3. Die Seele des Menschen und die Hoffnung der Christen
(1) Luthers Eschatologie
(2) Ist der Mensch bereit, sich von Gott sagen zu lassen, wer er ist?
(3) Auferstehung des 'Leibes', des 'Fleisches'?
(4) Transfigurierte nachtodliche Gestalt des Menschen
(5) Das Ziel der menschlichen Lebensreise ist das Reich Gottes
(6) Das Jüngste Gericht – das Eingangstor zu den letzten Dingen
(7) Fazit
Christof Gestrich
Ps. 73: Gott, „wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil...das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte und meine Zuversicht setzte auf Gott den HERRN“. Nicht eingreifende Wunder der Gefahrenabwendung erwartet dieser Beter, sondern er sucht sein Heil in der nie endenden Verbindung mit Gott. Weil der Beter hofft, die Erlösung auch dann noch zu finden, wenn man des Körpers verlustig geht, weil selbst dann noch auf die sich durchhaltende Treue Gottes gesetzt wird, musste die Vorstellung von einer Menschenseele oder menschlichen Identität, die auch durch den Tod bzw. den Verlust des Körpers nicht zerstört ist, Eingang in die Bibel finden. Die Vorstellung von einer den Tod überragenden Menschenseele wurde aufgegriffen aus genuin biblisch-theologischen Gründen. Der Tod kann nicht vom Leben mit und aus Gott scheiden. Der Mensch 'selbst' ist noch vorhanden, wenn sein Körper in die Grube fahren muss. Die Antwort der hellenistischen Zeit, lautet: Die individuelle Person ist dann noch vorhanden als Seele, die ganz aus der Treue Gottes zu ihr lebt (39f).
(1) Luthers Eschatologie
Durch Gottes Anrede und durch die entsprechende Antwortmöglichkeit des Menschen wird der Mensch unsterblich. Mit wem Gott redet, der ist unsterblich. Menschen sind insofern unsterblich, als für sie gilt, dass sie Gott Rede und Antwort stehen müssen. Der Ermächtigung und Verpflichtung zur Antwort kann sich kein Mensch entziehen. Gottes Anrede gilt durch den Tod hindurch und über ihn hinaus. Wie sollte man, wenn es keine Auflösung der Rätsel in einem Leben nach dem Tode gäbe, es hinnehmen können, dass Gott manche Menschen erwählt hat, andere anscheinend nicht. Luther wertete die menschliche Seele als den auf Gott bezogenen Identitätskern der Person. Er ist mit Leben aufgeladen durch die Gottesbeziehung. Die Gottesbeziehung bricht im Tod des Menschen nicht ab. Der Tod ist in Luthers Verständnis nicht als Eintritt in die Beziehungslosigkeit zu werten, denn Gottes Wirken an der Person und ihrer noch unfertigen Identität setzt sich fort. Gott redet weiter zur Seele (52f).
Das Eschaton vollzieht sich als eine Neudefinition der vorhandenen Schöpfung durch Gott und vor allem als göttlich-neue Wertung von Personen. Diese leben zum einen ihr Leben im Sinnhorizont der jetzigen Welt, aber sie sind mit ihrem Leben zugleich Bausteine, die Gott mit ganz anderer Bedeutung in sein kommendes Reich einfügt. Manche Geschöpfe tragen zum Bau des Gottesreichs vielleicht nur dadurch bei, dass sie mit 'schlechtem' Leben die weitere Destruktion der jetzigen Welt der Sünde vorantreiben. Andere indessen dadurch, dass sie unmittelbar zum Aufbau der neuen Welt wirken. Niemand hat das jedoch im eigenen Willen. Auch diejenigen, die so, wie sie jetzt sind, dem Reich Gottes nicht entsprechen, können als Geschöpfe Gottes gerechtfertigt werden. Am Ende der Tage wird Gott in allen Geschöpfen alles sein. Die Grenzziehung zwischen Erwählten und Verworfenen wird von Gott aufgehoben werden. Die menschlichen Identitäten werden erst am Ende offenbar werden (54f).
Die Identitätsbildung beginnt im Glauben an Jesus Christus. Denn in Jesus Christus hat die Gottesherrschaft mitten in der alten Welt schon eine Voraus-Darstellung gefunden. Sie zu ergreifen, führt Menschen in den Frieden mit sich selbst, mit Gott und mit der jetzigen Welt. Im Glauben schon himmlisch geworden, wird die Seele mit einer neuen Solidarität gegenüber der alten Welt ausgestattet. Sie wird mehr denn je der Erde treu (55).
Exkurs: Paul Tillich, Der Mut zum Sein: Es führt zum geistigen Niedergang des Glaubens, wenn die Theologie es nicht leistet, aus dem Bannkreis früherer Auslegungen der Erlösung herauszutreten. Denn die christliche Heilsbotschaft muss auf die jeweils vorherrschenden seelischen Grundängste der Menschen antworten. Zur Zeit der Alten Kirche war es die Grundangst gewesen, sterben zu müssen. Im Mittelalter dagegen hat sich die Schuldangst und die Angst vor ewiger Strafe wegen persönlicher Sünden in die vorderste Linie geschoben. Hatte die Heilspredigt der Alten Kirche ihren Fokus bei der Verkündung der Totenauferweckung, so verschob sich der Schwerpunkt im Mittelalter auf die Verkündigung der Rechtfertigung des Sünders. Wenn die Kirche auch heute noch die Verkündigung des Heils ganz auf die Rechtfertigung des Sünders konzentriert, verkennt sie, dass die Zeit weitergegangen ist und das Christentum heute auf einen neuen Typus menschlicher Grundangst zu antworten hat: Die Angst vor der Sinnlosigkeit, der geistigen Leere des Lebens (70f).
(2) Ist der Mensch bereit, sich von Gott sagen zu lassen, wer er ist?
Nur die Annahme der Personen-Definitionen, die uns Gott gibt, entspricht der christlichen Eschatologie. Wenn wir über den Tod hinaus erhalten werden, so erfüllt dies den Willen Gottes, an den einzelnen Menschen über den Tod hinaus festzuhalten und sie dabei seine Liebe spüren zu lassen. Bei der christlichen Hoffnung geht es um eine Einkehr Gottes ins Sterbliche mit dem Ziel, die Menschen teilhaben zu lassen an Gottes ewiger Seligkeit. Die Ziele, die mit dem ewigen Leben erreicht werden, sind diejenigen Gottes. Sie laufen darauf hinaus, dass wir in das Bild Jesu Christi hinein gestaltet werden: „Wir werden verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur anderen von dem Herrn, der der Geist ist“ (2Kor 3,18). „…damit sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern“ (Röm 8,29). „…wir sind schon Gottes Kinder, es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist“ (1Jh 3,2) (88).
Der Mensch stirbt „wenn sein Geist herausgeht“: „wenn von uns unser Geist gen Himmel ist gereist“ (EKG 86,1). „Denn der Leib ohne Geist ist tot“ (Jak 2,26). Wie das Geschaffenwerden des Menschen, sein Zum-Leben-Kommen die Sendung des Geistes durch Gott ist (Sach 12,1; Ps 104,30), so ist das Sterben des Menschen die Wegnahme des Geistes durch Gott: „nimmst du weg ihren Geist (ruach), so vergehen sie“ (Ps 104,29). „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ (Lk 23,46; Ps 31,6). Der Tod Jesu wird als Aushauchung bzw. Übergabe des Geistes beschrieben „er hauchte den Geist aus“ (Lk 23,46; Mk 15,37), „er gab den Geist auf“ (Mt 27,50; Jh 19,30) (100).
Die ewige Bedeutung des Individuums: Jesus repräsentiert die versöhnende Liebe Gottes, der sich um jeden einzelnen Menschen kümmert, wie ein Kleinviehhalter, der dem einen Schaf, das er verlor, nachgeht, bis er es findet. Das Bild des Gottes, der mit ewiger Liebe jeden einzelnen Menschen sucht, der verloren ging, verlieh dem menschlichen Individuum einen ewigen Wert. Mit dem Christus in uns ist Ewigkeit in den inneren Menschen eingezogen. Es ist Christus ewiges Leben, das unseres erst noch werden soll (103f).
'Kurzpredigt' des Christus in uns: Was ich, Christus, dir, der Seele biete, ist: ein an Haupt und Gliedern erneuertes menschliches Geschöpf zu werden: frei für die Liebe, ausgestattet mit einem neuen selbstgewissen und heilsgewissen Geist. Ich bleibe bei dir im Leben und im Sterben und führe dich dorthin, wo ich als Lebendiger und Unvergänglicher jetzt schon bin und in Ewigkeit mit dir sein werde (106).
(3) Auferstehung des 'Leibes', des 'Fleisches'?
Diese Vorstellung ist abstrus. Diese Sprach- und Denkform, in der das 'Heil' ausgedrückt wird, ist abständig geworden. Der lebendige Glaube selbst hat sich davon abgewandt, der Verstand ohnehin. Mit der Ablehnung der abstrusen Vorstellung, die 'Leiber' würden 'wiederhergestellt', schwand in vielen Fällen die Hoffnung über den Tod hinaus (172).
Es geht nicht um den Leib, der wiedererweckt wird, sondern um das Erlangen einer neuen Gestalt, die Christus entspricht, um das Erlangen einer Identität, in der die Individuen untereinander versöhnt und in Liebe verbunden sind. Als Erlöster wird der Mensch eine neue Gestalt haben, die seine erreichte Identität zum Ausdruck bringt (185f).
M. Luther: Der jetzige Mensch ist das Material, aus dem Gott das Leben in seiner zukünftigen Gestalt herausbildet. Schon unser jetziges Tun und Lassen ist, ohne dass wir es wissen, eingefügt in ein ganz anderes Design des Lebens, in dem es einen ganz anderen Stellenwert hat. Gerade so arbeitet Gott auch an uns selbst und meißelt aus uns jene Gestalt heraus, in der wir Christus – der wahren menschlichen imago Dei – gleich sein werden. Somit arbeitet er auch an unserer Vollendung (Anm. 26).
Im Reich Gottes geht es um ein anderes Sein: um das von Gott verfügte neue Sein des (zuvor) Nichtigen. Gott macht etwas Unerwartetes aus diesem scheinbar Wertlosen. Er arbeitet mit Totem und belebt es dadurch. Er entwickelt es zu einer neuen Schöpfung. Er kann hierfür gerade das durch Leiden, durch Schuld, durch Sterbeprozesse verbrauchte Menschenleben gebrauchen. Als Christ hat man nicht auf eine wundersame Wiederherstellung nach dem Tode im Jenseits zu hoffen, sondern auf einen von Gott verfügten und gestalteten neuen Anfang, bei dem der Mensch in Neues eingefügt wird (200).
Für Luther war das biographische Leben ein in neuer Funktion im Reich Gottes wiederverwendeter Bauteil. Den Körper der Gestorbenen betrachtete er als Abfall, den die Würmer fressen. Die Würmer fressen die Leibeshülle, die mit der eigentlichen Person nichts mehr zu tun hat. Sie wird zu Humus. Die 'lutherische Seele' hofft, dass wir uns von Gott wiedergeschenkt werden in einer guten, neuen Gestalt (205f).
(4) Transfigurierte nachtodliche Gestalt des Menschen
Der Tod wird im Christentum als der größte Feind verstanden, weil er nicht bloß einen alt gewordenen Körper entsorgt, sondern die Seele des Menschen selbst mit ihren subjektiven und objektiven Aspekten mit aller Wucht betrifft. Der Mensch muss wiedergeboren werden aus Gott. Das kann schon im jetzigen Leben geschehen. Doch muss der Mensch dann seine Wiedergeburt auch tatsächlich noch seelisch einholen. Es bleibt ihm nicht erspart, den Untergang des Alten als eine Art Kreuzeskost selbst zu schmecken, auch muss er die Heiligung seiner Existenz in der Neubegründung und Wiedergeburt durch Gott selber noch erfahren. Gottes Arbeit an uns dauert solange fort, bis die neue Gestalt, zu der uns Gott vom Tode auferweckt, vollendet hervortreten kann (206f).
Diejenigen, in denen 'Christus wohnt', wissen sich versiegelt für ein Leben, in dem der Mensch selbst, zu Gott, zum Nächsten findet: „Ich (Christus) gebe ihnen das ewige Leben und sie werden nimmermehr umkommen und niemand wird sie aus meiner Hand reißen“ (Jh 10,28). Die christliche Hoffnung ist Freude, denn Gott berücksichtigt mich; er wird mit mir zusammen sein Reich gründen; er fördert mich so, dass ich sein Partner werden kann, ihn liebe und ihn erkenne, so wie er mich liebt und mich erkennt. Dem nachzuleben ist der Sinn meines Lebens. Ich weiß, dass ich nicht verloren gehen kann, weil der Ewige selbst mich ruft und sich mit mir verbündet (207f).
Die Berufung in den Himmel ist zugleich auch eine Berufung in die Kette des Segens hinein, der die Welt verwandelt. Ihre Heiligung, ihre Identität und ihre Erlösung finden Christen darin, dass sie – ob sie leben oder sterben – mit der Hilfe Christi und des Heiligen Geistes bewegte Glieder dieser Kette des Segens sind und bleiben (209).
Warum sollen wir in den Himmel kommen? Der sterbende Mensch erleidet ein völliges Entleert – und Ausgeliefertwerden. Erst wird ihm die Seele betrübt gemacht. Dann, so scheint es, zerrissen, denn das bewusste Ich muss seine eigenen Lebenskräfte abgeben. Am Ende des Prozesses geht es dann auch selbst unter. Die individuelle Seele war ein Ort, an dem sich viele Lebenslinien miteinander verknüpft haben. Diese Linien repräsentieren die seelisch konstitutiven Beziehungen, die einen Menschen ausmachen. Sie sollten zu einer neuen individuellen Identität vereinigt werden. Nun aber ist der Tod dazwischengetreten in den Prozess der individuellen Vereinigung dieser Linien. Das Ich muss das Rennen aufgeben. Es geht unter. Was in diesem Moment aber nicht mit untergegangen ist, das sind diese Lebenslinien selbst, die zu diesem individuellen Ich hingeführt haben. Übrig bleibt, was diesen Menschen konstituiert hat. Dass dieser Mensch nun sterben musste, bedeutet für dieses ehemalige Beziehungsgewebe, dass die Seele inzwischen eine neue Gestalt braucht (211).
Der möglicherweise religiös schon eingeübte Vorgang der Zurückgabe des eigenen individuellen Lebens an den Schöpfer („Ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände“) kommt im Sterben zum Abschluss. Nun wird das selbstbewusste Leben nicht mehr nur kurzfristig entzogen, um danach in gestärkter Form von Gott zurückgegeben zu werden. Es wird vielmehr die ganze bisherige Gestalt des Individuums aufgelöst, wobei die Seele zunächst noch der eigentliche Akteur des Ganzen zu sein scheint, dann jedoch selbst mit in den Untergang gezogen wird. Nun liegt es bei Gott, ihr eine neue, eine veränderte zukunftsträchtige Gestalt zu geben (212).
Der Übergang zur transfigurierten Gestalt ist oft wie eine schwere Geburt zu erleiden. Der Mensch ist dabei nicht mehr Herr des Geschehens. Er wünscht, diesen total gefährdeten Übergang, der einen so grundlegenden Neubeginn zur Folge haben wird, zu vermeiden. Dieser Übergang ist aber überaus wichtig für das Reich Gottes, in der der so transfigurierte Mensch ein Kernelement ist. Er ist auch wichtig für den individuellen Menschen selbst und seine Vollendung. Des Menschen Leben endet nicht im Wegzuwerfenden, sondern der Mensch stirbt in die wichtigste Aufgabe hinein, die Gottes Geschöpfen zukommt: dem liebenden Schöpfer eine ihn wiederliebende Welt entgegenzubringen. In der biographischen Existenz war der Mensch hauptsächlich der Empfänger göttlicher Liebe. In der nachtodlichen Gestalt kann er mit dem Wiederlieben Gottes beginnen (212f).
(5) Das Ziel der menschlichen Lebensreise ist das Reich Gottes
Für Christen bedeutet diese Orientierung, dass sie – sterbend – noch tiefer ins Reich Gottes und in den es repräsentierenden Christus hineingelangen werden, mit dem sie auch vorher schon verbunden waren. Sie gehen jetzt in den innersten Raum 'im Hause des Herrn', worin die Leitung des Ganzen wohnt. Sie werden dort klar sehen (1Kor 13,12). Die gestorbenen und doch lebenden Glieder am vom Tode auferweckten Christusleib werden so der Vollendung entgegengeführt, dass sie – mit Christus gleichgesinnt (Phil 2,5) – ihre neuen Möglichkeiten, dem Reich Gottes zu dienen, in höchster Wachheit einbringen. Sie werden vollendet, indem sie tun (213f).
Gott hat sein Bundesziel mit dem Menschen erst dann erreicht, wenn dieser so weit entwickelt ist, dass er als echter Partner Gott zurücklieben und mit ihm kooperieren kann. Erst die wache, himmlische Koexistenz der Gestorbenen mit dem auferstandenen Christus erbringt die Vollendung. Gelangen wir ins Reich Gottes, so finden wir auch zu uns selbst. Durch den Tod wird der Mensch nicht abgetrennt von der auf ihn gerichteten Liebe Gottes. Über den Tod hinaus gewährt Gott jedem Menschen noch die Erfahrung, die er braucht, um zur Höhe der ihn ganz und heil machenden Gottesliebe, Selbstliebe und Nächstenliebe zu gelangen. Es geht darum, vollendet zu werden in der Rolle, die wir für Gott zu spielen haben. Der Himmel muss sein. Wir haben dort noch etwas zu tun. Das Reich Gottes ist das unverbrüchliche Zusammenwohnen Gottes und der Menschen im Bund wechselseitiger Liebe. Das Reich Gottes ist auch ein Ausdruck der göttlichen Erwählung des Menschen (214f).
Das Reich Gottes kommt auf alle Menschen zu. Das Reich Gottes, die von Gott völlig veränderte Lebenswirklichkeit schiebt sich schon ins jetzige Leben vor. Durch das herankommende Reich Gottes wird der Mensch von Gott jetzt schon in Anspruch genommen. Es ist Gottes Geheimnis, dass er eines seiner Geschöpfe, den Menschen, in diese Mündigkeit der Beziehung zu Gott hinein erweckt und ihm schon im Voraus mehr zutraut, als vorerst vom Menschen realisiert wird. Der wie auf Augenhöhe zu Gott erhobene Mensch hat die Möglichkeit, sich Gott zu entziehen. Dass der Mensch zu Gott auch Nein sagen kann, diese Freiheit hat gerade das herankommende Gottesreich selbst am Menschen hervorgeliebt (216f).
Gottes Reich kann nicht scheitern. Gottes Liebe ist universal. Sie beschränkt sich nicht auf die Erwählten. Gott wird das Leben dieser und jener Menschen nutzen, um sein Reich zu bauen. Er wird unfreiwillige Mitarbeiter haben und am Ende auch ihr Herz gewinnen. Das Ziel des Reichs Gottes, das Miteinander-Wohnen Gottes und des Menschen in wechselseitiger Liebe, wird mit uns persönlich noch erreicht werden können. Wir werden von Gott für die Vollendung seines Reichs noch gebraucht werden (218).
Hiob 19,25f: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen“ (Lutherbibel von 1985). Diese atl Stelle ist kein Belegt dafür, dass im hebräischen Denken Körper und Seele strikt zusammengehören und dass nur die körperliche Gegenwart das persönliche Dasein und Bewusstsein ermöglicht. Diese Bibelstelle bildet eine kühne Ausnahme, wenn Hiob sagt: „Selbst wenn mir mein Fleisch dahingeschwunden ist, werde ich trotzdem noch Gott sehen“ und wenn Hiob in V 27 bekräftigend hinzusetzt: „Ich selbst werde ihn sehen … und kein Fremder …“ (Anm. 69).
Mich Einzelnen und Einmaligen nimmt Gott an; Gott will gerade mich: Ich werde darum noch am Ziel der Welt jenes Individuum sein dürfen, das ich von Anfang an war und als das Gott mich persönlich bei meinem Namen gerufen hat. Dies ist der erwählenden, fürsorgenden und den Menschen weiterentwickelnden göttlichen Liebe zuzuschreiben (224).
Der christliche Glaube zielt auf den Gestaltwandel der Person. Die Individualität des Menschen bleibt gemäß dem christlichen Glauben in Ewigkeit wichtig. Ziel und Ende ist ein Schöpfungsgesang in harmonisch zusammenklingendem vielfältigstem Gotteslob (225).
(6) Das Jüngste Gericht – das Eingangstor zu den letzten Dingen
Das Jüngste Gericht ist nicht ein Ereignis nach der Totenauferweckung, sondern ein Ereignis vor ihr. Es führt hin zum Wiederaufleben des gestorbenen Menschen in neuer, transfigurierter Gestalt. Auch bei Jesus selbst ist die weltgerichtliche Szene von Golgatha der Auferweckung vorausgegangen. Das Jüngste Gericht bildet die entscheidende Zäsur zwischen dieser Zeit und jener. Es vollzieht sich jeweils mit dem Tod eines Menschen und ist dennoch eine einzige göttliche Veranstaltung in Bezug auf die ganze Menschheit. Das universale Endgericht und das individuelle Endgericht müssen ineinandergestellt werden (227).
Das Jüngste Gericht, das nach christlicher Auffassung von Christus abgehalten wird, bringt die Menschen auf diesen letzten Weg. An seinem Ende sind sie dann durch Christus gleichsam hindurchgegangen und er durch sie. Die Zielgerade ist der weitere Weg des Menschen nach seinem Tod. Schon im Himmel angelegt, ist die Zielgerade der Weg der Seele hinein in die eigene Vollendung und in die Vollendung der gesamten Schöpfung im Reich Gottes. Wie ein Gott dienstbarer Engel kann die Seele, die das Gericht hinter sich hat, tun, was Gott und was ihr selbst gefällt, und was zum Besten dient. Die Seele wird auch hier als individuelles Selbstbewusstsein verstanden, das mit einer sich entwickelnden Gestalt verbunden ist, deren richtige von Gott ermöglichte Endform von der Seele gefunden werden muss (228).
Auferstehung meint die göttliche Verleihung der neuen Vollkommenheitsgestalt: Die Auferweckung der Toten ist ein Prozess, bei dem noch dieses und jenes geschehen wird und getan werden muss im Rahmen der zu erwartenden Vollendung. Die beginnt schon im biographischen Leben, wenn ein Mensch Gottes Ruf hört. Sie vollendet sich erst, wenn die volle individuelle Identität erreicht und die endgültige Gestalt für dieses bestimmte Individuum gefunden ist. Dann ist auch das Reich Gottes die alles bestimmende Wirklichkeit geworden. In der neuen Gestalt werde ich Gott so lieben, wie er mich liebt. Zugleich werde ich viel intensiver und besser zusammensein mit den Mitgeschöpfen und Mitmenschen (229).
Das Jüngste Gericht geschieht, um Rückblick zu halten auf das, was einem Menschen gefehlt hat und um festzustellen, was er noch braucht, um in die Freiheit der Liebe zu gelangen. Im Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25) geht es nicht um die absurde Verurteilung und ewige Bestrafung Einzelner, deren ausgeübte Liebe ein bestimmtes Soll unterschritten hätte, sondern dieses Gleichnis sagt Gottes Verurteilung des lieblosen Lebens als solchem aus (230).
G. Sauter: Die Pointe des Gleichnisses (Mt 25) besteht darin, dass Christus für alle überraschend als derjenige hervortritt, der in vielen Gestalten der Bedürftigkeit bereits jetzt anwesend ist, wenngleich verborgen. Auf Christus Hoffende müssen nicht nur so, wie sie sind, vor Christus treten, sondern sie sehen sich von seiner Gerechtigkeit umhüllt. Damit sind die Sünder letztgültig von ihrer Sünde geschieden. Im Jüngsten Gericht vollendet sich die Rechtfertigung der Gottlosen (Anm. 80).
W. Huber: Die Vorstellung vom Gericht wurde auch dazu missbraucht, Menschen einzuschüchtern und zu verängstigen. Die Drohung mit dem Fegefeuer und mit Höllenstrafen wurde zum Herrschaftsmittel. Vom theologisch falsch verstandenen Jüngsten Gericht aus legitimierte man weltliche Instanzen, sog. Ketzern den Garaus zu machen. Man hielt es für eine gottgefällige Tat, einen Ungläubigen zu töten (Anm. 82).
Wird das Jüngste Gericht unter dem Evangelium Christi gesehen und in seiner Funktion für das Reich Gottes, dann steht es nicht zur Debatte, wie ich mich auf dem Hintergrund meiner Handlungen im Leben im Gericht rechtfertigen kann, sondern, ob Gott meine Handlungen und ihre Auswirkungen für den Bau seines Reichs gebrauchen kann. Die Werke eines Menschen, nicht aber ein gestorbener Mensch selbst, werden einer solchen Feuerprobe unterzogen. Das Reich Gottes ist hier das überaus Wichtige (233).
Das Jüngste Gericht erweist sich als der endgültige Maßstab. Es löst das für uns Widersprüchliche auf und macht uns das wahre Ausmaß der Verflochtenheit unseres Lebens mit demjenigen anderer sichtbar. Wer ist Opfer, wer ist Täter? Wer ist beides? Es deckt uns auf, warum wir uns selbst unerkennbar geblieben waren im Leben. Christlich richtig verstanden wird das Jüngste Gericht dann, wenn es als Höhepunkt der Würdigung der menschlichen Person durch Gott gesehen wird. Gott sucht den Bund mit dem Menschen auf Augenhöhe. Er sieht nicht alles das gnädig an, was der Mensch falsch gemacht hat, sondern er zeigt es ihm. Er hält ihn für verantwortlich und zurechnungsfähig. Er hält ihn vor allem für liebesfähig. Er lässt ihn sich entwickeln bis zur Höhe des Wunders, dass der Mensch mit Gott frei in Liebe verbunden und ihm Partner sein kann. Das ist das neue Leben, das dem Menschen noch geschenkt wird (234).
Die Läuterung der Gestorbenen, die ihnen nach dem Jüngsten Gericht und aufgrund desselben eröffnet ist, ist ein Bestandteil ihrer seelischen Auferstehung. Diese Läuterung ist ein durch Gott ermöglichter Wille, für die Vollendung des Reichs Gottes da zu sein und sich mit diesem selbst zu vollenden. Alle Strafvorstellungen liegen weit dahinten (236).
(7) Fazit
Wir benötigen heute ein erneuertes christliches Verständnis der Bestimmung des Menschen. Wir benötigen eine erneuerte christliche Heilsgewissheit, der ein präzises Verständnis dessen, worin das Heil besteht, zugrunde liegt. Die Neuaneignung einer kritisch geprüften Lehre von der menschlichen Seele kann die Theologie und Praxis der christlichen Kirche in der Gegenwartskultur wieder präsent machen. Ihre Höchstschätzung des einzelnen Menschen enthält ein wichtiges Potential. Gewartet wird auf eine Darlegung, warum kein Mensch ins Nichts geht und dass der Tod eine Schwelle ist, die unsere Möglichkeiten, in Liebe dabei zu sein, auf einer neuen Stufe vollendet (238).
„Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden; denn ihm leben sie alle“ (Lk 20,38). An dieser Stelle ist nicht zu übersetzen: Durch ihn (Gott) leben sie alle, sondern wem zum Nutzen lebt jemand: „Ihm (Gott) leben sie alle“. Die Toten leben nicht einfach, weil sie aus Gott heraus seelisch weiterleben können. Sie leben auch nicht um ihrer selbst willen (für ihre Vollendung). Ihre Lebendigkeit kommt daher, dass sie für Gott immer noch dazusein und tätig zu sein haben. Gerade nur dies, dass sie in der Liebe zu Gott, ihrem Schöpfer, der sie zuerst geliebt hat, noch etwas erreichen und bringen müssen, hält sie lebendig. Aber so sind und bleiben sie lebendig (Anm. 101).
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