3. Monotheismus und Trinitätslehre?
A. Präexistenzchristologie im Neuen Testament?
B. Vom Vater Jesu zum 'Mysterium' der Trinität
A. Präexistenzchristologie im Neuen Testament?
(1) Die arämäisch sprechende Urgemeinde in Jerusalem
(2) Die Tradition des hellenistischen Judenchristentums (Phil 2,6-11)
Anhang Röm 9,5: Ein Loblied auf Christus als Gott?
(3) Der Brief nach Kolossä (1,15-20)
Warum man die Präexistenz Christi bekennen musste
(4) Vorherbestimmung/Erwählung (Eph 1,4f; 1Ptr 1,20)
K.-J. Kuschel (1990)
(1) Die aramäisch sprechende Urgemeinde in Jerusalem
a. Der Felsengrund der Geschichte
b. Im Zeichen der Wiederkunft des Erhöhten
c. Hat Jesus sich als präexistenter Menschensohn verstanden?
d. Zur Christologie der Spruchquelle Q
a. Der Felsengrund der Geschichte
Die ältesten Zeugen lassen die Geschichte Jesu nicht im Himmel beginnen, nicht in einer mythischen Vorzeit, sondern an einem konkreten Ort hier auf Erden. Sie erzählen die Geschichte eines Mannes, von dem es in einem der ältesten Texte heißt: “Er zog durch ganz Galiläa, predigend in den Synagogen und trieb die Dämonen aus“ (Mk 1,39). Das Interesse an einer Vorzeit Jesu ist in den Quellen so gering, dass das älteste Evangelium, das Mk-Ev, noch nicht einmal eine Kindheitsgeschichte oder einen Stammbaum Jesu kennt und auch diejenigen Evangelien, die von einer Kindheit und einem Stammbaum berichten, haben kein Interesse daran, Jesu Herkunft aus einer himmlischen Vorzeit zu begründen, sondern berichten von einer geschichtlich-irdischen Vorzeit, der Geschichte des jüdischen Volkes (Mt 1,1-17; Lk 3,23-38) (284).
Die historisch-kritische Forschung der letzten 200 Jahre war es, die seit der Aufklärung den Felsengrund der Geschichte neu freilegte, um durch alle mythisierenden Bilder hindurch zur authentischen Menschlichkeit des Nazareners durchzustoßen. Über das Wirken Jesu kann man folgendes sagen: Charakteristisch für den historischen Jesus sind: Exorzismen, der Bruch des Sabbatgebotes, die Verletzung von Reinheitsvorschriften, die Polemik gegen die jüdische Gesetzlichkeit, die Gemeinschaft mit deklassierten Personen von Zöllnern und Dirnen, die Zuneigung zu Frauen und Kindern. Auch ist zu erkennen, dass Jesus nicht wie der Täufer ein Asket war, sondern gerne aß und ein Glas Wein trank. Jesus trat auf in dem Bewusstsein, von Gott beauftragt zu sein, die eschatologische Botschaft von der hereinbrechenden Gottesherrschaft und den fordernden, aber auch einladenden Willen Gottes zu verkündigen (284f).
Jesu Auftreten und seine Verkündigung haben eine Christologie impliziert, insofern Jesus die Entscheidung gegenüber seiner Person als dem Träger des Wortes Gottes gefordert hat, eine Entscheidung von der das Heil oder das Verderben abhängt (285).
Wir verfügen über keine direkten Zeugnisse der aramäisch sprechenden Urgemeinde, deshalb sind wir auf Rückschlüsse aus den Paulusbriefen, den synoptischen Evangelien und der Apg angewiesen. Das Selbstverständnis dieser tempel- und gesetzestreu gebliebenen Christengemeinde dürfte sich in der Urpassionsgeschichte (Mk-Ev), der sog. Spruchquelle (rekonstruierbar nach Mt und Lk), in der synoptischen Apokalypse (Mk 13), in den Petrustraditionen der Apg sowie in den von Paulus zitierten, feststehenden Bekenntnisformeln und liturgischen Hymnen aufbewahrt haben. Was ist hier der christologische Schwerpunkt (286)?
b. Im Zeichen der Wiederkunft des Erhöhten
Die ersten Christusbekenntnisse dürften sich um Kreuz und Auferweckung gebildet haben: “Gott hat Jesus von den Toten auferweckt“ (Röm 10,9b). Gott allein ist hier der Handelnde. Die Auferweckung Jesu durch Gott wird als Ausdruck eines – trotz des Schandtodes – bleibenden Vertrauens in Gottes Gerechtigkeit verstanden. Auch und gerade diesem leidenden Gerechten aus Nazareth ist von Gott Genugtuung widerfahren (287f).
Dieser Gekreuzigte wurde erhöht und an der Seite Gottes inthronisiert, d.h. in sein messianisches Amt eingesetzt: “Diesen Jesus hat Gott auferweckt, dafür sind wir Zeugen. Nachdem er durch die rechte Hand Gottes erhöht worden war und vom Vater den verheißenen Heiligen Geist empfangen hatte, hat er ihn ausgegossen, wie ihr seht und hört. Mit Gewissheit erkenne das ganze Haus Israel: Gott hat diesen Jesus , den ihr gekreuzigt habt, zum Herrn und Messias gemacht“ (Apg 2,32f.36). “Das Evangelium von seinem Sohn, der dem Fleisch nach geboren ist als Nachkomme Davids, aber dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferweckung“ (Röm 1,3f) (288f).
Eng mit der Auferweckungs- und Erhöhungsaussage war die Hoffnung auf die Wiederkunft Christi verbunden: “Dann wird man den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken kommen sehen...“ (Mk 13,26f).
c. Hat Jesus sich als präexistenter Menschensohn verstanden?
“Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? - Ich bin es, und ihr werdet den Menschensohn sehen sitzend zur Rechten der Macht kommend mit den Wolken des Himmels“ (Mk 14,61f). Die überwiegende Mehrheit der Exegeten geht davon aus, dass Jesus selbst sich nicht als einen präexistenten und kommenden Menschensohn im Sinne von äthHen 48 verstanden hat. Der titulare Gebrauch von Menschensohn ist nachösterliche Gemeindebildung. Sicher ist, dass Jesus von der Gemeinde nach seinem Tode mit dem kommenden apokalyptischen Menschensohn identifiziert worden ist (292f).
Bei allen nachösterlichen Menschensohn-Worten fehlt die Präexistenzaussage. Für die strenge Abgeschlossenheit der synoptischen Menschensohnworte gegen Präexistenzaussagen lässt sich keine schlüssigere Erklärung anführen als die Abhängigkeit von der Verkündigung Jesu. Weil Jesus selbst nichts erkennen ließ von einem Weg aus der himmlischen Präexistenz über die irdische Existenz in die himmlische Postexistenz, hatte auch die Gemeinde kein Interesse daran, mit der Menschensohnerwartung zugleich auch die Präexistenzaussagen mit zu übernehmen, geschweige denn diese apokalyptisch-visionär weiter auszugestalten.
Die synoptischen Aussagen knüpfen nicht an die apokalyptischen Traditionen an, die durch den äth Hen und den 4. Esra repräsentiert werden. Dagegen wird Dan 7,13 mehrfach zitiert, jedoch nur an späten, sekundären Stellen (Mk 13,26 par; 14,62 par). Demnach scheinen die synoptischen Aussagen über den Menschensohn ähnlich wie die über das Reich Gottes nur eine sehr allgemeine Vorstellung vorauszusetzen, nämlich der Menschensohn werde als eschatologische Heilsmittlergestalt das Weltgericht vollziehen und Gottes Herrschaft aufrichten (293f).
Die Urgemeinde wagte es, den Messias / Menschensohn mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth zusammenzudenken. Der Skandal war, dass Jesus, ein unstudierter Handwerker aus dem Nest Nazareth, beanspruchte, den Willen Gottes ganz zu kennen und ihn zu verkünden als mit dem Geist Gottes gesalbter Lehrer, Prophet und Offenbarer des eschatologischen Heilsplanes Gottes, als Gesandter Gottes, der in der definitiven Autorität Gottes sprach und agierte.
Jesus selbst hat keine Würdebezeichnung wie Messias oder Sohn Gottes für sich beansprucht. Ein messianischer Anspruch war vom jüdischen Standpunkt kein todeswürdiges Verbrechen. Die Prozessanklage war eine vorgeschobene Beschuldigung gewesen, Teil einer Denunziationsstrategie der Tempelaristokratie, die auf diese Weise einen religiösen Umstürzler wie Jesus durch die Römer beseitigen lassen wollte. Nicht die Frage der Messianität Jesu ist brisant gewesen, sondern der Umstand von Jesu Tod. Denn nach Dtn 21,23 ist ein Gekreuzigter zugleich auch ein von Gott Verfluchter. Deshalb gilt: Ein gekreuzigter Messias ist im jüdischen Kontext ein Widerspruch in sich (294f).
Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mk 12,1ff)
Person und Schicksal Jesu wurden in diesem Gleichnis offenkundig in Analogie zur Sendung der Propheten begriffen. Die Sendung des Sohnes erfolgt auf der gleichen Ebene wie die der Knechte (295f).
Auch dieses Gleichnis, das Jesu Auftritt als Gesandtsein in Analogie zu den atl Propheten deutet, enthält ebensowenig eine Präexistenzaussage wie die Worte über den Menschensohn. Spezifikum der Christologie in dieser frühen judenchristlichen Traditionsschicht des NT ist Jesu Passion und Parusie, nicht die Abkunft, sondern die Wiederkunft aus dem Himmel, die Wiederkunft dessen, der unschuldig gelitten hatte, den Gott nicht im Tode ließ, sondern ins Recht setzte und mit himmlischer Macht bekleidete (296).
Die Situation der Urgemeinde war paradox – bedenkt man, dass ihr Jesus im Namen der höchsten jüdischen Autoritäten beseitigt worden war. Dennoch hatten sie als Juden nicht aufgehört, an Jesus als Gottes eschatologischen Bevollmächtigten zu glauben. Das musste sie – nach dem Fiasko ihres 'Helden' – im eigenen Volk in die Isolation treiben. Was die Nazarener-Gruppe nach dem Kreuzestod behauptete, musste der eigenen Umwelt widersinnig sein: Ausgerechnet der, der soeben noch im Namen des Gesetzes Gottes liquidiert worden war, soll von Gott selbst gerechtfertigt worden sein? Er, der soeben noch als Messiasprätendent hingerichtet werden musste, soll als der Messias Gottes geglaubt werden (297)?
Aus einem durch Menschen Hingerichteten war der durch Gott Inthronisierte geworden. Der Messiasprätendent war nun als der Messias Gottes selbst verkündet. Person und Schicksal Jesu wurden in der frühen Christenheit nicht nach den üblichen Traditionsschemata interpretiert, zu denen auch die apokalyptische Präexistenzvorstellung gehörte. Jesus von Nazareth hatte für seine Anhänger offenbar dieses Schema gesprengt (297).
d. Zur Christologie der Spruchquelle Q
Menschensohn ohne Präexistenz
Jesus dürfte für den hinter 'Q' stehenden Kreis in erster Linie der erwartete eschatologische Menschensohn gewesen sein, der der Gemeinde, die in Verfolgung und Leid liegt, ihr Recht zuteil werden lassen wird. Auch in diesem Kreis herrscht Naherwartung vor, Erwartung des Gerichtes (Mt 24,37-44), dessen Vorläufer Johannes der Täufer war (Mt 3,7-12) (298).
Ebenso wie in den Urpassions-Texten fehlt auch in Q bei den Menschensohn-Aussagen jeglicher Hinweis auf die Präexistenz Christi. Nirgendwo in Q ist die Gestalt des irdischen Jesus mit Hilfe des Menschensohn-Titels divinisiert worden. Jesus wird in Q nur als der konkrete, irdische Mensch Jesus dargestellt. Eine Szene wie die Verklärung Jesu (Mk9,2-8) findet sich aus diesem Grund in Q nicht. Die Vorstellung, Jesus verberge seine himmlische Würde, ist in Q nirgendwo ausgesprochen. Die apokalyptische Vorstellung der himmlischen Verborgenheit des präexistenten Menschensohnes lässt sich auf das Erdenleben Jesu nicht übertragen, weil in Q ein radikal anderer Jesus erscheint, der so gar nichts von einem 'himmlischen Wesen' an sich hat (298f).
Das eigentlich Neue und Christliche dieser Menschensohn-Aussagen ist die neue inhaltliche Akzentsetzung: der Menschensohn der Q-Gemeinde ist der Arme und Ausgestoßene, der Wanderer ohne Heimat. Jesus, der christliche Menschensohn, ist eine Kontrastgestalt zu allem bisher Vertrauten. Er ist missverstanden und missachtet von Menschen (Lk 9,58) und von der supranaturalen Machtausstattung des apokalyptischen Menschensohnes weit entfernt. Eine Akzentverlagerung hat hier stattgefunden unter dem offenkundigen Eindruck des konkreten Erdenlebens Jesu selber! “Johannes ist gekommen, aß nicht und trank nicht; da sagen sie: Er ist besessen. Der Menschensohn ist gekommen, isst und trinkt; da sagen sie: Siehe, was ist dieser Mensch für ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder“ (Mt 11,18f).
Der Menschensohn Jesus bekundete Vollmacht dadurch, dass er die Schranken einer sakrosankten Konvention durchbrach und das tat, was in den Augen vieler nur als großes Ärgernis erscheinen konnte. Mit der Aufnahme der armen, deklassierten Menschen in seine Gesellschaft verbindet sich die Proklamation der Sünderliebe Gottes und der Vergebung, die im Besonderen diese Verachteten erreicht (299).
Spezifisch jesuanisch und urchristlich ist nicht der Blick in die Höhe, sondern der Blick in die Tiefe, um gerade so in den Niedrigkeitsgestalten menschlichen Lebens Gottes Nähe zu erfahren, um gerade bei den Ohnmächtigen und Deklassierten Gottes Macht und Zuwendung zu bezeugen. Jesus ist nicht der Menschensohn-Messias, der mit apokalyptischem Terror und einem gewaltigen göttlichen Blutbad der neuen Gerechtigkeit gewaltsam zum Durchbruch verhilft. Er ist kein König, der mit dem Stab seines Mundes die Menschen diszipliniert und niederzwingt. Er ist ein Messias der bedingungslosen Gewaltlosigkeit, der sein Regierungsprogramm der gewaltlosen Bruderliebe nicht nur verkündet, sondern konsequent gelebt hat. Dieser dienende, leidende, sterbende Messias ist nicht einfach ein individuelles Vorbild, sondern er will als der Messias Jahwes die Mitte einer messianischen Gegengesellschaft zu den überlieferten Formen staatlich-institutionellen Zusammenlebens sein. Sein messianisches Reich orientiert sich nicht am davidischen Nationalstaat. Das messianische Reich Jesu hat nichts zu tun mit Dingen wie Herrschaft und Zwang, Macht und Gewalt, sondern ist eine offene Gesellschaft, die in freiwilliger Nachfolge und überzeugender brüderlicher Liebe gründet (300).
Die jüdische Gottessohn-Vorstellung
So radikal wie bei den Menschensohn-Aussagen ist der Perspektivenwechsel von der Macht in die Ohnmacht, von der Herrenrolle in die Niedrigkeitsgestalt bei den Gottessohn-Aussagen der Q-Gemeinde. Die Gottessohn-Vorstellung war von ihrer innerjüdischen Herkunft her weder mit Messianität noch mit Präexistenz verbunden (300f).
Der für Jesus benutzte Titel 'Gottessohn' hat seinen Ursprung in der isrealitischen Königsideologie. Diese dürfte von Ägypten beeinflusst worden sein. Wo der Pharao – vom Moment seiner Thronbesteigung an – bereits den Titel 'Gottessohn' tragen konnte. Wo dem Pharao – Sohn einer jungfräulichen Mutter und eines göttlichen Vaters – bereits eine Doppelnatur zugeschrieben worden war: wahrer Gott und wahrer Mensch.
In Ps 2,7 (“Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt“) ist ein altes Thronbesteigungsritual überliefert, in dem nach ägyptischem Vorbild die Thronübernahme des davidischen Königs als Akt göttlicher Zeugung verstanden wurde. Israel hat dabei die ägyptisch-mythische Vorstellung von einer physischen Gotteszeugung deutlich in eine auf Erwählung begründete Gottessohnschaft abgewandelt. Typisch ägyptisch ist, die göttliche Zeugung auf den Anfang des Lebens des Pharao zurückzuprojizieren, wobei dann eine jungfräuliche (!) Mutter eine Rolle spielte. Typisch israelitisch dagegen ist die Beschränkung auf ein intimes Verhältnis von Gott und dem erwachsenen König sowie die Ausschaltung jeglicher sexueller Zeugungsmythologie (301f).
Der Messias ist im AT sehr verschieden verstanden worden: königlich, prophetisch, priesterlich, nie aber als Gottessohn. Sohn Gottes ist stets königlich, aber so gut wie nie messianisch verstanden worden. Der Titel 'Sohn Gottes' bedeutet im AT und im frühen Judentum Geschöpflichkeit, Erwählung und Intimität, nicht aber Messianität und noch weniger Göttlichkeit.
Im AT können neben dem davidischen König auch Wesen, die dem Bereich der Götter oder himmlischen Welt angehören 'Göttersöhne' genannt werden, ebenso die verfolgten Frommen als Einzelne oder das Volk Israel als Ganzes (302).
Die nachösterliche Rede vom Gottessohn
In einer einzigartigen Zuspitzung wird Jesus schon in den frühesten Traditionsschichten 'Sohn Gottes' genannt: “Alles ist mir von meinem Vater übergeben und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will“ (Mt 11,27). In diesem Text der Q-Gemeinde haben wir es mit einer zentralen Aussage über Jesu eigenes Sendungsbewusstsein zu tun, das einer einzigartigen Vater-Sohn-Beziehung entstammt. Sie weist nicht auf ein Geheimnis der Ewigkeit, sondern auf den geheimnisvollen Anfang des Wirkens Jesu. Weder hat eine Titelübertragung aus der jüdischen Tradition vorgelegen, noch bildete ein Wort Jesu selber die Grundlage. Die Bezeichnung Gottessohn durch die nachösterliche Gemeinde kann nur Reflex eines besonderen Gottesverständnisses Jesu selber gewesen sein (302f).
Der Titel 'Gottessohn' war von seinem jüdischen Ursprung her (Königsideologie) nie mit himmlischer Vorzeitigkeit oder Göttlichkeit verbunden. Jesus hat weder von sich als Gottessohn gesprochen noch Aussagen über eine präexistente Sohnschaft gemacht. Zwar hat die aramäische Urgemeinde nach Ostern Jesus als Gottessohn bekannt, mit diesem Bekenntnis aber – der atl Linie folgend – keine Präexistenzaussage verbunden. Die nachösterliche Rede von Jesus als Gottessohn hat ihren Sachgrund nicht in Jesu 'göttlichem Wesen', nicht in einer präexistenten Gottessohnschaft, sondern in der Praxis und Verkündigung des irdischen Jesus selber: in seiner einzigartigen Beziehung zu Gott (304).
Der Titel 'Gottessohn' bezog sich in Israel zum großen Teil auf die einzigartige Würde und Machtstellung des Königs. Von königlicher Macht und Würde, von politisch-institutioneller Herrschaft ist bei Jesus keine Spur. So wie die Q-Gemeinde im Licht der Erfahrung Jesu die traditionelle Menschensohn-Vorstellung umpolte und neu interpretierte, so jetzt auch die Gottessohn-Tradition: “Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird... Wenn du Gottes Sohn bist, so stürze dich hinab...“ (Mt4,1-11). Jesus erteilt einer Praxis der Gewalt, der Willkürherrschaft, der Intoleranz, der Inquisition und Machtbefriedigung eine klare Absage. Bei dieser Teufelsversuchung durchbricht Jesus eine Erwartungshaltung, die sich auf ihn als einen angeblich omnipotenten Gottessohn richtet. Gerade diese Erwartung entlarvt er als Sache des Teufels. Alle Omnipotenzphantasie, die sich von einem himmlischen Gottessohn die Erfüllung irdischer Bedürfnisse, die Befriedigung von Machtgelüsten verspricht, muss am gekreuzigten Nazarener scheitern – in Gesellschaft und Kirche. Diese Verweigerung einer triumphalistischen Gottessohn-Vorstellung machte diesen konkreten Gottessohn immer wieder zum Störenfried (304f).
Jesus – Repräsentant der Weisheit
Typisch auch für die Weisheitsworte der Spruchquelle (Mt 11,19.25; 23,34-36/Lk 11,49-51) ist (wie schon bei den Menschensohn- und Gottessohn-Logien), dass jede spekulative oder protologische Aussage vermieden wird. Typisch für Q ist auch hier die Konkretisierung des menschlichen Leidens Jesu durch die schonungslose Schilderung der Ablehnung, Verwerfung und Kreuzigung des Nazareners. Typisch ist, dass Jesu Weg und Schicksal zwar in Weisheitskategorien interpretiert, er selber aber nicht so präexistent wie die Weisheit vorgestellt wird (307f).
Es dürfte der Reflex des Eindrucks von Jesu Person gewesen sein, den Markus mit der erstaunten Frage aufbewahrt hat: “Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist“ (Mk 6,2)? Typisch für Q ist und bleibt die Verbindung von Menschensohn-, Propheten- und Weisheitstradition – und zwar nicht zu spekulativ-protologischen Höhenflügen, sondern zur Rezeption der Niedrigkeitsgestalt der Weisheit in den Konfliktfeldern hier und jetzt: Botensendung und feindselige Ablehnung dieses Boten. Typisch für die Q-Gemeinde ist auch hier der realistische Blick auf die Probleme hier und jetzt, die Probleme der Nachfolge Jesu: “Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und aus ihrer Gemeinschaft ausschließen, wenn sie euch beschimpfen und euch in Verruf bringen um des Menschensohnes willen. Freut euch und jauchzt an jenem Tage, denn euer Lohn wird groß sein im Himmel. Denn ebenso haben es ihre Väter mit den Propheten gemacht“ (Lk 6,22f).
Von einer protologischen Hoheitschristologie kann in Q keine Rede sein. Trotz Anknüpfung an die Weisheitstradition bestand in Q kein Interesse an einer Präexistenzaussage. Das Auffallende ist, dass Jesus nicht direkt mit der Weisheit identifiziert wird, sondern als deren endzeitlicher Repräsentant erscheint (308).
Jesus von Nazareth erscheint in bestimmten Texten der Q-Gemeinde als eschatologischer Gesandter der Weisheit, als Bote der Endzeit. Jesus ist der Gesandte der himmlischen Sophia, der Endzeitprophet, der irdische Menschensohn, der Sohn Gottes und der Sohn, dem der Vater alle Gewalt übertragen hat und der alleinige Heilsmittler für die Seinen. Seine Geschichte ist Endgeschichte. In seinen Worten und Taten ist die Basileia bereits Gegenwart geworden. Die Entscheidung für oder gegen ihn hat endgültige Relevanz. Die einmalige Stellung Jesu als des letzten Gesandten der himmlischen Sophia beruht darauf, dass er nicht wie die zahlreichen ermordeten Propheten und gesteinigten Gesandten in der Geschichte Israels im Tod geblieben ist, sondern zu Gott als der verborgene Menschensohn erhöht wurde, der in nächster Nähe zusammen mit der Sophia erscheinen wird, um das Regiment des apokalyptischen Menschensohnes für den gesamten Kosmos sichtbar zu übernehmen (308f).
Fazit:
Weder Jesus selber noch die älteste Gemeinde lässt ein Interesse an einer Präexistenz erkennen. Berücksichtigt man die Tatsache, dass (durch die Weisheits- und apokalyptische Menschensohn-Tradition) ausgeprägte Präexistentzvorstellungen im palästinischen Judentum vorhanden waren und dass Jesus mit Weisheits- und Menschensohntraditionen durch die Gemeinde in Verbindung gebracht worden war, so muss das Fehlen einer Präexistenzaussage auf beiden Ebenen als Akt bewusster Zurückhaltung von Jesus und der Gemeinde interpretiert werden. Diese Zurückhaltung ist Reflex von Person und Sache Jesu selber (309).
Weder Jesus noch die aramäisch sprechende Jerusalemer Urgemeinde noch die Q-Überlieferung wissen etwas von einer Präexistenz Jesu (310).
(2) Die Tradition des hellenistischen Judenchristentums: Phil 2,6-11
K.-J. Kuschel (1990)
Christus – präexistent wie die Weisheit Gottes
Weish 9,9 kennt die Rede von einer Daseinsweise der Weisheit bei Gott und Weish 9,10 spricht von der Sendung dieser präexistenten Weisheit vom Thron Gottes aus. Nach Sir 24 verbleibt die Weisheit ebenfalls nicht in ihrer Präexistenz, sondern kommt zu den Menschen in Gestalt der Tora. Präexistenz, Sendung oder Abstieg aus der himmlischen Sphäre kennzeichnen das Bild der Weisheit (326).
Mit der Weisheitstheologie kommt erstmals eine Präexistentzvorstellung in den Blick. Hier dürfte der entscheidende Unterschied zur aramäisch sprechenden Judenchristenheit liegen. Das Wort 'morphe theou' lässt es geboten erscheinen, eine präexistente Daseinsweise Jesu Christi bei Gott vor seiner Selbsterniedrigung anzunehmen (329).
Ein Lied vom gekreuzigten und erhöhten Christus
Der Phil-Hymnus enthält zwar eine Aussage über die Präexistenz Christi, diese hat aber keine selbständige Bedeutung. Phil 2,6-11 dürfte seinen eigentlichen Ort in der Liturgie der Gemeinde gehabt haben. Die Poesie kann bildlich sagen, wofür es noch keine Begriffe gibt. Derartig kühne christologische Entwürfe werden zuerst in geistgewirkten Hymnen vorgetragen (330f).
Der Text verzichtet auf jede begriffliche, philosophische oder theologische Überbrückung. Er ist hymnischer Entwurf, begeistertes Loblied, ein Dokument des prophetischen Geistes der Endzeit, ein Produkt des frühesten nachösterlichen Enthusiasmus (331f).
Die alles entscheidende Perspektive: Diesem Lied liegt die Erfahrung des gekreuzigten, erhöhten und so durch Gottes Geist präsenten Jesus Christus als Kyrios zugrunde. Der Autor blickt von der Erfahrung des gegenwärtig wirkenden, auferstandenen und erhöhten Herrn zurück auf das irdische Leben Jesu in der Niedrigkeit. Jesus Christus ist in erster Linie der gekreuzigte und erhöhte Mensch, der von Gott kam (332f).
Aussagen über die 'Gottesgestalt' Jesu sind als Ausweitung der Passions- und Erhöhungs-Aussage zu begreifen und haben ihren Sinn in der Qualifizierung der Niedrigkeit Jesu als Offenbarungsweise Gottes. Erst aus der Nachzeitigkeit der geistgewirkten Erfahrung des Erhöhten heraus wird auf eine Vorzeitigkeit Christi verwiesen: sein irdisches Leben und sein Leben zuvor bei Gott. Die Vorzeitigkeit ist dabei Funktion der Nachzeitigkeit und wird von dieser qualifiziert (333).
Die Gemeinde, die dieses Lied singt, steht unter der Inspiration des Geistes des Erhöhten. Nicht Reflexion und Spekulation, sondern eigene geistgewirkte Tiefenerfahrung lässt zu diesem Lied ein angemessenes Verhältnis gewinnen. Hymnik und Geisterfahrung waren im Urchristentum nicht zu trennen (334).
Eine selbständige Bedeutung der vorweltlichen Präexistenz Christi wird in Phil 2 nicht erkennbar. Die Heilsbedeutung Christi begründet sich nicht von seiner Präexistenz her, sondern erst von dem Weg her, den Jesus geht und der die konsequente Selbsterniedrigung notwendigerweise einschließt, auf die Gott dann mit der österlichen Erhöhung antwortete (335).
Die frühe, griechisch sprechende Judenchristenheit, die aus Jerusalem kam, wagt mit diesem Lied zwar erstmals den Gedanken einer vorirdischen Daseinsweise Jesu auszusprechen, ist aber so wenig an dessen Ausgestaltung interessiert, dass sie ihn zur bloßen Funktion des Erniedrigungs- und Erhöhungsvorgangs macht. Das Sein Christi bei Gott wird zum Auftakt dieses Liedes erwähnt, ohne dass bei ihm meditativ oder mythisch verweilt wird. Es wird nur in einem Nebengedanken erwähnt (335f).
Ein jüdisches Lied – Kontinuität mit der Urgemeinde
Die weisheitlich geprägten Christologien von Phil 2,6-11 und der Spruchquelle muss man zusammen sehen. Q kennt keine Präexistenz, doch sind in Q wie im Hymnus Kreuz und Auferweckung theologisch nicht zentral (die Betonung des Kreuzes im Hymnus ist pln Zusatz) sondern Funktion der Niedrigkeits- und Erhöhungsaussage. In beiden Fällen hat eine Gleichsetzung von irdischem Menschensohn und kommendem Richter stattgefunden. In beiden Traditionen geht es christologisch nicht um die Überwindung des Todes, sondern um den Beginn der Herrschaft des Erhöhten (326f).
Die Weisheit geht mit dem Gerechten bis in Gefangenschaft und Elend (Weish 10,14), nirgendwo aber identifiziert sie sich mit einem der Gerechten. Der Hymnus wagt zu verkünden: Gottes Weisheit ist mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth identisch (337f).
Der politische Ursprung der Präexistenzaussage
Den Gekreuzigten als Weltherrn verkündigen heißt, alle Mächte, Herrschaften und Gewalten radikal in Frage zu stellen. Gegenüber dem jüdischen Establishment besteht die Herausforderung darin, dass durch den Rückgriff auf die Weisheitstheologie jetzt Christus an die Stelle der ontologisch verstandenen Tora-Weisheit getreten war. Die Kühnheit des Bruches mit den aktuellen Bestimmungen der Tora in den griechisch sprechenden judenchristlichen Gemeinden kann von uns heute kaum ermessen werden (338).
Der konkrete Anlass zur Herausbildung des Bekenntnisses zur Präexistenz Christi ist die Tempel- und Torakritik Jesu, der Konflikt des Nazareners mit dem jüdischen Establishment. Tempel und Tora waren die entscheidenden göttlichen Autoritäten, mit denen Jesus in Konflikt geraten war. Die politischen Mächte hinter Tempel und Tora waren für den Tod des Nazareners verantwortlich gewesen, Mächte, mit denen auch die griechisch sprechenden Judenchristen Jerusalems zunehmend in Konflikt geraten sein dürften. Nach Apg 6,11.13f war es die Kritik an Tempel und Tora, die die 'Hellenisten' aus Jerusalem vertrieb (339).
Wenn Jesus das endgültige Heil verkörperte, war nicht mehr der bestehende Tempel der Ort der Erwählung und der Gegenwart Gottes, war nicht mehr die Mose-Tora die Offenbarung Gottes zum Heil der Menschen, sondern Jesus selbst und zwar gerade in der Niedrigkeit seines Todes. Hinter diesen Aussagen steckt politischer Sprengstoff, steckt die Erfahrung, dass der Nazarener aus religiös-politischen Gründen ans Kreuz hatte gehen müssen und dass auch diejenigen, die es wagten, ausgerechnet den Gekreuzigten auf die Seite Gottes zu stellen, mit Verfolgung zu rechnen hatten (339f).
Der Brief nach Philippi (Winter 54/55)
Paulus hat bei seiner Redaktion des Hymnus den Zusatz “bis zum Tod am Kreuz“ (2,8) hinzugefügt, d.h. wir haben es mit einer Verstärkung des Kreuzestodes als äußerster Niedrigkeitsform zu tun und nicht mit einer Verstärkung der 'göttlichen Seinsweise'. Hier zeigt sich Paulus 'erkenntnisleitendes Interesse' (384).
Der Hymnus im Brief geht über alle individualistische Tugendlehre hinaus, er zielt auf den Herrschaftsantritt des gekreuzigten Sklaven über den ganzen Kosmos und legt so eschatologisch den Grund für die neue Existenz in Christus. Diese neue Existenz wird darin konkret, dass der Christ die Grundhaltung Christi selber zu leben beginnt: Machtverzicht, Erniedrigung und Selbstpreisgabe. Der Hymnus und damit der Brief als ganzer, handelt von der neuen Welt, die im Zeichen der Menschwerdung des Menschen steht (384f).