B. Abschied vom Verständnis der Hinrichtung Jesu als Sühnopfer und von dessen sakramentaler Nutzung in einer Opfermahlfeier
1. Die Struktur des Opferrituals ist auf die Darstellung der Passion Jesu und des letzten Mahles übertragen worden
2. Das Johannesevangelium und die Didaché kennen eine opferfreie Mahlfeier - haben sich aber in der Kirche nicht durchgesetzt
3. Die christliche Sühnopfertheologie ist im Blick auf den geschichtlichen Wandel der Opfer- und Gottesvorstellungen anachronistisch
4. Die kirchliche Sühnopfertheologie und die darauf basierende Mahlfeierpraxis widersprechen der Verkündigung Jesu
5. Die Sühnopfervorstellung steht heute dem Evangelium von Jesus Christus im Weg und muss verabschiedet werden
6. Der Tod Jesu als Opfer und Heilsgabe
7. Jesu ganzes Leben als Offenbarung der Liebe Gottes
K.-P. Jörn (2006³)
Die Todesstrafe ist in den Staaten der europäischen Union abgeschafft worden. Die Todesstrafe kommt heute als Strafe nicht mehr in Frage. Es gibt keinen Rechtsgrund und kein Rechtsgut, die es rechtfertigen könnten, Menschenleben irgendeinem Zweck zu unterwerfen. Deshalb redet Jörns nicht mehr vom Kreuz Christi, sondern ausdrücklich von der Hinrichtung Jesu. Wir müssen vom letzten Mahl und vom christlichen Sakrament reden, weil die Sühnopfertoddeutung der Hinrichtung Jesu in einem Zusammenhang mit der Deutung des letzten Mahles als Opfermahl steht (286-8).
1. Die Struktur des Opferrituals ist auf die Darstellung der Passion Jesu und des letzten Mahles übertragen worden
(1) Der Dreischritt des Opferrituals: Nehmen-Schlachten-Teilen
(2) Die Darstellung der Passion Jesu folgt dem Dreischritt des blutigen Opferrituals
(3) Der Dreischritt prägt auch die ‚Einsetzungsworte‘ des letzten Mahles Jesu und weist es als Festmahl der Opferhandlung zu Mk 14,22-25
(1) Der Dreischritt des Opferrituals: Nehmen-Schlachten-Teilen
Das Tieropfer der griechischen Opferpraxis, das einem Gott dargebracht wird, zielt auf das gemeinsame Essen des Fleisches durch die Menschen, die das Opfer veranstalten. Für die Götter werden auf den Altären die Knochen des Opfertieres, von Fett bedeckt, verbrannt, den Rest, das gute Fleisch, nimmt die fromme Gemeinde zu sich im festlichen Mahl. Während im Tempelkult in Jerusalem das vollständige Verbrennen der Opferschafe üblich war, blieb das Opfermahl bei den Griechen ein konstitutiver Teil der ganzen Opferhandlung. Im Opferkult aus Anlass des Pesachfestes ist es auch üblich gewesen, im Anschluss an das Opfer im Tempel in den Häusern die (im Tempelbezirk) geschlachteten Passalämmer zu essen. Das Opfer geschieht zugunsten Gottes und der Opfernden. Die Menschen profitieren von ihrem ‚heiligen Tun‘ genauso wie der Gott, dem es gewidmet ist (289f).
Die einzelnen Schritte der Gesamthandlung des blutigen Opferrituals:
Nehmen: Das Opfertier wird nach bestimmten Kriterien ausgesucht, gefangen genommen und zum Opferaltar geführt.
Schlachten: Das Opfertier wird geschlachtet, sein Blut vergossen; dann wird es so zerlegt, wie es der Fortgang der Zeremonie vorschreibt: das ‚für die Götter‘ Bestimmte wird in der Brandopferhandlung verbrannt, das für die Menschen Bestimmte aufbewahrt für den dritten Schritt; der Gottheit wird auf diese Weise Dank und Ehre erwiesen.
Teilen und Essen: Das dem Festmahl der Opfergemeinde zugedachte Fleisch wird unter den Teilnehmenden verteilt. Das Teilen sorgt für eine gerechte Sozialstruktur, für eine Festfreude; die Gemeinschaft der Opfernden wird physisch und im Zusammenhalt gestärkt. Außer dem Motiv, die Lebensbasis zu sichern kann es bei den Opferhandlungen auch darum gehen, durch Tieropfer Schuld zu sühnen oder drohende Gefahren abzuwenden. Auch Dankopfer sind üblich gewesen (290f).
(2) Die Darstellung der Passion Jesu folgt dem Dreischritt des blutigen Opferrituals
Alle Evangelien bringen Jesu Prozess und Hinrichtung sowie seine Auferstehung mit dem jüdischen Pessachfest in direkte Verbindung; dadurch ist der Rahmen des blutigen Opferrituals vorgegeben (Mk 14,1a). Das Schlachten der Passalämmer am jüdischen Pessachfest war von sich aus nicht mit der Kategorie der Sühne verbunden, aber das Tamidopfer (bis zur Zerstörung des Tempels 70 n.Chr.), das auch am Pessachabend vollzogen worden war, ist ein Sühnopfer gewesen. Völlig aus dem Rahmen fällt, dass es im christlichen Opferritual um das Sterben eines Menschen geht. Weder der jüdische noch einer der hellenistischen Opferkulte kannte in dieser spätantiken Phase noch Menschenopfer! Die Struktur des blutigen Opferrituals ist deutlich zu erkennen:
Nehmen: Noch vor dem Pessachfest beratschlagen die jüdischen Autoritäten, wie sie Jesus mit List festnehmen und töten können (Mk 14,1b). Die Gefangennahme Jesu wird im Garten Gethsemane in einer Nacht- und Nebelaktion ausgeführt (Mk 14,43-50). Es folgt der Prozess, bei dem die römische Besatzungsmacht eingeschaltet wird, die allein eine Hinrichtung verfügen kann.
Schlachten: Die Opfertötung findet in der Hinrichtung Jesu am Kreuz statt (Mk 15,20b-41). Der Leib Jesu wird nicht verbrannt, sondern in heilem Zustand bestattet (Mk 15,24-27).
Teilen und Essen: Die Soldaten verteilen Jesu Kleider unter sich (Mk 15,24b). Bei Markus haben wir im Nachtrag (16,9-20) die Notiz, dass der Auferstandene die Jünger beim Essen besucht (16,14). Bei Lukas (24,28-31) tritt der Auferstandene als Hausvater auf und – wie beim letzten gemeinsamen Mahl vor der Hinrichtung – bricht er ihnen das Brot (V 30) (291f).
Die Tatsache, dass die drei Schritte des alten Opferrituals in der Passion Jesu wiederzuerkennen sind, zeigt zusammen mit der Datierung der Passion auf das jüdische Pessachfest, dass die Wahrnehmung des Paulus und der Evangelisten vom Opferritual dahin gelenkt worden ist, Jesu Hinrichtung als Opfervorgang zu verstehen. Das Opferritual bot sich als Wahrnehmungsmuster an, weil in Jerusalem z.Zt. des Todes Jesu und weitere 40 Jahre lang ein blühender Tieropferkult bestanden hat. Sein Formular bot die Möglichkeit, die von Jesu Anhängern zuerst als Scheitern und Katastrophe verstandene Hinrichtung (Lk 24,19-21) mit einem positiven Sinn zu verbinden. Das Deutungsmuster wurde übernommen.
Das am jüdischen Pessachfest gefeierte christliche Passafest, ist in doppelter Weise von der ‚Väterart‘ vorgegeben gewesen: von dem – auf Jesu Hinrichtung übertragenen – uralten Schlachtopferritual und von der jüdischen Pessachtradition. Die Theologie – wie vor allem Paulus zeigt – ist mit der Modifikation des traditionellen Opferrituals beschäftigt gewesen. Dessen Prägekraft hat auch die Struktur der ‚Einsetzungsworte‘ bei der Mahlfeier bestimmt. Die sind wiederum der Schlüssel zum Verständnis des Sterbens Jesu geworden (292f).
(3) Der Dreischritt prägt auch die ‚Einsetzungsworte‘ des letzten Mahles Jesu und weist es als Festmahl der Opferhandlung zu Mk 14,22-25
das Brotwort: Nehmen: „Und als sie aßen, nahm er das Brot,...“.
Schlachten: „sprach das Dankgebet darüber, brach es,...“; im Dankgebet kommt die Anrede an Gott das ‚Darbringen‘ zum Ausdruck, das beim Tieropfer im Schlachten und entsprechenden Gebeten geschieht.
Teilen und Essen: „...gab es ihnen und sagte: Nehmt“ (Mk 14,22)! Bei Matthäus ist die Aufforderung ‚nehmt‘ um den Imperativ ‚esst‘ ergänzt (26,26). Bei Lukas (22,19) und Paulus (1Kor 11,25) kommt eine dritte Aufforderung hinzu: „Das tut zu meinem Gedächtnis“.
Im Blick auf den Wein finden wir:
Nehmen: „Und er nahm den Kelch...“
Schlachten: „...sprach das Dankgebet darüber...“
Teilen und Essen: „...und gab ihnen denselben; und sie tranken alle daraus“ (Mk 14,25).
Erst n a c h Ostern ist in die Praxis der Gemeinde, Jesu Gedächtnis im Mahl zu feiern und dabei der Bedeutung seiner Hinrichtung als Sühnopfer für die Sünden der Menschen (Mt 26,28) zu gedenken, aufgenommen. Mit dem Abendmahl konnten die Christen, die ihnen aus anderen Kulten geläufige Opferfestmahl-Praxis fortsetzen. Alle vier Überlieferungen vom letzten Mahl sind in das Passionsgeschehen eingeordnet worden. Die Feier des letzten Mahles gehört in das Gesamtgeschehen der Opferhandlung hinein, wie sie Juden und Griechen ohne Mühe sowohl im Passionsbericht als auch in den Einsetzungsworten haben wieder erkennen können. Sie ist jenes kultische Festmahl, das die Opferhandlung als Gesamtgeschehen abschließt. Dass der Bericht vom letzten Mahl in der Passions- und Ostergeschichte vor der Kreuzigung steht, geht darauf zurück, dass das ‚Herrenmahl‘ als von Jesus Christus eingesetzt verstanden werden sollte. Das Zentrum der traditionellen christlichen Theologie und Erlösungslehre – das Opfergeschehen und seine sakramentale Zueignung im eucharistischen Mahl – ist wesentlich bestimmt von dem Dreischritt des uralten Opferrituals und von der jüdischen Sühnopfervorstellung. Auch das theologisch behauptete Sühnegeschehen und die gemeinschaftstiftende Bedeutung der Mahlfeier sind traditionelle vorchristliche Vorstellungen (294f).
2. Das Johannesevangelium und die Didaché kennen eine opferfreie Mahlfeier – haben sich aber in der Kirche nicht durchgesetzt
Der vom Opferfestmahl geprägte Blick auf die Leidensgeschichte Jesu Christi wird nicht von allen frühchristlichen Überlieferungen geteilt. Innerhalb des NTs ist es das JohEv und außerhalb des NTs die Didaché, die von ganz anderen Wahrnehmungsmustern geleitet werden.
(1) Das JohEv deutet die Hinrichtung Jesu nicht als Sühnopfer und führt mit der Fußwaschung ein eigenes Sakrament ein
(2) Die ‚Lehre der Apostel‘ (Didaché) kennt eine Mahlfeier ohne Bezug zu Jesu Tod, ohne Einsetzungsworte und Sühnegedanken
(3) In der Gesamtkirche wird die Sühneopfertheologie dominant, weil sie sich sakramental nutzen und mit unterschiedlichsten Erwartungen verbinden lässt
(4) Gegen Ende des 1. Jh. zeigt sich ein differenziertes Bild im Blick auf die Mahlfeier und die Sühnopferdeutung der Hinrichtung Jesu
(1) Das JohEv deutet die Hinrichtung Jesu nicht als Sühnopfer und führt mit der Fußwaschung ein eigenes Sakrament ein
Von den römischen Soldaten, die die Kreuzigung als Hinrichtungsart gewöhnt waren, heißt es bei Johannes: „Als sie aber an Jesus kamen, zerschlugen sie ihm die Schenkel nicht, da sie sahen, dass er schon gestorben war“ (19,33). Zur Begründung wird das ‚Schriftwort‘ zitiert: „Kein Knochen soll an ihm zerbrochen werden“ (V 36). Die Vorschrift, dass ein Schenkelknochen als ganzer verbrannt oder bestattet werden muss, finden wir biblisch belegt (2Mose 12,46; 4Mose 9,12; Ps 34,21). Zum einen muss das Verbrennen von Knochen in Parallele gesehen werden zu ihrer Bestattung an heiligem Ort. Zum anderen gilt für beide Opferformen, dass die Knochen vorher nicht gebrochen worden sein dürfen. Der Verfasser dieses ‚Berichts‘ über Jesu Hinrichtung war sowohl in der grichisch-hellenistischen Opferpraxis als auch in der ägyptischen Bestattungsart und der jüdischen Überlieferung gut bewandert. Weil ihm so viel an der Auferstehung Jesu als Ziel seines „Weges zum Vater“ (Joh 13,1) gelegen hat, durfte hier kein Zweifel aufkommen. Die Passions- und Ostergeschichte steht bei Johannes im Zusammenhang einer größeren neuen Komposition, die er Jesu„Weg zum Vater“ nennt. Er beginnt mit der Fußwaschung Kp 13 und endet mit den Erfahrungen, die die Jünger mit dem Auferstandenen machen. Insofern hat Johannes den Rahmen der Hinrichtung verändert und die Opfersprache der Struktur, in der die Passionsgeschichte auf ihn gekommen war, bis zur Unkenntlichkeit aufgebrochen (296f).
Johannes hat den Bericht vom letzten Mahl Jesu gestrichen. Er überliefert als einziger Evangelist kein letztes Mahl (das den Tod Jesu deutet) und also auch keine Ursprungszene für ein Sakrament zur Vergebung der Sünden. Das große Mahl, von dem Johannes berichtet, steht noch vor den Abschiedsreden Kp 14 - 16, dem hohepriesterlichen Gebet Kp 17 und der eigentlichen Passions- und Ostergeschichte Kp 18 - 20/21 und wird mit der Zeitangabe „vor dem Passa“ (13,1) versehen. Vom Rahmen der eigentlichen Leidensgeschichte ist es deutlich getrennt und hat einen völlig anderen Sinn als das letzte Mahl bei Paulus und den Synoptikern: Das Mahl (13,1-15) leitet den „Weg zum Vater“ ein, der direkt auf Ostern zielt und nicht auf ein Opfer. Im Mahl steht das Essen deshalb nicht im Mittelpunkt, sondern die Fußwaschung, die Jesus an seinen Jüngern vornimmt. Mit ihr gibt er ihnen ein „Beispiel, damit ihr tut, wie ich euch getan habe“ (13,15). Indem Jesus den Jüngern die Füße wäscht, stiftet er einen Ritus, den sie um ihrer Seligkeit willen fortsetzen müssen: „Ein Knecht ist nicht größer als sein Herr, noch ein Gesandter größer als der, der ihn gesandt hat“ (V 16). Damit wird an die Weitergabe des Christus-Amtes an die Jünger erinnert, die der Auferstandene vornimmt (20,21). Denn dort gibt er ihnen in einer neuen Schöpfungshandlung den Geist Gottes und sendet sie als seine Gesandten in die Welt: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“ (3,16/20,21). Der Inhalt der Gesandtschaft ist „ein neues Gebot“: „dass ihr einander lieben sollt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieben sollt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (13,34f). Wie Jesus Christus von sich gesagt hat: „Wer mich sieht, sieht den Vater“ (14,9), so sollen die Christen künftig sagen können: Wer uns sieht, sieht Jesus Christus. Das gilt aber nur, wenn sie sein Beispiel der Liebe übernehmen und bereit sind, sich gegenseitig Schuld zu vergeben (20,23). „Wenn ihr dies wisst – selig seid ihr, wenn ihr es tut“ (13,17) (297f).
Dass Johannes die Szene vom letzten Mal mit den die Opfertoddeutungen enthaltenden Einsetzungsworten nicht übernommen hat, macht für Jörns den Schluss unumgänglich, dass Johannes dieses Sakrament mit dem Opferbezug nicht gewollt hat. Dieses Sakrament konnte egoistisch missbraucht werden. Es konnte dazu verleiten, dass ein Mensch durch die Teilnahme an der Mahlfeier mit seinem Gott ins reine kommen will, ohne dass „Beispiel der Liebe“ ernst zu nehmen, das Jesus gegeben hat. Wenn wir dagegen die 'Fußwaschung' als zentrales Sakrament des JohEvs verstehen, dann tritt jenes Beispiel seiner dienenden Liebe ins Zentrum. Durch die ‚Fußwaschung‘ drücken die Christen aus, dass sie die Gemeinschaft mit ihrem Herrn als Fortsetzung seines Weges verstehen. Im Evangelium leitet die Fußwaschung den „Weg zum Vater“ ein. Für die Christen bedeutet die Teilnahme an der ‚Fußwaschung‘, ihrem Gott auf dem von Jesus gegangenen Weg zu folgen.
In dem Mahl des Auferstandenen mit seinen Jüngern (21,5-14) wird Fisch, kein Fleisch gegessen und nichts getrunken. Es gibt keinerlei Bezug zu Jesu Christi Tod! Es geht nur um den Auferstandenen und die Versorgung der Seinen. Eine assoziative Zusammenschau dieses Mahls mit der Hinrichtung Jesu als Opfer ist nicht möglich. Weder das große Mahl (21,13) noch das Fisch-Mahl kann mit der Stiftung des kirchlichen Mahl-Sakraments in Verbindung gebracht werden, denn das gründet inhaltlich in der blutigen Opferhandlung. In 6,54f ist Eucharistiesprache nachträglich interpoliert worden (298f).
Johannes geht es um Jesu Worte, in denen er als Logos zu „haben“ ist. Das bestätigt die häufig bei Johannes begegnende Ausdrucksweise, dass die Menschen „meine Worte“ in sich hörend aufnehmen und in sich bewahren (12,47f):, sie in sich wohnen, ja bleiben lassen, ihnen in sich Raum geben möchten. „Wer mich liebt, wird mein Wort halten“ (14,23). Jesus lässt sich nicht von den Leuten zum König machen, die begeistert sind von der Speisung der Fünftausend (6,15). Neben dem Mißverständnis man gewönne durch ein Mahlsakrament an ihm Anteil, droht hier ein anderes. Er weist die Menge zurück: „Mü ht euch nicht um die Speise, die vergeht, sondern um die Speise, die ins ewige Leben bleibt“ (6,27)! Und als sie diese Speise von ihm haben wollen, „die der Welt Leben gibt“ (6,33), antwortet er: „Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mit kommt, wird nicht hungern und wer an mich glaubt, den wird nicht dürsten“ (6,35). Dieses Brot sieht Johannes nicht mit dem Mahl-Sakrament verbunden, sondern es geht um seine Worte und den Glauben an sie bzw. ihn – denn seine Worte sind jene Speise, die der Welt Leben gibt. Johannes hat die sakramentale Erinnerung des letzten Mahles gekannt, einschließlich der Einsetzungsworte. Aber er hat das letzte Mahl eliminiert und das „Brot des Lebens“ entsakramentalisiert. Johannes hat in seiner Arbeit an der Überlieferung theologische Kritik an der Opfer- und Sakramentstheologie der sich bildenden Kirche geübt (299f).
Für Jörns ist es zweifelhaft, dass „das Lamm Gottes, das der Welt Sünde wegnimmt“ (bzw. wegträgt), vom jüdischen Opferkult (3Mose 16) her gedeutet werden muss. Es geht nicht um die Sünden (Plural) der Gläubigen, sondern um die Sünde (Singular) der Welt in Gestalt ihrer Gottesferne und Geistferne, in die sie hineingeraten ist. Durch das Hineinkommen des Logos in menschliches Leben (1,14) stellt Gott eine neue Beziehung zur Welt her. Mit ihm kommt das Leben in die Welt, das nicht vergeht. Wer Jesus Christus als den Geistgesandten erkennt, „der hat das ewige Leben“ (17,3). Insofern Jesus aber die Gottferne an sich selbst auf seinem Weg zum Vater als Hass ertragen (15,18-25) und sogar die Hinrichtung erduldet hat, ist er hingabebereit gewesen, also lammfromm. Indem Johannes die Deutung der Hinrichtung als Opfer zurückweist, hält er auch Gott aus dessen uralter Verwicklung in das System von Gewalt und Gegengewalt heraus (300).
Sein Vater hatte ihn aus Liebe in die Welt „gegeben“ (3,16). Von einem durch Gott initiierten Opfertod Jesu ist hier nicht die Rede: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengehe, sondern ewiges Leben habe“ (anders 1Joh 2,2). Beim Evangelisten Johannes wird nicht die Opferterminologie „dahingegeben“ verwendet, sondern einfach „geben“: Gott gab ihn in der „Fleischwerdung“ des Logos in die Welt (in die Welt „ gesandt“ 3,17). Gott „gab ihn“ bei seiner Geburt in die Welt, damit die Menschen durch den Glauben an ihn, an seine Worte, ewiges Leben finden.
Am Schluss des ganzen Brot-Kapitels sagt Jesus Christus: „Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch hilft nichts; die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und Leben“ (6,63). Die Zwölf sagen Jesus: „Du hast Worte ewigen Lebens“ (6,68). Um sie geht es. Das Sakrament der Fußwaschung weist auf Jesu Weg der dienstbereiten Liebe. Sie ist der entscheidende Dienst an der Welt (300f).
(2) Die ‚Lehre der Apostel‘ (Didaché) kennt eine Mahlfeier ohne Bezug zu Jesu Tod, ohne Einsetzungsworte und Sühnegedanken
In Kp 9 geht es um die „Eucharistie“ (Dank sagen)
Was die Eucharistie betrifft, so sagt folgendermaßen Dank: …
Zuerst in bezug auf den Kelch: …
In bezug auf das Brot (sagt folgendermaßen Dank): …
Wie dies (Korn) zerstreut war auf den Bergen und zusammengebracht ein Brot geworden ist, so soll deine Kirche zusammengebracht werden von den Enden der Erde in dein Reich! Denn dir gehören die Herrlichkeit und die Kraft in Ewigkeit.
In Kp 10 wird ein Dangkgebet mitgeteilt, das ausdrücklich ‚nach dem Sättigungsmahl‘ gesprochen werden soll. In ihm heißt es:
Du, allmächtiger Herrscher, hast alles geschaffen um deines Namens willen. Speise und Trank hast du den Menschen zum Genuss gegeben, uns aber hast du geistliche Speise und Trank geschenkt und ewiges Leben durch Jesus, deinen Knecht (V 3).
Von der Angabe „nach dem Sättigungsmahl“ her hat die zitierte „ Eucharistie“ einen eigenen Typ Mahlfeier dargestellt, der sich von dem bei Paulus und den Synoptikern überlieferten Typ dadurch unterscheidet, dass es in dieser Liturgie zwar Brot und Kelch (Wein) samt den dazu gehörenden Eucharistigebeten gibt, aber keine Einsetzungsworte und keinerlei Bezug zum Tod Jesu. Außerdem ist die Mahlfeier mit einem wirklichen Essen verbunden. In Didaché 10,3 wird ein deutlicher Unterschied gemacht zwischen dem „allen Menschen zum Genuss“ gegebenen Essen („ Speise und Trank“) und der der Gemeinde geschenkten „geistlichen Speise und Trank“. Beide gehören insofern zusammen, als es sich um Gaben handelt, die die Menschen von Gott empfangen und ihm nicht darbringen bzw. opfern (301f).
Es gibt blutige Opfer vor dem Tempel, ohne eine sichtbare Präsenz Gottes, … und Opfer im Tempel, vor dem Kultbild, die Speisen im Schema von Gabendarbringungen ‚vorlegen‘. Im Laufe der Zeit wird die Opfer-Handlung zu einer Dankopfer-Handlung, für die das Wort Opfer nicht mehr passt.
In Kp 14 der Didaché gibt es noch Anweisungen für die am Sonntag zu feiernde Eucharistie:
An jedem Herrentag (Sonntag) versammelt euch, brecht das Brot und sagt Dank, indem ihr dazu eure Übertretungen bekennt, damit euer „Gott dargebrachtes Gebet“ rein sei. (2) Jeder aber, der Streit mit seinem Nächsten hat, soll nicht mit euch zusammenkommen, bis sie sich ausgesöhnt haben, damit euer Gebet nicht entweiht werde!
Wichtige Unterschiede zu der Feier von Kp 9 und Kp 10 sind das zur Eucharistieliturgie hinzugehörende Schuldbekenntnis und die Anweisung, in der Gemeinde bestehenden Streit vor der Mahlfeier durch Aussöhnung zu schlichten. Dadurch wird verhindert, dass die Mahlfeier egoistisch dazu missbraucht werden könnte, das Gottesverhältnis der einzelnen zu bereinigen und darüber die Beziehung der Menschen untereinander zu vergessen. An diesem Punkt ist die Didaché dem john Mahlverständnis mit dem Gebot: „einander zu lieben“, sehr nahe. Aber auch darin, dass sie eine starke eschatologische Ausrichtung auf das kommende Reich Christi hat, bezeugt die Didaché mit ihrer Eucharistiefeier eine Nähe zum opferlosen Mahl des JohEvs. Dass in der Didaché der Gedanke, Jesu Leib und Blut zu sich zu nehmen, fehlt, wird sich von den jüdischen Vorlagen her erklären, weil im Judentum jeder Blutgenuss streng verboten war (3Mose 17,10-14) (302f).
(3) In der Gesamtkirche wird die Sühneopfertheologie dominant, weil sie sich sakramental nutzen und mit unterschiedlichsten Erwartungen verbinden lässt
Ignatius von Antiochien deutet die Mahlfeier von der Inkarnation des Logos im Fleisch her. Er hat die Instrumentalisierung der Heilswirkung auf die Spitze getrieben, indem er das Brot der Mahlfeier eine ‚Unsterblichkeitsarznei‘ nennt, ein ‚Gegengift‘, das den Tod verhindert, aber zum Leben in Jesus Christus für immer führt (IgnEph 20,2). Dieser Sprachgebrauch hat sich im hellenistischen Bereich rasant ausbreiten können. Die Idee, Jesu Sterben sakramental zu nutzen, fiel in der hellenistischen Welt auf fruchtbaren Boden. Die Überzeugung, dass durch heiliges Essen und Trinken ein direkter Zugang zu göttlichen Gütern offenstehe, hat sich dadurch verbreitet. So wird die Mahlfeier Zug um Zug zu einem Mittel, durch das sich die Christen einen Zugang zu ihrer persönlichen Erlösung und zum ewigen Leben sichern können. Nun ist es möglich, die Erbsünde durch das Altarsakrament zu bekämpfen. Buß- und Beichtpraxen werden vorgeschaltet und sorgen für einen würdigen Genuss des Sakramentes (304f).
(4) Gegen Ende des 1. Jh. zeigt sich ein differenziertes Bild im Blick auf die Mahlfeier und die Sühnopferdeutung der Hinrichtung Jesu
- Paulus und die Synoptiker verbinden die Hinrichtung Jesu mit dem letzten Mahl. Das Mahl wird zugleich zum hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis der Hinrichtung Jesu. Dafür sorgen die ‚Einsetzungsworte‘, die die Hinrichtung Jesu mit einem für die Christen positiven Sinn verbinden: es ist ein von Gott gegebenes Sühnopfer zugunsten der Menschen gewesen. Sein Tod hat einen ‚neuen Bund‘ gestiftet und geschieht ‚für die vielen‘ (Mk 14,24) oder ‚für euch‘ (1Kor 15,24) zur Vergebung der Sünden. Mit dem Opfertod des Gottessohnes und Menschen Jesus Christus konnte die als notwendig angesehene Versöhnung Gottes mit der Welt bewerkstelligt werden. Maßgeblich ist das Motiv der stellvertretenden Sühne zur Vergebung der Sünden (305f).
- Das Johannesevangelium streicht die Mahlfeier als Todesgedächtnis und Begründung eines Sakramentes zur Vergebung der Sünden. Stattdessen verbindet es ein vor dem Passa gefeiertes Mahl Jesu mit den Jüngern mit dem neuen Ritus der Fußwaschung, in dem das Beispiel der dienstbereiten Liebe, das Jesus selbst gegeben hat, symbolisch weitergegeben werden kann. Einen positiven Bezug zu Jesu Tod gibt es hier nicht. Johannes geht es um Jesu „Weg zum Vater“.
- In der Didaché ist eine ‚Eucharistie‘ genannte Mahlfeier belegt, die vom Dank für die Lebensgaben Brot und Wein bestimmt ist. Diese Mahlfeier hat keinen Bezug zu Jesu Tod und beruft sich nicht auf ein Sühnopfer, vermittelt also auch keine Vergebung der Sünden (305f).
Derart unterschiedliche Typen von Mahlfeier konnten sich entwickeln:
- weil die ursprünglichen Überlieferungen von der Hinrichtung Jesu noch ohne jede dogmatische Interpretation dieses Todes gewesen sind. Die Berichte (in sich) sagen nichts dazu, wie Jesu Tod zu verstehen und ob bzw. welche Wirkung für andere davon ausgehen könnte, d.h. alle Deutungen sind ‚nur‘ Wahrnehmungsgestalten der Hinrichtung Jesu.
- weil Paulus und die Synoptiker genauso wie Johannes, die Didaché und andere bei der Wahrnehmung und literarischen Gestaltung der Passions- und Ostergeschichte sowie bei der Ausgestaltung der Mahlfeier den Regeln kultureller Kohärenz gefolgt sind. Ihre Deutungen entsprechen den Vorstellungen, die in ihrer jeweiligen Umgebung vorherrschend waren.
- weil alle anfangs von sehr unterschiedlichen Vorstellungen von Gott, von den Menschen und vom wechselseitigen Verhältnis von Menschen und Gott ausgegangen sind. Das Nebeneinander von Todesdeutungen und Mahlfeiern hat damit zu tun, dass es rivalisierende Vorstellungen gab, dass die Opfergeschichte mit einer Kontroverse über die Gottesvorstellung zu tun hat (306f).