Auferweckung bzw. Erhöhung Jesu die Aussage von seinem Sterben voranstellen, dieses ausdrücklich auch mit dem aus Jesu Mund stammenden „für die Vielen“ gedeutet würde (159)?

Durch die im Laufe seines Wirkens erfolgende Konstituierung der Gruppe von zwölf ständigen Nachfolgern wollte Jesus die Aufrechterhaltung seines Anspruchs, ganz Israel als das Heil erbende Gottesvolk zuzurüsten, zeichenhaft zum Ausdruck bringen. Die Jünger lassen sich nur als Repräsentanten des sich dem Heils- und Umkehrruf Jesu öffnenden Israel verstehen, so sehr auch sie es an der radikalen Erfüllung des von Jesus proklamierten Gotteswillen fehlen lassen mochten (160).

Aus welchem Grund soll Jesus den Schritt von dem von ihm verkündeten Heilsweg (Heilerlangung aufgrund des existentiellen Eingehens auf den von ihm proklamierten Heils- und Heiligkeitswillen Gottes) zur Konzeption seines heilseffizienten Sterbens getan haben? Davon nicht zu trennen ist die Frage, wem dieses Sterben nach der Intention Jesu zugute kommen soll. Die These, Jesus habe jenen Schritt tun können, weil er eigentlich von Anfang an um den innerlich notwendigen Mißerfolg seines Basileia-Auftrags wissen musste, belastet den vollmächtigen Sendungsanspruch Jesu noch bedenklicher als die gleichzeitige Annahme, er habe sich eigentlich von Anfang an für eine zweite Weise der Heilsvermittlung, nämlich durch seinen Tod, als möglicher Alternative des Heilswillens Gottes offengehalten (166).

 

2. Jesus hat seine Jünger bevollmächtigt, als Söhne und Töchter Gottes die ‚Gottessohnschaft‘ anzunehmen und einander Sünden zu vergeben

K.-P. Jörns (2007)

Jesus hat die Gottessohnschaft auf die Friedensstifter übertragen: Mt 5,9: „Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes heißen“. Der Titel ‚Gottes Sohn‘ ist in den Plural gesetzt und damit von der jüdischen Messiasvorstellung abgelöst. Jesus sah sich von Gott bevollmächtigt, die Gottessohnschaft auf die Jünger, die ihm auf seinem Weg folgten und folgen würden, zu übertragen. Ist Jesus der ‚erstgeborene‘ Sohn Gottes, so sind die Christen die an Kindesstatt angenommen Söhne und Töchter, die dazu bestimmt sind „gleich gestaltet zu sein dem Bilde seines Sohnes, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern/Schwestern“ (Röm 8,29) (67f).

Sünden vergeben, heißt Frieden stiften, und hängt von keinem Ritus oder Amt ab : Es geht um die Vollmacht, Sünden zu vergeben. Bei Lk 11,4 heißt die ‚Vergebungsbitte‘: „Und vergib uns unsere Sünden, denn auch wir vergeben jedem, der gegen uns in der Schuld ist“. Bei Mt 6,12 lautet sie: „Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben haben unseren Schuldigern“. ‚Schuld(en)/Sünde/(n)‘: Jesus geht es um ein und dieselbe ‚Sache‘: um die Vergebung dessen, was wir Gott und Menschen schuldig bleiben. Wer Gott vertrauensvoll darum bittet, dass Gott ihm das, was er schuldig geblieben ist, vergibt, soll wissen, dass das liebevolle Gottesverhältnis nicht dazu benutzt werden darf, aus der sozialen Wirklichkeit auszusteigen. Wer von Gott Vergebung sucht, muss sie auch seinen menschlichen Geschwistern gewähren (bei Mt vorher bereits gewährt haben) (69).

Die Verbindung von göttlicher und zwischenmenschlicher Sündenvergebung begegnet zum ersten Mal in der jüdisch-hellenistischen Schrift Jesus Sirach: Vergib das Unrecht deinem Nächsten, dann werden dir, wenn du darum bittest, auch deine Sünden vergeben werden“. Das Vergebungsethos wird im ‚Testament der 12 Patriarchen‘ am Beispiel Josefs verdeutlicht: Josef ist der humane Herrscher, der sich selbst erniedrigt, um ein Bruder unter Brüdern zu sein. Josef vergibt beispielhaft seinen Brüdern, was sie ihm einst angetan hatten. Diese Denkfigur hat auf die Gemeindeethik eingewirkt (Mt 18,15.35; vgl. Lk 17,3f): Jesus ist der messianische Herrscher, der seine Vollmacht zur Sündenvergebung auf seine Gemeinschaft von Brüdern überträgt (69f).

Jesus wollte, dass Sündenvergebung zwischen den Menschen geschehen soll. Im Unterschied zu Johannes dem Täufer hat Jesus die Vollmacht zur Sündenvergebung nicht nur auf jedermann ausgeweitet, sondern auch von jedem besonderen Ritus gelöst. Bei Johannes war dieser Ritus die Taufe im Jordan, der ein Sündenbekenntnis vorausgehen musste. Jesus bindet die Sündenvergebung an keinerlei Art von Ritus: weder an die Taufe noch an ein Opfer im Tempel. Aber er setzt die eigene Bereitschaft, dem Bruder/der Schwester zu vergeben, vor die Bitte um Sündenvergebung durch Gott (Mt 6,14f): Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben“. Die Übertragung der Vollmacht zur Sündenvergebung von Jesus auf die Menschen in der Gemeinde und ihre Abkopplung von einem kultischen Akt ist vollzogen (70f).

Sündenvergebung ist die konkrete Möglichkeit, die wir Menschen haben, Frieden zu schaffen da, wo wir leben. Joh 20,23: „Wenn ihr jemandem die Sünden vergebt, so sind sie ihm vergeben, wenn ihr sie jemandem nicht vergebt, so sind sie ihm nicht vergeben“. Wenn Sündenvergebung verweigert wird, dann lassen wir die Menschen in der Gefangenschaft durch das, was sie Gott und Menschen schuldig geblieben sind. D.h. wir missbrauchen unsere Christus-Vollmacht in liebloser Herrschaft. Das Gleichnis vom sog. ‚Schalksknecht‘ (Mt 18,23-35) macht klar, wie lieblos es ist, für sich selbst Vergebung von Sünden und Schuld(en) haben zu wollen, dieselbe Güte und Barmherzigkeit aber den Mitmenschen zu verweigern. Mt 16,19 hat die neue Hierarchisierung, die Petrus an die Spitze der Gemeinde stellt, die Vollmacht „zu binden und zu lösen“ bereits auf ihn übertragen. Zwar blieb die Sündenvergebung weiterhin Sache der ganzen mt Gemeinde (Mt 18,18), aber Züge des alten Herrschaftsdenkens waren in die Gemeinde zurückgekehrt (71f).

Sündenvergebung bezeugt Gottes unmittelbare Gegenwart im Geist und bedarf keiner Stellvertretung oder Sühneleistung

Jesus hat die Vergebung nicht nur in den Alltag geholt, er hat auch betont, dass jede – in Gottes Namen und Auftrag- ausgesprochene Vergebung unmittelbar gültig ist. D.h. sie ist auf die Menschen übertragen. Die Bevollmächtigung durch den irdischen Jesus genauso wie die durch den Auferstandenen macht Ernst mit der Geistesgegenwart Gottes in der Welt. Sie schließt die unmittelbare Gültigkeit der Vergebung ein, denn die Gotteskindschaft stellt jeden Einzelnen in die unmittelbare Gottesbeziehung hinein. Die Vollmacht zur Vergebung lebt allein von Gottes grenzenloser und bedingungsloser Liebe und ist dazu da, den Frieden auf der Erde (Lk 2,14) auszubreiten. Jesus hat die Vergebung der Sünden von speziellen priesterlichen Riten, Personen und Ämtern abgelöst und denen übertragen, die sich von ihm senden lassen, wie er vom Vater gesandt worden war (Joh 20,21.23). Die Vergebung der Sünden ist Sache der ganzen Gemeinde (71f).


 

K.-P. Jörns (2006³) 

3. Abschied von der Vorstellung, der Tod sei "der Sünde Sold" (Röm 6,23)

Die Sterblichkeit hängt mit dem 'Material' zusammen, aus dem der Mensch gemacht ist: er ist von Erde genommen und muss wieder zu Erde werden.

Der Tod ist nach Paulus als Strafe für den Ungehorsam der ersten Menschen in die Welt gekommen (Röm 5,12.18). Adam ist nach seiner Vorstellung nicht als sterbliches Wesen geschaffen worden. Dieses Verständnis der Sterblichkeit hat weder in den beiden Schöpfungsgeschichten noch in 1Mose 3 einen wirklichen Rückhalt. Denn die Sterblichkeit hängt mit dem ‚Material‘ zusammen, aus dem der Mensch gemacht ist: er ist von Erde genommen und muss wieder zu Erde werden. Die Annahme, dass es erst durch die Sünde Tod und Sterben in der Welt gäbe, ist nicht zu halten. Die Schöpfung hat in allen ihren Elementen die Signatur der Endlichkeit und des Vergehens. D.h. Sterblichkeit und Tod gehören zum irdischen, geschöpflichen Dasein des Menschen (wie der anderen Lebewesen) (275f).

Trotzdem hat sich das Dogma von der Erbsünde, zu der die Sterblichkeit als Straffolge gehört, gehalten. Dafür sind letztlich Paulus und der Kirchenvater Augustin verantwortlich. Das religiöse System, innerhalb dessen Paulus seine Anschauung vom Zusammenhang von Sünde und Tod entwickelt hat, ist im wesentlichen durch das Verständnis von Sünde bestimmt. Der Zusammenhang von Ungehorsam gegen Gottes Gebot und unserer Sterblichkeit als kollektiver wie individueller Folge ist eine theologische Konstruktion. Sie kommt aus der Hochschätzung der Tora, die den Gehorsam gegenüber „Gottes Gebot“ absolut (d.h. als „Weg des Lebens“) versteht. Alles wird vom Tod her bzw. auf ihn hin gedacht (276f).

In der Vorstellung vom Tod als der „Sünde Sold“ wird dem Ungehorsam der Menschen die Macht zugesprochen, Gottes Schöpfung verändert zu haben! Der Ungehorsam wäre letztlich derjenige, der aus (angeblich) unsterblich geschaffenen Menschen sterbliche Wesen gemacht und damit die vom Schöpfer selbst gut, ja, sehr gut genannte Schöpfung deformiert hätte! Der Grundgedanke dabei ist, dass Gott Ungehorsam gegen das als Heilsweg verstandene Gesetz mit Tod bestraft. Für diesen Gedanken stellt die biblische Sintflutgeschichte die Modellerzählung dar. Sie hätte die Aufgabe gehabt, verständlich zu machen, dass und warum die (angeblich) unsterblich geschaffenen Menschen im ersten Schritt sterblich und im zweiten durch die Sintflut vernichtet wurden: wegen des Ungehorsams. Also beginnend stellten die biblischen Erzählungen die Mahnung an die Hörer der jüdischen Bibel dar, der Tora als dem Weg zu Heil und Leben in unbedingtem Gehorsam zu folgen (277f).

Paulus kontrastiert zwar die Tora als Heilsweg mit der durch Christus erworbenen Gnade, die die Herrschaft des Gesetzes abgelöst habe. Dennoch hat Paulus das System des Gehorsamsglaubens nicht aufgegeben. 

Röm 5,19: „Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die Vielen zu Sündern geworden sind, so werden auch durch den Gehorsam des Einen die Vielen zu Gerechten“.

Sterblichkeit ist geschöpflich und insofern unser und aller anderen Kreaturen Schicksal. Paulus war davon überzeugt, dass wer Christ sein will, nicht vorher Jude geworden sein müsse (Gal 1,11 – 3,9). Ebenso geht Jörns davon aus, dass wir, um Gottes Liebe glauben zu können, nicht vorher in den jüdischen Gehorsamsglauben eingetaucht sein müssen. Die Erkenntnis, dass unsere Sterblichkeit von Gott geschaffen ist, führt uns zur Solidarität mit allen sterblichen Wesen (280).

Der Tod als Tor zu einem anderen Leben: Durch die Geist-Einhauchung sind sterbliche und gestorbene Menschen des lebendigen Gottes Zeitgenossen, mit ihm gleichzeitig. Das gilt von ihm aus, weil er zu allen Geschöpfen eine Lebensbeziehung durch den Geist hat. Und das gilt von uns aus als geglaubte Wirklichkeit, sofern wir uns dessen im Geist bewusst werden. Der Gedanke einer leibhaftigen Auferstehung ist für diesen Glauben hinderlich, weil er das zukünftige Leben an die „von Erde genommene“ Gestalt des jetzigen Lebens binden, mithin dieses Leben nicht wirklich loslassen, nicht aus ihm heraus, will. Angemessen ist eher die Vorstellung von einer Verwandlung. Diese Verwandlung schließt den Tod und die Verwesung des Leibes einDas Sterben ist der notwendige Abschied hinein in unsere Zukunft (285).


 

4. Abschied von Sühnopfergedanken

Vollmer (1997):

Die Sühnevorstellung entsprach den damaligen Denkvoraussetzungen im Judentum, aus dem Paulus stammte. Diese Vorstellung kann für uns heute, im 21. Jh nicht verpflichtend sein.
 Eine Lehre ist abhängig von zeitbedingten Voraussetzungen. 
Jesus forderte seine Jünger nicht auf, einer Lehre zu folgen, sondern ihm, seinem Weg, seinem Tun: "Folge mir nach" (Mt 9,9parr)

"Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme täglich sein Kreuz auf sich und (so) folge er mir nach" (Lk 9,23 parr)!

Paulus: "Folgt meinem Beispiel, wie ich dem Beispiel Christi" (1Kor 11,1)

"Ich trage die Malzeichen Jesu an meinem Leibe" (Gal 6,17). "Folgt mir, liebe Brüder, und seht auf die, die so leben, wie ihr uns zum Vorbild habt. Denn viele leben so...sie sind die Feinde des Kreuzes Christi" (Phil 3,17f).

Die wahren Verwandten Jesu: "Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und tun" (Mt 12,50;.......).
Nach Joh 13,36 hat Jesus seinen Tod nicht als Sühnetod verstanden: zu Petrus sagt er: "...Wo ich hingehe, dahin kannst du mir jetzt nicht folgen, du wirst mir aber später folgen".

Bei der Deutung des Todes Jesu als Sühnetod geht es um die Frage, ob das der Sühnetheologie implizite Bild von der Heiligkeit Gottes dem Gottesbild Jesu entspricht. Der Tod Jesu kann nur in der Perspektive der Botschaft Jesu und seiner Bürgschaft für Gott gedeutet werden (120).

Ein angeblicher Sühnetod entwertet Jesu Wirken. In Jesu historischem Wirken ist das Reich Gottes bereits erschienen. Jesus sprach zu Zachäus: "Heute ist diesem Hause Heil widerfahren" (Lk 19,9). Lk 11,20 "Wenn ich durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist das Reich Gottes zu euch gekommen".

Jesu Wirken war auf die Gegenwart gerichtet. Es war nicht abhängig von seinem zukünftigen Tod. Jesus hat Lahme, Blinde, Taube geheilt, Sünden vergeben. "Dein Glaube hat dich geheilt".

Jesus hat sein Leben nicht freiwillig hingegeben. Es ist ihm durch Verrat und mit Gewalt genommen worden (das Prophetenschicksal: Paulus hat seinen Märtyrertod nicht gewollt). Jesus hat sein Leben für die Schafe riskiert, aber er hat es nicht für die Schafe geopfert.

W. Marxsen (1976): Mit Hilfe vorgegebener, in der damaligen Umwelt bekannter juridischer und kultischer Vorstellungen wurde der rätselhaft, schmachvolle Verbrechertod Jesu als Heilsereignis ausgesagt. Das Kreuz wurde jetzt gegen den Augenschein als Sieg verkündet (85).

Die Urgemeinde hat Jesu Kreuz interpretiert. Ohne jede Interpretation wäre das Kreuz als bloßes historisches Ereignis nichts-sagend. Können wir mit den Inhalten der Interpretation noch etwas anfangen? Was ist das für ein Gott, der eine so grausame Veranstaltung wie die Hinrichtung eines Unschuldigen (seines Sohnes) benötigt, um Versöhnung zwischen sich und den Menschen (seinen Geschöpfen) eintreten lassen zu können (86)?

"Verflucht ist, wer am Holz hängt" (5Mo 21,23): War die Hinrichtung von Menschen im AT Gottes Auftrag oder ein Werk der Menschen? Jesu Hinrichtung war nicht Gottes Auftrag, sondern durch den Hass der Menschen erfolgt. Was ist das für ein Sühnopfer, das auf dem Hass der Menschen basiert? (der Holocaust?)

"Alle Gotteserkenntnis ist Stückwerk" (1Kor 13,9). Müssen wir Paulus' Deutung des Todes Jesu als Sühnetod übernehmen? Gott und der in seiner Gemeinde anwesende erhöhte Christus vergeben Sünden. Sühnopfer? Welch ein schrecklicher Gott braucht die grausame Hinrichtung seines Sohnes, um gnädig sein zu können?

Paulus hat seine Sichtweise mehrfach korrigiert. Ich bin überzeugt, heute würde Paulus von der Sühnopfertheologie Abstand nehmen. Damals war der Sühnopfergedanke durch die jahrtausende alte Opferpraxis vertraut und mit ihm konnte man die Katastrophe der Hinrichtung Jesu positiv deuten und den Opferkult im Tempel in Jerusalem weit überbieten - damals, vor 2000 Jahren.




A. Jesus und der Sühnegedanke

Eine aus der Not der Zeit heraus errichtete Verteidigungsmauer des Christentums wurde irrtümlich für seine Grundmauer gehalten. Von Übel ist die Monopolstellung, die die Sühnetod-Christologie immer noch hat. Diese Alleinherrschaft ist vom NT her nicht zu rechtfertigen (23).

 

1. Das gegenwärtige Dilemma der Rede vom Sühnetod Jesu
 2. Sühne im Alten Testament
 3. Die Einstellung Jesu zum Sühnedenken
 4. Die Wurzel der Sühnetod-Christologie
 5. Die bleibende Bedeutung des Kreuzes
 6. Was heißt ‚Erlösung‘?
 7. Rechtfertigung und Selbstfindung


 Anhang: (1997): Christozentrische Pluralität


 

J.-D.Reuß (1991)

1. Das gegenwärtige Dilemma der Rede vom Sühnetod Jesu

Einerseits die Situation, in die wir hineingestellt sind – andererseits die Tradition mit ihren massiven Geltungsansprüchen. Diesen Ansprüchen begegnen wir vor allem im Evangelischen Kirchengesangbuch (EKG 59,1; 20; 23,2f; u.ö.).

Aus der Sicht des traditionellen Jesusbildes hat Jesus am Kreuz stellvertretend die Strafe Gottes für unsere Sünden abgebüßt. Dieser sühnende Opfertod ist das zentrale Heilsereignis schlechthin. In 1Kor 15,3 zitiert Paulus eine katechismushafte Formel und behauptet: „Dass Christus gestorben ist für unsere Sünden nach der Schrift“. Das ist neben der Auferstehungsbotschaft der zweite Brennpunkt seines Nachdenkens über Jesus Christus. Daran hängt für ihn die Erlösung (Röm 3,23-25). Paulus hat sich in manchen Dingen geirrt, z.B. in seiner Einschätzung des Staates (Röm13) oder in der Frage der Naherwartung (1Kor 7,29f) auch hinsichtlich der Person und Botschaft Jesu (2f)?

Schon Friedrich Schleiermacher hat die Lehre vom stellvertretenden Sühnetod mit guten Argumenten bestritten. Eugen Drewermann schreibt: Das Problem besteht darin, dass Gott einen Menschen soll töten müssen, um sich (mit der Welt) zu versöhnen; ein solcher Gedanke macht Gott nicht vertrauenswürdig, sondern lässt ihn als blutrünstig, babarisch und roh erscheinen (4f).

Die Sühnevorstellung entsprach den damaligen Denkvoraussetzungen im Judentum, aus dem Paulus stammte (6).

 

2. Sühne im Alten Testament

Der Sühnegedanke wurde aus einer heidnischen Umwelt übernommen. Er stellt ein religionsgeschichtliches ‚Erbstück‘ dar. Der Sühnegedanke stammt aus der Zeit der Blutrache und beruht auf einem archaischen Vergeltungsdenken (Sühne – Vergeltung). Gott erscheint als Gefangener dieser Weltordnung, denn er kann sie nicht durchbrechen oder außer Kraft setzen. Wer die gottgewollte Lebensordnung verletzt, setzt damit einen Unheilprozess in Gang, dem er selbst zum Opfer fallen muss. Gott kann bestenfalls die tödlichen Tatfolgen um- und ableiten auf ein Opfertier, das stellvertretend sein Leben einbüßt und kann so dem schuldigen Menschen Gnade gewähren. Das für den Menschen unverdiente Heil hat seinen Preis darin, dass das verdiente Unheil auf ein stellvertretendes Opfertier um- und abgeleitet wird. Sühne hat atl den Doppelcharakter von Vergebung durch Vergeltung, am stellvertretenden Opfertier. Nur so passt es in das Entsprechungsverhältnis von Tat und Ergehen. Nur so wird begreiflich, warum später die Hinrichtung Jesu Christi als stellvertretende Sühne gedeutet werden konnte (6f).

Die Priesterschrift, zu der das Doppelritual des ‚Großen Versöhnungstages‘ (3Mose 16) gehört, lässt sich begreifen als ein Versuch, den Schock des babylonischen Exils theologisch zu bewältigen: so eine Katastrophe darf sich nicht wiederholen! Das ist der Leitgedanke nicht nur der Priesterschrift, sondern des gesamten nachexilischen Judentums. Gegen ein neuerliches Zorngericht Gottes sollen alle erdenklichen Vorbeugungsmaßnahmen getroffen werden. Darum muss das mosaische Gesetz bis aufs I-Tüpfelchen befolgt werden. Was dennoch an Fehltritten zusammenkommt, wird durch einen ganzen Katalog von sühnenden Opfern aufgefangen und ausgeglichen. Eine herausragende Bedeutung kommt dabei dem Opferblut zu, denn das Blut ist der Träger des Lebens und darum sozusagen die Kernsubstanz im Sühnevorgang (3Mose 17,11). Die Angst vor Gott war nicht der einzige Faktor des religiösen Klimas in das Jesus einige hundert Jahre später hineingeboren wurde. Aber ein wesentlicher Faktor war sie doch. Das zeigt die Gerichtspredigt Johannes des Täufers (Mt 3,7-10 par) wie die ausgeprägte Bußfrömmigkeit der Pharisäer. Das zeigen die Wellen der Erregung, die Jesus mit seinen Verletzungen des Sabbatgebotes auslöste und das zeigen die empörten Reaktionen auf die ungewöhnliche Art, wie dieser Mann aus Nazareth umging mit schuldhaften Verstrickungen, mit der Sünde und den Sündern (8f).

 3. Die Einstellung Jesu zum Sühnedenken

Jesus war Jude. Seine Person und Botschaft sind vor dem Hintergrund der atl-jüdischen Tradition zu sehen. Diese Tradition ist keineswegs aus einem Guß, sondern ein buntes Geflecht sehr unterschiedlicher Überlieferungen und Anschauungen.

Jesus hat sich in einigen wesentlichen Punkten von der Theologie und Frömmigkeit seiner Zeit und Umwelt unterschieden. Andernfalls wäre der Konflikt zwischen ihm und der Jerusalemer Hierarchie unbegreiflich ebenso wie die spätere Auseinanderentwicklung von Judentum und Christentum.

Das Sühnopfer-Denken passt nicht zusammen mit der Botschaft Jesu: Jesus steht den atl Propheten nahe, die den Opferkult mehr oder weniger kritisiert haben. Die Sühnopfer-Theologie der Priesterschrift hat Jesus auf der ganzen Linie unterlaufen. Das zeigt sich in seiner unkultisch-unblutigen Praxis der Sündenvergebung sowie in den Gleichnissen, mit denen er diese Praxis verteidigt. Das gipfelt schließlich in der sog. Tempelreinigung, einer Symbolhandlung (Mk 11,27-33). Nach der ‚Tempelreinigung‘ wollen die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten von Jesus wissen, aus was für einer Vollmacht er solches zu tun wagte. Jesus machte seine Antwortbereitschaft von einer Gegenfrage abhängig: „Sagt mir zuerst: Woher hatte Johannes das Recht zu taufen“? Seine Taufe war nach Mk 1,4 eine Bußtaufe zur Vergebung der Sünden und insofern ein ‚Konkurrenzunternehmen‘ zum angestammt-offiziellen Sühnekult in Jerusalem. Die Gegner konnten nicht sagen, Johannes habe im Auftrag Gottes getauft (9f)!

Nach Jesus ist Gott ganz nah. Seine Nähe ist etwas ungemein Befreiendes und Beglückendes! Diese gute Nähe Gottes hat Jesus in der Folgezeit angesagt im Bild des anbrechenden Reiches Gottes. Die Botschaft vom Reich Gottes stand im Zentrum der Verkündigung Jesu. Das Vaterunser zeigt: Wer zu Gott sagt ‚Dein Reich komme‘ der sagt auch ‚Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern‘. Nicht wird gesagt: Vergib uns unsere Schuld aufgrund dessen, dass ein anderer – der Messias – stellvertretend für diese Schuld stirbt. Der Stellvertretungsgedanke spielt in Jesu Botschaft vom Reich Gottes keine Rolle. 

Im Zusammenhang mit der Sündenvergebung macht Jesus keinerlei Andeutungen, die auf ein stellvertretendes Sühne- oder Selbstopfer hindeuten könnten. Aus diesem Grund haben sich wohl nicht wenige Pharisäer und Schriftgelehrte über ihn aufgeregt. Denn auch dies war in der Heiligen Schrift Israels nicht vorgesehen, dass da einer kommt und die Vollmacht beansprucht, einem Menschen sagen zu können: „Deine Sünden sind dir vergeben“ (Mk 2,5 u.ö.). Für die Sündenvergebung gab es genau vorgeschriebene Rituale, deren Nichtbeachtung lebensgefährlich werden konnte (vgl. 3Mose 10,1ff) und diese Rituale vollzogen sich als priesterliche Opferhandlungen an geweihter Stätte. Dass nun dieser Jesus aus Nazareth sich anmaßte, Sünden zu vergeben und das ohne Priesterweihe, Altar und Opferblut, das musste man als ungeheure Provokation empfinden: „Wie kann dieser Mann so reden? Das ist Gotteslästerung! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein (Mk 2,7)?

Jesu anstößige Art der Sündenvergebung war auch inbegriffen in seiner Tischgemeinschaft mit ‚Zöllnern und Sündern‘ (Mk 2,15f; Lk 15,1), mit den stadtbekannt Unfrommen, die unter dem Fluch ihres gesetzes- und gottwidrigen Verhaltens standen. Die Gleichnisse, die Jesus in Lk 15 auf entsprechende Anfragen und Angriffe hin erzählt, sind für den theologischen Denkrahmen des sühnenden Ausgleichs ein hochbrisanter Sprengsatz. Denn sie laufen auf Gottes Finderfreude hinaus. Die Logik der Freude nimmt Jesus für Gott in Anspruch, damit verwirft er die alte Logik des Ausgleichs. Der historische Jesus verwirft das atl Sühnedenken als theologisch unsachgemäß (11f)!

Entweder bringt Jesus mit den Gleichnissen vom verlorenen und wiedergefundenen Silberstück, Schaf und Sohn die Wahrheit über Gott, dann hat die Sühnopfer-Theorie unrecht und das darauf gegründete Jesusbild ist eine Fehlentwicklung. Oder es verhält sich so, dass die Sündenvergebung als Rechtsgrundlage einen stellvertretenden Sühnetod braucht, dann sind die genannten Gleichnisse falsch und vermitteln ein Gottesbild, das auf Illusionen beruht (14).

Bei Jesus gleicht die Gottesbeziehung, wenn sie intakt ist, einer Liebesbeziehung. Glauben heißt bei Jesus: sich darauf verlassen, dass Gott am liebsten ein liebender Gott ist und dass er vor allen Anforderungen zuerst einmal Rückhalt und Geborgenheit gewährt.

Für Jesus ist es bezeichnend, dass er den Gottesglauben als ein personales Vertrauensverhältnis begreift, nicht als eine Rechtbeziehung (Bund) und schon gar nicht als eine Geschäftsbeziehung. Dass Jesus in diesem Zusammenhang geradezu aggressiv werden konnte, geht aus der Geschichte der Tempelreinigung hervor (Mk 11,15-17). Da wird erzählt, wie Jesus etliche Händler und Käufer aus dem Tempel treibt und die Tische der Geldwechsler sowie die Stände der Taubenhändler umstößt. Die Tauben waren das gesetzlich vorgeschriebene Sündopfer der Armen (3Mose 5,1-10). Diese Einrichtung greift Jesus an. Er begründet seine Protestaktion mit den Worten: „Steht nicht in der Schrift: Mein Haus soll ein Bethaus heißen für alle Völker? Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht“.

Schon der Prophet Jeremia hat den Tempel mit einer Räuberhöhle verglichen (Jer 7,11). Jesus wirft den Tempelbesuchern vor, Diebe, Mörder, Ehebrecher und Götzendiener zu sein, die im Tempel Zuflucht (vor den Folgen dieses Treibens) suchen (Jer 7,9f). „So spricht Jahwe Zebaoth, der Gott Israels: Ich habe euren Vätern, als ich sie aus dem Lande Ägypten herausführte, nichts von Brandopfern und Schlachtopfern gesagt noch geboten, sondern dieses Gebot habe ich ihnen gegeben: Hört auf meine Stimme“ (Vv 21-23). Im offenen Widerspruch zu den fünf Büchern Mose bestreitet Jeremia rundheraus (und im Namen Gottes!), dass das zentrale Heilsereignis die Befreiung aus Ägypten, mit irgendwelchen Opfergeboten verbunden gewesen sei (12f).

Das Gesetz der Räuberhöhle: Freiheit nur gegen Bezahlung! Erlösung nur gegen Lösegeld! Jesus wollte sagen: Der Tempel sollte eigentlich als ‚Bethaus für alle Völker‘ seinen Besuchern Gelegenheit geben, mit Gott in ein persönliches Gespräch einzutreten. Ihr aber habt durch die Einführung des Opferkultes eine Räuberhöhle daraus gemacht, in der nun gilt (vermeintlich als Wille Gottes): Wenn du frei werden willst von deiner Schuld, dann zahle zuerst einmal Lösegeld, indem du ein Opfertier kaufst. Die Protestaktion Jesu (Mk 11,18a) war in den Augen der Tempelpriester ein empörender Angriff auf das Heiligste, was Israel hatte. Wer den Opferkult angriff, griff wie man meinte, die Existenzgrundlage des Volkes an. Kein Wunder, dass diese Tat alsbald zur Verhaftung und Beseitigung des galiläischen Tempelschänders führte.

Obwohl die Pluralität der ntl Jesusbilder seit langem bekannt ist, hat man den Eindruck, dass viele Ausleger unbewusst die Sichtweise des Paulus in die Evangelien hineintragen. Sie trauen dem Jesus der Evangelien eine grundsätzliche Kritik des Sühnopfergedankens von vornherein nicht zu. Wenn es zutreffen sollte, dass Jesus das Sühnopferdenken mit wachsender Radikalität abgelehnt und schließlich unter Einsatz seines Lebens öffentlich bekämpft hat, dann könnten sich daraus weitreichende Konsequenzen ergeben für Theologie, Liturgie und Verkündigung.An dem, was Jesus selbst gesagt, getan und gewollt hat, findet die Sühnopfer-Vorstellung keinen Anhalt (14f).

 

4. Die Wurzeln der Sühnetod-Christologie

 Im NT gibt es sehr unterschiedliche Deutungen des Todes Jesu. In der Apg des Lukas kommt der Sühnegedanke nur in einem beiläufigen Halbsatz vor: „...zu weiden die Gemeinde Gottes, die er durch sein eigenes Blut erworben hat“ (20,28), der wie ein Fremdkörper wirkt. Die Missionspredigten der Apg folgen im Blick auf Kreuz und Auferstehung dem Argumentationsmuster: „ihr habt ihn getötet, Gott aber hat ihn auferweckt“ (Apg 2,22-24; 4,10; 5,30f; 10,37-43 u.ö.) (15f).

Von den vier Evangelien ist keines unter dem Leitgedanken verfasst, Jesus sei gekommen, um sich als stellvertretendes Sühnopfer für die Sünden freiwillig kreuzigen zu lassen. Nur das nicht auf Jesus zurückgehende Kelchwort des Abendmahls („Und er sprach zu ihnen: Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird“ Mk 14,24) deutet die Rolle Jesu als die eines stellvertretenden Sühnopfers.

A 37: Jeder Blutgenuss gilt in Israel als so frevelhaft, dass er nicht einmal als Symbolhandlung (Wein als Blut) in Betracht kommt.

A 32: ‚Das Blut des Bundes‘ (Mk 14,24 entsprechend 2Mose 24,8) hat im AT nichts mit Sühne zu tun. Ähnliches gilt für den ‚Neuen Bund‘ (Lk 22,20 entsprechend Jer 31,31-34), der als Herzenssache (V 33) gerade nicht auf einem äußerlich-kultischen Sühnevorgang beruht.

A 37: Was auch immer mit sühnendem Opferblut gemacht wird, getrunken wird es auf keinen Fall. Die Worte: „Das ist mein Blut“ können nur in einer stark hellenistisch geprägten Gemeinde entstanden sein, wo man sich über Grundelemente jüdischen Empfindens hinwegsetzen konnte. Das ursprüngliche von Jesus gesprochene Kelchwort dürfte sich in Mk 14,25 erhalten haben.

Die Passionsgeschichte zeigt Jesus als einen Menschen, der von seinen Feinden ungerechterweise verfolgt wird, ein „leidender Gerechter“, wie er atl in Psalm 22 und anderen Klagepsalmen in Erscheinung tritt. In der dreifachen Leidensankündigung wird der Sühnegedanke nicht erwähnt. Nicht von sich aus gibt Jesus sein Leben her, sondern es wird ihm von anderen genommen, durch Verrat und mit Gewalt (Mk 12,1-9; 14,1f.10-21.43-52 parr). Der Gott, den Jesus erfahrbar machte, hat die Gabe des Friedens nicht an eine stellvertretende Bestrafung geknüpft. 

Die Passionsgeschichte Jesu, wie sie in den Evangelien erzählt wird, ist nicht aus dem Boden des Sühnedenkens hervorgewachsen.Die mehrschichtige Passionsdarstellung der Evangelien ist entstanden aus dem Verlangen, die unfaßliche Hinrichtung des erhofften Erlösers (Lk 24,21: „Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde“) zu verkraften und die damit verbundene Anfechtung des Glaubens zu überwinden (16f).

Mk 10,45b: „und gebe sein Leben als Lösegeld für viele“. Der unmittelbare Kontext (Vv 35ff) thematisiert nicht die Frage der Erlösung, sondern die Frage der Nachfolge. Sie wird unter das Vorzeichen der Entsprechung gestellt: Wie der Meister, so die Jünger. Diese Perspektive wird durchgehalten bis V 45a: Auch „der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen“. Damit wird das in V 43 und 44 Gesagte einleuchtend begründet. Für V 45b ergibt sich daraus: Zum Sühnetod Jesu gibt es kein analoges Jüngerverhalten. Abgesehen von der liturgisch vorgeprägten Stelle 14,24 stellt Mk das Leben, Leiden und Sterben Jesu nicht als Sühnegeschehen dar. Mk 10,45b ist unter diesen Umständen eine Glosse (18).

 

Anders als in den Evangelien steht die Sache bei Paulus. In 1Kor 15,3-5 zitiert er ein überliefertes Bekenntnis: „Christus ist für unsere Sünden gestorben“ mit dieser Aussage nimmt die Sühnetod-Christologie im NT ihren Anfang. Eine Reihe von Faktoren haben hier zusammengewirkt: In einer neuen und unerwarteten Weise begegnet der Gekreuzigte Menschen aus seinem Jünger- und Freundeskreis, sodass es ihnen zur tröstlichen Gewissheit wurde: Er lebt! Die Hauptbedeutung der visionären Begegnungen liegt darin, dass Gott sich überraschend zu dem bekennt, der auf Betreiben gewisser Traditionalisten als ‚Gotteslästerer‘ hingerichtet wurde. Er (Jesus) ist der Stein, der zum Eckstein geworden ist“ (Apg 4,11; Mk 12,10f). Wenn dem so war, dann musste auch im Todesgeschick Jesu bereits ein verborgener göttlicher Sinn gewaltet haben (Lk 24,26 u.ö.) (19).

1Kor 15,3-5: heißt es nicht: ‚Christus ist für unsere Sünden gestorben‘, wie das gemäß seiner Einstellung nicht anders zu erwarten war. Schon gar nicht wird gesagt: „Christus ist für unsere Sünden gestorben“ wie er es selbst gewollt und angekündigt hatte, sondern: „Christus ist für unsere Sünden gestorben nach den Schriften“. Die frühen Christen haben die LXX, die griechische Übersetzung des ATs, abgesucht nach Verstehenshilfen für die Katastrophe der Kreuzigung Jesu. Dabei sind sie auf das Wort vom Stein gestoßen, den die Bauleute verworfen haben und der dennoch zum Eckstein geworden ist (Ps 118,22). Dabei sind sie auch auf die Klagepsalmen 22 und 69 gestoßen, aus denen hervorgeht, dass einer, der in tiefes Unheil geraten ist, deshalb nicht von Gott verworfen sein muss. Diese Entdeckung hat die Passionserzählungen in den Evangelien entscheidend geprägt. Früher oder später musste die Suche nach Deutungshilfen auch auf die atl Sühnevorstellung stoßen. Der Hinweis auf ‚die Schriften‘ will ausdrücken, dass man um die Bedeutung des Sühnegedankens im AT wusste: „Ohne Blutvergießen keine Vergebung“ (Hebr 9,22). Mit der Anwendung dieser atl Regel auf den Tod Jesu vollzog sich ein folgenschwerer Rückfall in jenes religiöse Denkmuster, das Jesus selbst enschieden abgelehnt hatte (19f).

Wie konnte es zu solch einer schwerwiegenden Überfremdung der Botschaft Jesu kommen? Dieser Vorgang wird verständlich, wenn wir uns den äußeren und inneren Druck vergegenwärtigen, dem das frühe Judenchristentum (zumal in Jerusalem) ausgesetzt war.

Der innere Druck: Es ist anzunehmen, dass nach dem Tod Jesu der Einfluss jener älteren (von Kindesbeinen an) erfolgten religiösen Prägung zugenommen hat und im Lauf der Zeit innerhalb des Judenchristentums immer stärker geworden ist. Im Judenchristentum gab es eine starke Tendenz, den ‚neuen Wein doch wieder in die alten Schläuche zu füllen‘, d.h. das Neuartige an Jesus ins Altvertraute zu integrieren und die bestehenden Unterschiede einzuebnen (Mk 2,22 parr).

Der Druck von außen: Die judenchristliche Urgemeinde war einem erheblichen Druck ausgesetzt. Sie wurde angefeindet und verfolgt als sektiererische Sondergruppe. Die Auseinandersetzung mit solchen Anfeindungen hat sich im NT im überzeichneten Pharisäerbild des Matthäus wie im antijüdischen Ressentiment des JohEvs niedergeschlagen. 5Mose 21,23: „Ein (am Holz) Aufgehängter ist von Gott verflucht“. Da hatte man es schwarz auf weiß, dass der Gekreuzigte unmöglich der erhoffte Erlöser, unmöglich der von Gott gesandte Messias sein konnte. Nein, ein frevelhafter Hochstabler musste dieser Jesus gewesen sein, ein verfluchter Übertreter des heiligen Gottesgesetzes. Derartige schriftgelehrte Polemik brachte die Christen in apologetischen Zugzwang. Als Ausweg bot sich das (im Judentum) allgemein anerkannte Prinzip der sühnenden Stellvertretung an. Gal 3,13: „Verflucht ist jeder, der am Holz hängt“. Aber es war nicht der Fluch seiner eigenen Taten, der diesen Jesus getroffen hat. Sondern es war der Fluch unserer Sünden, den er stellvertretend auf sich genommen hat. Für uns ist er zum Fluch geworden, um uns gerade so zu erlösen vom ‚Fluch des Gesetzes‘, d.h. von der Sackgasse der Werkgerechtigkeit, mit der wir uns vor Gott ins Unrecht setzen (20f).

Parallel dazu sagt Paulus in 2Kor 5,21: Gott habe den, der von keiner Sünde wusste, „für uns zur Sünde gemacht. D.h. Gott hat Jesus zum Träger unserer Sünde gemacht, zum rechtskräftigen Stellvertreter, zum Sündopfer, das an unserer Statt die Sünde sühnen sollte.

2Kor 5,11-21: Paulus hatte in Korinth hartnäckige und böswillige Gegner, die seinen Auftrag als Apostel nicht anerkennen wollten. Vermutlich haben diese Leute ihm seine unrühmliche Vergangenheit immer wieder vorgehalten. „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur, das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (5,17). Paulus begründet das mit Gottes Versöhnungshandeln in Christus, das er als sühnende Stellvertretung (Vv 18-21) auslegt. Aus der damaligen Gesamtsituation heraus mag man es begreiflich finden, dass Paulus die Lehre vom stellvertretenden Sühnetod Jesu aufgegriffen und ausgestaltet hat. Die Überzeugungskraft, die Paulus mit dieser christologischen Entscheidung gewonnen hat, muss damals erheblich gewesen sein. Das zeigen seine missionarischen Erfolge. Aber diese Weichenstellung hatte ihren Preis. Begriffliches Beutegut rächt sich bisweilen dadurch, dass es eine unvorhergesehene Eigendynamik entwickelt (21f).

 


 

5. Die bleibende Bedeutung des Kreuzes

 Was bedeutet der Kreuzestod Jesu für uns, wenn wir ihn nicht mehr als von Gott geforderte und gewährte Rechtsgrundlage der Sündenvergebung sehen können? Jesus hat zum Glauben eingeladen, d.h. er hat die Menschen aufgefordert, sich ganz und gar Gott anzuvertrauen: „Seht die Vögel unter dem Himmel...“ (Mt 6,26 par). Dass Gott sich wie ein liebender Vater verhalte, dass er die Verlässlichkeit in Person sei – das hat Jesus in Wort und Tat verkündet. Für diese befreiende und heilende Botschaft hat er gelebt und sich mit seinem ganzen Wesen eingesetzt. Jesus hat die gute Nähe dieses Gottes ‚ereignet‘, vermittelt und erlebbar gemacht. Ausgerechnet dieser Mann wird verhaftet, verurteilt und hingerichtet. Am Kreuz stirbt er einen abscheulichen, grausamen und sinnlosen Tod (23f).

Mit der Auferweckung Jesu Christi zeigt Gott, dass er sich doch zu dem bekennt, der in Gottverlassenheit zugrundegegangen ist, dass er ihn, den Gescheiterten, rehabilitiert, ihm recht gibt und ihn beglaubigt. Kraft der Auferweckung Jesu ist die erlösende Botschaft des irdischen Jesus für alle Zeit in Kraft gesetzt und sein befreiendes und heilendes Handeln bleibt weiterhin erfahrbar. Unsere Krankheiten und unsere Schmerzen müssen wir selber tragen. Wir können sie nicht einem Stellvertreter aufladen. Aber es kann uns geschehen, dass jemand anderes uns in unserer Notlage beisteht, dass wir mit unseren Schmerzen und unserem Leid nicht allein fertig werden müssen. Das Kreuz ist und bleibt das zentrale Symbol des christlichen Glaubens. Paulus sieht die Kreuzigung Jesu als gottgewolltes Heilsereignis, er sieht nicht, wie viel menschliche Unzulänglichkeit und wie viel obrigkeitliche Korruption am Zustandekommen von Jesu Todesurteil beteiligt waren (25f).

 


 


 

6. Was heißt ‚Erlösung‘?

 Die Evangelien stellen uns ‚Bilder von Erlösung‘ vor Augen. In kurzen Szenen erzählen sie, wie Jesus Menschen von Krankheit und Not und einengenden religiösen Vorschriften befreit hat (Mk 2,18 - 3,6; 7,1-15). Sie erzählen von der Einladung zur (Tisch-)Gemeinschaft und von der Berufung zu sinnvollem, helfendem Handeln gemäß dem dreifachen Liebesgebot (Mk 12,30f parr): „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften“ (5Mose 6,4f) und „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3Mose 19,18). „Es ist kein anderes Gebot größer als diese“.

Diese Geschichten wurden nach Ostern weitererzählt, weil die Christen jener Zeit ihre eigenen Erfahrungen mit dem lebendigen, ‚auferstandenen‘ Christus in diesen Geschichten gespiegelt und gedeutet fanden! Im Erzählen der Geschichte von einst verkünden sie, wer er (Jesus Christus) ist, nicht wer er war. Bei der Erlösung handelt es sich nicht um ein Geschehen, das erst nach dem Tod aktuell wird. So gewiss das befreiende und heilende Handeln Gottes nicht an der Todesgrenze aufhört, so gewiss fängt es schon in diesem irdischen Leben an. Es zeigt sich darin, dass Gott sich erfahrbar macht als ein Gott, der nicht gegen, sondern für uns ist. Diese wohltuende Nähe Gottes ist es, die Jesus Christus vermittelt, ereignet hat und die er als ‚Auferstandener‘ auch heute und morgen vermittelt. Das ist der ntl Sinn der Rede vom Heiligen Geist. Dieser Geist der Freiheit ist die Weise, wie sich der ‚Auferstandene‘ als der Gegenwärtige erfahrbar macht. Wo Christus als Heiliger Geist die bergende Nähe Gottes vermittelt, da können Menschen zuversichtlich leben und sterben (26f).

Als Kollaborateur der verhassten römischen Besatzungsmacht gehört Zachäus zu den Leuten, die religiös und gesellschaftlich geächtet sind. Ausgerechnet bei einem solchen Menschen will Jesus zu Gast sein. Für Zachäus bahnt sich in dieser Begegnung mit Jesus eine Lebenswende an. Jesus vermittelt ihm die erlösende Gewissheit, von Gott angenommen zu sein. Aus diesem fundamentalen Angenommensein heraus wird Zachäus zu einem konstruktiven Umgang mit seiner Schuld befähigt: Heute (nicht am Karfreitag) ist diesem Hause Heil widerfahren (Lk 19,1-10). Jesu Verhalten dem Zachäus gegenüber hätte kaum diese tiefgreifende Wirkung gehabt, wenn Zachäus sich nicht zuvor in einer unbefriedigenden Situation der Ausgrenzung und fehlenden Anerkennung befunden hätte (28).

 

7. Rechtfertigung und Selbstfindung

 In Röm 3,21ff legt Paulus dar, dass der Mensch allein durch den Glauben an Jesus Christus gerecht wird, nicht hingegen durch die Erfüllung des Mose-Gesetzes. Das als Heilsweg mißverstandene und mißbrauchte ‚Gesetz‘ (im Sinne der 613 Tora-Vorschriften) ist in seinen Augen ein Holzweg. Aber durch den Aufweis, dass der vermeintliche Heilsweg ein Holzweg war, wird das ‚Gesetz‘ nicht belanglos. Im Gegenteil, es bekommt so erst wieder seine wahre Würde und Aussagekraft. Mit seiner revolutionären Neuinterpretation des ‚Gesetzes‘ hatte Paulus sich erhebliche Vorwürfe des konservativen Judentums eingehandelt (29f).

Röm 3,28: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Gerecht werden = Anerkennung, Sympathie finden). Die Anerkennung, die wir ernten, beruht in aller Regel auf den Leistungen, die wir erbringen. Bei Gott findet der Mensch Anerkennung und Sympathie völlig abgesehen von seinen religiösen, moralischen, sozialen Leistungen. Paulus war ein Vollblut-Pharisäer, ein ‚Leistungs-Freak‘. Er war voll auf die Gesetzesfrömmigkeit abgefahren und hat es darin bis zur Perfektion gebracht (30f).

So lief das bei Paulus, bis Jesus Christus in sein Leben trat. Da fiel diese religiöse Leistungs-Ideologie wie ein Kartenhaus in sich zusammen. In der Begegnung mit Jesus Christus erfährt Paulus: Gott bringt mir Sympathie entgegen, die ich mir nicht zuerst verdienen muss, die ich auch gar nicht verdienen kann. Dieser Gott meint es von sich aus gut mit mir und er erwartet zunächst und vor allem, dass ich ihm dies zutraue, dass ich mich seiner schenkenden Liebe öffne und sie dankbar und vertrauensvoll annehme. Glauben heißt: es Gott zutrauen, dass er es von sich aus gut mit uns meint und daraufhin in ein Vertrauensverhältnis zu diesem Gott eintreten. Wo dies geschieht, lernt ein Mensch, sich selbst anzunehmen, weil er davon ausgehen kann, dass er in letzter und höchster Instanz bereits angenommen ist (Anerkennung bei Gott = Rechtfertigung). Die Grundvoraussetzung dafür ist eine lebendige Beziehung zu dem Gott, der in Jesus Christus seine wahre Identität zu erkennen gegeben hat. Es geht um eine Gottesbeziehung, die sich tragfähig erweist in guten wie in bösen Tagen und die eine tiefe Geborgenheit und ein gesundes Selbstbewusstsein vermittelt (32f).


 

J.-D.Reuß (1997)

Christozentrische Pluralität : Bei Paulus sind Kreuz und Auferstehung Jesu die beiden Pfeiler seiner Christologie. Für das, was Jesus vor seiner Kreuzigung gesagt, getan und gewollt hat, interessiert sich Paulus nur am Rande. Jesus Christus hat sich (so Paulus) freiwillig ‚dahingegeben‘, um als Sühnopfer für uns zu sterben und uns so zu erlösen. Dieses Deutungsmuster, das auf atl Vorstellungen zurückgeht, hat Paulus von der Jerusalemer Gemeinde übernommen (1Kor 15,3-5) und breit entfaltet. Es steht in Spannung zu seinem Auferstehungszeugnis. Denn zu einem sühnenden Opfertod passt keine Auferstehung. Indem ein Sühnopfer (im AT) stirbt, hat es seinen Zweck erfüllt. Es wird nicht zu einem neuen Leben auferweckt.

Johannes: Dass Gott „seinen Sohn gab“ (3,16), weist im Textzusammenhang nicht auf einen Opfertod, sondern meint Jesu Sendung in die Welt (V 17). Davor (V 14) wird das Kreuz nicht als Sühnetat, sondern als Erhöhung ausgelegt. Nach Darstellung des Johannes drohte nicht nur Jesus selbst, sondern auch seinen Jüngern die Verhaftung und Aburteilung. 10,11.15: „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe“. Hier geht es nicht um eine stellvertretende Sühne, sondern um ein beschützendes Dazwischentreten angesichts feindlich gesinnter Menschen. Dasselbe gilt für 15,13 (Jesus lässt sein Leben für seine Freunde). Darum sagt Jesus zu denen, die ihn verhaften wollen: „Sucht ihr mich, so lass diese (meine Jünger) gehen“ (18,8)!.

19,36 kann sich nicht nur auf 2Mose 12,46 (Passalamm), sondern ebenso gut auch auf Ps 34,20f beziehen: „Der Gerechte muss viel erleiden, aber aus alledem hilft ihm der HERR. Er bewahrt ihm alle seine Gebeine, dass nicht eines zerbrochen wird“. Das Passalamm gilt weder im AT noch im NT als Sühnopfer (auch nicht 1Kor 5,7) Die Passalamm-Symbolik soll zum Ausdruck bringen: An die Stelle der Befreiung aus Ägypten, die Israel im Passafest feiert, tritt für Christen die größere Befreiung, die Jesus Christus gebracht hat!

Es gibt keine Rede Jesu zum Thema „Sühnetod‘. Die drei Stellen 1,29.36 und 11,51 sind der sog.kirchlichen Redaktion zuzurechnen.

Erlöst werden die Menschen nach Johannes dadurch, dass sie Jesus als den Sohn Gottes anerkennen, ihn lieben und an seine Worte glauben (5,24; 6,68; 8,51f; 12,47f; 15,3 u.ö.). Die eigentliche Sünde besteht darin, nicht an Jesus zu glauben (16,8f); wer dabei beharrt, wird „in seinen Sünden sterben“ (8,24). Das Erlösungs-Angebot gilt nicht nur Israel, sondern aller Welt (vgl. 3,16f).

Das john Verständnis des Todes Jesu lässt sich gut aus den Abschiedsreden Jesu erheben (Kp 14-16). „Es ist gut, dass ich die Welt verlasse, denn ich gehe zum Vater, kehre also dahin zurück, woher ich gekommen bin. Gut ist es aber auch für euch, denn ich werde euch in meines Vaters Haus eine Stätte bereiten“, das ihr eines Tages ebenfalls dort einziehen könnt. Außerdem muss ich fortgehen, damit ich in neuer Weise wieder zu euch zurückkommen kann, als Tröster, Beistand, Geist der Wahrheit und Freiheit (14,2f; 16,7.9.13.16; 8,32). Darum (!) sollt ihr euch über meinen Tod freuen (14,28). Johannes misst dem Tod Jesu Heilsbedeutung bei, doch liegt sie für ihn nicht in einer stellvertretend erbrachten Sühneleistung. Aus john Sicht erleidet Jesus am Kreuz kein göttliches Strafgericht, sondern vollendet seine Sendung in die Welt mit der Souveränität eines Siegers (10,17f; 19,30). Seine Kreuzigung ist zugleich seine Erhöhung, denn er kehrt auf diese Weise zu Gott zurück (12,32-36). Karfreitag und Ostern fallen sozusagen auf den gleichen Termin.

Viele Ausleger sind zu der Überzeugung gelangt, dass Jesus selbst sein gewaltsames Ende weder angestrebt noch als Sühnopfer gedeutet hat (285-287).

















B. Abschied vom Verständnis der Hinrichtung Jesu als Sühnopfer und von dessen sakramentaler Nutzung in einer Opfermahlfeier

1. Die Struktur des Opferrituals ist auf die Darstellung der Passion Jesu und des letzten Mahles übertragen worden
 2. Das Johannesevangelium und die Didaché kennen eine opferfreie Mahlfeier - haben sich aber in der Kirche nicht durchgesetzt

3. Die christliche Sühnopfertheologie ist im Blick auf den geschichtlichen Wandel der Opfer- und Gottesvorstellungen anachronistisch
 4. Die kirchliche Sühnopfertheologie und die darauf basierende Mahlfeierpraxis widersprechen der Verkündigung Jesu
 5. Die Sühnopfervorstellung steht heute dem Evangelium von Jesus Christus im Weg und muss verabschiedet werden

6. Der Tod Jesu als Opfer und Heilsgabe
 7. Jesu ganzes Leben als Offenbarung der Liebe Gottes


 

K.-P. Jörn (2006³) 

1. Die Struktur des Opferrituals ist auf die Darstellung der Passion Jesu und des letzten Mahles übertragen worden

(1) Der Dreischritt des Opferrituals: Nehmen-Schlachten-Teilen
 (2) Die Darstellung der Passion Jesu folgt dem Dreischritt des blutigen Opferrituals
 (3) Der Dreischritt prägt auch die ‚Einsetzungsworte‘ des letzten Mahles Jesu und weist es als Festmahl der Opferhandlung zu Mk 14,22-25

Die Todesstrafe ist in den Staaten der europäischen Union abgeschafft worden. Die Todesstrafe kommt heute als Strafe nicht mehr in Frage. Es gibt keinen Rechtsgrund und kein Rechtsgut, die es rechtfertigen könnten, Menschenleben irgendeinem Zweck zu unterwerfen. Deshalb redet Jörns nicht mehr vom Kreuz Christi, sondern ausdrücklich von der Hinrichtung Jesu. Wir müssen vom letzten Mahl und vom christlichen Sakrament reden, weil die Sühnopfertoddeutung der Hinrichtung Jesu in einem Zusammenhang mit der Deutung des letzten Mahles als Opfermahl steht (286-8).

 

(1) Der Dreischritt des Opferrituals: Nehmen-Schlachten-Teilen. Das Tieropfer der griechischen Opferpraxis, das einem Gott dargebracht wird, zielt auf das gemeinsame Essen des Fleisches durch die Menschen, die das Opfer veranstalten. Für die Götter werden auf den Altären die Knochen des Opfertieres, von Fett bedeckt, verbrannt, den Rest, das gute Fleisch, nimmt die fromme Gemeinde zu sich im festlichen Mahl. Während im Tempelkult in Jerusalem das vollständige Verbrennen der Opferschafe üblich war, blieb das Opfermahl bei den Griechen ein konstitutiver Teil der ganzen Opferhandlung. Im Opferkult aus Anlass des Pessachfestes ist es auch üblich gewesen, im Anschluss an das Opfer im Tempel in den Häusern die (im Tempelbezirk) geschlachteten Passalämmer zu essen. Das Opfer geschieht zugunsten Gottes und der Opfernden. Die Menschen profitieren von ihrem ‚heiligen Tun genauso wie der Gott, dem es gewidmet ist (289f).

Die einzelnen Schritte der Gesamthandlung des blutigen Opferrituals:

Nehmen: Das Opfertier wird nach bestimmten Kriterien ausgesucht, gefangen genommen und zum Opferaltar geführt.

Schlachten: Das Opfertier wird geschlachtet, sein Blut vergossen; dann wird es so zerlegt, wie es der Fortgang der Zeremonie vorschreibt: das ‚für die Götter‘ Bestimmte wird in der Brandopferhandlung verbrannt, das für die Menschen Bestimmte aufbewahrt für den dritten Schritt; der Gottheit wird auf diese Weise Dank und Ehre erwiesen.

Teilen und Essen: Das dem Festmahl der Opfergemeinde zugedachte Fleisch wird unter den Teilnehmenden verteilt. Das Teilen sorgt für eine gerechte Sozialstruktur, für eine Festfreude; die Gemeinschaft der Opfernden wird physisch und im Zusammenhalt gestärkt. Außer dem Motiv, die Lebensbasis zu sichern kann es bei den Opferhandlungen auch darum gehen, durch Tieropfer Schuld zu sühnen oder drohende Gefahren abzuwenden. Auch Dankopfer sind üblich gewesen (290f).

 

(2) Die Darstellung der Passion Jesu folgt dem Dreischritt des blutigen Opferrituals

Alle Evangelien bringen Jesu Prozess und Hinrichtung sowie seine Auferstehung mit dem jüdischen Pessachfest in direkte Verbindung; dadurch ist der Rahmen des blutigen Opferrituals vorgegeben (Mk 14,1a). Das Schlachten der Passalämmer am jüdischen Pessachfest war von sich aus nicht mit der Kategorie der Sühne verbunden, aber das Tamidopfer (bis zur Zerstörung des Tempels 70 n.Chr.), das auch am Pessachabend vollzogen worden war, ist ein Sühnopfer gewesen. Völlig aus dem Rahmen fällt, dass es im christlichen Opferritual um das Sterben eines Menschen geht. Weder der jüdische noch einer der hellenistischen Opferkulte kannte in dieser spätantiken Phase noch Menschenopfer! Die Struktur des blutigen Opferrituals ist deutlich zu erkennen:

Nehmen: Noch vor dem Pessachfest beratschlagen die jüdischen Autoritäten, wie sie Jesus mit List festnehmen und töten können (Mk 14,1b). Die Gefangennahme Jesu wird im Garten Gethsemane in einer Nacht- und Nebelaktion ausgeführt (Mk 14,43-50). Es folgt der Prozess, bei dem die römische Besatzungsmacht eingeschaltet wird, die allein eine Hinrichtung verfügen kann.

Schlachten: Die Opfertötung findet in der Hinrichtung Jesu am Kreuz statt (Mk 15,20b-41). Der Leib Jesu wird nicht verbrannt, sondern in heilem Zustand bestattet (Mk 15,24-27).

Teilen und Essen: Die Soldaten verteilen Jesu Kleider unter sich (Mk 15,24b). Bei Markus haben wir im Nachtrag (16,9-20) die Notiz, dass der Auferstandene die Jünger beim Essen besucht (16,14). Bei Lukas (24,28-31) tritt der Auferstandene als Hausvater auf und – wie beim letzten gemeinsamen Mahl vor der Hinrichtung – bricht er ihnen das Brot (V 30) (291f).

Die Tatsache, dass die drei Schritte des alten Opferrituals in der Passion Jesu wiederzuerkennen sind, zeigt zusammen mit der Datierung der Passion auf das jüdische Pessachfest, dass die Wahrnehmung des Paulus und der Evangelisten vom Opferritual dahin gelenkt worden ist, Jesu Hinrichtung als Opfervorgang zu verstehen. Das Opferritual bot sich als Wahrnehmungsmuster an, weil in Jerusalem z.Zt. des Todes Jesu und weitere 40 Jahre lang ein blühender Tieropferkult bestanden hat. Sein Formular bot die Möglichkeit, die von Jesu Anhängern zuerst als Scheitern und Katastrophe verstandene Hinrichtung (Lk 24,19-21) mit einem positiven Sinn zu verbindenDas Deutungsmuster wurde übernommen.

Das am jüdischen Pessachfest gefeierte christliche Passafest, ist in doppelter Weise von der ‚Väterart‘ vorgegeben gewesen: von dem – auf Jesu Hinrichtung übertragenen – uralten Schlachtopferritual und von der jüdischen Pessachtradition. Die Theologie – wie vor allem Paulus zeigt – ist mit der Modifikation des traditionellen Opferrituals beschäftigt gewesen. Dessen Prägekraft hat auch die Struktur der ‚Einsetzungsworte‘ bei der Mahlfeier bestimmt. Die sind wiederum der Schlüssel zum Verständnis des Sterbens Jesu geworden (292f).

 

(3) Der Dreischritt prägt auch die ‚Einsetzungsworte‘ des letzten Mahles Jesu und weist es als Festmahl der Opferhandlung zu Mk 14,22-25

 das Brotwort: Nehmen: Und als sie aßen, nahm er das Brot,...“.

Schlachten:sprach das Dankgebet darüber, brach es,...“; im Dankgebet kommt die Anrede an Gott das ‚Darbringen‘ zum Ausdruck, das beim Tieropfer im Schlachten und entsprechenden Gebeten geschieht.

Teilen und Essen: ...gab es ihnen und sagte: Nehmt“ (Mk 14,22)! Bei Matthäus ist die Aufforderung ‚nehmt‘ um den Imperativ ‚esst‘ ergänzt (26,26). Bei Lukas (22,19) und Paulus (1Kor 11,25) kommt eine dritte Aufforderung hinzu: „Das tut zu meinem Gedächtnis“.

Im Blick auf den Wein finden wir:

Nehmen: Und er nahm den Kelch...

Schlachten:...sprach das Dankgebet darüber...

Teilen und Essen: ...und gab ihnen denselben; und sie tranken alle daraus“ (Mk 14,25).

Erst n a c h Ostern ist in die Praxis der Gemeinde, Jesu Gedächtnis im Mahl zu feiern und dabei der Bedeutung seiner Hinrichtung als Sühnopfer für die Sünden der Menschen (Mt 26,28) zu gedenken, aufgenommen. Mit dem Abendmahl konnten die Christen, die ihnen aus anderen Kulten geläufige Opferfestmahl-Praxis fortsetzen. Alle vier Überlieferungen vom letzten Mahl sind in das Passionsgeschehen eingeordnet worden. Die Feier des letzten Mahles gehört in das Gesamtgeschehen der Opferhandlung hinein, wie sie Juden und Griechen ohne Mühe sowohl im Passionsbericht als auch in den Einsetzungsworten haben wieder erkennen können. Sie ist jenes kultische Festmahl, das die Opferhandlung als Gesamtgeschehen abschließt. Dass der Bericht vom letzten Mahl in der Passions- und Ostergeschichte vor der Kreuzigung steht, geht darauf zurück, dass das ‚Herrenmahl‘ als von Jesus Christus eingesetzt verstanden werden sollte. Das Zentrum der traditionellen christlichen Theologie und Erlösungslehre – das Opfergeschehen und seine sakramentale Zueignung im eucharistischen Mahl – ist wesentlich bestimmt von dem Dreischritt des uralten Opferrituals und von der jüdischen Sühnopfervorstellung. Auch das theologisch behauptete Sühnegeschehen und die gemeinschaftstiftende Bedeutung der Mahlfeier sind traditionelle vorchristliche Vorstellungen (294f).

 

2. Das Johannesevangelium und die Didaché kennen eine opferfreie Mahlfeier – haben sich aber in der Kirche nicht durchgesetzt

 Der vom Opferfestmahl geprägte Blick auf die Leidensgeschichte Jesu Christi wird nicht von allen frühchristlichen Überlieferungen geteilt. Innerhalb des NTs ist es das JohEv und außerhalb des NTs die Didaché, die von ganz anderen Wahrnehmungsmustern geleitet werden.

 (1) Das JohEv deutet die Hinrichtung Jesu nicht als Sühnopfer und führt mit der Fußwaschung ein eigenes Sakrament ein
 (2) Die ‚Lehre der Apostel‘ (Didaché) kennt eine Mahlfeier ohne Bezug zu Jesu Tod, ohne Einsetzungsworte und Sühnegedanken
 (3) In der Gesamtkirche wird die Sühnopfertheologie dominant, weil sie sich sakramental nutzen und mit unterschiedlichsten Erwartungen verbinden lässt
 (4) Gegen Ende des 1. Jh. zeigt sich ein differenziertes Bild im Blick auf die Mahlfeier und die Sühnopferdeutung der Hinrichtung Jesu

 

(1) Das JohEvdeutet die Hinrichtung Jesu nicht als Sühnopfer und führt mit der Fußwaschung ein eigenes Sakrament ein: Von den römischen Soldaten, die die Kreuzigung als Hinrichtungsart gewöhnt waren, heißt es bei Johannes: „Als sie aber an Jesus kamen, zerschlugen sie ihm die Schenkel nicht, da sie sahen, dass er schon gestorben war“ (19,33). Zur Begründung wird das ‚Schriftwort‘ zitiert: „Kein Knochen soll an ihm zerbrochen werden“ (V 36). Die Vorschrift, dass ein Schenkelknochen als ganzer verbrannt oder bestattet werden muss, finden wir biblisch belegt (2Mose 12,46; 4Mose 9,12; Ps 34,21). Zum einen muss das Verbrennen von Knochen in Parallele gesehen werden zu ihrer Bestattung an heiligem Ort. Zum anderen gilt für beide Opferformen, dass die Knochen vorher nicht gebrochen worden sein dürfen. Der Verfasser dieses ‚Berichts‘ über Jesu Hinrichtung war sowohl in der grichisch-hellenistischen Opferpraxis als auch in der ägyptischen Bestattungsart und der jüdischen Überlieferung gut bewandert. Weil ihm so viel an der Auferstehung Jesu als Ziel seines „Weges zum Vater“ (Joh 13,1) gelegen hat, durfte hier kein Zweifel aufkommen. Die Passions- und Ostergeschichte steht bei Johannes im Zusammenhang einer größeren neuen Komposition, die er JesuWeg zum Vater“ nennt. Er beginnt mit der Fußwaschung Kp 13 und endet mit den Erfahrungen, die die Jünger mit dem Auferstandenen machen. Insofern hat Johannes den Rahmen der Hinrichtung verändert und die Opfersprache der Struktur, in der die Passionsgeschichte auf ihn gekommen war, bis zur Unkenntlichkeit aufgebrochen (296f).

Johannes hat den Bericht vom letzten Mahl Jesu gestrichen. Er überliefert als einziger Evangelist kein letztes Mahl (das den Tod Jesu deutet) und also auch keine Ursprungszene für ein Sakrament zur Vergebung der Sünden. Das große Mahl, von dem Johannes berichtet, steht noch vor den Abschiedsreden Kp 14 - 16, dem hohepriesterlichen Gebet Kp 17 und der eigentlichen Passions- und Ostergeschichte Kp 18 - 20/21 und wird mit der Zeitangabe vor dem Passa“ (13,1) versehen. Vom Rahmen der eigentlichen Leidensgeschichte ist es deutlich getrennt und hat einen völlig anderen Sinn als das letzte Mahl bei Paulus und den Synoptikern: Das Mahl (13,1-15) leitet den „Weg zum Vater“ ein, der direkt auf Ostern zielt und nicht auf ein Opfer.Im Mahl steht das Essen deshalb nicht im Mittelpunkt, sondern die Fußwaschung, die Jesus an seinen Jüngern vornimmt. Mit ihr gibt er ihnen ein „Beispiel, damit ihr tut, wie ich euch getan habe“ (13,15). Indem Jesus den Jüngern die Füße wäscht, stiftet er einen Ritus, den sie um ihrer Seligkeit willen fortsetzen müssen: „Ein Knecht ist nicht größer als sein Herr, noch ein Gesandter größer als der, der ihn gesandt hat“ (V 16). Damit wird an die Weitergabe des Christus-Amtes an die Jünger erinnert, die der Auferstandene vornimmt (20,21). Denn dort gibt er ihnen in einer neuen Schöpfungshandlung den Geist Gottes und sendet sie als seine Gesandten in die Welt: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“ (3,16/20,21). Der Inhalt der Gesandtschaft ist „ein neues Gebot“: „dass ihr einander lieben sollt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieben sollt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (13,34f). Wie Jesus Christus von sich gesagt hat: „Wer mich sieht, sieht den Vater“ (14,9), so sollen die Christen künftig sagen können: Wer uns sieht, sieht Jesus Christus. Das gilt aber nur, wenn sie sein Beispiel der Liebe übernehmen und bereit sind, sich gegenseitig Schuld zu vergeben (20,23). „Wenn ihr dies wisst – selig seid ihr, wenn ihr es tut“ (13,17) (297f).

Dass Johannes die Szene vom letzten Mal mit den die Opfertoddeutungen enthaltenden Einsetzungsworten nicht übernommen hat, macht für Jörns den Schluss unumgänglich, dass Johannes dieses Sakrament mit dem Opferbezug nicht gewollt hat. Dieses Sakrament konnte egoistisch missbraucht werden. Es konnte dazu verleiten, dass ein Mensch durch die Teilnahme an der Mahlfeier mit seinem Gott ins reine kommen will, ohne dass „Beispiel der Liebe“ ernst zu nehmen, das Jesus gegeben hat. Wenn wir dagegen die 'Fußwaschung' als zentrales Sakrament des JohEvs verstehen, dann tritt jenes Beispiel seiner dienenden Liebe ins Zentrum. Durch die ‚Fußwaschung‘ drücken die Christen aus, dass sie die Gemeinschaft mit ihrem Herrn als Fortsetzung seines Weges verstehen. Im Evangelium leitet die Fußwaschung den „Weg zum Vater“ ein. Für die Christen bedeutet die Teilnahme an der ‚Fußwaschung‘, ihrem Gott auf dem von Jesus gegangenen Weg zu folgen.

In dem Mahl des Auferstandenen mit seinen Jüngern (21,5-14) wird Fisch, kein Fleisch gegessen und nichts getrunken. Es gibt keinerlei Bezug zu Jesu Christi Tod! Es geht nur um den Auferstandenen und die Versorgung der Seinen. Eine assoziative Zusammenschau dieses Mahls mit der Hinrichtung Jesu als Opfer ist nicht möglich. Weder das große Mahl (21,13) noch das Fisch-Mahl kann mit der Stiftung des kirchlichen Mahl-Sakraments in Verbindung gebracht werden, denn das gründet inhaltlich in der blutigen Opferhandlung. In 6,54f ist Eucharistiesprache nachträglich interpoliert worden (298f).

Johannes geht es um Jesu Worte, in denen er als Logos zu „haben“ ist. Das bestätigt die häufig bei Johannes begegnende Ausdrucksweise, dass die Menschen „meine Worte“ in sich hörend aufnehmen und in sich bewahren (12,47f):, sie in sich wohnen, ja bleiben lassen, ihnen in sich Raum geben möchten. „Wer mich liebt, wird mein Wort halten“ (14,23). Jesus lässt sich nicht von den Leuten zum König machen, die begeistert sind von der Speisung der Fünftausend (6,15). Neben dem Mißverständnis man gewönne durch ein Mahlsakrament an ihm Anteil, droht hier ein anderes. Er weist die Menge zurück: „ht euch nicht um die Speise, die vergeht, sondern um die Speise, die ins ewige Leben bleibt“(6,27)! Und als sie diese Speise von ihm haben wollen, „die der Welt Leben gibt“(6,33), antwortet er: Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mit kommt, wird nicht hungern und wer an mich glaubt, den wird nicht dürsten“ (6,35). Dieses Brot sieht Johannes nicht mit dem Mahl-Sakrament verbunden, sondern es geht um seine Worte und den Glauben an sie bzw. ihn – denn seine Worte sind jene Speise, die der Welt Leben gibt. Johannes hat die sakramentale Erinnerung des letzten Mahles gekannt, einschließlich der Einsetzungsworte. Aber er hat das letzte Mahl eliminiert und das „Brot des Lebens“ entsakramentalisiert. Johannes hat in seiner Arbeit an der Überlieferung theologische Kritik an der Opfer- und Sakramentstheologie der sich bildenden Kirche geübt(299f).

Für Jörns ist es zweifelhaft, dass „das Lamm Gottes, das der Welt Sünde wegnimmt“ (bzw. wegträgt), vom jüdischen Opferkult (3Mose 16) her gedeutet werden muss. Es gehtnicht um die Sünden (Plural) der Gläubigen, sondern um die Sünde (Singular) der Welt in Gestalt ihrer Gottesferne und Geistferne, in die sie hineingeraten ist. Durch das Hineinkommen des Logos in menschliches Leben (1,14) stellt Gott eine neue Beziehung zur Welt her. Mit ihm kommt das Leben in die Welt, das nicht vergeht. Wer Jesus Christus als den Geistgesandten erkennt, „der hat das ewige Leben“ (17,3). Insofern Jesus aber die Gottferne an sich selbst auf seinem Weg zum Vater als Hass ertragen (15,18-25) und sogar die Hinrichtung erduldet hat, ist er hingabebereit gewesen, also lammfromm. Indem Johannes die Deutung der Hinrichtung als Opfer zurückweist, hält er auch Gott aus dessen uralter Verwicklung in das System von Gewalt und Gegengewalt heraus (300).

Sein Vater hatte ihn aus Liebe in die Welt „gegeben (3,16). Von einem durch Gott initiierten Opfertod Jesu ist hier nicht die Rede: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengehe, sondern ewiges Leben habe“ (anders 1Joh 2,2). Beim Evangelisten Johannes wird nicht die Opferterminologie „dahingegeben“ verwendet, sondern einfach „geben: Gott gab ihn in der „Fleischwerdung“ des Logos in die Welt (in die Welt „ gesandt“ 3,17). Gott „gab ihn“ bei seiner Geburt in die Welt, damit die Menschen durch den Glauben an ihn, an seine Worte, ewiges Leben finden.

Am Schluss des ganzen Brot-Kapitels sagt Jesus Christus: Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch hilft nichts; die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und Leben (6,63). Die Zwölf sagen Jesus: „Du hast Worte ewigen Lebens“ (6,68). Um sie geht es. Das Sakrament der Fußwaschung weist auf Jesu Weg der dienstbereiten Liebe. Sie ist der entscheidende Dienst an der Welt (300f).

 

(2) Die ‚Lehre der Apostel‘ (Didaché) kennt eine Mahlfeier ohne Bezug zu Jesu Tod, ohne Einsetzungsworte und Sühnegedanken

 In Kp 9 geht es um die „Eucharistie“ (Dank sagen)

Was die Eucharistie betrifft, so sagt folgendermaßen Dank: …
 Zuerst in bezug auf den Kelch: …
 In bezug auf das Brot (sagt folgendermaßen Dank): …
 Wie dies (Korn) zerstreut war auf den Bergen und zusammengebracht ein Brot geworden ist, so soll deine Kirche zusammengebracht werden von den Enden der Erde in dein Reich! Denn dir gehören die Herrlichkeit und die Kraft in Ewigkeit.

In Kp 10 wird ein Dangkgebet mitgeteilt, das ausdrücklich ‚nach dem Sättigungsmahl‘ gesprochen werden soll. In ihm heißt es:

Du, allmächtiger Herrscher, hast alles geschaffen um deines Namens willen. Speise und Trank hast du den Menschen zum Genuss gegeben, uns aber hast du geistliche Speise und Trank geschenkt und ewiges Leben durch Jesus, deinen Knecht (V 3).

Von der Angabe „nach dem Sättigungsmahl“ her hat die zitierte „ Eucharistie“ einen eigenen Typ Mahlfeier dargestellt, der sich von dem bei Paulus und den Synoptikern überlieferten Typ dadurch unterscheidet, dass es in dieser Liturgie zwar Brot und Kelch (Wein) samt den dazu gehörenden Eucharistigebeten gibt, aber keine Einsetzungsworte und keinerlei Bezug zum Tod Jesu. Außerdem ist die Mahlfeier mit einem wirklichen Essen verbunden. In Didaché 10,3 wird ein deutlicher Unterschied gemacht zwischen dem „allen Menschen zum Genuss“ gegebenen Essen („ Speise und Trank“) und der der Gemeinde geschenkten „geistlichen Speise und Trank“. Beide gehören insofern zusammen, als es sich um Gaben handelt, die die Menschen von Gott empfangen und ihm nicht darbringen bzw. opfern (301f).

Es gibt blutige Opfer vor dem Tempel, ohne eine sichtbare Präsenz Gottes, … und Opfer im Tempel, vor dem Kultbild, die Speisen im Schema von Gabendarbringungen ‚vorlegen‘. Im Laufe der Zeit wird die Opfer-Handlung zu einer Dankopfer-Handlung, für die das Wort Opfer nicht mehr passt.

In Kp 14 der Didaché gibt es noch Anweisungen für die am Sonntag zu feiernde Eucharistie:

An jedem Herrentag (Sonntag) versammelt euch, brecht das Brot und sagt Dank, indem ihr dazu eure Übertretungen bekennt, damit euer „Gott dargebrachtes Gebet“ rein sei. (2) Jeder aber, der Streit mit seinem Nächsten hat, soll nicht mit euch zusammenkommen, bis sie sich ausgesöhnt haben, damit euer Gebet nicht entweiht werde!

Wichtige Unterschiede zu der Feier von Kp 9 und Kp 10 sind das zur Eucharistieliturgie hinzugehörende Schuldbekenntnis und die Anweisung, in der Gemeinde bestehenden Streit vor der Mahlfeier durch Aussöhnung zu schlichten. Dadurch wird verhindert, dass die Mahlfeier egoistisch dazu missbraucht werden könnte, das Gottesverhältnis der einzelnen zu bereinigen und darüber die Beziehung der Menschen untereinander zu vergessen. An diesem Punkt ist die Didaché dem john Mahlverständnis mit dem Gebot: „einander zu lieben“, sehr nahe. Aber auch darin, dass sie eine starke eschatologische Ausrichtung auf das kommende Reich Christi hat, bezeugt die Didaché mit ihrer Eucharistiefeier eine Nähe zum opferlosen Mahl des JohEvs. Dass in der Didaché der Gedanke, Jesu Leib und Blut zu sich zu nehmen, fehlt, wird sich von den jüdischen Vorlagen her erklären, weil im Judentum jeder Blutgenuss streng verboten war (3Mose 17,10-14) (302f).

 

(3) In der Gesamtkirche wird die Sühnopfertheologie dominant, weil sie sich sakramental nutzen und mit unterschiedlichsten Erwartungen verbinden lässt: Ignatius von Antiochien deutet die Mahlfeier von der Inkarnation des Logos im Fleisch her. Er hat die Instrumentalisierung der Heilswirkung auf die Spitze getrieben, indem er das Brot der Mahlfeier eine ‚Unsterblichkeitsarznei‘ nennt, ein ‚Gegengift‘, das den Tod verhindert, aber zum Leben in Jesus Christus für immer führt (IgnEph 20,2). Dieser Sprachgebrauch hat sich im hellenistischen Bereich rasant ausbreiten können. Die Idee, Jesu Sterben sakramental zu nutzen, fiel in der hellenistischen Welt auf fruchtbaren Boden. Die Überzeugung, dass durch heiliges Essen und Trinken ein direkter Zugang zu göttlichen Gütern offenstehe, hat sich dadurch verbreitet. So wird die Mahlfeier Zug um Zug zu einem Mittel, durch das sich die Christen einen Zugang zu ihrer persönlichen Erlösung und zum ewigen Leben sichern können. Nun ist es möglich, die Erbsünde durch das Altarsakrament zu bekämpfen. Buß- und Beichtpraxen werden vorgeschaltet und sorgen für einen würdigen Genuss des Sakramentes (304f).

(4) Gegen Ende des 1. Jh. zeigt sich ein differenziertes Bild im Blick auf die Mahlfeier und die Sühnopferdeutung der Hinrichtung Jesu

 - Paulus und die Synoptiker verbinden die Hinrichtung Jesu mit dem letzten Mahl. Das Mahl wird zugleich zum hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis der Hinrichtung Jesu. Dafür sorgen die ‚Einsetzungsworte‘, die die Hinrichtung Jesu mit einem für die Christen positiven Sinn verbinden: es ist ein von Gott gegebenes Sühnopfer zugunsten der Menschen gewesen. Sein Tod hat einen ‚neuen Bund‘gestiftet und geschieht ‚für die vielen‘ (Mk 14,24) oder ‚für euch‘ (1Kor 15,24) zur Vergebung der Sünden. Mit dem Opfertod des Gottessohnes und Menschen Jesus Christus konnte die als notwendig angesehene Versöhnung Gottes mit der Welt bewerkstelligt werden. Maßgeblich ist das Motiv der stellvertretenden Sühne zur Vergebung der Sünden (305f).

- Das Johannesevangelium streicht die Mahlfeier als Todesgedächtnis und Begründung eines Sakramentes zur Vergebung der Sünden. Stattdessen verbindet es ein vor dem Passa gefeiertes Mahl Jesu mit den Jüngern mit dem neuen Ritus der Fußwaschung, in dem das Beispiel der dienstbereiten Liebe, das Jesus selbst gegeben hat, symbolisch weitergegeben werden kann. Einen positiven Bezug zu Jesu Tod gibt es hier nicht. Johannes geht es um Jesu „Weg zum Vater“.

- In der Didaché ist eine ‚Eucharistie‘ genannte Mahlfeier belegt, die vom Dank für die Lebensgaben Brot und Wein bestimmt ist. Diese Mahlfeier hat keinen Bezug zu Jesu Tod und beruft sich nicht auf ein Sühnopfer, vermittelt also auch keine Vergebung der Sünden (305f).

Derart unterschiedliche Typen von Mahlfeier konnten sich entwickeln: - weil die ursprünglichen Überlieferungen von der Hinrichtung Jesu noch ohne jede dogmatische Interpretation dieses Todes gewesen sind. Die Berichte (in sich) sagen nichts dazu, wie Jesu Tod zu verstehen und ob bzw. welche Wirkung für andere davon ausgehen könnte, d.h. alle Deutungen sind ‚nur‘ Wahrnehmungsgestalten der Hinrichtung Jesu.

- weil Paulus und die Synoptiker genauso wie Johannes, die Didaché und andere bei der Wahrnehmung und literarischen Gestaltung der Passions- und Ostergeschichte sowie bei der Ausgestaltung der Mahlfeier den Regeln kultureller Kohärenz gefolgt sind. Ihre Deutungen entsprechen den Vorstellungen, die in ihrer jeweiligen Umgebung vorherrschend waren.

- weil alle anfangs von sehr unterschiedlichen Vorstellungen von Gott, von den Menschen und vom wechselseitigen Verhältnis von Menschen und Gott ausgegangen sind. Das Nebeneinander von Todesdeutungen und Mahlfeiern hat damit zu tun, dass es rivalisierende Vorstellungen gab, dass die Opfergeschichte mit einer Kontroverse über die Gottesvorstellung zu tun hat (306f).




3. Die christliche Sühnopfertheologie ist im Blick auf den geschichtlichen Wandel der Opfer- und Gottesvorstellungen anachronistisch

 Die christliche Sühnopfertheologie stellt innerhalb der Entwicklungsgeschichte der Opfervorstellungen einen Anachronismus dar

Die Menschenopferszene (1Mose 22,1-14): Abraham machte sich daran, den einzigen und lange ersehnten Sohn, Isaak, seinem Gott als Brandopfer zu opfern – auf dessen Befehl hin. (Der Hintergrund: der Anspruch von Gott Jahwe: „Weihe (opfere) mir alle Erstgeburt bei den Israeliten, alles was zuerst den Mutterschoß durchbricht, unter den Menschen und unter dem Vieh; mir gehört es“ (2Mose 13,2). Gott stellte einen Widder als Ersatzopfer für den Sohn in die Szene. „Und Abraham gab diesem Ort den Namen: Gott sieht“ (22,14) (307f).

Abraham und Sara ‚sahen‘ ein anderes ‚Gesicht Gottes‘ als das, das sie vorher kannten. Insofern ist hier eine markante Schwelle überschritten worden. Die Erzählung besagt, dass Menschenopfer in frühisraelischen Stämmen Brauch gewesen sind, dass sie aber von da an durch Tiefopfer abgelöst wurden. Der Anspruch von Gott Jahwe darauf, dass ihm alle Erstgeburt geopfert werden müsse, blieb in der Tora unaufgekündigt. Trotzdem hat sich in dieser Schwellengeschichte ein ‚anderer Gott‘ sehen lassen, der von seinem grausamen Recht keinen Gebraucht mehr macht (308).

...an Liebe habe ich Wohlgefallen und nicht an Schlachtopfern und an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern“ (Hos 6,6). Diesem Gott ging es um das Herz der Menschen, um ihre unmittelbare Gottesbeziehung, um das Tun der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Z. Zt. Jesu stand der Opferkult am Jerusalemer Tempel noch in voller Blüte und die Priesterschaft beherrschte theologisch das Feld (309f).

Auf der Linie der prophetischen und weisheitlichen Kritik am Opfer liegt auch Jesu Christi Kritik (Bergpredigt Mt 5 - 7). Jesus radikalisiert das Tötungsverbot, indem er schon den Zorn auf den Mitmenschen und die verachtende Beschimpfung als von dem Verbot gemeint bezeichnet (Mt 5,21f). Wer Gott ein Opfer bringen will, ohne sich vorher mit einem Menschen, „der etwas gegen dich hat“, ausgesöhnt zu haben, brauche das Opfer gar nicht zu beginnen: „ Lass deine Gabe vor dem Altar liegen und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder und dann komm und bring deine Gabe dar“ (5,23)! Der äußere Ritus hilft nichts vor Gott, „der ins Verborgene sieht (6,18), wenn das Herz nicht dabei ist. Das ‚Herz‘ ist gefragt: Liebe, Barmherzigkeit und all das, was in den Seligpreisungen bei Matthäus (5,3-10) und Lukas (6,20-26) zusammengestellt ist. Die kultische blutige Opferung lebt von dem stellvertretend zwischen Menschen und Gott gestellten Tier- oder Menschenopfer. Diese Art von Stellvertretung weist Jesus zurück. Indem die Kirche aus Jesu elendem Sterben am Kreuz ein von Gott gewolltes Sühnopfer für die Sünden der Menschen gemacht hat, ist sie wieder zurück zum Anfang der Opfergeschichte gegangen: zum Menschenopfer (311).

Die Opferpriester boten den Menschen an, ihre Zuflucht in der sofort wirksamen Entsündung durch Tieropfer zu suchen. Weil die innere Beziehung zu Gott jeden einzelnen Menschen betrifft und sich niemand darin vertreten lassen kann, haben sich die Kritiker gegen den Entsühnungsautomatismus der Opferpraxis gewandt:Denn so spricht der Herr zum Hause Israel: Suchet mich, auf dass ihr lebt und suchet nicht Bethel“, den Opferort (Amos 4,4). Der Gott, den Propheten wie Amos und Hosea verkünden, ist ein von Liebe bestimmter Gott, der für Gerechtigkeit kämpft, der den Menschen seine Liebe ohne Tieropfer entgegenbringt und ihnen ihre Schuld vergibt. Die Tendenz ist dahin gegangen, immer häufiger und vor allem immer mehr Tiere zu opfern. Das hat es nötig gemacht, dass allein zu Opferzwecken eine Massentierhaltung eingerichtet worden ist. Die Jerusalemer Priesterschaft hat die Weichen dafür gestellt, dass dem Opferkult, von dem sie letztlich lebte, der entsprechende Platz im zentralen Kult zukam. Damit ist die Gottesvorstellung wieder in der Opfertheologie verankert worden, wogegen die Propheten so leidenschaftlich gekämpft hatten (313f).

Jesu Christi Haltung zum Opfer, seine Übernahme der Kult- und Opferkritik der Propheten und der Weisheit, hängt von der Gottesbeziehung ab, in der er sich geborgen wusste und in die er auch seine Jünger hineingeführt hat. Von seiner Gottesbeziehung her hat Jesus den Kampf der Propheten und der Weisheit dagegen, dass die Menschen zwischen sich und Gott ein Drittes stellen, das sie vertreten soll, wieder aufgenommen. Doch mit diesem Kampf ist er an Paulus und der christlichen Kirche gescheitert (314).

 

4. Die kirchliche Sühnopfertheologie und die darauf basierende Mahlfeierpraxis widersprechen der Verkündigung Jesu

(1) Paulus stellt Jesu Tod ins Zentrum seiner Theologie
 (2) Jesu zentrale Botschaft von der unbedingten Liebe Gottes widerspricht der Deutung seines Todes als Sühnopfer
 (3) Warum die Kirche Jesu letztes Mahl und seine Hinrichtung trotzdem vom Sühnopfergedanken her gedacht hat

 

(1) Paulus stellt Jesu Tod ins Zentrum seiner Theologie: Paulus nimmt Jesu Hinrichtung aus dem geschichtlichen Zusammenhang und stellt ihn in ein traditionelles Sühnopferkonzept hinein, um den Adressaten seiner Missionsbriefe den Tod Jesu innerhalb dieses Kultes und der sie tragenden Kultur verständlich zu machen. Diese Kultur nennt Jörns ‚Sündekultur‘. Eine Sündekultur stellt gegenüber einer ‚Schuldkultur‘ insofern eine Steigerung dar, als die Sünde das Heil aufs Spiel setzt. Jede Übertretung ist ein Bundesbruch und bedarf in der priesterlichen Theologie der Sühnung durch ein Opfer.

Ohne an diesem opfertheologischen Hintergrund etwas zu ändern, setzt Paulus Jesu Hinrichtung (er spricht verkürzt vom ‚Kreuz‘) als das unüberbietbare Sühnopfer für die Versöhnung Gottes mit der ganzen Welt in das Konzept ein. Für ihn, der ganz in den Strukturen der Sündekultur dachte, war es unvorstellbar, dass eine christliche Kirche ohne ein Pendant zum jüdischen Sühnopferkult auskommen könnte. So stellt er Jesu Tod ins Zentrum seiner Theologie als das Opfergeschehen, das den Sühnopferkult am Jerusalemer Tempel weit überbot. Als Sühnopfer ließen sich Jesu Sterben und sein Tod auch mit der jüdischen Knecht-Jahwe-Tradition (Jes 51,13 – 53,12) zusammensehen, wie es Lukas dann auch getan hat (24,25-27). Jes 53,5: „er aber war um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Straf liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt“. Unüberbietbar war Jesu Opfertod auch darin, dass es ein Menschenopfer war. Das durch Sünde verwirkte Menschenleben muss durch Tötung eines Menschenlebens gesühnt werden. Denn der Anspruch von Gott Jahwe richtet sich auf die menschliche Erstgeburt. Das Tieropfer vermochte dem nur mittelbar, auf dem Gnadenweg, gerecht zu werden. So erklärt sich der Rückgang an den Anfang der Opfergeschichte von der Idee her, den jüdischen Opferkult zu überbieten (316f).

Diese Todesdeutung und ihre Fortführung im Meßopfer widersprechen der Verkündigung Jesu. Das Sühnopfer-Versöhnungskonzept ist mit einem Gottesbild verbunden, das Gottes Liebe gerade nicht unbedingt, sondern bedingt sein lässt durch eine blutige Sühneleistung. Gottes Liebe, die Jesus weit gemacht hatte, ist durch dieses Konzept wieder zurückgeschraubt worden in ein Bedingungsgefüge. In ihm wird das Verhältnis Mensch-Gott vom Gehorsam gegen ein göttliches Gesetz bestimmt (Phil 2,6-8). Im Kern seiner Logik wird Gottes Liebe vom menschlichen Gehorsam abhängig gemacht (317f).

 

(2) Jesu zentrale Botschaft von der unbedingten Liebe Gotteswiderspricht der Deutung seines Todes als Sühnopfer. Jesu Gottvertrauen setzt, ausschließlich auf Gottes Liebe und glaubt ihr. Außerhalb dieses gläubigen Vertrauens gibt es keine Kommunikationsebene zwischen Jesus und Gott, zwischen Christen und Christus. Jeder Sühnopferkult ist nicht nur überflüssig, sondern widersinnig. Er würde bedeuten, dass Gottes Liebe, wie sie Jesus gelebt und verkündet hat, doch wieder nicht geglaubt würde. Stattdessen würde auf ein Opfer gesetzt werden, durch das man dann Gottes Versöhnung buchstäblich in Brot und Wein materialisieren und sich einverleiben könnte.

Es gibt kein Wort Jesu, indem er sich zu der im AT beschriebenen kultischen Opferpraxis positiv geäußert hätte. Er hat von niemandem Opfer gefordert. Die sog. Tempelreinigung (Mk 11,15-19) ist eine Kritik an der realen Opferpraxis im Tempel und ihrer Kommerzialisierung. Das einzig kultisch wegweisende Wort für die Jünger wird jene Hoffnung gewesen sein, nach seinem Tod im ‚Reich Gottes‘ das Mahl wider feiern zu können (Mk 14,25) (319).

Die neue Perspektive, die sich mit Jesu Christi Leben und Weg verbindet, kommt ins Bild, wenn wir Jesus im JohEv als eine Art Hoherpriester mit seinem Vater und denen reden hören, die an ihn glauben. Hier wird ein Gegenkonzept zum Hohenpriester in Jerusalem und eine Liturgie für ‚die Seinen‘ entworfen. Von einem ‚Ort‘ her, der gegenüber ‚d(ies)em Kosmos‘ schon ein Jenseits ist, sagt Jesus denen, die noch in der Welt sind: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt besiegt (überwunden)“ (16,33). Das letzte Wort des Irdischen: „es ist vollbracht“ ist zugleich das erste Wort des Auferstandenen. Es ist schon vom Ziel des Weges her geredet, das er im ausgehaltenen Leiden am Kreuz erreicht hat. Jesus hat durch sein Vertrauen auf Gott alles besiegt, was ihn vom Weg zum Vater hat abhalten wollen. Seine Kraft, im Vertrauen auf die Liebe des Vater den Weg zu ihm zu Ende gehen zu können, bestätigt die Wahrheit in dem Satz: „ Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Frucht aus“ (1Joh 4,17) (320).

Dass Jesus von Paulus wieder in dieses System mittels der Sühnopfertheologie zurückgeholt worden ist, stellt einen tragischen Vorgang dar. Tragisch deshalb, weil Paulus offenbar aufgrund seiner Vorprägung nicht hat wahrnehmen können, dass Jesus auch die Gottesvorstellung aus der Herrschaft eines religiösen Systems befreit hat, das die Liebe Gottes und die mit ihr verbundene Würde der Menschen vom menschlichen Gehorsam – und ersatzweise von der Hinrichtung eines Menschen – abhängig gemacht hatte (320f).

Wir müssen uns heute entscheiden, ob wir Jesu Christi Weg und Verkündigung oder einer Theologie folgen wollen, die das Evangelium in einem zentralen Punkt widerruft. Für diejenigen, die darin gelebt und daran geglaubt haben, hat es auszudrücken vermocht, was sie als Erlösung verstanden haben. Aus heutiger theologischer Verantwortung, sieht Jörns das zur Sühnopfertheologie gehörende religiöse System als durch Jesus Christus beendet an. Auch die damit verbundene Gottesvorstellung selbst ist für Jörns ein abgeschlossenes Kapitel. Ihm ist es nicht mehr möglich, an Jesus Christus zu glauben und ihn zugleich mit einem religiösen Konzept zur Deckung bringen zu wollen, gegen das Jesus Christus als Jude in wesentlichen Punkten angegangen ist.Jesus erreicht sein Ziel, das Sein beim Vater, weil er auf Gegengewalt verzichtet und damit den circulus vitiosus, den unheilvollen Kreislauf, durchbricht. Die Sühnopfertheologie als Basis einer christlichen Erlösungslehre widerspricht dem, denn sie sagt, Gott selbst habe die Gewalt der Kreuzigung Jesu initiiert (321).

Von der zentralen Botschaft einer unbedingten Liebe Gottes her gibt es keinen Anlass anzunehmen, dass Jesus selbst seinen Tod in irgendeiner Hinsicht als etwas angesehen hätte, was den Seinen im Sinn eines Sühnopfers nützen sollte. Wie schwer Jesus die Entscheidung standzuhalten gefallen ist, hat Lukas zur Sprache gebracht: „Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn. Und er geriet in angstvollen Kampf und betete noch anhaltender. Und sein Schweiß wurde wie Blutstropfen, die auf die Erde fallen“ (22,43). Eine Flucht hätte bedeutet, seine eigene Botschaft zu verraten, um sein Leben zu retten (321f).

(3) Warum die Kirche Jesu letztes Mahl und seine Hinrichtungtrotzdem vom Sühnopfergedanken her gedacht hat Die Übertragung der von Jesus verworfenen Sühnopfervorstellung auf sein eigenes Sterben hat das Revolutionäre seiner Botschaft und seines Lebens wieder verdunkelt. Das ntl und das frühchristliche Schrifttum belegen, dass sich die religiöse Tradition weitgehend durchgesetzt hat. Dieser Prozess lässt sich nirgends so deutlich wie in der Geschichte der christlichen Liturgie erkennen. Trotz des JohEvs und der Zwölf-Apostellehre (Didaché), prägte sich die Opfervorstellung dem christlichen Gottesdienst wieder auf und führte zur Messe. Sie konnte auch das Vakuum ausfüllen, das 70 n. Chr. durch den Wegfall des jüdischen Versöhnungsfestes entstanden war (322f).

- Die Übernahme des Sühnopferschemas sicherte der Christengemeinde ein Äquivalent zum jüdischen und hellenistischen Opferkult. Außerdem konnte sie damit aus der Depression herauskommen, in die sie der Tod Jesu als Scheitern und Katastrophe gestürzt hatte. Indem sie das negative Ereignis als Sühnopfer für die Sünden der ganzen Welt interpretierte, gewann der Tod Jesu eine positive Bedeutung. Über die Teilnahme an der als Opfermahlfeier verstandenen Eucharistie konnte jeder Sündenvergebung erlangen – ohne selbst den Jesus-Weg dienender Liebe (Joh 13,34f) zu gehen (323).

- Dass kann nicht nur bei Paulus, sondern auch bei den nach der Tempelzerstörung im Jahr 70 schreibenden ntl Autoren der Sühnopfergedanke eine so große Rolle gespielt hat, könnte mit Hilfe einer Notiz erklärt werden: In Apg 6,7 heißt es: „Und das Wort Gottes wuchs und die Zahl der Jünger mehrte sich in Jerusalem sehr und eine große Menge der Priester wurde dem Glauben gehorsam“. Es handelt sich wahrscheinlich um Priester vom zerstörten Tempel, die ihre Lebensgrundlage verloren hatten und zur Gemeinschaft der Christen konvertiert waren. So wie die Priester Glauben mit Gehorsam identifiziert haben, haben sie bei den Christen eine Möglichkeit gefunden, ihre Opfervorstellung weiter pflegen zu können, wenn auch ohne die Tieropferpraxis (324).

 

5. Die Sühnopfervorstellung steht heute dem Evangelium von Jesus Christus im Weg und muss verabschiedet warden

- Durch Jesu Botschaft und Leben haben wir gelernt zu begreifen: Gott ist unbedingte Liebe. Allein in dieser, auch Gott zum Mitleiden bewegenden Liebe, ist Gottes Gerechtigkeit begründet. Weil Gott seine Geschöpfe liebt, kann er auch den einzelnen Menschen leiden und zwar selbst dann, wenn er vielen vieles schuldig bleibt in seinem Leben. So versteht Jörns Rechtfertigung. Die Deutung der Hinrichtung Jesu als Sühnopfer für die Sünden der Welt und das Verständnis des Herrenmahls als Opfermahl können dieser Glaubenserkenntnis nicht gerecht werden.

- Die Sühnopfertod-Theologie und das eucharistische Opfermal als Sakrament der Sündenvergebung sind die Basis eines religiösen Systems geworden. Nach Jörns wollte Jesus Christus uns Menschen von dieser Art Erlösungsglauben erlösen, indem er uns in eine vertrauensvolle Beziehung zu Gott geführt hat. Durch seinen Geist hat und behält Gott eine unverlierbare Lebensbeziehung zu uns. Dafür steht der Begriff Seele. Das uns glauben zu machen, ist die durch Jesus geschehene Erlösung. Aber die hat nichts mit seiner Hinrichtung zu tun (328).

- Die Sühnopfertheologie zerstört die Direktheit der Beziehung zu Gott, die Jesus uns eröffnet hat. In dieser durch den Geist Gottes bestehenden Beziehung ist Jesus Christus auf seinem irdischen Weg gegangen. Da liegt die tiefe Revolution begründet, die Jesus in die Religionsgeschichte gebracht hat. Wir gehen hinter sie zurück, wenn wir die alten, aus den Opferkulten stammenden Wahrnehmungsmuster im christlichen Kult benutzen (328f).

- Weil Gott unerbittlich darauf besteht, dass sein Gesetz erfüllt wird, nimmt er Jesu unschuldiges Sterben als stellvertretende Erfüllung an. Nur aufgrund dessen kann er gnädig sein. Wäre er gnädig aus Liebe, bedürfte er des Opfers nicht.

- Jesus sagt, dass er Herr über den Sabbat, also über das Gesetz, ist (Mk 2,28). Die Sühnopfertheologie aber hat, indem sie (als hätte es Jesu Botschaft nie gegeben) auch heute noch von der durch Sünde bedingten Todesverfallenheit unseres Lebens spricht, den absoluten Anspruch des Gesetzes wieder zum Herrn über Jesus Christus und uns gemacht (329).

- In der Theologie wird der Gedanke betont, Gott habe Jesus den Menschen als Opfergabe hingegeben, damit sie ihn Gott opfern konnten, um ihr Opfer- und Sühnebedürfnis zu befrieden und der habe das Opfer dann gnädig angenommen. Weil jene ‚Sündekultur‘, aus der das Denkmodell stammt, nicht mehr unsere ist, kann der Zugang zu diesem Modell nur noch historisierend-künstlich hergestellt werden. Weil Gott Liebe und Geist ist, hat Jörns keinen Grund mehr, sein Leben, in dem er vielen vieles schuldig geblieben ist, deswegen als ‚todgeweiht‘, als ‚verwirkt‘ anzusehen (329f).

- Jörns beruft sich auf die Verkündigung Jesu und sagt, dass Jesus sein (Jörns) Leben der Liebe Gottes geweiht hat und sein Denken von jedem Tauschhandelsmodell befreit hat. Die Kirchen haben den Weg der absoluten Gewaltlosigkeit, den Jesus gegangen ist, nicht ernst genommen. Für die Instrumentalisierung von tödlicher Gewalt soll sich niemand mehr auf Gott berufen dürfen. Darum ist der Abschied von der Sühnopferdeutung der Hinrichtung Jesu notwendig (330f).



K.-P. Jörns (2007)

6. Der Tod Jesu als Opfer und Heilsgabe

 Die Umformung der christlichen Mahlfeier beginnt, als sie mit der Deutung des Todes Jesu als Opfer verschmolzen wird (109).

(1) Mk 14,22-25 (Mt 26,26-29; Lk 22,15-20; 1Kor 11,23-25)
 (2) Matthäus (26,26-29) hat die Mk-Fassung überarbeitet in Richtung auf eine parallelisierende Ausgestaltung von Brot- und Kelchwort
 (3) Paulus (1Kor 11,23-25)
 (4) Fazit: Die Theologie der Opfermahlliturgie ist in Konkurrenz zur Verkündigung Jesu getreten

(1) Mk 14,22-25 (Mt 26,26-29; Lk 22,15-20; 1Kor 11,23-25)

22: „Und als sie aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach‘s und gab‘s ihnen und sprach: Nehmt, das ist mein Leib.

23: Und er nahm den Kelch, dankte und gab ihnen den und sie tranken alle daraus.

25: Amen, ich sage euch, dass ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs neue davon trinken werde im Reich Gottes
 
                   
 

 24: Und er sprach zu ihnen: Das 
ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird“.

Mk schließt den Kelchritus in V 23 ab: „und sie tranken alle daraus“. Das Kelchwort V 24 wird bei ihm dem schon getrunkenen Wein hinterher gerufen. Daraus kann man schließen, dass die Vorlage, die Markus benutzte, ursprünglich kein Kelchwort Jesu kannte. Lässt man V 24 aus, ergibt sich ein klarer Übergang. Wäre es so, hätte die von Markus benutzte und bearbeitete Mahlform nur ein Brotwort gekannt – was für die Rede vom ‚Brotbrechen‘ denkbar erscheint (121f).

- Mk war Hellenist und schon an den Elementen interessiert. Wenn Jesus vom Brot gesagt hat „Das ist mein Leib“, musste er nach seiner Ansicht auch den Wein (nicht den Kelch) mit dem Blut Jesu identifiziert haben. So trug er als Blutwort ein (V 24): „Das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele“. Vor einem jüdischen Hintergrund ist klar, dass die Formulierung „Das ist mein Blut des Bundes“ bei Mk und Mt aus dem Ritual stammt, das bei der feierlichen Bundesschließung am Sinai von Mose zelebriert worden war (2Mose 24). Dabei las Mose dem Volk das Bundesbuch vor. Nachdem das Volk bekräftigt hatte, alles zu tun, was darin geschrieben steht, nahm Mose das Blut von vorher geopferten Tieren, „ besprengte das Volk damit und sprach: Seht, das ist das Blut des Bundes, den der Herr aufgrund all dieser Worte mit euch geschlossen hat“ (24,8). Zu der Opferfeier im Zusammenhang der Bundesstiftung scheint auch ein Opferfestmahl gehört zu haben; es wird gesagt, dass die Edlen Israels ‚nach dem Opfer‘ „ aßen und tranken“ (24,11).

- Dass es sich bei Mk 14,24 und Mt 26,28 um eine Übernahme aus dem Bundesschließungsritual handelt, zeigt sich daran, dass bei beiden vorher vom Becher Wein die Rede war, nun aber ausdrücklich vom „ Blut des Bundes“ gesprochen wird. Außerdem ist der Satz: „Dies ist mein Blut des Bundes“ in demselben demonstrativen Gestus gehalten wie die Vorlage (2Mose 24,8). Hier wird der Anspruch formuliert, dass der Tod Jesu den alten, mit Israel geschlossenen Bund am Sinai ersetzt (122).

- Jesus kommt als Autor für das Blutwort deshalb nicht infrage, weil in seiner Verkündigung der Begriff ‚Bund‘ nicht auftaucht (123).

- Die Rede vom ‚vergossenen‘ Blut passt nicht zur Todesart der Kreuzigung. Der Tod trat nicht durch einen großen Blutverlust ein, sondern durch einen Kreislaufschock. Hier schlägt das Formular des Opferrituals durch, das die Vorstellungen generell gelenkt hat. In 2Mose 24,5-9 ging es um Brand- und Heilsopfer. Am Sinai wurde mit dem Blut der geschlachteten Tiere zur einen Hälfte der Altar und zur anderen das Volk besprengt.

- Die Adressaten sind bei Markus nicht mehr die palästinensischen Judenchristen, sondern die vielen Menschen, die zum römisch-hellenistischen Weltreich gehören. Es geht um alle Menschen. Auch diese Adresse verbietet die Rückführung des Blutwortes in eine Ursprungsszene mit Jesus als Sprecher und den Jüngern als Tischgenossen (123f).

- V 25, der eschatologische Ausblick kann von Jesus sein. Der Ausblick aufs Reich Gottes passt in allem zum geahnten Abschied und zur Verkündigung Jesu. Der eschatologische Ausblick auf das Neu-Trinken von der Frucht des Weinstocks ist die älteste Fassung des Kelchwortes, die wir haben.

(2) Matthäus (26, 26-29): Matthäus hat die Mk-Fassung überarbeitet in Richtung auf eine parallelisierende Ausgestaltung von Brot- und Kelchwort

 Er korrigiert indem er aus „und sie tranken alle daraus“! eine Aufforderung (wie beim Brot) macht: „Trinkt alle daraus“! Statt ‚Reich Gottes‘ heißt es bei ihm „Reich meines Vaters“.

- Die entscheidende Veränderung aber fügt Mt an das Blutwort aus dem Sinai-Opferritual an: Bei ihm sagt Jesus: „dies ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (V 28). Damit hat er Jesu eigentliche Intention verfälscht. Denn bei Jesus ist die Vergebung Folge der unbedingten Liebe Gottes und völlig unabhängig vom Tod am Kreuz (124).

(3) Paulus (1Kor 11,23-25): - Die Aufforderung, das Herrenmahl „zu meinem Gedächtnis“ zu feiern, hat Paulus beim Brot- und beim Kelchwort. Lukas (22,15-20) hat sie nur beim Brotwort übernommen. Die wiederholte Aufforderung stammt von Paulus und dient bei ihm der Verknüpfung mit der die ganze Handlung deutenden Aussage, es gehe um die Verkündigung des Todes des Herrn – als Heilsereignis. Paulus kannte die Funktion der Deuteworte beim jüd. Festmahl: die Menschen im Jetzt der Feier mit Ereignissen aus der jüd. Heilsgeschichte zu verbinden. Entsprechend dem jüdischen Festmahl sollte das Mahl die feiernden Christen mit dem Ereignis des Todes Jesu verbinden in dem Sinn, dass sie durch das (Essen und) Trinken einbezogen werden in den „neuen Bund“, der „in meinem Blut“ bzw. „durch mein Blut“ zustande gekommen war (125).

- Das Kreuzesgeschehen wird nicht als abgeschlossene Vergangenheit erinnert, sondern soll im Gedenken vergegenwärtigt werden. Gerade die Tatsache, dass Paulus mit dem Stichwort Gedenken an ein jüdisch kultisches Phänomen anknüpft, macht klar, dass Paulus den Tod Jesu als das heilsgeschichtliche Ereignis schlechthin ansieht, dessen in der Mahlfeier gedacht werden soll. D.h., dass es die jüdische Heilsgeschichte verdrängt hat.

- Im Unterschied zu Mk und Mt, die beim Blutwort den Wortlaut des Sinaibundschlusses übernehmen und vom „Blut des Bundes“ sprechen, lesen wir bei Paulus und Lukas: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem/durch mein Blut“. Damit wird Bezug genommen auf die Verheißung beim Propheten Jeremia (31,31-34). Die Kirche Jesu Christi ist für Paulus die Einlösung der alten Verheißung. D.h., dass Gott die dort verheißenen Heilsgaben mit den Christen realisiert. Das Trinken aus dem einen Becher Wein integriert in den durch Jesu Blut konstituierten neuen Bund (125f).

- Im Unterschied zu Jer 31 wird der neue Bund bei Paulus nicht durch die Einwohnung des Namens Gottes, sondern durch Blut begründet, wie wir es aus 2Mose 24,8 kennen:Dieser Kelch (Wein) ist der neue Bund in meinem (bzw. durch mein) Blut“ (1Kor 11,25). Paulus schrieb: dass „ Christus als unser Passalamm geopfert worden ist“ (1Kor 5,7).

- Das Weinwort als Blutwort spielt hier die dominante Rolle. Durch die Verbindung des Blutes Jesu mit dem Blut des neuen Bundes wird der gewaltsame Tod Jesu als Opfer bezeichnet, durch das der neue Bund mit den Christen und ihre Erwählung begründet worden sind. 

- Die These legt sich nahe, dass das Blutwort als Deutewort zum Becher Wein die Brücke hergestellt hat zwischen der Deutung des Todes Jesu und der christlichen Mahlfeier, sowie zwischen ihr und den Heilsgaben: neuer Bund, Erwählung und Sündenvergebung. Es gibt kein jüdisches Ritual, in dem alle diese Elemente zu finden wären. Ihr Zusammentreffen im Abendmahl entspricht der doppelten Funktion, die es hatte: Mahlfeier zu sein, die den Tod Jesu deutend erinnert und zugleich Opferfeier, die die Feiernden teilhaben lässt an den Heilsgaben, die nun von Jesu Tod und Auferstehung ausgehen (126f).

- „Das ist mein Leib für euch“ lesen wir in V 24 im Brotwort. Lukas hat das „für euch“ übernommen und auch beim Kelchwort ergänzt. Diese Zueignung finden wir in der Mk-Tradition nicht, denn der hat als Adressaten die „ vielen“ eingesetzt (Einfluss von der Bundesschließung am Sinai 2Mose 24,8): „Dies ist das Blut des Bundes, den der Herr...mit euch geschlossen hat“. Das Gegenüber war damals das Volk Israel. Nun werden die Jünger als Repräsentanten des neuen Gottesvolkes und als Bundespartner angesprochen. Demnach verbinden sich hier der „neue Bund“ und der Sinaibundesschluss miteinander.

- Gegenüber der unblutigen Tradition, die die Didaché repräsentiert, begründet Paulus den neuen Bund Gottes mit der Kirche nicht durch das Leben und die Offenbarung Jesu, sondern allein durch seinen Tod. Dieser Tod Jesu ist nun das Bundesopfer für den neuen Bund. Nach Jer sollte er nicht durch ein Bundesopfer begründet werden, sondern durch die Einwohnung (des Namens) Gottes in den Herzen seines neuen Gottesvolkes. Da liegt die tiefste Diskrepanz zur Didaché.

- Das „Verkünden“ in V 26 bezieht sich auf die Tatsache, dass bei Paulus der Tod Jesu das Heilsereignis schlechthin ist, das die jüdische Heilsgeschichte aus der liturgischen Erinnerung verdrängt hat.

- Die Kelchworte in den vier Überlieferungen erweisen sich alle als gesteuert von der Erinnerung des Todes Jesu als eines blutigen Opfers. Bei Markus haben wir erkennen können, dass seine Vorlage kein Kelchwort kannte, sondern er es redaktionell eingefügt hat. Mk 14,23 hat wahrscheinlich die älteste Fassung. Darauf weist der Umstand, dass der eschatologische Ausblick auf das Neu-Trinken des Weins im Reich Gottes in Jesu Mund merkwürdig wäre, wenn man sich vorstellt, er hätte vorher den Wein und sein Blut gleichgesetzt (127f).

- Das Brotwort: „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,40.48) ist eine Jesus in den Mund gelegte Glaubensaussage der Gemeinde. Jörns nimmt an, dass der sprachliche Gestus des griechischen Brotwortes „Das ist mein Leib“ von dem Kelchwort „Das ist mein Blut des Bundes“ inspiriert worden ist, das aus 2Mose 24,8 stammt und den Gedanken legitimiert, Jesu Tod als Bundesopfer zu verstehen. Da hat das demonstrative ‚Das/Dies‘ sprachlich eine Berechtigung, bei Wein und Brot am Tisch nicht. Deshalb ist es für Jörns wahrscheinlich, dass keines dieser beiden Deuteworte von Jesus gesagt worden ist (128f).

Neben der Parallelität von Brot und Wein war es die Wahrnehmung des ‚Brotbrechens‘, die die Jüngergemeinschaft mit den Mahlzeiten mit Jesus im Gedächtnis verbunden hat. Denn durch das Brotbrechen hat er als ‚Hausvater‘ das Mahl und die Mahlgemeinschaft konstituiert. Am Brotbrechen erkennt die Jüngergemeinschaft den Auferstandenen wieder (Lk 24,30-35).

In dem Bemühen, ein letztes Mahl Jesu zu denken, bleiben nur zwei Bruchstücke übrig: Das ‚Brotbrechen‘ Jesu, das lange ausreichte, um das Herrenmahl zu bezeichnen, und der eschatologische Ausblick auf das einst wieder gemeinsam zu feiernde Mahl im Reich Gottes. Im Ausblick ins Reich Gottes haben wir das Schlußwort zur Szene, das noch keine Deutung des Todes Jesu enthält. Seine Bedeutung wird noch dadurch unterstrichen, dass Paulus es weggelassen hat. Ihm passte es nicht mehr in das Konzept des sakramentalen auf Wiederholung angelegten Passa-passio-Ritus. Für den eschatologischen Ausblick spricht, dass er schon zum jüdischen Festmahl gehört – wenn auch mit anderem Inhalt (129).

Möglicher Wortlaut eines frühchristlichen Mahlberichtes ohne Opfertheologie:

Während ihres letzten gemeinsamen Mahls nahm Jesus Brot, dankte, brach‘s, gab es den Seinen und sprach: Nehmt und esst Brot des Lebens. (Das bin ich für euch). 

Nach dem Mal nahm er den Kelch mit Wein, sprach das Dankgebet, gab ihnen den und sie tranken alle daraus. Und er sprach: Ich werde von der Frucht des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu dem Tag, da ich es neu mit euch trinken werde im Reich Gottes.

Das Brotwort nimmt den Begriff ‚Brot‘ mit dem Zusatz ‚des Lebens‘ auf, um Brot als leibliche und geistliche Lebensgabe zu bezeichnen. Ein Kelchwort gibt es nicht – außer dem in dem eschatologischen Ausblick enthaltenen, das als Schlusswort fungiert (130).

(4) Fazit: Die Theologie der Opfermahlliturgie ist in Konkurrenz zur Verkündigung Jesu getreten. Die Pessachfeier diente der Erinnerung der Befreiung Israels aus der ägyptischen Gefangenschaft. Ein Teil der Judenchristen hat dabei nicht mehr des Auszugs Israels aus Ägypten gedacht. Stattdessen trat Jesus, der als der Christus geglaubt wurde, mit seiner Geschichte in die Heilsgeschichte ein. Bei den Gruppen, die den getöteten Jesus als ihr geopfertes Pessachlamm verstanden haben, wurde die Passionserzählung als Ganze zur Festlegende des christlichen Pessachfestes und der ‚Einsetzungsbericht‘ war die Kurzform der Großerzählung. Inhaltlich hatte sich die Aussage des Pessachfestes damit von der jüdischen Freiheitsgeschichte gelöst und mit der Sühnopfertheologie und durch sie mit der Vergebung der Sünden verbunden (131). 

Die in die Sühnopfertheologie hineinführende Entwicklung hat sich auf die erzählerische Jesus-Überlieferung außerhalb der Passionsgeschichte nicht ausgewirkt. So ist es innerhalb der ersten drei Evangelien zu dem theologisch unverbundenen Nebeneinander einer Jesus-Überlieferung ohne Sühnopfergedanken und einer mit der (Sühn-) Opfertheologie bereist verschmolzenen Pessach-Passionsüberlieferung gekommen. Die letztere diente den mit der Opfertheologie verbundenen Judenchristen als Haggada in ihrem eigenen Pessachfest und verdrängte die Erzählung der jüdischen Heilsgeschichte. Die Opfermahlfeier ist zur Wiege dieses Teils der Evangelien geworden. Auf einem anderen Blatt standen diejenigen Jesus-Überlieferungen, die mit dem Weg von Galiläa nach Jerusalem verbunden erzählt wurden und mit den Ereignissen in Jerusalem primär nichts zu tun hatten (131f).

Kennzeichen der mit einem christlichen Pessachfest verbundenen Sühnopfertheologie sind vor allem folgende: Die Sühnewirkung des Todes Jesu wird den Gläubigen auf dem Weg über das Sakrament zugewendet, indem sie alle von dem Leib Jesu essen und aus dem (einen) Kelch vom Blut Jesu als dem Blut des neuen Bundes trinken. Für die Sühne ist Blutvergießen nötig, weil die sündigen Menschen nur so von den mit dem Tod bedrohten Folgen ihrer Sünden befreit werden konnten: Die Tiere starben stellvertretend für die Menschen. Nun aber, im christlichen Pessachfest, das Bundes- und zugleich Sühnopfermahlfeier war, ersetzte der Opfertod des einen Menschen den Tod der vielen Tiere, die anstelle der Menschen hatten sterben müssen. Aber geopfert, gestorben sein musste auch jetzt, um Gottes und seines Gesetzes willen. Die Versöhnung der Menschheit mit Gott konnte danach nicht anders geschehen als durch den Tod des Einen, Jesus, d.h. das Vergießen seines Menschenblutes. Durch die Opfertheologie wurde der durch die Verkündigung und Lebenspraxis Jesu gerade erst frei gemachte direkte Zugang zur Liebe Gottes wieder an einen Ritus und bald auch wieder an priesterliches Amtshandeln und allerlei Anforderungen an das Priesteramt gebunden(132).

Eine Ursache dafür, dass sich das Abendmahl schon so früh (bereits vor der Endfassung der synoptischen Evangelien) mit der Sühnopfertheologie hat verbinden können, sieht Jörns darin, dass die Paulusbriefe im Zusammenhang seiner Missionsreisen und also noch vor den Evangelien im judenchristlich-hellenistischen Bereich in Umlauf gekommen sind. Paulus hat sich in seiner Christologie nicht primär an Jesu Verkündigung und Taten orientiert, sondern er hat Jesu Tod und Auferstehung ausgelegt und zwar im Rahmen der jüdischen Theologie und Tora-Frömmigkeit, in der er erzogen worden war. Phil 2,5-11: Jesus sei Gott gegenüber „gehorsam gewesen bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz“, deshalb habe ihn Gott auferweckt und zum ‚Kyrios‘, zum Herrn aller Herrn, gemacht (vgl. Röm 5,19). Die Theologie des Kreuzestodes und der Auferstehung und damit die Bedeutung seines Todes als Grund der Versöhnung zwischen Gott und Menschen sind das zentrale Thema des Paulus geworden (Röm 5,1-11; 8,31f-38f; 2Kor 5,18-21). „Gott aber beweist seine Liebe gegen uns dadurch, dass Christus für uns gestorben ist, als wird noch Sünder waren. Um wie viel mehr werden wir nun, da wir jetzt durch sein Blut gerecht gesprochen worden sind, durch ihn von dem Zorn (Gottes) gerettet werden“ (Röm 5,8f). Im Epheserbrief spiegelt sich die zentrale Rolle, die Christi Blut für Paulus hatte, in der summarischen Aussage: "In diesem (Jesus Christus) haben wir die Erlösung durch sein Blut, nämlich die Vergebung der Übertretungen nach dem Reichtum seiner Gnade" (1,7) (133f).

Stellen wir die Theologie und Christologie der Opfermahlfeier neben die Verkündigung Jesu, so ist kaum noch Gemeinsames zu erkennen. Das Leiden Jesu, des zu Unrecht Hingerichteten, wird gerechtfertigt und instrumentalisiert. Die Wohltaten der von Jesus offenbar gemachten unbedingten Liebe Gottes sind wieder an das gewaltsame Sterben, ans Blutvergießen gebunden und wieder zu etwas Bedingtem geworden. Die Didaché steht dem gegenüber für einen Entwicklungsstrang, in dem dieselben Heilsgüter noch unblutig, nämlich im Leben Jesu, begründet gefunden wurden. Es ist wie bei Kain und Abel (1Mose 4,1-16): Kain opfert unblutig, Abel blutig. Die jüdische Überlieferung hatte Gott eindeutig für das blutige Opfer Partei ergreifen lassen. Doch gerade mit dieser Tradition hatte Jesus endgültig gebrochen, weil Gottes unbedingte Liebe ihn dazu bevollmächtigt hatte: ohne Vor- oder Gegenleistung, ohne stellvertretendes Leiden und Sühnopfertod, ganz aus sich selbst, eben aus Liebe (134f).


K.-P. Jörns (2007)

7. Jesu ganzes Leben als Offenbarung der Liebe Gottes

(1) Die Eucharistie-Feier der Didaché ist der Mahlpraxis Jesu von der Struktur her verwandt
 (2) Das Johannesevangelium stiftet die Fußwaschung als Sakrament der dienenden Liebe und als zentrale Gedächtnisfeier des Beispiels Jesu
 (3) Durch einen Nachtrag (6,51b-58) ist versucht worden, das JohEv der frühchristlichen Abendmahlsüberlieferung anzupassen

(1) Die Eucharistie-Feier der Didachéist der Mahlpraxis Jesu von der Struktur her verwandt: Keine frühe christliche Liturgie steht der lobpreisenden jüdischen Danksagung (am Vorabend des Sabbats oder eines Festtages) so nahe wie diejenige, die im 9. und 10. Kp der Didaché, der ‚Zwölfapostellehre‘, mitgeteilt wird. Sie hat in vielem die Vorgaben Jesu für eine christliche Liturgie aufgenommen. Sie weist die Leser auf den ‚Weg des Lebens‘ (Kp 1-4). Zum Weg des Lebens gehören Verhaltensweisen, die in vielem wie ein Referat dessen klingen, was von Jesus in den Evangelien erzählt wird. In den Kp 9 und 10 geht es um die ‚Eucharistie‘ (=Dank sagen). Dieser Text ist vom jüdischen Mahlbrauch geprägt, ein Beispiel für dessen christliche Überformung (Berakah = Lob und Dank sagen). Die Feier, die hinter den Texten in Kp 9 und 10 gestanden hat, schloss noch eine richtige Mahlzeit ein. Die ‚Eucharistie‘-Feier beginnt mit dem lobpreisenden Dank über Kelch (zuerst) und Brot und folgt damit dem Aufriss des Kiddusch-Ritus am Anfang des jüdischen Gastmahls. Kelch- und Brotsegen und die Bitte um die Sammlung der Kirche in das Reich Gottes nennen die Heilsgüter, für die gedankt bzw. um die gebeten wird. Das Kelchwort steht voran. Damit wird daran angeknüpft, dass beim jüdischen Gastmahl vor dem Brotbrechen und Brotsegen der erste Wein- und Festtagssegen (Kiddisch) gesprochen wird (86f).

Im Zentrum geht es um den ‚Weinstock Davids‘ und das Brot des Lebens. Der Kelchsegen spricht mit dem Begriff ‚Weinstock Davids‘ das dem David verheißene und nun den Christen durch Jesus, den Knecht Gottes, geschenkte messianische Heil an. Der john Jesus benutzt den Weinstock als Bild, um die Leben sichernde Abhängigkeit der Gläubigen von Jesus auszusprechen: „ Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der trägt viel Frucht. Denn ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,5). Ob jemand in Jesus bleibt, entscheidet sich daran, ob er seine neuen Gebote hält und in seiner Liebe bleibt (15,10). Ziel der Gemeinschaft mit Jesus ist, „ dass meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde“ (15,11). Weinstock und Wein sind Symbol für alle Lebens- und Heilsgaben. Mit der Erwähnung Davids greift der Kelchsegen die eschatologische Bitte des jüdischen Nachtischgebets gleich am Anfang der Eucharistie auf. Sie ist durch Jesus erfüllt worden. Die doppelte Verwendung des Begriffs ‚Knecht‘ parallelisiert David und Jesus (88f).

Der Brotsegen preist die Gabe des Lebens und der Erkenntnis, die Jesus offenbart hat (Jesus als „das Brot des Lebens“ 6,35.48). Mit Erkenntnis hat dieses Brot zu tun, weil der Bezeichnete, Jesus, in der john Theologie der Logos, das Wort Gottes ist.

Das Bild vom Werden des Brotes aus den einzelnen Getreidekörnern wird übertragen auf das Werden und Wachsen der Kirche „von den Enden der Erde in dein Reich“. Der Wein ist Wein und das Brot ist Brot. Beide weisen über sich hinaus auf Jesus, den Offenbarer, und das ihnen durch ihn eröffnete Leben. Die Gemeinschaft mit Jesus kommt nicht durch das Essen zustande, sondern ist lebendig durch die Beziehung im Geist. Beim Essen wird die Gemeinschaft mit dem im Geist präsenten Jesus über den Lebensgaben Brot und Wein lobpreisend bedankt (89).

Im jüdischen Gebet steht der Lobpreis des Schöpfers, Erbarmers und Ernährers voran. Ihm folgen der Dank für die Erwählung und die damit verbundenen Heilsgüter (Land, Bund, Tora, Leben und Nahrung) und die Bitte um Israels und Jerusalems Erneuerung und die Errichtung des messianischen Königreichs Davids. Der Dank in der Didaché steht eingefügt zwischen lobpreisenden Aussagen, die das besondere Gottesverhältnis der Christen rühmen: Gott hat seinen Namen in den Herzen der Christen wohnen lassen (V 2a), ihnen Erkenntnis, Glauben und Unsterblichkeit offenbart (V 2b) und über die leibliche Nahrung hinaus den Gläubigen ‚“geistliche Speise und Trank und ewiges Leben geschenkt durch Jesus“ (V 3b). Dieser Teil des Nachtischgebets gibt sich als eine Übernahme des jüdischen Erwählungsgedankens zu erkennen. Im Unterschied zu den Juden beziehen die Christen die Erwählung auf die Einwohnung Gottes in den Herzen der Gläubigen, auf Erkenntnis, Glaube, Unsterblichkeit (V2) bzw. auf (die) geistliche Speise und Trank und ewiges Leben (V 3b). Mit der Einwohnung des Namens Gottes in den Herzen der Christusgläubigen sind der Bundesgedanke, die Tora und das Stichwort Leben aus der jüdischen Vorlage aufgenommen (Jer 31,31-34) (Übereinstimmung der Themen in Didaché 10 und Jer 31) (91).

Zuerst wird im Nachtischgebet der Didaché Gott dafür Lob und Dank gesagt, dass er seinen heiligen Namen hat „wohnen lassen in unseren Herzen“. Jer 31: In der neuen, damals noch ausstehenden Heilszeit sollte Gottes Gesetz Israel ins Herz geschrieben werden. Dies würde die Basis eines neuen und nicht mehr (wie bei den Vätern) mit Blut begründeten Bundes zwischen Gott und seinem Volk sein (V 33). Vielmehr sollte es durch die ins Herz der Menschen geschriebene Tora zu einer neuen und alle erreichenden Gotteserkenntnis kommen (V 34). Dieses Stichwort ‚Erkenntnis‘ nimmt die Didaché auf und verbindet es mit dem Stichwort ‚Glauben‘. Von Jeremia wurde verheißen (V 34), Gott werde den Menschen in seinem Volk „ihre Schuld verzeihen und ihrer Sünden nicht mehr gedenken“. Diesen Gedanken übernimmt die Didaché, entwickelt ihn aber weiter auf ein Heilsgut hin, das sich nach jüdischer Vorstellung mit der Vergebung von Schuld und Sühne verbunden hat: die Unsterblichkeit (V 2) bzw. ewiges Leben (V 3). Denn die Sterblichkeit wurde (wie auch bei Paulus Röm 6,23) als „ der Sünde Sold“ verstanden, d.h. als Strafe Gottes für die ungehorsame Menschheit. Also konnte nur eine umfassende Sündenvergebung den Weg zur Unsterblichkeit wieder freimachen. Von der Sündenvergebung wusste die Gemeinde aus Jesu Verkündigung von Gottes unbedingter Liebe. So gehört für die Didaché die Unsterblichkeit zu den durch Jesus gebrachten Heilsgaben, die im Eucharistiegebet von der Gemeinde lobpreisend bedankt werden. Außerdem verlangt Didaché 14 von den Christen, dass sie vor der Eucharistie (die hier als ‚Brotbrechen‘ bezeichnet wird), ihre Übertretungen bekennen und nur dann an der Eucharistie teilnehmen dürfen, wenn sie sich vorher untereinander versöhnt haben, sofern sie Streit miteinander hatten (V 2). Sie schöpfen aus der Vergebung Gottes und geben sie sich – außerkultisch – weiter (92f).

Die Ankündigung des judenchristlichen Eucharistiegebetes an die Verheißung des neuen Bundes bei Jeremia bedeutet zugleich auch die schärfste Trennung von Israel: Den neuen Bund hat Gott nach der Auffassung der Judenchristen der Didaché nicht mehr mit Israel geschlossen, sondern mit der Kirche. Sie ist das neue Volk Gottes, alle Verheißungen gelten ihr. Entsprechend bittet das Fürbittengebet in Didaché 10,5 für die Kirche und ihre Sammlung ‚aus den vier Winden … in dein Reich‘ und nicht mehr (wie das Nachtischgebet der Juden) für Israel, Jerusalem, Tempel und Zion und die Wiedererrichtung des Königreichs Davids. Das Ziel der Hoffnung, das Kommen des Reiches Gottes und die Wiederkehr Jesu hat keine solche Lokalisierung mehr nötig (93).

Die Didaché präsentiert ‚unblutige‘ Eucharistietexte, die sich radikal von der von Paulus und den Synoptikern geläufigen Abendmahlsüberlieferung unterscheiden. Die Eucharistie der Didaché hat keinen Bezug zur Hinrichtung Jesu. Sie verbindet den Kelch nicht mit dem Blut und das Brot nicht mit dem Leib Christi, sondern hat einen eigenen Bezugsrahmen für das Mahl: Die Verheißung des neuen Bundes beim Propheten Jeremia, die sich in Jesu Leben erfüllt hat (nicht mehr durch Blutvergießen wie in der jüdischen Väterzeit). Die Didaché kann auch ohne Rekurs auf Jesu Sterben und Tod gewichtige Heilsgüter nennen, die ihm die Kirche als neues Gottesvolk verdankt. Sie bindet den Bundesschluss Gottes mit der Kirche nicht an den Tod Jesu, sondern an das, was er der Kirche ‚zu erkennen gegeben hat‘ ‚offenbar gemacht hat‘, seine Verkündigung in Wort und Leben. Mit ihm ist die Verheißung von einem wirklich neuen Bund Wirklichkeit geworden. Der Blick der Gemeinde geht voraus auf das Reich Gottes bei der Wiederkehr des Herrn, auf die Errettung vom Bösen und die Vollendung in (bzw. durch) Gottes Liebe (10,5). Das Stichwort Liebe signalisiert eine große Nähe zur john Theologie (vgl. 1Joh 4,16) (94f).

Die Gebete zur Eucharistie in der Didaché bleiben nah an der Mahlpraxis Jesu, weil sie dem jüdischen Formular folgen. Sie sind Gebete der Kirche und geben sich nicht als vom irdischen Jesus gestiftet aus. Trotz der Nähe zum Judentum ist eine unüberwindliche Trennung zum Judentum vollzogen. Denn nunmehr sind es das Kommen Jesu, seine Verkündigung in Wort und Tat und schließlich seine eschatologische Wiederkehr, die als Heilsgaben Gottes gefeiert werden. Mit ihnen ist der neue Bund Wirklichkeit geworden und durch Gottes Liebe wird er sich vollenden. 

Dass ‚der neue Bund‘ in den Didaché-Gebeten nicht als Stichwort erscheint, hängt damit zusammen, dass er auch in der Verkündigung Jesu nicht vorkommt. Die Theologie der Didaché hat sich offenbar davor gehütet, den Sprachgebrauch derer zu übernehmen, die eine auf das Bundesblut gegründete Bundestheologie mit dem Sterben Jesu und dem Abendmahl verbunden haben. Dass die Didaché den Begriff ‚eucharistia‘ für das Abendmahl gewählt hat, kann als programmatische Aussage zugunsten einer nicht aufs Blutvergießen gründenden Mahlfeier verstanden werden (95).

Kp 14 der Didaché: thysia - ‚Opfer‘: Für den Didachisten sind die eucharistischen Gebete das unblutige ‚Opfer‘ gewesen, das die Gemeinde Gott darbringt. ‚Opfer‘ meint summarisch die lobpreisenden Dankgebete. Als die Didaché entstand, war der Opferkult im Jerusalemer Tempel schon eine Generation lang beendet. Im griechisch-römischen Bereich gab es ein doppeltes Opfersystem: Vor dem Tempel, am Altar wurden Tiere geschlachtet, innerhalb des Tempels wurden, vor dem Ḱultbild der Gottheit, unblutige Gaben dargebracht: Speisegaben für die Götter. Im Laufe der Zeit ist man aber davon abgegangen, die Speisegaben als ‚Ernährung‘ der Gottheiten zu verstehen. Man hat in ihnen Gaben gesehen, die die Götter den Menschen geben. Die unblutige Opfer-Handlung wurde dadurch im Kern ihres Wesens zu einer lobpreisend-dankenden Gabendarbringung (95f).

Die Eucharistiefeier der Didaché erweist sich vor allem dadurch auf der Linie, die die Vorgaben Jesu gewiesen haben, dass sie die Vergebung als außerkultische Angelegenheit der Christen untereinander ansieht, d.h. die Teilnahme an der Eucharistiefeier der Didaché diente nicht der Vergebung der Sünden. Die Didaché ist einen eigenen Weg gegangen und nicht den, der von der sog. Abendmahlsparadosis, als jüdisches Erbe festgehalten worden war. Alles, was die Menschen nach damaliger Vorstellung zum Heil brauchten, hatten die Christen der Didaché aus der Offenbarung durch Jesus bekommen: die Vollmacht der Sündenvergebung, Einwohnung Gottes in ihren Herzen, die Erkenntnis des ‚Weges zum Leben‘, den Glauben, die Bewahrung vor dem Bösen und die Unsterblichkeit. Dafür dankt und lobt ihre Eucharistie Gott. Was noch unvollendet war, würde Gott in der Wiederkehr Jesu durch seine Liebe vollenden. Als es um den Kanon ging, war die Sühnopfertheologie des Paulus und anderer in der Kirche längst dominant geworden (96f).

 

(2) Das Johannesevangeliumstiftet die Fußwaschung als Sakramentder dienenden Liebe und als zentrale Gedächtnisfeier des Beispiels Jesu: Die Mahlfeier am Vorabend des Pessachfestes leitet die gegenüber den Synoptikern erheblich ausgeweiteten Passions- und Ostererzählungen als literarischen Zusammenhang ein (13,1 - 20,31). Zugleich ist das Mahl durch die Abschiedsreden (14 - 16) und das Abschiedsgebet (17) sehr weit von der eigentlichen Leidensgeschichte entfernt angeordnet, die in Kp 18 beginnt. Das Mahl steht deshalb bei Joh vor, nicht in der Leidensgeschichte. Es ist das Bindeglied zwischen den bisherigen Jesus-Erzählungen (Kp 1-12) und den Passions- und Ostererzählungen: „Vor dem Pessachfest aber, als Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen sei, aus dieser Welt zum Vater zu gehen, erwies er den Seinen in der Welt, wie er sie (bisher) geliebt hatte, seine Liebe bis zum Ende“ (13,1). Die Art, in der Jesus den Seinen seine Liebe jetzt erweist, ist die Fußwaschung, die er während des Mahls vollzieht (13,2-17).  Denn die Fußwaschung deutet das, was seine Jünger bisher von Jesus erlebt haben, als Erweis seiner dienenden Liebe. Er legt den Jüngern die Pflicht auf, einander denselben Dienst zu erweisen: „Ein Sklave ist nicht größer als sein Herr, noch ein Gesandter größer als der, der ihn gesandt hat“ (13,16). Ab V 13,1 geht es um Jesu Weg heraus aus dieser Welt zum Vater. Als Auferstandener sendet er seine Jünger in die Welt: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“ (20,21). Und wie der heilige Geist bisher vom Vatergott auf den Sohn Gottes, Jesus, übergegangen war (1,32-34), so geht er nun vom Auferstandenen auf die Jünger über (20,22): Der Auferstandene tauft die Jünger mit heiligem Geist (1,35) (98f).

Das Mahl findet noch in der Welt statt. Es hat keine sachliche Verbindung zum ‚letzten Mahl‘ bei den Synoptikern und bei Paulus. Ein Brot- und ein Kelchwort, die in der frühkirchlichen Abendmahlsüberlieferung das Zentrum darstellen, gibt es bei Johannes nicht. Das Mahl liefert nur die Szene, um die Fußwaschung vollziehen und deuten zu können. Es ist dazu da, um die Abendmahlspraxis im Gedächtnis der john Kirche mit der Fußwaschung zu ‚überschreiben‘. Die Fußwaschung wird ausdrücklich das Beispiel genannt (13,15), das Jesus den Seinen als Schlüssel zu seinem Leben und zu seinem Weg zum Vater gibt. Deshalb ist es das „neue Gebot“ Jesu für die Jünger. Er hat den Jüngern die dienende Liebe vorgelebt. Die dienende Liebe wird nun zu dem „neuen Gebot, in dem alle anderen (alten) Gebote aufgehoben sind: „Dass ihr einander lieben sollt, wie ich euch geliebt habe“ (13,34) (99f).

Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (13,35). Die Fußwaschung offenbart einen Paradigmenwechsel im Blick auf das Verhältnis Gottes zu den Menschen: In Jesus dient Gott den Menschen und erwartet, dass sie diesen Dienst einander weitergeben. Das ist der Sinn seiner und nun auch der Christen Sendung. Im Gesandten ist Gott gegenwärtig als der, der dienend Liebe übt (vgl. 13,20). Die dienende Liebe macht Menschen rein, außerhalb jedes kultischen Rituals. Denn ‚rein‘ heißt: würdig für Gott. Die Liebe Gottes setzt sich in der Liebe fort, die, die vom Auferstandenen gesandten Menschen einander erweisen. Das JohEv stimmt mit der Didaché darin überein, dass der Tod Jesu nicht als Opfer gedeutet wird und die Mahlfeier der Christen nicht den Sinn hat, seinen Tod als Bundesopfer zu vergegenwärtigen. Zu vergegenwärtigen ist das ganze Leben Jesu und die darin wirksame dienstbereite Liebe Gottes. Damit hat das JohEv auf seine Weise die Vorgaben Jesu aufgenommen (100).

 

(3) Durch einen Nachtrag (6,51b-58) ist versucht worden, das JohEv der frühchristlichen Abendmahlsüberlieferung anzupassen: Die Brotrede hat Jesus in einer Synagoge (!) gehalten und sich selbst, in Anspielung auf die vorausgegangene ‚Speisung der Fünftausend‘ (6,1-15) und das Mannawunder während der Wüstenwanderung Israels (2Mose 16,4.13-15), als das „ Brot des Lebens“ bezeichnet. Der Nachtrag stellt eine assoziative Verbindung zwischen Jesus als dem Brot des Lebens und dem frühkirchlichen Abendmahl her: „Das Brot aber, das ich geben werde, ist mein Fleisch...“. Plötzlich wird nicht mehr eigentlich vom Brot des Lebens geredet, sondern das Brot wird mit dem Leib, Fleisch, Jesu gleichgesetzt. Vor allem wird nun auch von seinem Blut geredet in ungeheurer Drastik: „Wenn ihr nicht das Fleisch des Sohnes des Menschen esst und sein Blut trinkt, habt ihr kein Leben in euch...Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich in ihm“ (6,53.56). Dass der Nachtrag grobschlächtig gemacht worden ist, kann man daran erkennen, dass hier (in einer Synagoge) unumwunden dazu aufgefordert wird, (Menschen-)Blut zu trinken. Die Vorstellung, Blut, Menschenblut zu trinken, war für einen Juden völlig abwegig, denn 3Mose 17,10-14 verbietet strikt jeglichen Blutgenuss als Greueltat vor Jahwe:Ein jeder, der es zu sich nimmt, soll ausgerottet werden“. Was der Nachtrag verheißt (ewiges Leben), haben bereits die vorangegangenen Verse 47 („Wer glaubt, hat ewiges Leben“) und 51a („Wenn jemand von diesem Brot ist, wird er in Ewigkeit leben“) zugesagt. Schon dadurch wird klar, dass ein solches Sakrament nach der Theologie des JohEvs gar nichts gebracht hätte, was für diese Gemeinde erstrebenswert gewesen wäre. Die Verbindung zu Jesus und zum ewigen Leben haben die Menschen durch den Glauben an das Wort, den Logos (102f).

Joh 1,29-34 spricht im Singular von ‚der Sünde der Welt und nicht von den Sünden der Menschen, wie es Sühnetheologie tut. Die Sünde der Welt ist ihre Gottferne und Geistferne. Die ist durch das Kommen Jesu in die Welt, durch die Inkarnation des Logos Gottes hinweggenommen worden, weil er nun in der Welt ist. Joh 3,16 spricht von Gottes Liebe und bezieht sich auf das Wunder der Menschwerdung des Logos: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe“. Im Griechischen steht nur „gab“ und nicht „dahingab“. Gemeint ist hier wie in 1,29 die Menschwerdung des Gottessohnes: ihn hat Gott der geliebten Welt gegeben, damit die Menschen durch den Glauben an Jesus ewiges Leben erlangen (3,15) – durch den Glauben an die Worte des Logos, des Wortes Gottes (104).

Eines anderen Brotes als des im Glauben und Hören angenommenen Lebensbrotes bedarf es nicht (108f).













C. Die theologische Problematik des Sühnetodes Jesu


 

1. Jesu Wirken war auf die Gegenwart gerichtet
 Anhang: Bei dem Gedanken stellvertretender Sühne handelt es sich um post eventa angestellte Reflexionen

2. Der historische Jesus hat seinen Tod nicht als Sühnegeschehen gedeutet
 Anhang a: Durch das Opfer (Jesu Christi) erlöst?
 Anhang b: Jes 53,7: Keine Stellvertretung im Erleiden der Strafe, sondern Verzicht auf Vergeltung
 3. 
"Beim Herrn ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle"(Ps 130,7)

 

1. Jesu Wirken war auf die Gegenwart gerichtet

  (1) Sein Wirken war nicht abhängig von seinem zukünftigen Tod

  1. Die frühe Urgemeinde hat die Inhalte ihrer Interpretation aus ihrem jüdischen Vorstellungsbereich genommen

  2. Bekommt der Weg Jesu seinen Sinn erst durch das Kreuz?

  3. Können frühere Antworten von uns einfach übernommen werden?

  4. Anhang: Bei dem Gedanken stellvertretender Sühne handelt es sich um post eventa

angestellte Reflexionen


 

W. Marxsen (1961/62): 

(1) Sein Wirken war nicht abhängig von seinem zukünftigen Tod: Das Kreuz als Heilsereignis wird bei den Synoptikern nur an zwei Stellen ausgesagt: im Lytronwort Mk 10,45 b und in dem Abendmahlswort Mk 14,24 par. Wenn die Zeugen das Wirken Jesu so verstanden hätten, dass es auf den Tod als Heilsereignis hin ausgerichtet war, dann hätte man in dem breiten Strom der Überlieferung mehr Spuren davon entdecken müssen. Dazu kommt, dass die beiden Stellen (Abendmahlswort, Lytronwort) von der Forschung heute weithin als nachösterliche Interpretationen verstanden werden. Dieser vereinzelte Gedanke steht im Widerspruch zu der übrigen Jesustradition (208).

Die Zeugen sehen Jesu Wirken anders. Wenn Jesus Dämonen austreibt, wenn er Kranke heilt, wenn er durch seinen Ruf Menschen in den Glauben hineinstellt, wenn er an seinem Tisch Zöllnern und Sündern die endzeitliche Mahlgemeinschaft gewährt, wenn er sagt, dass der kommende Menschensohn richten wird entsprechend dem jetzigen Verhalten der Menschen zu ihm, dann nimmt er damit die Zukunft vorweg. Er nimmt sie insofern vorweg, als sie jetzt schon, in seiner Gegenwart, bei der Begegnung mit ihm entschieden wird. Durch sein Tun und Reden, in seinem Wirken, stellt Jesus die Menschen seiner Umgebung unmittelbar vor Gott. Jetzt werden die Sünden vergeben, jetzt geschieht das Eschaton. Die Vollmacht ist von den Zeugen so unmittelbar erfahren worden, dass sie in ihm den eschatologischen Boten erfahren, der jetzt die Armen selig preist. Alles ist auf das Jetzt gestellt, auf die Gegenwart Jesu, nicht aber abhängig gemacht von seinem zukünftigen Tod, der dann erst das Heil Wirklichkeit werden ließe (208f).

So spielt das Kreuz als Heilsereignis in diesem ganz breiten Strom der Überlieferung überhaupt keine Rolle. Dass man dieses Geschehen später weiter verkündigt, hängt mit Ostern zusammen. Dieses: er lebt! sagt aus, dass die Urgemeinde, die Jesu Wirken als eschatologischen Kairos erfahren hat, dieses Wirken im Jesuskerygma weiter anbieten kann. Aus dem Einmal ist das Ein-für-allemal geworden, aber so, dass dieses Einmal erkennbar bleibt und (durch Ostern) nun ein-für-allemal verkündbar geworden ist. Hätte Jesus seinen Tod als Heilsereignis verstanden, würde sein auf die Gegenwart gerichtetes Wirken unverständlich. Die Zeugen haben Jesu Wirken nicht so verstanden, dass sein Tod heilsnotwendig sei. Die Zeugen haben Jesus als den erfahren, der durch sein Wort und sein Tun die Menschen mit Gott in Ordnung bringt, d.h. die Sünde wegnimmt (209).

W. Marxsen (1968): Hat Jesus auf seine Umgebung den Eindruck gemacht, dass er seinen Tod als Heilsereignis verstand und dass er dementsprechend sein Leben auf diesen Tod als Heilsereignis ausrichtete? Wer so auftritt wie Jesus, muss mit Zusammenstößen und dann auch mit äußersten Konsequenzen rechnen. Selbst wenn der Tod als die äußerste Konsequenz aus dem Wirken Jesu zu verstehen ist, dann ist damit noch nicht gesagt, dass das eine notwendige Konsequenz ist, die dem Wirken erst den eigentlichen Sinn gibt, dann ist damit dieser Tod noch nicht als Heilsereignis verstanden (163).

Die Leidensankündigungen sagen nicht Jesu Tod als Heilsereignis aus, sondern zeichnen Jesu Weg als Weg unter dem 'dei' Gottes, als einen gott-gewirkten Weg, den der Menschensohn geht. Hier liegt eine Aussage über die Spannung von Hoheit und Niedrigkeit vor, ähnlich wie beim 'Kreuzesweg der Nachfolger', den z.B. Paulus geht. Aber als Heilsereignis kommt das Kreuz hier nicht in den Blick. Auch die Passionsgeschichte lässt sich nicht so interpretieren, dass sie das Kreuz als Heilsereignis aussagt (163f).

Wenn Jesus Dämonen austreibt, wenn er Kranke heilt, wenn er durch seinen Ruf Menschen in den Glauben hineinstellt, wenn er an seinem Tisch Zöllnern und Sündern die endzeitliche Mahlgemeinschaft gewährt, wenn er sagt, dass der kommende Menschensohn richten wird entsprechend dem jetzigen Verhalten der Menschen zu ihm, dann nimmt er damit die Zukunft vorweg. Er nimmt sie insofern vorweg, als sie jetzt schon, in seiner Gegenwart, bei der Begegnung mit ihm entschieden wird. Durch sein Tun und Reden, in seinem Wirken, stellt Jesus die Menschen in seiner Umgebung unmittelbar vor Gott. Jetzt geschieht das Eschaton. Die Vollmacht Jesu ist von den Zeugen so unmittelbar erfahren worden, dass sie in ihm den eschatologischen Boten erfahren, der jetzt die Armen selig preist. Alles ist auf das Jetzt gestellt, auf die Gegenwart Jesu, ist aber nicht abhängig gemacht von seinem zukünftigen Tod, der dann erst das Heil Wirklichkeit werden ließe (164).

So spielt das Kreuz in diesem breiten Strom der Überlieferung keine Rolle. Dass man dieses Geschehen später weiter verkündigt, hängt mit Ostern zusammen. Dieses: “er lebt“! sagt aus, dass die Urgemeinde dieses Wirken im Jesus-Kerygma weiter anbieten kann. So kann der Historiker mit großer Sicherheit urteilen, dass Jesus seinen Tod nicht als Heilsereignis verstanden hat. Hätte er das getan, würde sein auf die Gegenwart gerichtetes Wirken unverständlich (165).

Die Interpretation des Kreuzes, so wie die Urgemeinde sie vornimmt, lässt sich nicht auf Jesu eigene Intention zurückführen. Die Zeugen haben Jesu Wirken nicht so verstanden, dass sein Tod heilsnotwendig sei. Die Zeugen haben Jesus als den erfahren, der durch sein Wort und sein Tun die Menschen vor Gott stellt, die Menschen mit Gott in Ordnung bringt, d.h. die Sünde wegnimmt. Das wird nun ausgedrückt mit Hilfe jüdischer Vorstellungen vom Sühnopfer und vom stellvertretenden Opfer. Die Vorstellung charakterisiert einen Tod als Opfer, um positiv auszusagen, dass durch dieses Opfer Versöhnung geschieht, dass dadurch Sünde weggenommen wird. Diese Vorstellung ist vorgegeben und bekannt (165).

Die Vorstellung wird auf das Kreuz übertragen. Damit wird von diesem einen Punkt im Leben Jesu und damit von Jesus dasselbe ausgesagt, was das Jesus-Kerygma der synoptischen Tradition von seinem gesamten Wirken aussagt. Der Opfergedanke ist hier nicht der entscheidende, denn er ist mit der Vorstellung gegeben. Das Vergleichsmoment, das die Übertragung der Vorstellung ermöglicht, ist das Moment der geschehenden Versöhnung (165).

Das urchristliche Kerygma, das den Tod Jesu als Heilsereignis aussagt, lässt sich historisch am Kreuz auf Golgatha nicht verifizieren, hat aber dennoch Anhalt an Jesus selbst, an seinem Wirken. Denn das Kerygma sagt das aus, was Jesus von Nazareth gebracht hat: Versöhnung mit Gott (166).

Das Christuskerygma sagt von einem Punkt des Lebens Jesu dasselbe aus, was das Jesus-Kerygma von seinem gesamten Wirken sagt. Das Christus-Kerygma sagt etwas vom Kreuz Jesu aus, was historisch nicht verifizierbar ist: die Heilsbedeutung seines Todes. Das Jesus-Kerygma sagt das nie von Jesu Tod aus (2 Ausn.). Das Christus-Kerygma ist am Jesus-Kerygma zu prüfen, weil nur das Jesus-Kerygma das Dass des Christus-Kerygmas legitimieren kann (167).

Durch das Sehen des Auferstandenen erfahren die Zeugen: Der Gekreuzigte lebt: Was Jesus gebracht hatte, wird (nun durch das Kerygma) weitergebracht. Im Jesus-Kerygma erscheint Ostern lediglich im Dass der Verkündbarkeit der Jesustradition. Ostern wird aber nicht expliziert. Im Kerygma treibt der Auferstandene seine Sache weiter. Nach Ostern entsteht das Christus-Kerygma. In diesem Kerygma wird (von Ostern her) das Jesus-Kerygma so aufgearbeitet, dass sein Inhalt zunächst am Kreuz, später vom Gekommensein, später in der Präexistenz ausgesagt wird (168).

Das Jesus-Kerygma gibt dem Christus-Kerygma seinen Inhalt. Hier soll die fortdauernde Gültigkeit dessen, was Jesus gebracht hat, unterstrichen werden. Die Qualifikation ist Ausdruck der Verkündbarkeit der Jesustradition, ist damit Explikation der Ostererfahrung. Der Inhalt des Jesus-Kerygmas wird (unter Aufnahme traditioneller Vorstellungen) gleichsam zu einem Summarium, das nun an einem Punkt des Lebens Jesu lokalisiert wird. Damit wird jetzt personal ausgesagt, was die Zeugen im Vollzug des Wirkens Jesu erfahren haben (168).

Das, was die Zeugen mit dem irdischen Jesus, mit seinem Reden und Tun erfahren haben, was dann durch Ostern als verkündbar erfahren worden ist, das wird (nach Ostern) vom Kreuz ausgesagt (in zeitgenössischen Vorstellungen). Es wird aber nicht ausgesagt, was am (historischen) Kreuz passiert ist. Ostern ist der eine wirkliche Feiertag. Weihnachten, Epiphanias, Karfreitag stehen nebeneinander als Versuche, das, was Jesus gebracht hat, an je verschiedenen Punkten auszusagen (169).

Die Prüfung des Kerygmas hilft, auf die Aussagerichtungen zu achten, die im Jesus-Kerygma und im Christus-Kerygma entgegenlaufen und die für die sachgemäße Verwendung der Kerygmen von entscheidender Bedeutung sind (170).

W. Marxsen (1976): Der schimpfliche Verbrechertod Jesu am römischen Galgen kam für seine Anhänger überraschend und führte sie in Verzweiflung und Resignation. Kurze Zeit später hat sich bei denselben Menschen eine totale Wandlung vollzogen (84).

Ganz früh begegnen Aussagen über das Kreuz, die dem Sinnlosen einen Sinn gaben, den man dem Geschehen auf Golgatha nicht ablesen konnte. Es geht um die Worte 'für uns'. Jesu Tod wurde ausgesagt als Sühnopfer (Röm 3,25) oder als stellvertretendes Opfer (2Kor 5,14). Mit Hilfe vorgegebener, in der damaligen Umwelt bekannter juridischer und kultischer Vorstellungen wurde der rätselhafte, schmachvolle Verbrechertod Jesu als Heilsereignis ausgesagt. Das Kreuz wurde jetzt gegen den Augenschein als Sieg verkündet (85).

Die Urgemeinde hat Jesu Kreuz interpretiert. Ohne jede Interpretation wäre das Kreuz als bloßes historisches Ereignis nichts-sagend. Können wir mit den Inhalten der Interpretation noch etwas anfangen? Was ist das für ein Gott, der eine so grausame Veranstaltung wie die Hinrichtung eines Unschuldigen (seines Sohnes) benötigt, um Versöhnung zwischen sich und den Menschen (seinen Geschöpfen) eintreten lassen zu können (86)?

 

(2) Die frühe Urgemeinde hat die Inhalte ihrer Interpretation aus ihrem jüdischen Vorstellungsbereich genommen. Man hat sich bemüht, Jesu eigenes Verständnis von seinem Tod als in Übereinstimmung mit der urgemeindlichen Interpretation des Kreuzes aufzuzeigen. Man weist in diesem Zusammenhang vor allem auf die Leidensankündigungen hin (Mk 8,31ff; 9,30ff; 10,32ff). Hier ist die Rede davon, dass der Menschensohn viel leiden muss, verworfen werden muss von den Ältesten, Hohenpriestern und Schriftgelehrten, getötet werden muss und nach drei Tagen auferstehen wird. Diese Leidensankündigungen wirken auf das Verständnis des ganzen Evangeliums ein. Man sieht Jesus in Auseinandersetzungen mit Gegnern, anfänglichen Verfolgungen und versteht nicht den letzten Abschnitt seines Weges als Passionsweg, sondern sein ganzes Leben wird als solcher bezeichnet. Der Christus-Hymnus (Phil 2,5ff) wird als Zusammenfassung des Weges Jesu verstanden: “Wenngleich ursprünglich in göttlicher Gestalt, entäußerte er sich selbst, nahm Knechtsgestalt an, wurde gehorsam, ja gehorsam bis zum Tode am Kreuz“. Ntl Forschung ist heute nahezu einhellig der Meinung, dass die Evangelisten das Leben Jesu in der Rückschau zeichnen, d.h. dass das Wissen um den Ausgang die Darstellung bestimmte (88).

Handelt es sich bei den Leidensankündigungen um vaticinia ex eventu, d.h. um Vorhersagen, die erst nach Eintritt des Ereignisses entstanden sind? Trifft das zu, dann wäre aus dem Wissen der Urgemeinde um den Weg Jesu im Nachhinein ein Vorauswissen Jesu um seinen Weg geworden. Im Text ist die Rede davon, dass der Menschensohn leiden 'muss'. Dieses 'muss' drückt aus, dass es sich um den Willen Gottes handelt. Es ist nicht davon die Rede, dass das Kreuz, das Jesus bevorsteht, ein Heilsereignis ist, das Jesus 'für uns' auf sich nimmt, sondern es ist von einem Weg die Rede, den man 'Heilsweg' nennen kann, wenn man ihn unter dem 'Muss' Gottes versteht (89).

 


 


 

(3) Bekommt der Weg Jesu seinen Sinn erst durch das Kreuz? An Jesu Kreuz war nicht abzulesen, dass es ein Heilsereignis war. In der Fülle der Traditionen vom Reden und Wirken Jesu spielt sein Tod nur äußerst selten eine Rolle. Da diese Traditionen erst nach Karfreitag zusammengestellt wurden, als man sich mit dem Tod Jesu auseinandersetzen musste, hat diese Feststellung ein erhebliches Gewicht. Da es sich ursprünglich um Einzeltraditionen handelt, erkennt man, dass es überhaupt problematisch ist, einen Weg Jesu nachzeichnen zu wollen. Die Einzeltraditionen haben sozusagen punktuellen Charakter. Jedes bildet in sich eine abgeschlossene Einheit. Jede Überlieferung für sich sagt das Ganze aus. Das Ganze wird in Variationen ausgesagt (91).

Der Rahmen, in den die Einzeltraditionen gefügt wurden, erweckt den Eindruck, dass es sich um einen Weg Jesu gehandelt hat. Der ist jedoch literarisch und historisch sekundär. Von dorther erweisen sich die Leidensankündigungen, die Jesu Weg thematisieren, als sekundär. Jesu Tod erscheint nicht als besonders herausgehobenes (Heils-)Ereignis, sondern als eine Station, der andere vorangehen (Mißhandlung, Schmähung, Übergabe an die Hohenpriester, Ältesten, Schriftgelehrten usw.), der eine weitere Station folgt (Auferstehung nach drei Tagen) (91f).

Im gesamten Überlieferungsmaterial gibt es nur zwei Traditionen, die eine Ausnahme bilden (Mk 10,45 und Mk 14,24), deren nachträgliches Entstehen leicht zu erklären ist. Daraus darf geschlossen werden: der engste Kreis um Jesus hat zu seinen Lebzeiten Jesu Wirken nicht so verstanden, dass Jesus seinen Tod wollte. Nirgendwo wird erkennbar, dass Jesus sein Wirken auf seinen Tod hin ausgerichtet hätte, dass sein Wirken erst mit seinem Tod wirklich zum Ziel käme. Seine Jünger haben ihn jedenfalls nicht so verstanden (92).

Da Worte über eine Heilsbedeutung des Todes Jesu aus der Zeit seines Lebens fehlen, war der eigene Tod für Jesus offenbar kein 'Thema', das ihm mitzuteilen wichtig war. So muss daher ausgeschlossen werden, dass (im Verständnis seiner engsten Umgebung) Jesus seinen Tod als Heilsereignis gewollt hat, ebenso, dass er ihn als notwendige Konsequenz seines Wirkens verstand.Jesus wurde erlebt als einer, der seinen Tod bewusst als mögliche Konsequenz seines Wirkens riskierte (92f).

Ein Martyrium war Jesu Tod nicht. Solche 'heldischen' Züge finden sich nicht in den Jesus-Traditionen. Jesus nahm in seinem Wirken ein Risiko bis zur letzten Konsequenz auf sich. Dass diese eintrat, machte ihn zum Märtyrer. Dadurch wird aber nicht sein Tod qualifiziert, sondern sein Wirken. Dieses Wirken hätte keine geringere Qualität gehabt, wenn es nicht zum Märtyrertod geführt hätte. Das Problematische an der Interpretation des Kreuzes als Heilsereignis bleibt die Isolierung des Heils auf eben dieses Ereignis. Wenn Gott auf Golgatha die Welt mit sich versöhnt hat, dann verliert das Wirken Jesu an Heilscharakter (93).


 

(4) Können frühere Antworten von uns einfach übernommen werden? Im Zentrum von Verkündigung und Wirken Jesu stand die Aussage der jetzt einbrechenden Gottesherrschaft (Mk 1,15). Im Umkreis Jesu erwartete man (in apokalyptischen Vorstellungen) die Ablösung des gegenwärtigen (bösen) Äons durch einen neuen Äon, den Gott als sein Reich heraufführen würde. Inzwischen bereitete man sich durch Gesetzeserfüllung darauf vor, im Gericht bei der Äonenwende bestehen zu können (94f).

Diese vorgegebene Vorstellung durchkreuzt Jesus insofern, als er sagt: Es ist keine Zeit mehr. Die Gottesherrschaft ist jetzt im Einbrechen. Weil die Gottesherrschaft jetzt einbricht, ist sofortige Umkehr die einzig mögliche Konsequenz. Glauben heißt sich einlassen auf die als Frohbotschaft angesagte Gottesherrschaft. Gottesherrschaft ist ein Geschehen, das sich dort ereignet, wo Gottes guter Wille geschieht. Sich darauf einlassen, heißt Gottes guten, aber nicht den eigenen Willen tun. Gottes Willen tun, heißt, Gott im eigenen Leben zum Sieg kommen lassen. Nicht den eigenen Willen tun, sondern zugunsten des Willens Gottes, den man an sich und durch sich geschehen lässt, auf den eigenen Willen verzichten.

Jesus geht es um das Angebot des mit der Gottesherrschaft einbrechenden Heils für alle Menschen. Die Armen werden selig gepriesen. Die Leidtragenden sollen getröstet und die Hungernden satt werden. Jesus setzt sich für die Verfolgten ein und geht den Verlorenen nach. Er wendet sich gegen die, die die Kleinen unterdrücken. Da die Herrschenden das gerade auch mit dem Gesetz und mit kultischen Vorschriften tun, übt er Kritik an Gesetz und Kultus. Er kann das Gesetz verschärfen (schon wer zürnt, nicht erst wer tötet, ist des Gerichts schuldig). Er kann es aber auch erleichtern und fast aufheben (Nächstenliebe geht vor Sabbatvorschriften) (95).

Man kann aus der Botschaft Jesu eine Lehre machen, aus der Lehre ein Programm. Dann kann man versuchen, dieses Programm weltweit durchzusetzen. Das ist nicht das für Jesus Spezifische. In den Traditionen ist viel von der Verkündigung die Rede. Daneben gibt es Traditionen, die Jesus als Wirkenden darstellen: Er setzt sich mit Sündern an einen Tisch; er bricht um des Wohles von Menschen willen den Sabbat; er teilt Speise aus; er dient zu Tisch; er treibt Dämonen aus usw... Alle Einzeltraditionen wollen das, was die frühen Zeugen von Jesus empfangen haben, weitersagen. Das können sie unter Aufnahme seiner Verkündigung; das können sie unter Aufnahme seines Tuns. Die Verkündigung interpretiert das Tun, das Tun interpretiert die Verkündigung (95f).

Wenn Jesus die einbrechende Gottesherrschaft ansagt, dann sagt er an, dass sie in seinem Tun einbricht. Wenn Jesus sich den Kleinen und Bedrängten zuwendet, wenn er Dämonen austreibt, dann verkündigt er: In diesem meinem Tun kommt die Gottesherrschaft zu euch. Man kann Jesu Botschaft nicht von seinem Tun lösen (und zu einer Lehre machen). Man versteht aber auch sein Tun, sein Eintreten für die Bedrückten, nur richtig, wenn man es zusammen mit seiner Botschaft versteht, nicht aber als bloßes Modell eines Verhaltens, das nachzuahmen wäre. Nicht um Humanität geht es Jesus, sondern um Einbruch der Gottesherrschaft in diese Welt. Wo man diesen Einbruch an sich und durch sich geschehen lässt, da kommt dann das heraus, was wir Humanität nennen. Wer die Gottesherrschaft kommen lässt (“Trachtet zuerst nach der Gottesherrschaft und nach ihrer Gerechtigkeit...“ Mt 5,33), für den ist alles andere nur Konsequenz (96f).

Gott will jetzt, in diesem Augenblick seine Herrschaft als Heil unter den Menschen verwirklichen. Das ist die Sache Jesu. Diese Sache ist aber nur da richtig verstanden, wo man verstanden hat, dass der Weg Gottes zu den Menschen über Menschen geht, die die Sache Jesu selbst leben. Für die Zeugen war klar: Die Gottesherrschaft kommt durch den Menschen Jesus zu uns; sie kommt nur durch ihn, darum ist auch nur an ihm abzulesen, wie die Gottesherrschaft kommt: so dass er sich für sie darauf eingelassen hat. Wenn man später erwartet, dass auch jetzt die Gottesherrschaft einbricht, heißt das für jeden, dem daran liegt, dass sie einbricht: Sie bricht nur ein, wenn er selbst sich darauf einlässt. Wem es um die Sache Jesu geht, der ist zuallererst selbst gefragt (97).

Jesus lässt sich dadurch ganz auf die Gottesherrschaft ein, dass er fragt, wie Gott dem anderen begegnen will. Gottes Vater-Willen als Heil verstehen und tun heißt, dem Nächsten Gottes Heil bringen. So kommt durch den Menschen Gottes Heil zum Nächsten. Aber es bleibt nur dann Gottes Heil, wenn der Mensch, der es bringt, ganz von sich selbst absieht. Jesus hat sich die Frage verboten: Verdient der andere, dass ich ihm Liebe bringe? Wie Gottes Heil bei mir einbrechen will, ohne dass ich Vorbedingungen zu erfüllen habe, so will es auch durch mich ohne Vorbedingungen, die der andere erst zu leisten hätte, zu ihm kommen. Weil Gottes Liebe zu den Menschen Liebe zu Sündern, also Feindesliebe ist, ist die spezifische Form der Liebe Jesu nicht einfach Nächstenliebe, sondern Feindesliebe. Wer sie übt, riskiert ausgenutzt zu werden, denn wer Feindesliebe übt, legt alle eigenen Waffen weg. Gottes Konkret-Werden der Herrschaft durch mich besiegt die eigene Bequemlichkeit, das Pochen auf (begründetes) eigenes Recht. Wie der andere ist, wer der andere ist und wie er sich verhält, ist für Gottes unbegrenzten Liebeswillen gleichgültig. Immer geht es um das Heil des anderen. Immer hängt sein Heil davon ab, ob ich mich auf die Gottesherrschaft einlasse (98).

Diese Selbstentäußerung kann man keinem Menschen zumuten, der nicht davon überzeugt ist, dass die einbrechende Gottesherrschaft gerade das in diesem konkreten Augenblick von ihm fordert, dass sie ihn zu solchem Tun mitreißt. Ohne Bezug zur Gottesherrschaft einfach als ethische Norm, muss solches Tun als dumm bezeichnet werden. Wer das tut, riskiert, dass die Gesellschaft ihn einen Trottel nennt. Die Familie hält ihn für verrückt, wie es Jesus geschehen ist. Nach der Diffamierung folgt die Isolierung. Dieser Mensch setzt sich über die Normen hinweg, die das Gemeinschaftsleben regeln, an die man sich halten muss, wenn das Miteinander klappen soll. Da behauptet Jesus, Gottes Willen zu tun und bricht den Sabbat. Der Mann lehrt nicht nur gefährlich, er tut auch, was er lehrt und stiftet andere (im Namen Gottes) dazu an. Den Mann muss man beseitigen. Was für die Gesellschaft zur Selbsterhaltung nötig war, hatte sie erreicht (99).

Jesus ist nicht den Niedrigkeitsweg gegangen mit dem Martyrium als Ziel. Er hat weder Leiden noch Tod gewollt. Durch jedes einzelne Reden und durch jedes einzelne Tun, durch sein ganzes Verhalten wollte er die Gottesherrschaft bringen. Er ließ sich auf die einbrechende Gottesherrschaft ein. Weil er das tat, war er nicht tragbar, denn mit Jesu Gott wollten die Sünder und wollte die Gesellschaft nichts zu tun haben (99).

Die Gottesherrschaft kann in dieser Welt nur der wirklich leben, der als äußerste Konsequenz den Tod riskiert. Und nur wo der Tod ernsthaft als Risiko einkalkuliert wird, kann die Gottesherrschaft bedingungslos gelebt werden. Die Jünger erkannten, dass Jesu Tod in Wahrheit keine Niederlage war, sondern dass hier die Hoheit der Gottesherrschaft bis zur letzten Konsequenz gelebt worden war. Er war 'für uns' da. Er hat uns mit Gott in Ordnung gebracht. Er tat das immer während seines Lebens. Gott-entfremdete Menschen hat er mit Gott versöhnt, indem er ihnen (ohne Vorbedingung) die Gottesherrschaft zulebte. Wie konsequent er das tat, zeigt sein Kreuz. Jesu Weg war kein Weg zum Kreuz, sondern es war ein Weg am Rande des Kreuzes, weil jedes einzelne Wirken das Risiko des Scheiterns in sich barg. Das Bekenntnis zum Auferstandenen drückt aus, dass der irdische Jesus in unbegrenzter Souveränität die Hoheit der Gottesherrschaft lebte. Die Konsequenz der Hoheit wird am 'Scheitern' deutlich (100).

P. Fiedler (1982)

(5) Anhang: Bei dem Gedanken stellvertretender Sühne handelt es sich um post eventa angestellte Reflexionen

Ist das Trinken des ‘Blutes’ für Juden zumutbar?Esset das Fleisch nicht mit seinem Blut, in dem sein Leben ist” (1Mose 9,4)! (3Mose 17,10-14; 5Mose 12,16.23-25;15,23; Wsh 12,5; Hes 39,17ff; Offb 17,6)

Das Meiden von Blut wurde selbst Heidenchristen auferlegt: Apg 15,20.29; 21,25.

Der Einwand mit dem jüdischen Horror vor Blutgenuß war so lange gültig, als es Judenchristen gab (200).

Bezugnahme auf Jes 53?: 1 Ptr 2, 21-25 ausgenommen, geht es nirgends um den Gedanken der stellvertretenden Sühne, folglich ist auch eine Rückführung dieser Interpretation auf Jesus ausgeschlossen. Der Gedanke der stellvertretenden Sühne und der Rückgriff auf die Gottesknechtslieder haben erst relativ spät Einfluss auf ntl Texte bekommen (201).

Die Vorstellung des stellvertretenden Sühnetodes (nur auf Israel bezogen) findet sich erst im hellenistischen Judentum in der Mitte des 1. Jh.s n. Chr. Von den theologischen Differenzen zwischen den beiden ‘Judentümern’, den ‘Hebräern’ und den ‘Hellenisten’, zeugt die Umdeutung von Jes 53 in der aramäischen Paraphrase, während die aus dem hellenistischen Judentum stammende LXX (Septuaginta) den Gedanken der stellvertretenden Sühne weitergegeben hat. Solche Differenzen sind auch noch in der Urkirche wirksam (Apg 6,1) (203).

Wir können davon ausgehen, dass die Sühnevorstellung z.Zt. Jesu und der Urkirche erst und nur im hellenistischen Judentum vorhanden war, wo sie zur Sinndeutung Jesu Kreuzestodes herangezogen werden konnte; dagegen war sie im aramäisch-sprechenden Judentum, d.h. im theologischen Umfeld des irdischen Jesus und seiner Jünger, nicht präsent (204).

Bei der Behauptung, Jesus habe sein Sterben als heilsnotwendig erachtet, läge es nahe, dass er sich den (jüdischen und römischen) Behörden gestellt hätte. Statt dessen wurde er von einem seiner engsten Vertrauten verraten. Es drängt sich die Vermutung auf, dass sich Jesus am Ölberg aufhielt, um sich verborgen zu halten. Die zum Paschafest angereisten Pilgerscharen kamen nicht alle innerhalb der Stadtmauern unter, so dass man auch den Westhang des Ölbergs zum Stadtgebiet erklärt hatte. Hier war es relativ leicht, unterzutauchen (204).

Jesu Basileia-Botschaft lässt sich mit der Erwartung eines heilsmittlerischen Todes nicht vereinbaren. Jesus hat vielmehr bis zuletzt an der von ihm verkündigten Heilsbotschaft festgehalten. Die Interpretamente in den Abendmahlsüberlieferungen -”(Neuer) Bund”, stellvertretende Sühne - setzen die Ostererfahrung voraus (205).

Die Erwartung, das Heil werde ‘durch Jesu Tod’ (als Mittel) geschenkt werden, hätte einen massiven Rückschritt hinter das der Hebräischen Bibel vertraute Wissen um das souveräne heilschaffende Handeln Gottes bedeutet, dessen Vergebung auf keinen Tod, auch nicht auf den des ‘Re-Präsentanten’ seiner Basileia, angewiesen ist. Solange der Gott Jesu kein anderer ist als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, hat man für das Verständnis, das Jesus (und seine Jünger) dem ihm drohenden Tod entgegenbringen konnte(n), die Tatsache zu würdigen, dass diesem Gott die (Selbst-) Preisgabe menschlichen Lebens in den Tod unzumutbar ist. Hier heiligt kein noch so edler Zweck das Mittel. (In der sog. ‘Opferung Isaaks’ hat Gott den Tod des Kindes gerade verhindert).

Die Tatsache, dass das NT soteriologische Entwürfe bewahrt, die nicht auf Jesu Heilstod abheben, unterstreicht die über den Karfreitag hinaus bestehenden Vorbehalte gegen ein heilsmittlerisches Todesverständnis. Den Grund für derartige Vorbehalte bietet letztlich das biblische Gottesbild (211).

Der Lösungsvorschlag, der die Differenz zwischen Jesu Basileia-Botschaft und jeder Deutung seines Todes als Heilsereignis ernst nimmt, geht allein von Mk 14,25 aus. Nur so kann die Verschiedenheit soteriologischer Konzeptionen im NT als legitim angesehen werden, darunter eben auch solche, die Jesu Tod keine Heilsbedeutung zusprechen, wie Phil 2,6-11, die Logienquelle oder Lk/Apg (213).

Als historischen Kern bewahrt Mk 14,25 Jesu persönliche feste Zuversicht, an der kommenden Gottesherrschaft teilzunehmen, wie immer sein weiterer Lebensweg verlaufen werde - und sei es in die Dunkelheit des Todes hinein. So hat Jesus an Gott festgehalten (214f).

Bei dem Gedanken stellvertretender Sühne handelt es sich um post eventa angestellte Reflexionen, in denen es darum ging, für Ereignisse eine Sinngebung von Gott her zu finden, die gerade gläubigen Israeliten zu schaffen machen mußten. In eben dieser Situation standen die Jünger Jesu, die nach Ostern seine Passion verkündeten. Die Erfahrung des Auferweckten, der somit trotz seines schrecklichen Todes von Gott endgültig bestätigt worden war, gab ihnen die Möglichkeit und das Recht, nach Gottes Absichten gerade mit diesem Tod zu fragen. So bildete man einerseits Bekenntnisformeln zum Tode Jesu “für uns (ere Sünden)”, andererseits ließ man Jesus selbst den Heilssinn seines Sterbens (in unterschiedlichen Ausformungen) aussprechen; dafür bot das letzte Beisammensein mit seinen Jüngern den besten Anlass (Fi 215)



2. Der historische Jesus hat seinen Tod nicht als Sühnegeschehen gedeutet

(1) Mk 10,45 par – das Lösegeldwort
 (2) Mk 14,24 par - das Kelchwort beim Abendmahl  
 (3) Wie kam es zur nachösterlichen Deutung des Todes Jesu als Sühnegeschehen?
 Anhang a: Durch das Opfer (Jesu Christi) erlöst?
 Anhang b: Jes 53,7: Keine Stellvertretung im Erleiden der Strafe, sondern Verzicht auf Vergeltung

 

W. Zager (1999)

 (1) Mk 10,45 par – das Lösegeldwort: Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, bedient zu werden, sondern zu dienen" b: "und sein Leben als Lösegeld für viele zu geben“.

In Lk 22,24-27 findet sich eine parallele Überlieferung: „Es entstand aber unter ihnen ein Streit darüber, wer von ihnen als der Größte zu gelten habe. Er aber sprach zu ihnen: Die Könige der Völker herrschen über sie, und ihre Machthaber lassen sich Wohltäter nennen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Größte unter euch soll wie der Jüngste werden, und der Führende wie der Dienende. Denn wer ist größer: der zu Tische liegt oder der dient? Ist es nicht der, der zu Tische liegt? Ich aber bin mitten unter euch wie der Dienende.

Hier wurden von beiden Evangelisten verschiedene, voneinander abhängige Ausprägungen ein und derselben Grundtradition benutzt. Lk 22,27c hat mit dem Fehlen der Sühneaussage das Ursprüngliche bewahrt. „Und sein Leben als Lösegeld für viele zu geben“ in Mk 10,45b ist eine spätere ErweiterungDagegen gehört die Rede vom Dienen Jesu zur Markus und Lukas gemeinsamen Grundtradition (37f).

Innerhalb der synoptischen Tradition werden die drei Gruppen von Menschensohnworten (vom kommenden, vom gegenwärtig handelnden und vom leidenden Menschensohn) klar voneinander unterschieden. Daran ist zu erkennen, dass eine Kombination vom Lebensdienst des Menschensohnes einerseits und von seiner Lebenshingabe als Lösegeld andererseits sekundär sein muss (38).

Die Urfassung von Mk 10,45a besaß das ‚Ich’ Jesu als Subjekt und nicht den ‚Menschensohn’: „Ich bin nicht gekommen, bedient zu werden, sondern um zu dienen (39).

Kann die von dem Spruch Mk 10,45a unabhängige Sühneaussage in Mk 10,45b auf den historischen Jesus zurückgeführt werden? Anders als im palästinisch-jüdischen Kultur- und Religionsbereich, dem die geschichtliche Person Jesu zuzurechnen ist, findet sich zur Deutung des Todes Jesu als Sühnegeschehen eine unmittelbare Parallele allein in der hellenistisch-jüdischen Tradition vom stellvertretenden Sühnetod: Die jüdischen Märtyrer geben ihr Leben hin als ‚Lösegeld’ für die Sünden ihres eigenen Volkes (4 Makk 6,29; 17,21).

Mk 10,45b repräsentiert ein jüngeres Überlieferungsstadium der frühchristlichen Dahingabeaussagen, was daran zu erkennen ist, dass nicht Gott als handelndes Subjekt der Dahingabe genannt, sondern Jesus als solches vorausgesetzt wird (41).

 

(2) Mk 14,24 par - das Kelchwort beim Abendmahl.Anfangs lag nach 1 Kor 11,25 zwischen den beiden Deuteworten die Sättigungsmahlzeit, die dann in einem späteren Stadium in Mk 14,23 wegfiel. Durch das Aneinanderrücken von Brotwort und Kelchwort fand eine sprachliche und inhaltliche Angleichung statt (41f).

Das Nebeneinander von dem als Deutewort gestalteten Kelchwort Mk 14,24 und dem Verheißungswort Mk 14,25, das ja ein weiteres Kelchwort ist, weil Jesus hier ansagt, dass er seinen nächsten Wein im Reich Gottes trinken werde, kann kaum ursprünglich sein. Das Logion Mk 14,25 schließt sich nahtlos an Mk 14,23 an. Das legt den Schluss nahe, dass ursprünglich Mk 14,25 das einzige Kelchwort war. Damit verbietet sich auch das Verständnis des letzten Mahles Jesu als einer kultstiftenden Symbolhandlung. Das Deutewort über dem Kelch lässt sich am besten als Analogiebildung zum Brotwort begreifen. Mk 14,25 kann man begründet auf den historischen Jesus zurückführen. Dieses Wort steht nämlich im Einklang mit seiner Proklamation der angebrochenen und sich in einem endzeitlichen Prozess durchsetzenden Gottesherrschaft, deren Vollendung als Reich Gottes sich in naher Zukunft ereignen wird. Jesus verstand seinen erwarteten Tod nicht als Infragestellung seiner Botschaft und Hoffnung (42f).

Hätte der historische Jesus seinem Tod eine universale Heilsbedeutung beigemessen und beim letzten Mahl davon klar gesprochen, wäre es nie zu den Auseinandersetzungen im frühen Christentum um die Heidenmission gekommen, weil deren Rechtmäßigkeit damit offenkundig gewesen wäre (43).

Innerhalb der authentischen Jesusüberlieferung wird Gottes Vergeben nie an Jesu Lebenshingabe als Voraussetzung gebunden (44).

Der historische Jesus eröffnet in seinen Mahlgemeinschaften und in seiner Verkündigung den direkten Zugang zu Gottes Verzeihen und Barmherzigkeit, dem der Mensch in seinem Verhalten zum Mitmenschen entsprechen soll. Von diesem Grundgedanken seiner Reich-Gottes-Botschaft war Jesus offenbar auch in seinem Tod durchdrungen, wenn er in Mk 14,25 die Hoffnung auf die sich in Bälde durchsetzende Gottesherrschaft durchhielt und von sich lediglich als Teilnehmer am endzeitlichen Heilsmahl sprach. Der historische Jesus hat seinen Tod nicht als Sühnegeschehen begriffen (45).

 

(3) Wie kam es zur nachösterlichen Deutung des Todes Jesuals Sühnegeschehen?

 Jes 53,4-6.12: „Führwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. (5) Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. (6) Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn. (12) Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben, und er soll die Starken zum Raube haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet worden ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten“.

- Eine aus Jes 53 entwickelte Deutung? 
 
Von den sieben Zitaten aus Jes 53 im NT (Mt 8,17; Lk 22,37; Joh 12,38; Apg 8,32f; Röm 10,16 ; 15,21; 1Ptr 2,22-25), greift nur das eine in 1 Ptr 2,24 („durch seine Wunden seid ihr geheilt worden“) den Gedanken vom stellvertretenden Leiden des Gottesknechtes auf, um damit Jesu Tod als Sühnegeschehen zu interpretieren. Dabei handelt es sich um einen späten Beleg. Röm 4,25 enthält eine Anspielung auf Jes 53,12, wobei die hier vorliegende Verbindung von Sterbens- und Auferweckungsaussage samt der soteriologischen Deutung von Jesu Auferweckung auf eine entwickeltere Traditionsstufe hinweist (47).

Die jüdische Exegese interpretiert zwar Jes 53 durchaus messianisch, aber sie nahm dabei nur die Hoheitsaussagen von Jes 53 auf. Umgekehrt fehlt in den zeitgenössischen jüdisch-hellenistischen Texten jeder Bezug zu Jes 53 (48).

- Ein Interpretament aus dem Kontext hellenistisch-jüdischen Martyriumsverständnisses?
 Die Berichte über die Martyrien des Eleazar sowie der sieben Brüder und ihrer Mutter enthalten für das Verständnis des Todes Jesu als Sühnegeschehen folgende Anknüpfungspunkte: die Wendung vom ‚Sterben für’, die Rede von der Hingabe des eigenen Lebens und die Deutung des gewaltsamen Todes als ‚eine Art Ersatzleistung’ für das aufgrund der Sünde verwirkte Leben des Volkes (50f).

In 4 Makk tritt der Gedanke stellvertretenden Strafleidens durch die Benutzung von Opferterminologie deutlich hervor. Das zeigt sich in Eleazars Fürbitte 4Makk 6,28f: „Sei gnädig deinem Volk. Lass dir an unserer Bestrafung genügen, die wir für sie auf uns nehmen. Zu einem Reinigungsopfer für sie mache mein Blut und nimm mein Leben als Ersatz für ihr Leben“ (Anm. 59).

Die frühchristliche Rede vom Sühnetod Jesu verdankt sich dem Bedürfnis seiner Anhänger, Jesu Kreuzestod einen positiven Sinn abzugewinnen und nicht lediglich als durch die Auferweckung überwundene Schmach oder als heilsgeschichtliche Notwendigkeit zu betrachten. Laut Dtn 21,22f galt der am Holz Aufgehängte als von Gott Verfluchter. Der Gedanke des stellvertretenden Sühnetodes bot die Möglichkeit, das Skandalon zu überwinden und in einem höheren Sinne aufzuheben: Christus hat für uns den uns als Sündern drohenden Fluchtod auf sich genommen, um uns von diesem zu befreien. Dies können wir Gal 3,13 entnehmen (52).

Erstmals haben wahrscheinlich die griechisch sprechenden Judenchristen um Stephanus Jesu Tod als Sühnegeschehen interpretiert. Aufgrund ihrer kulturellen und religiösen Herkunft dürfte ihnen das Martyriumsverständnis vertraut gewesen sein, wie es seinen literarischen Niederschlag in 4Makk gefunden hat (53).

Theologische Konsequenzen aus dem exegetischen Befund
Der historische Jesus hat seinem ihm bevorstehenden Tod keine Sühnefunktion beigemessen. Vielmehr hat er sehr wahrscheinlich noch beim letzten Mahl mit den Jüngern seine Hoffnung auf die völlige Durchsetzung der Gottesherrschaft bekräftigt. Diese steht nach Jesu Botschaft allen offen, die sich Gottes Barmherzigkeit öffnen und der erfahrenen Vergebung in ihrem Verhalten entsprechen, ohne dass die menschliche Schuld zuvor gesühnt werden müsste (54).

Der historische Jesus als Prüfstein christlicher Verkündigung. Angesichts der großen Vielfalt christologischer und soteriologischer Konzeptionen im NT, geht es nicht an, von dem christlichen Kerygma – verstanden als das Kerygma von Sühnetod und Auferstehung Jesu Christi – schlechthin zu sprechen und dieses mit dem Wort Gottes gleichzusetzen, das nicht hinterfragt werden darf. Begreift man die sog ‚Erscheinungen des Auferstandenen‘ als subjektive Visionen, dann ist der ‚Auferstandene‘ stets ‚der interpretierte Jesus‘. Da die Interpretation des Todes Jesu als Sühnegeschehen sich nicht auf den historischen Jesus zurückführen lässt, ja in Spannung wenn nicht gar in Widerspruch zu dem von Jesus verkündigten und den Menschen zugewandten Verzeihen Gottes steht, das ohne weiteres aus dessen Barmherzigkeit kommt, kann der Gedanke vom Sühnetod Jesu nicht als theologisch unaufgebbar gelten (54f).

Albert Schweitzer zufolge verlangt Jesus nicht, dass wir glauben, dass wir Sündenvergebung nur haben auf Grund seines Todes, denn er selbst hat nichts Derartiges gelehrt. Er verlangt von seinen Jüngern nur das eine: Du aber folge mir nach, dass sein Geist in unseren Herzen herrsche. Albert Schweitzer konnte sich von dem Sühnetodgedanken verabschieden (54f).

Albert Schweitzer empfahl seinen Studenten, nicht die Erlösung durch Jesu Sühnetod zu predigen, sondern den ‚mystischen‘ Erlösungsgedanken des Mit-Christus-Sterbens und Mit-ihm-im-Geiste-Lebens. Erlösung geschieht nicht dadurch, dass Jesus für uns gestorben ist, sondern dass wir mit ihm ‚gestorben‘ sind und in seinem Geiste leben (60).

Das Kreuz dessen, der in radikaler Hingabe an Gottes Liebeswillen nicht sich selber, sondern in letzter Konsequenz für andere gelebt hat, ruft uns in die Nachfolge, die unter der Verheißung steht: „Wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird‘s erhalten“ (Mk 8,35 par). Denn wer sein Leben in Hingabe an andere verschenkt und ihnen daran teilgibt, der wird zum wahren Leben durchdringen (61).

 

Anhang a: Durch das Opfer (Jesu Christi) erlöst?

 J. Nordhofen (2008)

Das Evangelium erzählt, wie Jesus das nahe Reich Gottes verkündete und den barmherzigen, allen Menschen zugewandten Gott offenbarte. Jesus stellte Gott als den vor, den jeder vertrauensvoll Vater nennen kann. Durch seine Hingabe für die anderen und durch seinen Selbsteinsatz machte Jesus den Menschen Gott zugänglich.Er bezeugte auf diese Weise einen Gott, der den Menschen um seiner selbst willen bejaht, ihn bedingungslos annimmt und liebt. Es ist eine frohe Botschaft, weil der Mensch zu diesem Gott eine enge und vertrauensvolle Beziehung haben kann. Sich diesem liebenden Gott anvertrauen zu dürfen, ist für den Menschen erlösend. Das Leiden und der Tod Jesu machen deutlich, dass Jesus an seinem Weg, diesen Gott darzustellen, um den Preis seines Lebens festhielt. Auch als man ihn aus dem Weg schaffen wollte, gab er seine Existenz für die anderen nicht auf. Erlösend sind Leiden und Tod Jesu insoweit, als sie die Konsequenz von Jesu Leben sind und die Unbedingtheit von Gottes Angebot vor Augen führen. Die Zusagen Jesu sind auch dann gültig, wenn sich der Mensch gegen Gott oder andere Menschen wendet, wenn er sich gegen die Güte Gottes entscheidet und Gottes Zuwendung ablehnt. Die vorbedingungslose Zusage der Zuwendung Gottes kann den Menschen erst dann erreichen, wenn er sich auftut, seine Ablehnung beendet und die Zusage an sich heranlässt. Jesu Dasein endet nicht mit dem Tod am Kreuz, vielmehr wird es durch die Auferweckung und Bergung in Gottes ewiges Leben hinein in Geltung gesetzt und zu beständiger Gegenwart gebracht. Bei der Deutung der Passion und des Todes Jesu muss immer der Bezug auf seine Pro-Existenz und Hingabe für andere einerseits und seine belebende Gegenwart andererseits mitbedacht werden (257).

Jesus predigte vom Reich Gottes und erzählte von Gott, der die Menschen annimmt. Er lebte konsequent bis zu seinem Tod die Hingabe für andere. Er stellte den barmherzigen Gott vor, der dem Menschen aus Gnade und ohne Vorleistung nahe ist. Nur dann, wenn das, was Jesu Leben und Predigt inhaltlich bestimmt, nämlich die allen geltende und sich gebende Liebe Gottes, in die Opfer-Schemata eingebracht wird, nur dann können diese christlich verwendet werden. Dann bezieht sich die Rede vom Opfer nicht allein auf Passion und Tod Jesu, sondern auf die ganze Existenz Jesu (258).

Die Rede vom Opfer darf nicht meinen, dass Jesus stirbt, um einen verärgerten Gott zu beruhigen, sondern dass er die sich gebende Liebe Gottes verkündet und lebt. Sie darf sich auch nicht auf Leiden und Passion beschränken, sondern muss sich auf die ganze Geschichte beziehen. Nur wenn der Verweis auf ein Opfer die Hingabe Jesu für die anderen mit einbezieht, kann dieser Ausdruck mit der Erlösung zusammen im christlichen Sinn zusammengebracht werden. Das Wort Opfer behält seine Vieldeutigkeit und ist der Gefahr des Missverständnisses ausgesetzt. Jesu Selbsteinsatz für andere in seinem ganzen Leben, in seiner Lehre, seinem Wirken, seinem Leiden und Sterben erlöst den Menschen, weil Jesus den Zugang zu einem Gott auftut, der die unbedingt für alle Menschen entschiedene Agape ist (264).

Vom ‚Opfer Jesu Christi‘ sprechen die Evangelien nie. Das Wort vom Lösegeld Mk 10,45 bezeichnet ein Leben im Dienst am Nächsten. Die Abendmahlsworte sind ein Verweis auf den Sinai-Bund, der in Beziehung mit dem bevortstehenden Tod Jesu gedeutet wird, nicht aber in den Vorstellungen kultischer Opfer wurzelt (268).

 

Anhang b: Jes 53,7: Keine Stellvertretung im Erleiden der Strafe, sondern Verzicht auf Vergeltung

 A. Schenker

Er wurde bedrängt und er ist gedemütigt worden, seinen Mund hat er nicht aufgetan wie ein Lamm, das zur Schlachtbank gebracht wird und wie ein Schaf vor seinem Scherer verstummt. Seinen Mund hat er nicht aufgetan“.

V 7: Zweimal hebt der Prophet das Schweigen des Knechtes Gottes hervor. Dieser hat seinen Mund nicht aufgetan, obwohl ihm schweres Unrecht zugefügt wurde. Auf dieses Schweigen kommt alles an. Er hat weder Klage erhoben noch Flüche ausgestoßen. Beides wäre die erwartete Antwort gewesen. Man muss das Recht gegen Verbrecher in Anspruch nehmen, um sich gegen Unrecht zu wehren. Dadurch bleibt das Recht lebendig und mächtig (21f).

Der Fluch ist der letzte Rekurs, den man bei einem göttlichen Richter einlegt. Wo der Zugang zu menschlicher Justiz verschlossen ist, wendet man sich an die höchste Instanz, die unbestechlich über die Gerechtigkeit wacht, an Gott selbst. Dies tut man, indem man flucht, wodurch man Gott bittet, auffordert, um der Gerechtigkeit willen einzuschreiten: „Schaffe mir Recht, Gott, führe Du meine Sache gegen ein zynisches Volk“ (Ps 43,1).

Das tut der Gottesknecht in Jes 53 nicht. Er müsste doch um der Gerechtigkeit und um des Rechtes willen an Gott appellieren! Dass er schweigt, ist völlig unerwartet. Warum bleiben Anklage und Fluch aus? Offenbar will der Gottesknecht weder klagen noch fluchen. Er erhebt keinen Anspruch auf Gerechtigkeit für sich, weil diese zu Lasten des Schuldigen ginge! Er verzichtet auf sein Recht, um seinen Gegnern, die ihm Unrecht tun, die strafenden Folgen ihres Tuns zu ersparen. 

Auf diese Weise bringt das Schweigen eine Dynamik in Gang, die den normalen Ablauf von Unrecht, Anklage, Ahndung, Strafe zum Stillstand bringt und eine andere Bewegung auslöst. In dieser folgt auf Unrecht der Verzicht auf Anklage bei Menschen und auf Fluch bei Gott, damit die Übeltäter zu ihrem Erstaunen entdecken, dass ihr Opfer lieber Unrecht einsteckt als die Genugtuung haben will, sie dafür bestraft zu sehen. Das Opfer des Unrechts legt keinen Wert auf solche Genugtuung. Es liegt ihm nichts daran, seine Peiniger ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Es will sein Recht nicht auf Kosten ihrer Bestrafung beanspruchen (22).

Der Knecht Gottes trägt die Leiden der anderen dadurch, dass er das ihm zugefügte Unrecht trägt, ohne sich gegen die für dieses Unrecht Verantwortlichen zur Wehr zu setzen. So wird keine Strafe auf sie zurückfallen. Niemand zieht sie zur Verantwortung. Der, der es tun könnte und vielleicht sogar müsste, zieht es vor, ihnen das Leid der Strafe zu ersparen. Warum will er das? Offenbar, um sie zu gewinnen! Er will sie mit sich versöhnen, sie zu seinen Freunden machen, statt sie zu Feinden zu haben. Verzicht auf das eigene Recht ist so viel wie Verzicht auf die Bestrafung der Urheber des Unrechts, Straferlass für sie, damit der Straferlass kundgibt, wie sehr der Gottesknecht Aussöhnung statt Feindschaft wünscht (23).

Keine Stellvertretung im Erleiden der Strafe, sondern Verzicht auf Vergeltung. Ein solcher Verzicht auf Bestrafung ist selten. Der Grund für eine solche unerhörte Antwort auf zugefügtes Unrecht ist der Wille, Strafe zu vermeiden, um durch das Signal des Straferlasses die Täter des Unrechts zu gewinnen statt sie zu verderben. Versöhnung statt Bestrafung! Versöhnung gilt mehr als Durchsetzung von Gerechtigkeit. Es verlangt den unrecht Behandelten nicht nach Genugtuung, die Urheber dieses ihm zugefügten Unrechts vor Gericht zu besiegen und durch den Richter zu vernichten. Stattdessen versucht er in Großmut, sie zu seinen Freunden zu machen (23f).

Die Wahl der Versöhnung an Stelle von Vergeltung für eindeutiges Unrecht ist ein Wagnis, weil sie als Schwäche des Opfers des Unrechts missdeutet werden kann, während es in Wirklichkeit höchste Stärke zeigt, in voller Freiheit und Macht auf Gerechtigkeit zu verzichten, um seinen Feinden das Leiden der Strafe abzunehmen.

Die Selbstzurücknahme bis in die legitimen Ansprüche auf Gerechtigkeit und Recht, die es gibt, ist die Grundlage des Verzichts auf Gewalt. Der Gottesknecht gibt sein Recht auf, das auf Gerechtigkeit aufbaut. Wiederherstellung beschädigten Rechtes entspricht dem Gerechtigkeitsempfinden. Dennoch bedeutet dem Knecht Gottes dieses Recht nicht das Höchste. Im Interesse der Gewinnung seiner Feinde zu Freunden nimmt er seinen legitimen Anspruch zurück.

Im Gleichnis von den bösen Winzern Mk 12,1-9par erfährt dieser Gewaltverzicht eine erzählerische Ausgestaltung. Der Sohn kommt an Stelle der Polizei zu den Pächtern, nicht um sie zu bestrafen, sondern um mit ihnen eine gütliche Lösung des Konflikts auszuhandeln und sie so zu gewinnen und mit seinem Vater zu versöhnen (24).

Die Perspektive der Parabel ist die Sendung Jesu, des Sohnes des Vaters, als Verzicht Gottes auf Ahndung des ihm durch Sünde und Ablehnung angetanen Unrechts, um stattdessen die Urheber des Unrechts für sich zu gewinnen und den Konflikt durch gütlichen Ausgleich und Versöhnung zu ersetzen. 

Jes 53 zeichnet das Verhältnis Gottes zu den Menschen im Bild der Großmut des Gottesknechtes, der auf sein legitimes Recht auf gerechte Behandlung und damit auf Bestrafung der für das ihm angetane Unrecht Verantwortlichen verzichtet. Diesen Verzicht leistet er, um ihnen zu zeigen, dass ihm nichts an ihrer verdienten Strafe, dafür aber alles an einem Ausgleich mit ihnen gelegen ist. Es ist ein Gleichnis der Versöhnlichkeit Gottes, die sein Knecht unter den Menschen vorlebt. Keine Stellvertretung in der Strafe, aber Verzicht auf Recht und Gerechtigkeit, wenn mit diesem Preis Versöhnung erreicht werden kann (24f).


 P. Fiedler (1991)

3. „Beim Herrn ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle“ (Ps 130,7)

 (1) Die Heilsverkündigung Jesu
 (2) Soteriologische Ansätze im Neuen Testament

 (1) Die Heilsverkündigung Jesu: Der irdische Jesus hat bei der Verkündigung der Gottesherrschaft unter seinen Landsleuten einen gewaltsamen Tod als unabdingbare Heilsvoraussetzung weder ausdrücklich noch auch nur einschlussweise in Betracht gezogen. Die Erlösungsvorstellung, die im Vaterunser oder in der Gleichniserzählung vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) erkennbar ist, steht ganz auf biblisch-jüdischem Boden: Gott ist es, der dem Menschen bedingungslos die Versöhnung schenkt und ihn so zur Umkehr einlädt, die sich in der Treue gegenüber dem in der Tora geoffenbarten Willen Gottes kundtut, den Jesus vollmächtig auslegt (187).

In Israel behielt der Glaube an eine Güte, die alle Untaten verzeihen kann, eindeutig die Oberhand (Ez 18,23; Hos 11,8f). Im frühjüdischen Schrifttum findet sich trotz aller Gerichtsdrohungen die breite Überzeugung von Gottes bedingungsloser Güte und Heilszuwendung (187).

Jesus hat den Tempelkult ebensowenig wie die biblischen Propheten grundsätzlich in Frage gestellt. Jesus und seine Jünger haben neben den Festen des jüdischen Kalenders auch den Versöhnungstag gefeiert (189).

Abendmahl und Sühnetod: Zwischen dem bedingungslosen Heilsangebot Gottes, das Jesus in seiner Reich-Gottes-Verkündigung gepredigt und gelebt hatte und der an sein Sühnesterben gebundenen Erlösung besteht ein Widerspruch (190).

Ohne die historisch nicht plausibel zu machende Tempelreinigung konnte und musste Jesus aufgrund der biblisch bezeugten Beispiele Micha, Jeremia und Urija (Jes 26) und in Anbetracht der römischen Besatzung darüber Klarheit besitzen: Sein Wort einer prophetischen Warnung vor der drohenden Tempelzerstörung (Mk 13,2) war geeignet, sadduzäische und römische Reaktionen hervorzurufen, einschließlich seiner gewaltsamen Beseitigung (190f).

Mk 14,25 besagt: Das Reich Gottes kommt trotz des Scheiterns seines Boten und Jesus selbst wird nicht im Tode bleiben, sondern am eschatologischen Mahl teilnehmen. Jesus hält an der Gültigkeit seiner Botschaft, seiner Sendung durch Gott fest, und dies trotz des drohenden Todes (191).

Für Jesus wie für Paulus (Röm 11,28f) war die fortbestehende Erwählung Israels Grundvoraussetzung der Verkündigungstätigkeit. Und wie für Paulus der Tempel zu den unwiderruflichen Heilsgaben Gottes an sein Volk gehört (Röm 9,4), so auch für Jesus. Deshalb konnte das von ihm verkündete Versöhnungsangebot Gottes nicht in grundsätzliche Konkurrenz zum Tempel treten. Jesus und seine Jünger standen – wie die judenchristliche Urgemeinde – in eindeutig positiver Beziehung zum Tempelkult (192f).

Jesus konnte nicht an die Notwendigkeit einer Sühne für Gesamt-Israel denken. Auf die Annahme, Jesus habe seinen Tod als Sühnetod gedeutet, muss grundsätzlich verzichtet werden. Denn nur so lassen sich die beiden fundamentalen Einwände vermeiden, dass Jesus das in seiner bisherigen Reich-Gottes-Verkündigung eingeschlossene Heilsangebot Gottes für erledigt angesehen habe und dass Jesus sich mit seinem Ansatz auf die Vorstellung eines Gottes eingelassen habe, der zur Erreichung seiner Heilsabsichten den Tod eines Menschen, eben des Heilsmittlers, (ge)brauche. Hierdurch hätte sich Jesus außerhalb des Rahmens des biblisch-jüdischen Glaubens gestellt (193f).

Es bleibt keine andere Wahl, als Jesus im Festhalten an seiner Reich-Gottes-Botschaft und mit dem in Mk 14,25 ausgedrückten Gottvertrauen leben und sterben zu lassen (194).

Fiedler (1986):

Der Glaubensgehorsam Jesu : Jesus hat den Tod nicht gesucht. Damit er verhaftet werden konnte, musste ihn einer seiner engsten Vertrauten verraten. Die Gethsemane- und Kreuzesszenen der Evangelien sind keine historischen Berichte. Gott hat es Jesus nicht erspart, dass er eingegangen ist in die ganze Verlassenheit und Einsamkeit des Todes, dass er die Erfahrung der Sinnlosigkeit, die Nacht und in diesem Sinn die Hölle des Menschseins auf sich genommen hat (10).

Die Lehre von der Gottesanschauung Jesu muss so verstanden werden, dass sie die Leidenserfahrung Jesu, sein Ringen mit dem Willen des Vaters nicht verdrängt und verdeckt. Die durchhaltende Gottesgewissheit Jesu hat sich gerade in solchen menschlichen Erfahrungen immer wieder neu bewährt. Nur so ist Jesus „Urheber und Vollender des Glaubens“ (Hebr 12,2).

Leid ertragen im Glauben : Wenn Jesus uns als leidender Gerechter, als Märtyrer vor Augen geführt wird, dann ist er in eine große biblische Tradition hineingestellt. Er befindet sich inmitten einer „Wolke von Zeugen“ (Hebr 12,1). Ungezählte Juden vor und nach Jesus haben aus der Überzeugung, durch ihr Leiden den Namen Gottes zu heiligen, Kraft zum Ausharren, zum Festhalten an Gott geschöpft. In der Nachfolge Jesu haben unzählige Christen dieselbe Kraft erfahren (11).

 Fiedler (1991)

(2) Soteriologische Ansätze im Neuen Testament: Der Kreuzestod Jesu – ein gottgewolltes Geschehen für Jesus allein. Die vormkn Passionsüberlieferung basiert auf Motiven vom leidenden Gerechten (Ps 22 u.a.) bzw. vom Märtyrer, den Gott ‚ausliefert’. Daneben wird Jesu Leiden im Lichte des Prophetengeschicks gesehen als schriftgemäß, als göttliches ‚Muss’. Damit wird versucht, von Ostern aus den Anstoß des Karfreitags durch eine Sinngebung zu bewältigen (195).

Das Osterkerygma ist die Voraussetzung der Weiterverkündigung der Basileiabotschaft Jesu durch seine Anhänger. Die Auferweckung Jesu besagt, dass die Heilsmittlerschaft Jesu trotz seines Todes besteht und dass die darin enthaltene Anstößigkeit von Gott durch die Auferweckung beseitigt wurde. „Wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist und in deinem Herzen glaubst, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet“ (Röm 10,9). Das Heil hängt dieser Glaubensformel zufolge am Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn. Es schließt den Glauben daran ein, dass Gott die Einsetzung in die Herrschaft durch die Überwindung des Todes ermöglicht hat.

Sie berichten, „wie ihr euch bekehrt habt zu Gott von den Abgöttern, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott und zu warten auf seinen Sohn vom Himmel, den er (Gott) auferweckt hat von den Toten, Jesus, der vor dem zukünftigen Zorn rettet“ (1Thess 1,9f).

In der von Matthäus und Lukas aufgenommenen Redequelle ‚Q’ wurde Jesu Tod nicht als Sühnesterben verstanden. Die hinter Q stehenden Anhänger Jesu haben seine Botschaft aktualisiert und mit christologischen Akzentsetzungen unter ihren Landsleuten weiter verkündigt. Sie hielten an der Gültigkeit dieser Botschaft trotz des Kreuzestodes fest (195).

Die Tatsache, dass die Anhänger Jesu dessen Verkündigung nach Ostern fortsetzten und Israel erneut das Heil zusprachen, hat als hinreichende Voraussetzung das Osterkerygma, aber nicht den Glauben an die Sühnekraft des Sterbens Jesu (196).

Der Glaube an die Heilsbedeutung des Todes Jesu: Zur Beantwortung der Frage, wo und wodurch der Glaube an die Heilswirkung des Sterbens Jesu entstanden ist, kommt nur das hellenistische Judenchristentum in Betracht, das es zwar bis zur Steinigung des Stephanus in Jerusalem gab (Apg 8,1), das aber von der Gemeinde der einheimischen, aramäischsprechenden Jesusanhänger theologisch deutlich zu unterscheiden ist. Die Vorstellung vom sühnenden Sterben ist allein im hellenistischen Diasporajudentum vorhanden (2Makk 7,37f; 4Makk 6,27-29; 17,20-22). Dies wird bestätigt durch die Aufnahme des Motivs der stellvertretenden Sühne von Jes 53 ausschließlich in der LXX im Unterschied zum Targum, wo alle Leidensaussagen dieses Textes umgebogen sind und stattdessen von der Fürbitte des Messias gesprochen wird (196).

Bei den Bekenntnissen zur Heilswirksamkeit des Todes Jesu ist das Problem zu bedenken, ob darin nicht ein qualitativer Rückschritt gegenüber dem Gottesbild der Basileia-Verkündigung Jesu und damit gegenüber dem Gottesbild des Tenach enthalten ist. Die Deutung des Todes der jüdischen Märtyrer (der Makkabäerzeit) als sühnewirksam für andere geschah im Rückblick als nachträglicher Versuch einer Sinngebung der Geschehnisse aus dem Gottesglauben, die zunächst als schwere Anstöße für eben diesen Glauben wirken mussten. Das Aufkommen des Auferstehungsglaubens sucht auf solche Anstöße zu antworten (197).

Die staurologische Soteriologie hat Anselm von Canterbury in seiner ‚Satisfaktionslehre’ entfaltet. Duns Scotus hat an der Satisfaktionslehre Kritik geübt. Er hat die Lehre von der unbedingten Notwendigkeit des Sühnetodes Christi als nicht haltbar erwiesen... Gott brauchte weder eine blutige satisfactio noch eine satisfactio überhaupt zu fordern. Ohne Verletzung der göttlichen Gerechtigkeit hätte die Erlösung aus reiner freier Gnade einfachhin erfolgen können (198).

Anselm und alle, die sich seitdem ihr Gottesbild und ihren Glauben von der Satisfaktionslehre prägen ließen, entwerten die gesamtbiblischen Zeugnisse für Gottes Heilshandeln aus reiner Barmherzigkeit zugunsten der einseitigen Fixierung auf die staurologische Soteriologie. Die Ausgrenzung des biblisch-jüdischen Glaubens verfestigt die Tendenz, dass christliche Soteriologie zur Ideologie verkommt (199 Anm. 58).

 

Literatur 

Fiedler, Peter
 1982, Probleme der Abendmahlsforschung, in: Archiv für Liturgiewissenschaft
 1986, Jesu Leiden – uns zugute, in: rhs (Religionsunterricht an höheren Schulen), 8-12
 1991, “Beim Herrn ist die Huld, bei ihm die Erlösung in Fülle“, in: Israel und Kirche heute

Jörn, Klaus-Peter
 2006³ Notwendige Abschiede
 2007, Abschied vom Sühnopfermahl

Laufen, Rudolf
 2001, in: Rudolf Werth (Hg.), Das Kreuz Jesu

Marxsen, Willi
 1961/62, Erwägungen zum Problem des verkündigten Kreuzes, in: NTS 8
 1968, Der Exeget als Theologe
 1976, Die Sache Jesu geht weiter

Nordhofen, Jacob
 2008, Durch das Opfer (Jesu Christi) erlöst?

Reuß, Jörg-Dieter
 1991, Jesus und der Sühnegedanke, in Forum-Heft Nr 23
 1997, Christozentrische Pluralität, in: Deutsches Pfarrerblatt 6/97

Schenker, Adrian
 2009, in: Versöhnt durch den Opfertod Christi? B. Acklin Zimmermann/Franz Annen (Hg)

Vögtle, Anton
 1985, Offenbarungsgeschehen und Wirkungsgeschichte

Vollmer, Jochen
 1997, Zur Deutung des Todes Jesu, in: DtPfrBl 97

Zager, Werner
 1999, Jesus und die frühchristliche Verkündigung