2. Der Römerbrief – ein Reformprogramm für das antike Judentum
(1) Rechenschaft eines scheiternden Reformators
(2) Pluralität der Heilskonzepte
(3) Der Zwiespalt des Menschen
G. Theißen/P.v.Gemünden (2016)
(1) Rechenschaft eines scheiternden Reformators
a. Paulus‘ Vision: Reform und Öffnung des Judentums
b. Paulus‘ Anfechtungen
c. Die Bewältigung der Anfechtungen: Der Glaube
Alle theologischen Entwürfe des Paulus im Römerbrief scheitern: Die Aporien der ersten Heilskonzeption, die das Heil durch „Werke des Gesetzes“ verheißt, werden durch neue Heilskonzepte aufgefangen, die neue Aporien aufreißen. Die vier Heilskonzeptionen im Röm entsprechen vier Phasen in Paulus Leben. Sie münden in die Vision einer alle Völker einschließenden Verehrung des einen und einzigen Gottes. Mit dieser Hoffnung brach Paulus nach Jerusalem auf, wurde dort aber inhaftiert! Paulus war überzeugt, dass jeder Mensch sich innerlich verwandeln muss, um Gottes Willen zu entsprechen (442).
Paulus‘ Ziel: Alle Menschen sollen sich in einem universalen Gottesdienst vereinen. Für Paulus sind alle Menschen von Natur aus Sünder, Feinde Gottes und ihrer Mitmenschen. Ihr unsoziales Wesen wurzelt in ihrer biologischen Natur, im „Fleisch“. Paulus ist überzeugt, dass sich Menschen durch den Glauben in kooperative Mitmenschen verwandeln und jeweils ein „neues Geschöpf“ werden können (Gal 6,15; 2Kor 5,17). Was den Universalismus angeht, so hat Paulus rituelle Gesetzesforderungen in Frage gestellt, die Juden von anderen abgrenzen. In Auseinandersetzung mit einer Gegenmission radikalisiert er seine Kritik am Gesetz und weitet sie auf ethische Gebote aus. Für das ganze Gesetz gilt: Als Buchstabe töte es, als Geist macht es lebendig. Paulus strebt mit seiner Gesetzeskritik die ‚Universalisierung‘ des Judentums an (442f).
a. Paulus‘ Vision: Reform und Öffnung des Judentums
- Die Reform des Gesetzes
- Die Reform des Jerusalemer Kultes
- Die Reform der Grunderzählung des Judentums
Paulus sieht sich selbst als Architekten der christlichen Gemeinde. Christus ist das Fundament, auf dem er sie baut (1Kor 3,10). Sein Bauplan ist der Entwurf für ein reformiertes Judentum. Die judaistische Gegenmission gegen Paulus wollte diese Zugehörigkeit der Christen zum Judentum durch (Wieder-)Einführung jüdischer Riten absichern. In Konkurrenz mit ihnen wollte Paulus ihr Anliegen auf eine andere Weise erreichen: Seine Gemeinden sollten sich nicht rituell an das Judentum anpassen, sondern das Judentum sollte sich für sie öffnen. Das war sein Reformprogramm (444f).
Paulus erkannte den Jerusalemer Tempel als Zentrum des rituellen Kults an, bejahte mit dem Gesetz das jüdische Ethos und stellte sich in die von den Heiligen Schriften bezeugte Geschichte hinein. Paulus hielt an Tempel, Tora und den Heiligen Schriften als Grundlagen des Judentums fest, aber er wollte sie reformieren. Hinsichtlich des Ritus hoffte er auf eine Öffnung des Tempels, sodass alle Heiden ‚hineingehen‘ dürfen (11,25-27). Beim Ethos plädierte er für eine kritische Prüfung des Gesetzes (12,1f). Den ‚Mythos‘ (d.h. die Grunderzählung des Judentums von Abraham und Mose) erzählt Paulus neu, sodass er in der Aufnahme der Heidenchristen Erfüllung finden sollte (4,1 – 5,21). Paulus träumt im Röm vom Tempel als gemeinsamen Ort der Gottesverehrung von Juden und Christen (445).
- Die Reform des Gesetzes
Paulus hält im Röm am Gesetz fest, will es aber liberalisieren. Er hebt Einzelbestimmungen auf und weist dem Gesetz grundsätzlich eine neue Funktion zu. Das Gesetz soll nicht als Buchstabe wirken, sondern als „Geist“ (7,6), der Menschen über Grenzen hinweg mit anderen Menschen verbindet und zu neuen Geschöpfen macht, die mit sich selbst versöhnt sind. Paulus konzentriert das Gesetz in Übereinstimmung mit jüdischen Traditionen auf das Liebesgebot. In ihm ist das ganze Gesetz erfüllt (Röm 13,8-10). Paulus These: nur ein einziges Gebot sei notwendig, um das Gesetz zu erfüllen, nämlich das Liebesgebot. In ihm ist das ganze Gesetz zusammengefasst (Gal 5,14). Wer das Liebesgebot durch den „Geist“ erfüllt, steht nicht mehr unter dem Gesetz (Gal 5,18), widerspricht ihm nicht (5,23), sondern verwirkliche dessen eigentliche Intention. Wer das Gebot der Nächstenliebe erfüllt, erfüllt damit das Gesetz als Ganzes; denn er hält auch die anderen sozialen Gebote und schädigt seinen Nächsten nicht. Im Liebesgebot ist die Fülle des Gesetzes enthalten (13,8-10). Das Gesetz verlangt „allen Menschen“ Gutes zu tun (12,17) und mit „allen Menschen“ Frieden zu haben (12,18) (447).
Das Liebesgebot hebt die Grenze zwischen Juden und Heiden auf: „Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch Liebe tätig ist“ (Gal 5,6). Der Röm führt diesen Gedanken aus, indem er in Kapitel 1 - 11 vom Glauben handelt, der in Kp 12 - 15 in der Liebe tätig wird und er strebt einen Gottesdienst an, der Juden und Heiden vereint (15,7-13). In Christus gilt jenseits von Beschneidung und Unbeschnittensein nicht nur die Liebe, sondern „eine neue Kreatur“ (Gal 6,15) (448).
Schon in Gal 5,13 - 6,5 hat Paulus das Liebesgebot mit der Natur des Menschen kontrastiert. Seiner Natur, seinem ‚Fleisch‘ nach stehe der Mensch in Konkurrenz zu anderen Lebewesen. Ohne Liebesgebot sei das Leben ein Fressen und Gefressenwerden (Gal 5,15). Daher müsse die Natur des Menschen durch den ‚Geist‘ verwandelt werden: Der Mensch muss sein ‚Fleisch‘ mit seinen Leidenschaften und Begierden ‚kreuzigen‘ (Gal 5,24), um ein Leben im Geist zu führen (Gal 5,25). Im Röm fordert Paulus die Taten des Leibes zu töten, damit die Christen ganz im Geist leben können (Röm 8,13). Die Kraft, die den natürlichen Menschen antreibt, soll als fleischliche Energie ‚gekreuzigt‘ werden, um als geistliche Energie ‚auferweckt‘ zu werden. Diese Verwandlung des Menschen in ein Wesen, in dem der Geist Gottes wirkt, stellt Paulus in Röm 8,1-11 dar (448f).
In Korinth haben einige Gemeindeglieder Erfüllung in Zungenreden und auffälligen Erfahrungen gesucht, in Wundertaten und Offenbarungen. Andere haben dagegen die ‚Erkenntnis‘ gesetzt und stehen dem ekstatischen religiösen Treiben distanziert gegenüber. Paulus lehrt in Korinth beide Seiten, in der Liebe das höchste Charisma zu erkennen. „Glaube, Hoffnung und Liebe“ übertreffen alles (1Kor 13,13). Die Liebe preist Paulus wie eine Gottheit mit All-Aussagen: „Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles“ (1Kor 13,7). Die Glossolalie ist keine Himmelsprache, sondern wird zum unaussprechlichen Seufzen, das den Menschen mit allen Kreaturen verbindet (8,22-27). „Wir wissen nicht, wie wir beten sollen; der Geist tritt für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern“ (8,26f). Wir wissen, „dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen“ (8,28) (449).
Obwohl das Liebesgebot das erste Gebot und auch das höchste Charisma ist, nennen sich die Christen nicht die ‚Liebenden‘ sondern die „Geliebten Gottes“ (1,7), die von ihm berufenen „Heiligen“, die an ihn glauben (1,16). Außenstehende nennen sie ‚Christusanhänger‘. Mit dieser Bindung an Christus erhielten sie Anschluss an die ethischen Traditionen des Judentums. Durch diese Bindung an Christus konnten sie sich von anderen jüdischen Gruppen unterscheiden. Jesus gehörte mit seiner theozentrischen Botschaft vom Reich Gottes ganz ins Judentum hinein. Aber mit dem Osterglauben trat er neben Gott und verwandelte den jüdischen Glauben in einen christologischen Monotheismus. Die Christen waren überzeugt, Christus nur „zur Ehre Gottes, des Vaters“ zu verehren (Phil 2,11). Mit dieser Christozentrik bahnte sich die Trennung vom Judentum an. Paulus war bewusst, dass sein Universalismus die Exklusivität jüdischen Erwählungsbewusstseins in Frage stellte – auch durch Ablehnung der rituellen Zeichen dieser Erwählung (450).
- Die Reform des Jerusalemer Kultes
Das Judentum war nicht nur eine Religion des Gesetzes, sondern auch des Tempels. Paulus wollte ihn reformieren: Die „Vollzahl der Heiden“ soll Zugang zu ihm haben (11,25). Sie wird in den inneren Tempelbezirk „hineingehen“. Ermöglicht wurde das durch den Opfertod Christi, der an die Stelle der sühnenden Opfer des Tempels getreten war (3,21-26). Er hatte Sühne für die Sünden der ganzen Welt geschaffen und damit die Voraussetzung dafür, dass auch Nicht-Juden Zugang zum Tempel haben. Paulus setzt im Röm dem sühnenden Opfer Christi zwei Bilder eines Gottesdienstes ohne Opfer entgegen: Das erste Bild ist der vernünftige Gottesdienst der Christen im Alltag. An die Stelle des blutigen Opferkults im Tempel tritt ethisches Handeln (12,1f). Christen zeigen in ihm, dass sie verwandelt sind und eigenständig beurteilen können, was „gut und wohlgefällig und vollkommen“ ist. Das zweite Bild ist der Priesterdienst des Paulus, der die Heiden als ein lebendiges Opfer nach Jerusalem bringt – in der Hoffnung, dass sich der Tempel für alle öffnen wird. Ihre Zulassung zum Gottesdienst im Tempel war Paulus als „Geheimnis“ offenbart worden. Es lag bei Gott, dieses Wunder herbeizuführen. Vielleicht war er überzeugt, das Überbringen der Kollekte könnte als Erfüllung der eschatologischen Wallfahrt zum Zion erlebt werden. Paulus setzt voraus, dass sich die „Vollzahl der Heiden“ zu dem einen und einzigen Gott bekehrt hat. Er konzentriert den Kult auf das Wichtigste, auf die Verehrung Gottes und auf sein Lob unter allen Heiden zusammen mit seinem Volk (vgl. 15,9-12) (450f).
Paulus setzte darauf, dass Christus selbst auf wunderbare Weise den Weg zum Heiligtum frei machen werde. Die Lokalisierung der Parusie auf dem Zion bringt in mythischer Form zum Ausdruck: Die Öffnung des Judentums muss aus dessen innerstem Zentrum heraus erfolgen. Die mythische Form der Parusieerwartung signalisiert, dass diese Reform für menschliches Wollen und Planen unverfügbar ist. Die Einheit von Juden und Heiden gehörte zu den eschatologischen Träumen des Paulus. Der Traum von der gemeinsamen Gottesverehrung aller Völker ist heute lebendiger als je zuvor (451f).
- Die Reform der Grunderzählung des Judentums
Paulus will auch die dritte Säule des Judentums, die Geschichte des Volkes Israels, für andere Völker öffnen. Heiden und Juden sollen sich als Nachkommen Abrahams verstehen. Paulus relativiert die physische Abstammung von Abraham. So wie der Kern des Gesetzes die Liebe ist und das Wesen des Kults die Verehrung Gottes, so ist die Substanz der Gemeinschaft der ‚Glaube‘, der es jedem Glaubenden erlaubt, die Erzählung von Abraham auf sich zu beziehen und mit Abraham eine ‚imaginierte‘ Glaubensgemeinschaft zu bilden. Paulus betont, dass der wahre Jude ein Jude im Verborgenen ist (Röm 2,28f) und mahnt dazu: „Darum lasst uns nicht mehr einer den anderen richten“ (14,13). Keiner soll seinen Bruder wegen abweichender Sitten verachten. Denn jeder muss für sich Rechenschaft vor seinem Herrn abgeben (14,10-12). Der Glaube ist unsichtbar. Er kann sozial nicht kontrolliert werden (452f).
Fazit: Paulus führt Gesetz, Kult und Gemeinschaft auf das Wesentliche zurück: das Gesetz ist im Kern Liebesgebot, der Kult Gottesverehrung, die Gemeinschaft Glaubensgemeinschaft. Die Konzentration auf das Wesentliche wird durch Christus ermöglicht, mit dem eine neue Welt beginnt. Die christozentrische Bindung gibt dieser Gemeinschaft Profil nach außen und Zusammenhalt nach innen. Erst die Bindung an Christus begründet ein neues Ethos mit Erzählungen von Jesus, erst sie ermöglicht es, das reiche ethische Erbe des Judentums fruchtbar zu machen und erst sie begründet neue Riten und bietet eine Grunderzählung an, in der Christus die Mitte der Geschichte Gottes mit den Menschen und mit seinem Volk Israel ist. Aber diese Bindung an Christus stellte den strengen Monotheismus des Judentums in Frage (452f).
Nur im Diasporajudentum können wir eine gewisse Reformbereitschaft postulieren. In ihm lebten gottesfürchtige Heiden und Juden in den Synagogen zusammen. Die ersten Christen boten den Gottesfürchtigen volle Anerkennung und Gleichwertigkeit an. Nur in der Diaspora hatte Paulus daher Erfolg, nicht in Jerusalem. Nach 70 n.Chr. stand das ganze Judentum unter Reformdruck. Paulus begründete alle seine Reformimpulse mit der Autorität eines Messias, mit dem eine entscheidende Wende der Welt beginnen sollte und der seit seiner Auferstehung den gleichen Rang wie Gott hatte (454).
Dieser christozentrische Glaube der Christen verletzte das Gottesbild des Judentums: Die Christusanhänger verehrten Christus neben Gott. Die Vorstellung einer zweiten Gestalt neben Gott, wie der vorzeitlichen Weisheit oder des endzeitlichen „Menschensohns“, war im Judentum unanstößig, aber ihre kultische Verehrung war im Judentum ausgeschlossen.
b. Paulus‘ Anfechtungen
- Anthropologischer Pessimismus als Begründung des Universalismus
- Paulus‘ Universalismus als Ursache kognitiver Dissonanzen
- Die Öffnung für andere als Aufgabe
Paulus befürchtet, in Jerusalem umzukommen. Trotzdem hat er sein Ziel einer Öffnung des Judentums nicht aufgegeben. Sein zweites Ziel war noch weitreichender: Ein neuer Mensch sollte den alten Menschen ablösen. Doch Paulus wurde in seinen Gemeinden ständig mit der Unvollkommenheit der ‚Erlösten‘ konfrontiert.
- Anthropologischer Pessimismus als Begründung des Universalismus
Das Reformprogramm des Paulus basiert auf einem anthropologischen Pessimismus: Alle Menschen sind als Sünder gleich. Die Gleichheit ist darin fundiert, dass alle Menschen ihre unendliche Distanz zu Gott entdecken. Jesus hatte das Gesetz so ausgelegt, dass es nicht der Abgrenzung gegen die Fremden diente. Er hatte Reinheitsgebote und das Sabbatgebot liberalisiert, ohne sie aufzuheben. Er hatte die Vision, dass Menschen aus allen Völkern in das Gottesreich strömen (Lk 13,29). Dies entsprach der jüdischen Erwartung einer Völkerwallfahrt zum Zion. Der von Jesus initiierte Universalisierungsversuch war der erste erfolgreiche Reformversuch. Er hatte seinen Ursprung nicht in der Oberschicht, sondern im Volk. Die Jesusbewegung hielt sich dadurch, dass sie auch Nichtjuden für sich gewann (455f).
Diese Öffnung der Bewegung für Nichtjuden hat Paulus gegen Widerstände durchgesetzt, auch wenn sie schon vor ihm bei Jesus, bei den Hellenisten und in der antiochenischen Gemeinde begonnen hatte. Paulus begründete die Öffnung durch seine Gesetzeskritik. Er liberalisierte nicht nur das Gesetz, sondern hob Teile davon auf. Legitimation dafür gab ihm sein Christusglaube: Mit Christus war für ihn die Geschichte zwischen Gott und Menschen in ein neues Stadium getreten. Paulus war durch seine Begegnung mit Christus für die Gruppe gewonnen worden, die er vorher bekämpft hatte. In seiner Bekehrung und Berufung liegt der Schlüssel dafür, dass er auf den Konflikt zwischen göttlicher Forderung und menschlichem Verhalten nicht mit einer Verschärfung der Gesetzesforderungen und einer neuen Umkehrbewegung im Judentum reagierte. Er erkannte den Weg der Gesetzesverschärfung als Irrweg und berief sich stattdessen auf die Erlösungstat Christi. Paulus musste in sich seinen alten zelotischen Fanatismus gegen jede Anpassung des Judentums an die heidnische Umwelt überwinden. Dabei entwickelte er einen anthropologischen Pessimismus, der zur Grundlage seines Universalismus wurde: Alle Menschen widersprechen dem Willen Gottes und sind daher vor Gott gleich und auf dessen Gnade angewiesen. Damit riss er die Schranken zwischen Juden und Nichtjuden ein. Er schildert im Röm seinen inneren Konflikt mit sich selbst und dem Gesetz in einzigartiger Schärfe. Dieser Konflikt stellt Entstehungskontext und Begründung für den Universalismus des Paulus dar. Der Grund dafür, dass Heiden das Gesetz nicht übernehmen müssen, liegt darin: Alle Menschen sind Sünder und werden unabhängig vom Gesetz durch ihren Glauben an Christus gerechtfertigt (456f).
Paulus‘ Kritik am Gesetz:
- Das Gesetz verführt zum Gesetzesstolz und zur Abwertung anderer (2,17-24).
- Es bewahrt nicht vor Gesetzesmissbrauch (7,11) und Gesetzeseifer (10,2).
- Es erzeugt die Gesetzesillusion, menschliches Handeln könne erreichen, was allein Gottes Erwählung tun kann (9,30-32).
Das Gesetz wird zum tötenden Buchstaben, statt Leben gebender Geist zu sein (2Kor 3,6). Nur weil das Gesetz als Ganzes in Misskredit geriet, kann Paulus auf den Konflikt zwischen Forderung und Verhalten in der Weise reagieren, dass er zur Einsicht kommt, dass niemand die Forderungen Gottes erfüllen kann und alle Menschen auf Gottes Gnade angewiesen sind – sowohl diejenigen, die gegen das Gesetz verstoßen, als auch diejenigen, die sich darum bemühen, es zu erfüllen (457f).
- Paulus‘ Universalismus als Ursache kognitiver Dissonanzen
Anfechtungen des Gewissens in 1,18-32: Widerspruch zwischen Forderung und Verhalten: Paulus schildert in diesen Vv Götzendienst und die Verkommenheit der Menschen. Er sagt allen Menschen, sie seien nicht besser als die geschilderten Sünder. Der Text sagt: Auch Christen, an die der Röm adressiert ist, müssen sich mit diesen Sündern identifizieren. Wenn Paulus behauptet: „Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen“ (2,1), spricht er jeden Menschen an, der sich selbst ausgenommen hat. In diesen Vv spricht Paulus auch die Christen an! Alle Menschen stehen vor Gottes Gericht „zuerst Juden und ebenso Griechen. Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott“ (2,10f) (459f).
Juden besaßen drei Privilegien: das Gesetz, die Beschneidung und die Verheißungen. Paulus interpretiert diese ‚Privilegien‘ so um, dass auch Heiden sie besitzen können: Sie können ihre Sünden nicht dadurch rechtfertigen, dass sie kein Gesetz, keine Beschneidung oder keine Verheißungen besitzen. Alle Heiden und Heidenchristen haben das Gesetz in ihrem Herzen eingeschrieben. Dem Jüngsten Gericht entspricht das innere Gerichtsforum des Gewissens (2,5-11/2,12-16), der Liebe Gottes im Christusgeschehen die Liebe Gottes in den Herzen (5,6-11/5,5), der Fürsprache Christi im Himmel die Fürsprache des Geistes im Herzen (8,31-34/8,26f) (460f).
Gott ist ein gütiger Richter, denn er urteilt nach dem Evangelium (2,16). Das sich im Gewissen ankündigende Gericht ist auch für alle Christen eine bleibende Anfechtung, aber es verweist sie auf ihre Heilsgewissheit aufgrund des Evangeliums (462).
Röm 7,7-24 beschreibt den Zustand des Menschen vor der Bekehrung, 7,25 – 8,39 den nach der Bekehrung. 8,2 greift auf den Gegensatz des Gesetzes als Buchstabe und Geist zurück – jetzt in der Gestalt von zwei einander entgegengesetzten Gesetzen, dem Gesetz „des Geistes und des Lebens“ auf der einen und dem Gesetz „der Sünde und des Todes“ auf der anderen Seite. Die Wende zwischen dem alten und dem neuen Leben liegt zwischen der verzweifelten Klage: „Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe“ (7,24) und dem darauffolgenden Jubelruf: „Dank sei Gott durch Jesus Christus unsern Herrn“ (7,25). Nach 7,14 ist der Mensch unter die Sünde verkauft, nach 8,2 ist er „befreit vom Gesetz der Sünde und des Todes“. Nach 7,17.20 wohnt die Sünde im Menschen, nach 8,9 wohnt in ihm der Geist Gottes. In 7,18 werden Sarx und Ich gleichgesetzt, in 8,9 werden sie getrennt, wenn es heißt: „Ihr seid nicht mehr in der Sarx“. Nach 7,23 streitet ein „anderes Gesetz“ in den menschlichen Gliedern gegen das Gesetz des Verstandes. Nach 8,6 ist dieser Streit überwunden, denn das Trachten des Geistes schafft Leben und Frieden. 7,14-24 schaut auf einen überwundenen Konflikt zurück. 7,25: „So diene ich nun mit der Vernunft dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde“. Man muss in diesem zwischen Verstand und Fleisch zerissenen Menschen einen Christen erkennen. Dieser Christ ist simul iustus et peccator. Jede präsentische Eschatologie enthält solch eine Paradoxie. Röm 8: Einerseits sind die Christen zu Söhnen Gottes adoptiert (8,14f), andererseits warten sie noch auf die Adoption zur Sohnschaft (8,23). So wie es eine präsentische Zukunft gibt, gibt es auch eine präsentische Vergangenheit, ein Nachwirken der vorchristlichen Zeit im gegenwärtigen christlichen Leben. 7,14-24 bezieht sich zwar auf die vorchristliche Zeit, aber diese wirkt in der Gegenwart nach. Der Konflikt in 7,25 trifft nach wie vor auf jeden Christen zu. Das Ich identifiziert sich in 7,25 ganz mit jenem Ich, das sagt: „Ich selbst diene dem Gesetz“, es identifiziert sich nicht mehr mit dem Fleisch wie in 7,18. Die Lebendigkeit der Schilderung seiner Vorzeit im Präsens in 7,14-24 deutet an: Hier spricht ein bekehrtes ‚Ich‘ über noch immer gegenwärtige Probleme und es kann öffentliche über sie sprechen, weil es diese Probleme schon als überwunden betrachten darf (463).
In Röm 7 beschreibt Paulus einen vergangenen inneren Konflikt, dessen Nachwehen er noch in der Gegenwart spürt. Er war einst ein Feind der Christen, die sich schon vor Paulus für die Heiden geöffnet hatten. Diese hatten auf den Zustrom der Heiden zum Tempel und auf seine Öffnung gehofft (Mk 11,17: „Mein Haus soll ein Bethaus für alle Völker werden“). Paulus hatte einst ihre universalistischen Tendenzen bekämpft. Die Formulierung: „Nicht was ich will, tue ich, sondern was ich hasse, das tue ich“ (7,15; vgl. 7,17) formuliert eine Erkenntnis, die Paulus durch Rückblick auf seine Verfolgerzeit gewonnen hatte. Damals wollte er das Gute, bewirkte durch sein Handeln aber faktisch das Böse. Paulus ist unterstellt worden, er wolle in seiner Missionstätigkeit das Böse, damit das Gute herauskomme (3,8). Er kontert, dass er keineswegs das Böse um des Guten willen wolle; im Gegenteil: Einst hat er das Gute (die Gesetzeserfüllung) gewollt, aber faktisch Böses angerichtet. Jetzt aber schaut er auf seine Vergangenheit zurück. Durch seine Bekehrung wurde er von einem Fundamentalisten zu einem universalistischen Reformator (464).
Anfechtung des Glaubens in 4,1-25: Widerspruch zwischen Verheißung und Glauben: Abraham wurde eine universale Verheißung zugesprochen: In ihm sollen alle Völker gesegnet sein. Da er für Nachkommen zu alt ist, muss er gegen den Augenschein an diese Verheißung glauben. Paulus‘ Problem war nicht sein Alter und seine Zeugungsfähigkeit. Sein Auftrag war, Kinder Abrahams zu schaffen, indem er Menschen für den Glauben gewinnt. Paulus vertraute wie Abraham der Verheißung einer universalen Nachkommenschaft. Diese Verheißung schien oft genauso unrealistisch zu sein, wie die Verheißung an Abraham. Wenn Paulus bei der Mission der Nabatäer gescheitert war, die doch Kinder Hagars und Abrahams waren, wie sollte er dann alle Völker für den Glauben an Christus gewinnen? Paulus musste sich Mut zusprechen, wie es Abraham 4,20-22 tat: „Denn er zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben, sondern wurde stark im Glauben und gab Gott die Ehre und wusste aufs allergewisseste: was Gott verheißt, das kann er auch tun. Darum ist es ihm auch zur Gerechtigkeit gerechnet worden“. Der Widerspruch zwischen dem Glauben und Hoffen des Menschen und dem Handeln Gottes wird zum Problem (464f).
8,1-39: Diese zweite Form der Anfechtung tritt auch in Röm 8 im Bild des Seufzens der Erlösten hervor (8,22-27). Hier geht es um eine Krise durch Endlichkeit und Leid. Hier steht Gottes Geist im Konflikt mit der Unerlöstheit der Welt. Dieser Geist ist die erlösende Kraft, die sich gegen die Sarx durchsetzt. Er klagt aus der Tiefe des unerlösten Daseins. Der Geist ist die Kraft des Universalismus, durch die sich die Gemeinde für Fremde und Heiden öffnet. Heiden werden durch den Empfang des Geistes zu Mitgliedern der Gemeinde. Die heidnischen Galater sind durch den Empfang des „Geistes“ zu Christen geworden (Gal 3,2). Paulus dient nicht dem Buchstaben, sondern dem Geist, daher kann er die Freiheit vom Gesetz als Voraussetzung für seine Heidenmission verkündigen (2Kor 3,1-18). Den Auftrag hat er von Christus, der nach dem „Geist der Heiligkeit“ eingesetzt wurde zum Sohn Gottes (1,4). Er bringt die Heiden als Opfergabe „geheiligt im heiligen Geist“ dar (15,16). Dieser Geist Gottes ist aber nicht nur die Kraft, die Paulus zur universalen Mission antreibt und befähigt, sondern auch die Kraft, die ihn in den Konflikt zwischen Geist und Fleisch stürzt: „Denn das Fleisch begehrt gegen den Geist, der Geist aber gegen das Fleisch. Denn diese liegen miteinander im Streit, damit ihr nicht das tut, was ihr wollt“ (Gal 5,17). Der Geist, der die Heiden für das Gottesvolk gewinnt, ist bei Paulus zugleich der Geist, der in ihm einen Konflikt schafft. Röm 8,1-39: Der Widerspruch zwischen der unerfüllten Sehnsucht des Menschen und der Verheißung Gottes wird hier in einer einzigartigen Weise gelöst: Gott selbst leidet in seinem Geist mit den Menschen und mit aller Kreatur unter diesem Widerspruch. Wenn die Kreatur über diesen Widerspruch zu Gott klagt, so klagt in ihr Gottes Geist (465f).
In Röm 9 - 11 stellt Paulus seine Verzweiflung über den Unglauben Israels dar und findet sie vorabgebildet in der Verzweiflung des Mose und des Elia, die beide mit ihrer Botschaft zu scheitern drohten. Mose repräsentiert das ganze Israel (10,1f vgl. 9,15), Elia nur noch einen Rest in Israel (11,1-4). Paulus kontrastiert in Röm 10 den Mose, der die Gerechtigkeit aus dem Gesetz verkörpert (10,5 = Lev 18,5), mit dem Mose, der den Glauben bezeugt. Denn Paulus zitiert Dtn 30,11-14: „Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht so: sprich nicht in deinem Herzen: Wer will gen Himmel fahren? Um Christus herabzuholen...“ (10,6). Weil Mose diese Botschaft des Glaubens schon im Dtn verkündigt hat und sich damit an ganz Israel wendet, wendet sich Paulus damit auch an ganz Israel. Umso größer ist seine Enttäuschung, dass nicht alle in Israel diese Botschaft hören wollen (10,16 = Jes 53,1). Paulus macht dieselbe Erfahrung wie Elia (11,1-4). Er erlebt sich in Israel als allein und verlassen. Elia verkörpert die Anfechtung des Verkündigers, der als Bote Gottes verfolgt und mit dem Tod bedroht wird. Elia erhält in dieser Situation die Offenbarung, dass 7000 Männer und Frauen in Israel übrig geblieben sind, die den Baal nicht verehren. Diese Worte sind für Paulus eine Vorabbildung der Offenbarung, dass Israel nur für einige Zeit und nur teilweise verstockt sei, bis die „Fülle der Heiden“ zum Heil gekommen ist (11,25).
Der individuelle Konflikt kann in Anfechtungen des Gewissens bestehen, das Gesetz durch sein Handeln nicht erfüllen zu können, aber auch in den Anfechtungen des Glaubens, dass Gott seine Verheißungen nicht durch sein Handeln erfüllt oder unerfüllbare Aufträge erteilt. Wenn Paulus in Röm 9 - 11 das gespaltene Israel darstellt und die Erlösung von ganz Israel ankündigt, spricht er indirekt auch über eine Spaltung und Versöhnung mit sich selbst: Paulus war wie ein Ölbaum, aus dem gewaltsam etwas herausgebrochen wurde, aber durch Gottes Gnade wird ihm alles zurück geschenkt (466f).
- Die Öffnung für andere als Aufgabe
1Kor 9 stellt sich Paulus als ein Missionar vor, der nichts unversucht lässt, um alle Menschen für das Evangelium zu gewinnen.
„Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne.
Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin – damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne.
Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden – obwohl ich nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin in dem Gesetz Christi -, damit ich die, die ohne Gesetz sind, gewinne.
Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne.
Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette.
Alles tue ich um des Evangeliums willen, um an ihm teilzuhaben“ (1Kor 9,20-23)
Das Programm seiner Mission ist die grenzenlose Öffnung des Christentums für alle Menschen. Deshalb relativiert Paulus die Normen, die dieser Öffnung im Weg stehen und passt sein Verhalten an das seiner Adressaten an. Paulus steht in dieser Mission in einer Konkurrenzsituation, denn andere missionieren ebenfalls. Paulus läuft in der Kampfbahn. Um den Siegespreis zu erreichen, kämpft er nicht nur gegen andere, sondern auch gegen sich selbst: „Ich bezwinge meinen Leib (schlage ihn) und zähme ihn, damit ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde“ (1Kor 9,27). Paulus betrachtet sein Werben um alle Menschen als eine Aufgabe, die Selbstdisziplin verlangt. Es ist Auftrag Gottes und zugleich eine ethische Herausforderung. Das Liebesgebot gilt sowohl gegenüber Gemeindegliedern als auch gegenüber Menschen außerhalb der Gemeinde (1Thess 3,12). Die Gleichheit aller Menschen wird nicht nur negativ damit begründet, dass alle Menschen hinter den Forderungen Gottes zurückbleiben (so sagt es das Gesetz), sondern auch positiv dadurch, dass das Liebesgebot das Zentrum des Gesetzes ist und universal allen Menschen gilt. Selbst als Feinde Gottes sind alle Mitmenschen Geschöpfe Gottes, über die er seine Sonne auf- und niedergehen lässt (467f).
Erst wenn sich Menschen ihre Feindschaft gegen Gott und andere Menschen offen eingestehen, können sie solche unsozialen Impulse in kooperative Motivation verwandeln. Paulus benutzt dafür das Bild vom Kreuzigen dieser Impulse (Gal 5,24). Paulus nennt die sich dem Guten widersetzende Energie im Menschen oft „Fleisch“ (Sarx). Auch die Bindung an das eigene Volk kann zur Energie der Sarx gehören, die sich dem universalen Heilswillen Gottes widersetzt. Durch den Geist wird der Mensch erneuert und von dieser Bindung an die Sarx befreit. Wenn der Geist des Gesetzgebers selbst im wiedergeborenen Menschen wirkt, werden die Gebote zu Verhaltensmaximen, die spontan erfüllt werden. Der neue Bund besteht darin, dass das Gesetz Gottes in die Herzen der Menschen gelegt wird und keiner den anderen belehren muss (Jer 31,31-34). Paulus erneuert die jüdische Religion, sodass sie auch für Heiden zugänglich ist. Allen Menschen gilt die Gnade Gottes, gleichgültig ob sie Juden oder Heiden sind. Alle müssen eine tiefgreifende Wandlung durchmachen.
Im Röm zeigt sich Paulus als Reformator, der ganz Israel für eine Öffnung für andere Völker in seinem Gottesdienst und in seinem ganzen Leben gewinnen will und deswegen nicht nur soziale Konflikte sondern auch Konflikte mit sich selbst in Kauf nimmt. Die Öffnung des Glaubens für alle Menschen erfordert eine innere Verwandlung des ganzen Menschen: Er muss lernen, asoziale Tendenzen in sich zu überwinden (469f).
c. Die Bewältigung der Anfechtungen: Der Glaube