(5) „Die unauflösbare Schrift“ (Joh. 10,35)

 

a. Die john Schrifttheologie
b. Die unauflösbare Schrift in der Theologie des vierten Evangeliums

K. Scholtissek (2003)


a. Die john Schrifttheologie

Die nachösterliche Hermeneutik des Johannesevangeliums

Die john Sehweise erwächst aus einem nachösterlichen pneumatischen 'Sehen' und 'Erkennen'. In dieser nachösterlichen Sehweise wird die Schrift Israels als auf das Christusgeschehen zulaufend interpretiert; sie wird zum vorgängigen Zeugnis für das Heilsgeschehen der Sendung, Erhöhung und Verherrlichung Jesu Christi (166f).

Das Christuszeugnis der Schrift (Joh 5,37-40)

Und der Vater, der mich gesandt hat, jener hat Zeugnis abgelegt für mich. Weder seine Stimme habt ihr jemals gehört, noch habt ihr seine Gestalt gesehen (38) und sein Wort habt ihr nicht bleibend in euch, weil ihr an diesen, den jener gesandt hat, nicht glaubt. (39) Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen ewiges Leben zu haben, aber jene legen Zeugnis ab für mich. (40) Aber ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr (das) Leben habt“.

Joh 5,37-40 rekurriert auf 'die Schriften' als eine von vier Zeugen für Jesus (vgl. den Kontext 5,31-47):

-Johannes der Täufer (5,31-35)

- die 'Werke' Jesu (5,36)

- der 'ihn sendende Vater' (5,36-38) und

-'die Schriften' (5,39f.46f)

Alle vier Größen „legen Zeugnis ab für mich“ (5,32.36.37.39.46). „Die Schriften erforschen“ (vgl. 7,52) in der Annahme, „in ihnen ewiges Leben zu haben“ (5,39), ist in john Sicht dann wertvoll, wenn die christologische Verweisfunktion der Schrift wahrgenommen wird, da es „die Schriften“ sind, „die Zeugnis über mich ablegen“ (5,38d). Geschieht dies jedoch nicht, weil der Glaube an den Gesandten Gottes fehlt (5,38c.40), kann das Schriftstudium nicht fruchtbar sein, d.h. es führt nicht zur Immanenz des Wortes Gottes in den 'Suchenden' (5,38a; 8,31.37) bzw. zum „ewigen Leben“ (5,39bf). Nach 5,38a führt die Glaubensverweigerung gegenüber Jesus dazu, dass „ihr sein Wort nicht in euch habt“ – ein Wort, das vom christologischen Bekenntnis her formuliert ist (vgl. 8,31.37; 15,7). „Das Wort des Vaters“, das sich in den „Schriften“ ausspricht (vgl. das „unauflösbare Wort Gottes“, das zu „den Juden“ gesprochen wurde; 10,35), haben die Gegner Jesu nicht „bleibend in sich“, weil sie dem Gesandten Gottes nicht glauben. Erst der Glaube an Jesus, seine „Aufnahme“ (5,43f), das „Zu-ihm-Kommen“ (5,40 vgl. 1,39; 6,35), führt zur Immanenz des Wortes Gottes (im john Kontext des Logos Gottes vgl. 1,1-18) in den Menschen (167f).

5,39 spricht von der 'Meinung', „ewiges Leben in den Schriften zu haben“. Jesus überführt diese Auffassung durch den Hinweis auf das Zeugnis eben dieser Schriften „für mich“ und auf den Unwillen seiner Hörer, zu ihm zu kommen (5,39f): „(Ewiges) Leben zu haben“ ist nur christologisch möglich. Die Lebens-Suche der Menschen (vgl. 1,35-51; 5,39.44; 6,24-26), die sich zu Recht auf die Schriften richtet, findet ihre Erfüllung erst im Glauben an Jesus, von dem die unauflösbare Schrift (10,35) Zeugnis ablegt. Das Ziel des Studiums der Schriften, „in ihnen ewiges Leben zu finden“ (5,39; vgl. 1,45.48), erfüllt sich dann, wenn erkannt wird, dass diese für den Sohn Zeugnis ablegen, denn allein der Vater und durch ihn der Sohn „hat ewiges Leben in sich“ (5,26; vgl. 1,4; 5,24.42). Ort und Mittler des „Lebens in Fülle“ (10,10) ist allein Jesus, auf den das Zeugnis der Schrift weist (5,45-47) (168).

Die john Schrift-Theologie betont und erkennt Gottes ergangenes Wort an Israel ausdrücklich an (vgl. 2,22; 4,22; 10,35) – mit der Gewissheit, dass dieses ergangene Wort Gottes auf das fleischgewordene Wort Gottes vorausweist, da Gott sich selbst nicht widerspricht. Von daher ist es keineswegs zwingend, den Vorwurf Jesu in 5,37c, seine Gegner hätten die Stimme Gottes niemals gehört, noch seine Gestalt gesehen (auch Dtn 4,11f wendet sich gegen eine unmittelbare Gottesbegegnung; vgl. Joh 1,18), als antijüdisches Programm auszulegen. Auch dem biblisch-jüdischen Theologoumenon der lebensvermittelnden Schrift (vgl. Ps 119,25.40.149; Dtn 30,16-20; 32,47; Spr 4,4; 19,16) wird durch 5,39 nicht widersprochen, die Schrift wird freilich als Christuszeugnis, das solchermaßen zum Leben führt, neu interpretiert. Nur so kann Mose auch zum Zeugen bzw. 'Ankläger' gegen 'die Juden' werden (vgl. 5,45-47). Unglaube gegenüber Mose (vgl. 5,46) und 'Murren' gegen Gott setzen sich fort im Unglauben und Murren 'der Juden' und der Jünger gegenüber Jesus (vgl. 5,46; 6,41.43.61) (169).

Im Sinne des vierten Evangeliums legt die Schrift Zeugnis ab für Christus, in dem allein das wahre Leben zu finden ist – und eben nicht schon in den Schriften selbst (vgl. 5,39c). Bezüglich der john Hermeneutik ist festzuhalten, dass die Schriften auf Christus hin zu lesen und zu befragen sind. Erst durch diese Perspektive kommen die Schriften zu ihrer wahren Entfaltung, da die ihnen zugedachte und die in ihnen liegende Fülle im Zeugnis von Christus ansichtig wird (169).


Denn von mir hat Mose geschrieben“ (Joh. 5,46)

5,45: „Meint nicht, dass ich euch anklagen werde beim Vater. Der euch Anklagende ist Mose, auf den ihr gehofft habt. (46) Denn wenn ihr Mose glauben würdet, würdet ihr (auch) mir glauben, denn jener hat von mir geschrieben. (47) Wenn ihr aber seiner Schrift nicht glaubt, wie werdet ihr dann meinen Worten glauben“ ?

Johannes betont die christologische Pointe der Schrift: Nach 5,46 hat Mose in seinem gesamten Werk (1,45), von Jesus Christus 'geschrieben'. Das bis zur Fleischwerdung des Logos verborgene Thema mosaischer Verkündigung ist nach dem Zeugnis des john Jesus in 5,45 er selbst. Wie die christologische Selbstverkündigung Jesu im JohEv insgesamt, so zielt auch die gesamte Schrift auf die soteriologische Christologie, in der und durch die allein der Zugang zum Vater und damit alles Heil begründet ist (vgl. 14,6). Mit dieser christologischen Schriftinterpretation entwindet Jesus seinen Gegnern in der Kontroverse eines ihrer Hauptargumente: Die Schrift (bzw. das 'Gesetz') , die fachgerecht und autoritativ auszulegen sie selbst für sich beanspruchen (vgl. 7,15.48f.52; 9,34), spricht nicht für, sondern gegen sie. Johannes formuliert das pragmatische Ziel seines Evangeliums: „der Schrift zu glauben und dem Wort bzw. den Worten Jesu“ (vgl. 2,22; 5,47). Beides, die in der Schrift bezeugte Heilsgeschichte Gottes mit Israel und die Sendung und Verkündigung des Gottessohnes, sieht Johannes in seiner grundsätzlichen Kontinuität (vgl. 1,16; „Gnade um Gnade“ und den Parallelismus in 1,17 eine grundsätzliche Überbietung: „Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“) (170).

Wie Mose in 5,45-47 (vgl. 7,22-24; 9,28f) werden auch Abraham nach 8,56-58 und Jesaja nach 12,41 zu Zeugen der christologischen Fokussierung der Heilsgeschichte im JohEv und damit der christologischen Schriftauslegung. Abraham „jubelte, dass er meinen Tag sehen sollte; und er sah (ihn) und freute sich“ (8,56). Auch Jesaja „sah seine (Jesu Christi) Herrlichkeit“ und hat „von ihm gesprochen“ (12,41; vgl. 12,38-40 und Jes. 53,1; 6,10) (171).

 

Die Geltung der unauflösbaren Schrift (Joh. 10,34-36)

Jesus antwortete ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: Ich habe gesagt: ihr seid Götter (Ps 82,6)? (35) Wenn er jene Götter nannte, zu denen das Wort Gottes erging – und die Schrift kann nicht aufgelöst werden -, (36) (dürft) ihr (dann) sagen zu dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: Du lästerst Gott‘, weil ich gesagt habe: 'Sohn Gottes (bin) ich“

Jesu Wort von der 'unauflösbaren Schrift' (10,35c) steht der john Chronologie folgend inmitten seines letzten Aufenthaltes im Jerusalemer Tempel anlässlich des Tempelweihfestes (vgl 10,22-39). Die auch in den vorausgehenden Streitszenen thematisierte Frage nach der messianischen Identität Jesu wird hier erneut aufgenommen (vgl. 10,24) und durch zwei Spitzensätze der christologischen Selbstoffenbarung Jesu strukturiert und zugespitzt:

Ich und der Vater, wir sind eins“ (10,30) und „… damit ihr erkennt und wisst: Der Vater (ist) in mir und ich (bin) im Vater“ (10,38). Beide Selbstaussagen Jesu erfüllen in den Augen „der Juden“ den Tatbestand der Blasphemie, die mit dem Tod zu bestrafen ist (10,31.33.39; vgl. 5.17f; 7,1.25; 8,20.59). Gegen diesen massiven Vorwurf (in 10,33) wendet sich Jesus mit einem wörtlichen Schriftzitat aus Ps 82,6. Der john Jesus schließt in seiner Entgegnung von der Anrede derer, „an die das Wort Gottes erging“, durch ein von Gott gesprochenes Wort „Ihr seid Götter“! auf die Rechtmäßigkeit seiner Selbstbezeichnung: „Sohn Gottes bin ich“. Damit ist für den john Jesus die Schriftgemäßheit des Gottessohnesprädikats erwiesen, mithin der Vorwurf der Blasphemie gegenstandslos (171f).

In der Schlussfolgerung Jesu (a minori ad maius; vgl. 7,22f) ist die Wendung „und die Schrift kann nicht aufgelöst werden“ (10,35) eingeschaltet (vgl. in 7,23 die ähnliche Formulierung: „damit nicht das Gesetz des Mose aufgelöst wird“). Insgesamt beruft Jesus sich in 10,32-38 einerseits auf „die Werke seines Vaters“ (10,32.37f), andererseits auf das „Gesetz“, die „unauflösbare Schrift“ (10,34-36). Dabei wird die Schriftkontroverse von dem Hinweis Jesu auf seine „Werke“ gerahmt. In dieser Rahmung insistiert Jesus darauf, die „Werke“, die er vollbringt, zum Maßstab für die angemessene Beurteilung seines Hoheitsanspruchs zu machen. Das Zeugnis der Schrift darf als verbindliches „Wort Gottes“ nicht angetastet bzw. entwertet werden. Denen, die das Wort Gottes empfangen haben (10,35b; vgl. das passivum divinum in 1,17a), gilt die (hier als Erwählung interpretierte) Zusage aus Ps 82,6. In 10,35b bekennt sich Jesus zu dem an Israel ergangenen Wort Gottes, dessen Verbindlichkeit allen Auslegern vorgegeben ist und bleibt. Dieses von Israel empfangene „Wort Gottes“ kann nach john Verständnis nur dann in seiner inneren Dynamik bewahrt und ausgelegt werden, wenn Gottes endzeitliche Offenbarung in den „Werken“ und der Sendung Jesu, dem inkarnierten Logos (vgl 1,1-18), wahr- und angenommen wird. Die Einheit des Sprechens, Erwählens und Handelns Gottes wird durch die Verwendung von Logos als christologischem Hoheitstitel in 1,1-18 und von absolut verwendetem 'Wort Gottes', das in „der Schrift“ aufbewahrt ist (10,35), festgehalten (172f).


b. Die unauflösbare Schrift in der Theologie des vierten Evangeliums

Die dem JohEv eigene nachösterliche Sehweise interpretiert die Schrift als auf das Christusgeschehen zulaufend. So werden die Schriften Israels zum vorgängigen Zeugnis für das Heilsgeschehen der Sendung, Erhöhung und Verherrlichung Jesu Christi. Die Grundfigur der christologischen Fokussierung der Schriften Israels im JohEv behauptet den einen Logos Gottes als Zielpunkt und Offenbarungsmitte der gesamten Heilsgeschichte. Dazu wird die Geschichte Israels in ihrem Offenbarungsanspruch gegenüber den Synoptikern grundsätzlich als authentisch und gültig vorausgesetzt. Die hohe, gegenüber den Synoptikern vorangetriebene christologische Konzentration des JohEv führt jedoch nicht zu einer 'Entwirklichung' der Heilsgeschichte ante Christum natum. Das JohEv rechnet mit einer Zielführung des offenbarenden und sammelnden Wirkens Gottes: Die Offenbarung Gottes in der Geschichte Israels findet in Jesus Christus ihren erfüllenden Zielpunkt (vgl. 10,10) (174).

Diese christologische Fokussierung des JohEv ist zugleich Stärke und Schwäche: Sie dient der Durchdringung und Erschließung des in Jesus Christus geschenkten Heils. Zugleich wird sie aber in ihrer christlichen Binnenperspektive und der polemischen Verteidigung des christlichen Glaubens den jüdischen Gesprächspartnern, die diesen Glauben zurückweisen in ihrem eigenen Selbstverständnis nur unzureichend gerecht. Das JohEv zielt darauf, den Glauben der Glaubenden zu wecken, also innerchristliche Überzeugungskraft des Evangeliums leuchtend vor Augen zu stellen. Juden und Christen sind gemeinsam und doch unterscheidend an die Schriften Israels gebunden. An der Schrift als gemeinsamer Grundlage entfalten sich Argumentation, Selbstdefinition und auch Separation (174f).

Das JohEv betreibt seine neue Interpretation der Schrift aus der ihm eigenen nachösterlichen Sehweise. Als neuer 'Referent' einzelner Schriftworte wird das Christusereignis eingeführt. In der Analyse und Interpretation der john Schriftzitate und –anspielungen lässt sich eine differenzierte Matrix von typologischen Auslegungen erkennen, die auf drei Voraussetzungen ruht:

- der Geltung der Heilsgeschichte Israels,

- der eschatologischen Offenbarung des Gottes Israels in Jesus Christus und

- der Einheit des Heilshandelns Gottes.

Im JohEv ist nicht die Autorität des Schriftzeugnisses umstritten, nicht die in der Schrift bezeugte Heilsoffenbarung Gottes, nicht das unverrückbare 'zuerst' der Berufung und Erwählung Israels (vgl. 1,31; 4,22; 10,35), sondern die Frage, ob der Gott Israels in der Sendung Jesu Christi eschatologisch verbindlich gehandelt hat oder nicht, und ob im Glauben an diese endzeitliche Herrlichkeitsoffenbarung Gottes die Schrift neu gelesen und verstanden werden darf (und muss) (175f).

Die umfangreiche Schriftrezeption im JohEv verdankt sich dem Bemühen, das Christusereignis nicht zu isolieren und abzukoppeln, sondern es einzuschreiben und zu deuten im Horizont der biblischen Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem erwählten Volk. In diesem Sinn thematisiert das JohEv die Sendung Jesu zum Gottesvolk Israel (vgl. 11,11 – 13,31) und reflektiert die dramatische Ablehnung dessen, der obwohl er „in sein Eigentum kommt“, „von den Eigenen nicht aufgenommen wird“ (1,11-13). Gegenüber der Sendung Jesu betont das JohEv eine Kontinuität in der Ablehnung, eine Glaubensverweigerung auf der ganzen Linie: die Zeugnisse des Täufers, die Werke Jesu, des Vaters und der Schrift werden unisono abgewiesen (vgl. 5,31-47). Die Schriftgelehrten als Opponenten Jesu erweisen sich in der john Darstellung als schlechte Vertreter ihres Faches: Als wahrer „Lehrer Israels“ (vgl. 3,10) erweist sich der john Jesus, der immer wieder neu zeigt, das seine Verkündigung schriftgemäß, schriftverheißen und schriftvollendend ist (176).

Die Schriftauslegung und –theologie des JohEv bleibt mit einem eigenen, profilierten Beitrag anschlussfähig an die (in der neueren gesamtbibeltheologischen Diskussion angezielte) 'kanonische Dialogizität' der beiden Testamente, die die eigene vorgängige Autorität der Schrift Israels neu gewichtet. Die im JohEv reklamierte und festgehaltene Einheit des Offenbarungswortes Gottes stellt die Heilige Schrift Israels und das JohEv in eine 'spannungsvolle' Einheit aus gegenseitiger Verwiesenheit und befindet sich damit in der Mitte des ntl Kanons (177).


(6) Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons

 

a. Das Neue Testament als Kriterium der kanonischen Geltung des Alten Testaments
b. Schrift, Sprache, Monotheismus
c. Die Sprache der Christusverkündigung

A.H.J. Gunneweg


a. Das Neue Testament als Kriterium der kanonischen Geltung des Alten Testaments

Ist die Religion des ATs nicht als Fremdreligion zu betrachten, so ist sie immerhin vor-christlich und – ohne Christus – unchristlich. Über Geltung und Nichtgeltung kann nur vom Christlichen her, also auf Grund und anhand des NTs entschieden werden. Von daher wird deutlich, dass die Suche nach einer theologischen Mitte des ATs aussichtslos ist, weil in einer so verschiedenartigen und vielgestaltigen Literatursammlung kaum eine Mitte zu erwarten ist. Eine solche Suche ist theologisch verfehlt, weil sie beim AT statt beim NT ansetzt. Nur anhand eines christlichen Kriteriums kann entschieden werden, was christlich ist und als christlich Gültigkeit beanspruchen kann (184f).

Ob die Bannung von im heiligen Jahwekrieg gefangen Feinden oder ein Gebet um Rache wie Ps 109 oder das Vergeltungsdogma (Chronik) mit dem christlichen Ethos der Bergpredigt übereinstimmt, ist nicht eine Frage des Glaubens. Diese Unterschiede kann jeder beobachten und aus diesen Beobachtungen die Folgerung der Unvereinbarkeit ziehen (185).

Ist der Gott, der Josua und den Israeliten in blutigen Schlachten voran marschiert, der die Feinde zu „bannen“ befiehlt, der Gott Jesu Christi? Es hieße das AT auf ein einziges Gottesbild (Hos 2,21f;  11,8f;  Jes 66,13) festlegen, wollte man überhaupt von dem Gott des ATs sprechen. Dieser Gott hat viele Namen und so unterschiedliche Eigenschaften, dass die Rede von dem Gott des ATs in der Gefahr steht, zu einer Leerformel zu werden. Die Rede von dem Gott des ATs, der der Vater Jesu Christi sei, überspringt das hermeneutische Problem und setzt voraus, was erst noch begründet werden muss. Die Begründung kann nur vom NT her erfolgen. Diesen Maßstab an das AT anlegen heißt nicht, dass AT christlich auszulegen. Was nicht chrislich ist, kann auch nicht christlich ausgelegt werden. Christliche Auslegung dessen, was nicht christlich ist, ist falsche Auslegung. Rechte Auslegung ist bemüht, das AT sein eigenes Wort sagen zu lassen (186).

Das NT ist der Maßstab für die Kanonizität des ATs. Eine für alle Teile gleichermaßen gültige Entscheidung über die christliche Kanonizität des alt Kanonteiles kann nicht getroffen werden. Allein eine differenzierende Sicht entspricht der Uneinheitlichkeit, der Vielgestaltigkeit, dem Reichtum sowohl als auch der mehrdeutigen Ambivalenz der im AT gesammelten Schriften. Eine gesamtbiblische Theologie kann als christliche nur vom NT her entworfen werden (186f).

 

b. Schrift, Sprache, Monotheismus

Der Vielgestaltigkeit und Ambivalenz der im AT enthaltenen Schriften entspricht es, dass sie im NT immer schon nach dem Auswahlprinzip des Christlichen herangezogen werden. Wenn nur von Fall zu Fall und von Text zu Text über die christliche Geltung entschieden werden kann, so entspricht dieses Vorgehen der Art und Weise, wie schon im NT mit dem AT umgegangen wird. Das in die griechische Sprache der Ökumene übertragene AT liefert die Sprachmittel für die Verkündigung des Christusgeschehens. Die christliche Verkündigung schafft sich selbst eine neue Sprache, die der eschatologischen Neuheit des Christusgeschehens würdig ist, aber sie tut das, indem sie auf die Sprache des ATs zurückgreift. Darin, dass die Anfangsverkündigung von Jesus Christus diese Sprache aufgriff und in diese Sprache einging, liegt die Kanonizität atl Texte begründet (187f).

Die Kirche übernahm eine Sammlung von Schriften. Für diese Sammlung war der Monotheismus eine Selbstverständlichkeit. Die Beibehaltung der Schrift bedeutet Wahrung des Monotheismus und der Geschöpflichkeit von Welt und Mensch. Die Verkündigung des in Jesus Christus erschienenen Heils predigt dies Ereignis als Handeln des einen Gottes, den das AT meint, wenn es von dem Schöpfer und Herrn Israels und der Welt spricht. Das Christusereignis stellt diesen Gott des ATs nicht in Frage. Es wird als sein endgültiges Werk verkündigt. Als endgültige Tat Gottes stellt es alles andere Wirken desselben Gottes in den Schatten. Im Licht der Christusoffenbarung kann auch fragwürdig werden, ob alle im AT Gott zugeschriebenen Taten und Eigenschaften wirklich göttliches Handeln und göttliche Wesensart waren. Auch Kritik nach dem Kriterium des Christlichen und gemäß der Bergpredigt-Antithese („Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist, ich aber sage euch“!) stellt nicht den konkreten Monotheismus in Frage. Die christliche Verkündigung verstand sich darum auch nie anders denn als Predigt vom Handeln des einen Gottes, außer dem kein Gott ist (190f).

Wo das AT zitiert wird, ist aus Jahwe der Kyrios geworden. Kyrios ist aber auch Jesus Christus (1Kor 12,3;  Phil 2,11) und ursprünglich auf Jahwe bezogene Aussagen gelten nunmehr von Jesus Christus: im Anschluss an Jes 45,3, wo vom Herrsein Jahwes gesprochen wird, heißt es nun im Christushymnus von Phil 2,10f, dass alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Kyrios sei (Röm 10,12;  1Kor 1,2;  Apg 2,36). Gott der Herr und sein endzeitlicher Heilbringer Jesus Christus als Herr gehören so eng zusammen, dass beide denselben Hoheitstitel tragen können (Mt 11,25;  Lk 10,21;  Mt 9,38;  1Tim 6,14f;  Apg 17,24 2,36), weil Gott der Herr dem Herrn Christus alle Macht auf Erden gegeben hat (Mt 28,18;  1Kor 15,28) (191f).

 

c. Die Sprache der Christusverkündigung

Kritik des sog. Weissagungsbeweises

Die Art und Weise, wie prophetische und quasi-prophetische Stellen als messianische Weissagungen zitiert werden, ist heute nicht mehr möglich. Die jungfräuliche Geburt Jesu wird mit Jes 7,14 belegt (Mt 1,23), der Kindermord in Bethlehem mit Jer 31,15 (Mt 2,17f), Jesu Heilungswunder mit Jes 53,4 (Mt 8,17), die dreißig Silberlinge des Judas mit Sach 11,12f (Mt 27,9). In allen diesen Fällen gewinnen die ntl Schriftsteller nicht neue Erkenntnisse aus den atl Texten, sondern sie lesen aus ihnen heraus bzw. in sie hinein, was sie schon wissen. Diese Methode, Weissagung zu finden, gibt den atl Text der Willkür preis (175f).

Gilt die Schrift als das Zeugnis von dem einen Gott, dem Schöpfer und Erlöser, so musste sie auch von dem Christusgeschehen Zeugnis ablegen, und darum musste Christus die Schrift erfüllen. Die Schrift legt dieses Christuszeugnis ab, indem sie mit der Sprache die sprachlich geformten Inhalte liefert, mit deren Hilfe das Christuszeugnis nunmehr formuliert wird. Darum wird der Christus aus einer Jungfrau (Js 7,14;  Mt 1,23;  Lk 1,35) geboren. Er erblickt das Licht der Welt in Bethlehem (Mi 5,1;  Mt 2,1;  Lk 2,4) und muss nach Ägypten (Hos 11,1;  Mt 2,15.18) fliehen, damit die Weissagung erfüllt werde, dass Gott seinen Sohn aus Ägypten gerufen habe (Mt 1,23;  2,1;  Lk 2,1-7;  Mt 2,15.18;  Jes 7,14;  Mi 5,1;  Hos 11,1;  Jer 31,15). Er selbst verkündet bei seiner Antrittspredigt in Nazareth, dass in ihm die Schrift sich erfüllt habe (Lk 4,16-21). Zu seiner grundlegenden Predigt besteigt er wie Mose, dessen Gesetz er erfüllt und überbietet, einen Berg (Mt 5,1). Die Leidensgeschichte Jesu ist mit Hilfe atl Zitate gestaltet. Jesus zieht gemäß Sach 9,9 in Jerusalem ein, auf zwei Reittieren reitend, weil es der Prophet so geweissagt haben soll (Mt 21,4). Judas verrät ihn um dreißig Silberlinge, weil das Sach 11,12f geschrieben steht (Mt 27,3-9). Ansonsten folgt die Darstellung dem Detail von Ps 22. Sie will dartun, dass und wie bis in Einzelheiten hinein die Schrift erfüllt wurde (196f).

Die Unmöglichkeit solchen Schriftgebrauchs ist heute einhellig. Das Christusgeschehen wird erzählerisch so dargestellt, dass es als Erfüllung der Schrift gelten kann: Die Darstellung lässt den Christus als Davidssohn und Messias in Bethlehem aus einer Jungfrau geboren werden, nach Ägypten fliehen, wo er sich gewiss nie aufgehalten hat; lässt ihn auf zwei Lasttieren auf einmal reiten, damit sein Geschick sich als schriftgemäß erweise. Solcher Weissagungsbeweis ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Eine Historiographie, die mit solchen Mitteln eine Vita Jesu darstellen will, ist noch weniger akzeptabel. Aber geht es hier um eine Vita des historischen Jesus? In Gestalt einer Leben-Jesu-Darstellung ergeht Christusverkündigung, die darum als Christusverkündigung gelesen und verkündigt werden soll. Diese Christusverkündigung ergeht in der Sprache, die das AT als das Zeugnis von dem einen und einzigen Gott bereitstellte, und die in die Christusverkündigung des NTs einging. Verkündigung und Glaube sind und bleiben (sola scriptura) gebunden an das Ursprungszeugnis des NTs. Dies spricht weitgehend die Sprache der alten Schrift und setzt deren Geltung als Zeugnis von dem einen und selbigen Gott voraus (197f).

L.M.: Die Sprache der Christusverkündigung muss kulturbedingt zwangsläufig verschieden sein. Ein mess. Jude wird auf Jesu Frage: "Für wen haltet ihr mich?" nicht in der griechisch philosophischen Sprache der Trinitätslehre antworten. Das ist auch nicht meine Sprache. Die Sprache der Christusverkündigung kann man nicht diktieren. Die allen Jüngern Jesu gemeinsame 'Sprache' ist der Lebenswandel in der Nachfolge Jesu.