6. Ergebnisse

 

(1) Grundeinsichten
(2) Der rechte Gottesdienst – Möglichkeit und Wirklichkeit
(3) Das himmlische Selbstopfer Christi und die Funktion opferkultischer Kategorien für den Hebr
(4) Der Erhöhte als Hoherpriester
(5) Irdische Existenz und himmlischer Kult
(6) Die Bund-Theologie und der Zusammenhang von Eschatologie, Kulttheologie und anthropologischem Zugang zur Christologie
(7) Der Vollzug des himmlischen Kults'
(8)  Die theologische Leistung des Hebr

 

Die kosmische Erschütterung leitet nach dem Hebr nicht eine Neuschöpfung bzw. paradiesische Umgestaltung der Welt ein, sondern eine Verwandlung, bei der nur das “Unerschütterliche“ bestehen bleibt (12,27). Durch den Wegfall der irdisch-vorfindlichen Welt wird das “unerschütterliche Reich“ (12,28), die himmlische Stadt, die in irdischer Fremdlingschaft erwartet wurde (11,9f.14-16), allein übrigbleiben und von den Adressaten in Empfang genommen werden. Gott hat ihnen eine Stadt im Himmel bereitet (11,16), doch diese kommt weder auf die Erde herab noch legitimiert sie ein irdisches Heiligtum (469f).

Der Verf. spricht vom irdischen Heiligtum, weil und sofern es auf das himmlische verweist (9,2-10). Das irdische Heiligtum und sein Kult sind angesichts des himmlischen Heiligtums und des darin von Christus vollzogenen hohepriesterlichen Dienstes obsolet geworden. Die kultische Gemeinschaft mit den Engeln bzw. mit den Himmlischen hat ihren Ort im himmlischen Jerusalem, zu dem die Adressaten bereits hinzugetreten sind. In der Teilnahme am himmlischen Kult kommen die Zuordnung zum himmlischen Hohenpriester Christus und die Geltung seines Heilswerks zum Ausdruck. Die Kritik am gegenwärtig-irdischen Tempelkult wird zur Kritik an irdischem Kult überhaupt vertieft (470f).

Nach dem Hebr ist es die Pointe des irdischen Heiligtums, über sich hinaus auf das himmlische zu verweisen. Thema des Hebr ist das himmlische Kultgeschehen und dessen Überlegenheit und bleibende Geltung. Die Unzulänglichkeit des irdischen Kults ergibt sich aus seinem irdischen Charakter schlechthin. Die Rede des Hebr vom himmlischen Heiligtum in seinem Gegenüber zum irdischen entspringt der Wahrnehmung einer unüberbietbaren eschatologischen Heilsfülle. Das himmlisch-eschatologische Heilsgeschehen ist um seiner selbst willen von Belang. Die Adressaten dürfen sich als Teil der Kultgemeinde des himmlischen Jerusalems verstehen (471f).

 

(1) Grundeinsichten

 

a. Christi auf Erden gelebtes Leben sowie seine nicht-opferkultische Hingabe bis zum Tod und im Tod sind der Grund seiner Erhöhung. Durch die Erhöhung wird seine auf Erden vollzogene Selbsthingabe zum Inhalt seines himmlischen Opfers. Sein irdischer Weg führte Christus zum himmlischen Hohepriesteramt, das die Bedeutsamkeit seines irdischen Weges fortwährend zur Geltung bringt. So tragen die Aussagen über Christi irdisches Leben, Leiden und Sterben und die über seine Erhöhung und deren Konsequenzen gleichermaßen Gewicht. Aller wahrer Kult, alle wahre Sakralität sind mit der Erhöhung Christi in den Himmel verlegt. Was erst der irdische Weg Jesu Christi ermöglichte – den Zutritt zum himmlischen Heiligtum -, das hatte der irdische Kult erstrebt, ohne es bewirken zu können (473).

b. Wie Christus auf seinem irdischen Weg Gehorsam bewährte, den Willen Gottes erfüllte und deshalb zum himmlischen Hohenpriester erhöht wurde, so ist der auf Erden gelebte Gehorsam für die Adressaten der Zugang zum himmlischen Heiligtum und Kult, der Weg zu himmlischer Herrlichkeit. Daraus folgt: die Paränese fordert von den Adressaten ein gehorsames Leben auf Erden, wie es Christus führte. Dementsprechend tritt an die Stelle des bisherigen irdischen Opferkults kein neuer irdischer Kult, sondern eine gehorsame Existenz in irdischer Fremdlingschaft, fern von irdischer Beheimatung und irdischer Sakralität (473).

c. Wie Christus seine auf Erden im Gehorsam hingegebene Existenz als Opfer im himmlischen Kult darbrachte, so bringen die Adressaten ihren Lobpreis und ihr Wohltun durch seine Vermittlung auf dem himmlischen Altar dar. Auch für die Adressaten gilt, dass der wahre Kult und die wahre Sakralität in den Himmel verlegt sind. Die Existenz der Adressaten in irdischer Fremdlingschaft und irdischer Profanität ist kultisch geprägt, insofern sie im himmlischen Allerheiligsten verankert und zum himmlischen Jerusalem hinzugetreten sind und so am himmlischen Kult teilnehmen (474).

 

(2) Der rechte Gottesdienst – Möglichkeit und Wirklichkeit

 

Durch die Erhöhung Christi wurde das einmalige, eschatologische Opfer im Himmel vollzogen. Damit ist der Gott wohlgefällige Kult eingeweiht. Kraft der Erhöhung Christi sind auch wir (die Adressaten) im himmlischen Heiligtum verankert und kraft des Selbstopfers Christi sind wir gereinigt und zur Kultteilnahme befähigt. Aufgrund der in Christi irdischem Weg und himmlischen Werk verfassten Heilsfülle wird von uns gegenwärtig nichts anderes gefordert als der gelebte Gehorsam, das Festhalten an der Hoffnung, zu dem der himmlische Hohepriester verhilft (der Hoffnung, am Ende aufgrund des Heilswerks Christi ins himmlische Allerheiligste zu gelangen) und das Betätigen des Freimuts, gegenwärtig zum himmlischen Kult hinzuzutreten. Das Hinzutreten zum himmlischen Kult umfasst den Lebens- und Glaubensvollzug: Gebet, Lobpreis und im Gehorsam gelebtes Leben (474).

Das Betätigen des Freimuts bedeutet, sich durch irdische Schwachheit nicht anfechten zu lassen, bei irdisch-sakraler Heilsvermittlung nicht Zuflucht zu suchen, auf die Teilnahme an irdischem Kult, irdisch-sakralen Riten zu verzichten. Die Adressaten sollen sich ganz von ihrer Zugehörigkeit zum himmlischen Kult bestimmen lassen. Nur im himmlischen Kult können die Adressaten schon jetzt Anteil haben an der Heilsvollendung, können sie Vergebung der Sünden und die Hilfe zur Bewährung erlangen, die sie benötigen, um am Ende in das himmlische Allerheiligste einzugehen (475).

 

(3) Das himmlische Selbstopfer Christi und die Funktion opferkultischer Kategorien für den Hebr

 

Der Hebr deutet die Erhöhung Christi aus dem Tod als Eintritt in die kultisch verstandene Gottespräsenz, das himmlische Allerheiligste. Damit ist die Erhöhung zugleich seine hohepriesterliche Investitur und die Darbringung seines himmlischen Selbstopfers. Denn mit seinem Eintritt in das himmlische Allerheiligste überführt Christus die auf Erden erfolgte nicht-opferkultische Hingabe seines Lebens in die himmlische Gottespräsenz und bringt sie so als Opfer dar. Umgekehrt wird der einmalige irdische Weg Christi durch sein einmaliges himmlisches Selbstopfer ewig gültig gesetzt und geltend gemacht. Wahrer Kult, wahre Sakralität ist nun ausschließlich in der himmlischen Sphäre konzentriert. Die irdische Sphäre wird desakralisiert (475f).

Was im eigentlichen Sinn und mit vollem Recht als Opfer bezeichnet zu werden verdient, ist nach dem Hebr nur im eschatologischen, himmlischen Selbstopfer Christi vollzogen worden. Weil er das irdische Geschehen der Selbsthingabe Christi nicht opferkultisch deutet, kann der Hebr nun von seinem vollkommenen himmlischen Opfer sprechen. Nur hier ist der Sinn des Opferkults erfüllt. Der irdische Opferkult konnte nur in Abschattungen das himmlische Kultgeschehen darstellen. Nun aber ist der wahre, himmlische Opferkult an die Stelle des unvollkommenen irdischen getreten. Das besagt, dass das Verhältnis der Adressaten schon jetzt ganz durch ihre Zugehörigkeit zum himmlischen Hohenpriester bestimmt ist, zu dessen “Gnadenthron“ sie hinzutreten und durch dessen Vermittlung sie selbst am himmlischen Kult teilnehmen (476).

 

(4) Der Erhöhte als Hoherpriester

 

Das Bekenntnis zum Erhöhten erweist sich als Bekenntnis zum im Himmel gegenwärtig für uns hohepriesterlich wirkenden Christus. Seine eschatologische Inthronisation erweist sich als heilvoll für uns. Die Neuinterpretation des Kerygmas von Erniedrigung und Erhöhung Christi zielt auf die Wahrnehmung seines gegenwärtigen himmlischen Wirkens, auf das “haben“ als Audruck gegenwärtigen himmlischen Heilsbesitzes (8,1; 13,10). Durch sein einmaliges Opfer hat Christus die Seinen vollendet; es bedarf keiner Ergänzung (10,12.14). Die Hohepriesterchristologie erschließt, inwiefern schon jetzt von Vollendung die Rede sein kann. In dem Ausdruck “Gnadenthron“ (4,16) kommt die kulttheologische Deutung der Erhöhung zum Ausdruck: Als Hoherpriester verstanden, ist der Inthronisierte der, der pro nobis wirkt. Das hohepriesterliche Wirken Christi ist der Modus, in dem er gegenwärtig seine eschatologische Herrschaft für die Seinen heilvoll ausübt. Dies heilvolle Wirken beruht auf seiner Vergangenheit, bestimmt dadurch die Gegenwart und umgreift die Zukunft: “Jesus Christus gestern und heute und derselbe in Ewigkeit“ (13,8) (477f).

Der Hebr greift die Tradition über den irdischen Jesus und seine Erhöhung auf und bringt sie mittels der Kulttheologie in die Darstellung des erhöhten Christus und seines gegenwärtigen Wirkens ein. Christi gegenwärtige, himmlische Identität bleibt bestimmt durch seine Geschichte (“gestern“). Darum kann er uns in Leiden und Versuchungen beistehen. Diesen Beistand empfangen wir im Hinzutreten zum himmlischen Gnadenthron (4,14-16; 5,5-10). Der himmlische Hohepriester bringt sein einmaliges Selbstopfer für die Seinen vor Gott zur Geltung. Er vermittelt ihnen Vergebung und Hilfe in der Anfechtung. Beides ermöglicht ihnen die Teilnahme am himmlischen Kult und einst den eschatologischen Eingang in das himmlische Allerheiligste (478).

 

(5) Irdische Existenz und himmlischer Kult

 

Auf Erden sind die Adressaten Fremde, solange der Eingang in die himmlische Heimat aussteht (11,8-10). Sie leben außerhalb des “Lagers“, der irdischen, kultisch umfriedeten Zone, ohne Anteil an deren Sakralität (13,11-13). Doch leben sie schon jetzt auch in der himmlischen Welt, sofern sie (die dort verankert sind und Heimatrecht besitzen) zum himmlischen Kult “hinzugetreten“ sind, sich zur kultischen Festversammlung (12,22) des himmlischen Jerusalem zählen dürfen. Die Adressaten können und sollen am himmlischen Kult teilnehmen, weil sie einen Hohenpriester im Himmel haben (8,1f), durch dessen Vermittlung sie die Gnade empfangen, die zum Festhalten an der Zugehörigkeit zum himmlischen Heiligtum nötig ist (4,14-16) und durch den sie den Ertrag ihres im Gehorsam gelebten irdischen Lebens auf dem himmlischen Altar darbringen (13,15f) (478f).

Dazu bedarf es des Festhaltens an der Hoffnung, des Vertrauens auf das göttliche Verheißungswort, kurz, des Glaubens. Im irdischen Leben sich von der himmlischen Wirklichkeit bestimmen zu lassen, das heißt im Hebr glauben. Im Glauben und Festhalten ist der Glaubende bereits vom himmlischen Hoffnungsgut bestimmt. Indem die Adressaten festhalten an dem Wort, das selbst “fest“ (2,2) ist, gewinnen auch sie ihrerseits Anteil an jener Festigkeit, die dem Verheißungswort eignet. Das Festhalten an der Verheißung und an dem Heilsgut in seinem objektiven Gegebensein, gibt den Glaubenden schon jetzt an der Qualität des himmlischen Hoffnungsgutes Teil. Das Verhältnis der in der Welt lebenden Adressaten zur himmlischen Sphäre ist zu beschreiben als Ausrichtung auf die Heimat aus der Ferne heraus, als Glaube, als Festhalten, als Festwerden des Herzens, als Empfang der im Himmel herbeigeführten Reinheit (am Herzen) sowie als Hinzugetreten-Sein zum himmlischen Kult und als Teilnahme an ihm. In allen diesen Zusammenhängen geht es um die Zugehörigkeit zur himmlischen Sphäre, um das Bestimmtwerden durch sie (479).

Die endzeitliche Erschütterung des Geschaffenen (12,27) wird bewirken, dass die nicht erschütterlichen Dinge bleiben. Es sind dies die Dinge, die schon jetzt an der Unerschütterlichkeit des himmlischen Reiches Anteil haben (12,28). Es sind die Adressaten selbst und ihr Leben, soweit es von der Ausrichtung am Himmlischen bestimmt ist, die nicht erschüttert werden. Denn sie haben durch die ihnen vom Himmel her verliehene Festigkeit schon Teil an der Qualität des “unerschütterlichen Reiches“. Himmlische Festigkeit und himmlische Reinheit erlangt man nur aufgrund des himmlischen Selbstopfers Christi, durch das Hinzutreten zum himmlischen Gnadenthron. Die Kulttheologie des Hebr hat die Vermittlung von gegenwärtig-irdischem Leben und eschatologisch-himmlischer Heilsvollendung zum Thema (480).

 

(6) Die Bund-Theologie und der Zusammenhang von Eschatologie, Kulttheologie und anthropologischem Zugang zur Christologie

 

Im irdischen Weg von Leiden und Sterben Christi ist der Wille Gottes und damit die Verheißung des neuen Bundes erfüllt; das ist in der Erhöhung und im himmlischen , kultischen Wirken Christi für alle Zeit wirksam in Geltung gesetzt. Es gilt, in der irdischen Sphäre zu leben, bestimmt von der eschatologischen Heilsvollendung, deren Wirklichkeit im himmlischen Kult verfasst ist (480f).

Christus ist als der, der unter irdischen Bedingungen den Willen Gottes gehorsam erfüllt hat, der Mensch schlechthin (2,5-16). Die gehorsame Erfüllung des Gotteswillens (Bedingung und Grund der Erhöhung Christi) wird in Hebr 10,5-10 als die rechte, Gott wohlgefällige Darbringung auf Erden verstanden, die dem irdischen Opferkult als seine endzeitliche Überbietung gegenübersteht. Wer dem himmlischen Kult zugehört, lebt auf Erden in dem Gehorsam, den auch Christus auf Erden bewährte. So wird die menschliche Existenz in Schwachheit und Leiden als Bedingung und Modus des Zugangs zum himmlischen Kult gedeutet. Denn wer in irdischer Schwachheit so lebt, wie es Christus tat, der ist auf dem “Weg seiner (Christi) sarx“; dessen irdische Existenz ist schon bestimmt von der himmlischen Heilssetzung (diatheke). Wer so lebt entflieht nicht der irdisch-vorfindlichen conditio humana, sondern erkennt in ihr die unvermeidliche Gestalt des Fremdseins in der Welt. Unter dieser conditio humana ist die Zugehörigkeit zum himmlischen Kult auf Erden zu vollziehen. Gerade so gewinnt man Anteil an der eschatologischen Herrlichkeit, die dem Menschengeschlecht verheißen und die in der Erhöhung des einen 'Menschen' Jesus Christus erfüllt ist (481).

Auf Erden wird der Neue Bund vollzogen im nicht-opferkultischen, gelebten Gehorsam. Dieser wird im himmlischen Kult als Opfer dargebracht und erhält darin himmlisch-ewige Qualität. So gewinnt das irdische Leben unter dem neuen Bund schon jetzt Anteil an der ewigen Heilsvollendung in der Orientierung auf den himmlischen Kult hin und im Hinzutreten zu ihm. Diese ewige Heilsvollendung ist im Himmel gegenwärtige Wirklichkeit. Am Ende wird sie die alleinige Wirklichkeit sein. Schon jetzt schließt sie diejenigen ein, die sich in der irdischen Sphäre von ihr bestimmen lassen (481).

 

(7) Der Vollzug des himmlischen Kults

 

Der Vollzug des himmlischen Kults umfasst das einmalige, himmlische Selbstopfer Christi wie sein fortwährendes hohepriesterliches Wirken. Letzteres besteht aus seiner Fürbitte für die Seinen sowie aus der Darbringung ihres irdischen Gehorsams und Lobpreises als Opfer im himmlischen Kult, die er vermittelt. Im himmlischen Kult wird der gelebte Gehorsam als das wahre Opfer dargebracht. Die irdische Sphäre wird am Ende aufgehoben. Wenn sie erschüttert werden wird, dann wird vergehen, was in ihr nicht an himmlischer Festigkeit teilhat. Das Tun des Gotteswillens hat ewige Bedeutung, es bleibt. Die Darbringung als Opfer im himmlischen Kult ist gleichsam die Verwandlung des vergänglich, irdischen Daseins in bleibendes, himmlisch-ewiges. Ermöglichung und Paradigma dessen ist die Erhöhung Christi zur Darbringung seiner selbst im Himmel (482).

 

(8) Die theologische Leistung des Hebr

 

Der Verf. hat das überkommene christologische Kerygma neu ausgelegt und zwar so, dass mittels der Kulttheologie deutlich wird, dass und wie die Adressaten an der im Himmel gegenwärtigen Heilsvollendung schon jetzt Anteil haben, obgleich ihr eschatologischer Eingang in diese Heilsvollendung noch bevorsteht. Diese Kulttheologie erlaubt es dem Hebr, Kultkritik zu rezipieren und die Hingabe im gelebten Leben dem irdischen Opferkult entgegen zu stellen, um die auf Erden gelebte Hingabe zum Gegenstand des himmlischen Opferkultes zu erklären. Der Ausschluss vom Kult und vom “Lager“ ist in Wahrheit die Kehrseite der Zugehörigkeit zum himmlischen Heiligtum, himmlischen Kult und himmlischen Jerusalem. Das Leben im Fleisch, in Schwachheit und Versuchlichkeit ist in Wahrheit der Weg, der zur himmlischen Herrlichkeit führt (482f).

 

7. Zum historischen Ort

 

Für den Hebr ist der irdische, aronitische Opferkult und damit der Kult in Jerusalem durch das Christusereignis obsolet geworden. Zur Beurteilung des irdischen Opferkults wird eine Kulttheologie ex negativo entworfen. Der Hebr entwickelt eine Kritik am irdischen Opferkult und an dessen soteriologischer Wirksamkeit. Diese Kritik bezieht sich auf die Ausübung des Opferkults im irdischen Heiligtum und der dazugehörigen Reinigungsriten. Die “gegenwärtige Zeit“ (9,9) ist die Zeit, die durch die mosaisch-irdische Kultordnung und ihren Vollzug im irdischen Heiligtum bestimmt ist. Die Möglichkeit der irdisch-sakralen Heilsvermittlung durch irdische opferkultische Praxis nach Maßgabe des mosaischen Kultgesetzes steht dem Hinzutreten zum himmlischen Kult entgegen (484f).

Dieser kritische Bezug auf den irdischen Opferkult als eine bestehende Größe, die der Heilsaneignung durch Teilnahme am himmlischen Kult entgegensteht, lässt sich an zwei Stellen im Hebr besonders deutlich greifen: In 9,9f werden “gegenwärtige Zeit“ und “Zeit der richtigen Ordnung“ als zwei gleichsam überlappende Zeiten geschildert, in denen die Adressaten existieren: einerseits als auf Erden lebende Menschen, andererseits als im himmlischen Jerusalem hinzugetretene Kultteilnehmer. In 13,7-17 entspricht der Aufforderung zur Teilnahme am himmlischen Kult die Aufforderung zum “Hinausgehen“ aus dem irdischen sakral umfriedeten Bezirk des “Lagers“. In frühjüdischer und rabbinischer Kulttheologie wird der Jerusalemer Tempel bzw. die Stadt Jerusalem als das “Lager“ bezeichnet. Dass konkret an die Teilnahme an irdischen sakralen Mählern gedacht ist, zeigt die Auslegung von 13,9: Der Empfang der Gnade am himmlischen Gnadenthron steht im Gegensatz zu der Überzeugung, durch das Verzehren von Speisen irdisch sakraler Mähler Festigkeit des Herzens zu erlangen. Die Mahnung, das Unanschaulich-Himmlische nicht um einer vorfindlich-irdischen Speise willen zu verlieren (12,16), gewinnt durch die Abwertung irdischer sakraler Speisen (13,9) konkreten kultischen Bezug. Die Fremdheit und Schmach, die die Adressaten zu erleiden haben, ergeben sich durch den Auszug aus der identitätsstiftenden sakralen Sphäre (485f).

Die (vermeintliche) Möglichkeit, im irdischen Opferkult Vergebung zu erlangen, wird in 10,4.18 schroff abgewiesen. Hebr 9,24-28 stellt die Einmaligkeit und bleibende Gültigkeit des Selbstopfers Christi und der dadurch erwirkten Vergebung heraus (10,26). Im Hintergrund dieser Argumentation steht die Attraktivität des irdischen Opferkults (486).

Die Argumentation des Hebr bezieht sich, indem sie vom Zeltheiligtum der Wüstenzeit spricht, auf die Situation der Adressaten, die in der “gegenwärtigen Zeit“ leben, die durch den Bestand der mosaisch-irdischen Kultordnung und deren Objektivierung im irdischen Heiligtum bestimmt ist. Der Rückgriff auf die Gründungszeit des Kults (9,2-5) ist ein verbreiteter Topos der Kritik am zeitgenössischen Jerusalemer Tempel und Kult. Drücken frühjüdische Texte die Hoffnung aus, dass der rechte, Gott wohlgefällige Tempel und Kult in eschatologischer Zukunft wieder hergestellt werden wird, so spricht der Hebr davon, dass jener eschatologische Kult durch das einmalige Selbstopfer Christi bereits eingeweiht ist, dass die Adressaten durch Christi Erhöhung im himmlischen Allerheiligsten verankert sind, so dass ihre Teilnahme am himmlischen Kult gegenwärtige Wirklichkeit ist (487).

Ph. Vielhauer: In dem Schema von Katabasis und Anabasis spielt die Auferstehung keine Rolle (sie wird in 13,20 nur formelhaft erwähnt) und ist durch die Vorstellung der Himmelfahrt vom Kreuz aus ersetzt, die auch Phil 2,9 vorliegt. Die Erhöhung Christi wird als Einsetzung in die Weltherrschaft und als Einsetzung in die Hohepriesterwürde interpretiert. Der Name, der dem Erhöhtem verliehen wird, ist nicht 'Kyrios' (Phil 2,9-11), sondern 'Sohn' (Hebr 1,4ff). 'Sohn' ist im Hebr Königstitulatur des Erhöhten (245f).

 

8. Die Imitation Jesu im Brief an die Hebräer

 

A. Schulz

Der verherrlichte Herr hat seine Vollendung durch Gott empfangen (2,10; 5,9; 7,28) und vermittelt als der durch den Leidensgehorsam vollendete Hohepriester seinen Brüdern die eschatologische Heiligung (2,10f; 10,14) (293).

5,8f: Der Sohn Gottes hat in seiner Erniedrigung als Mensch den Gehorsam gegen den Willen des Vaters erlernt. Nachdem er von diesem vollendet worden ist, d.h. durch seine Einsetzung in die göttliche Herrlichkeit, ist Jesus zum Urheber des Heils für alle geworden, die ihm gehorsam sind. In diesem Text findet sich kein Imperativ, keine unmittelbare Aufforderung zur Nachahmung des Gehorsams gegenüber Gott, doch wird man die Angleichung im Ausdruck als einen mittelbaren Aufruf an die Leser zu einem dem Beispiel Jesu entsprechenden Bemühen verstehen dürfen. Sie sollen ihren Glaubensgehorsam gegen ihren Herrn Christus am Vorbild des gehorsamen Jesus neu entfachen (293f).

“Lasst uns den vor uns liegenden Wettkampf laufen“ (12,1): Gott hat der Gemeinde die Bewährung ihres Glaubens verordnet. Sie hat den Kampf “in Geduld“ auf sich zu nehmen und durchzustehen. Alle “hemmende Last“, die den vollen Einsatz der sittlichen Kräfte ausschließt, haben die Leser abzulegen. Auch steht der Gemeinde im Glaubensstreit eine “Wolke von Zeugen“ zur Seite. Diesen Gestalten aus der Heilsgeschichte eignet im Rahmen des Bildes vom Wettkampf zugleich die Stellung von Zuschauern in der Arena (294).

Die Christen haben vor allem auf Jesus zu blicken. Aus seinem vorbildlichen Verhalten in einer verwandten Situation sollen die Gläubigen für ihre eigene Entscheidung die rechten Folgerungen ziehen. Der Hohepriester Jesus, der als Mensch die Stadien sittlicher Bewährung an sich erfahren hat (2,14f; 2,18; 4,15f; 5,7f), ist als solcher der für seine Gemeinde vorbildliche Führer und Vollender ihres Glaubens (294f).

Die verschiedenen Stufen des Daseins Christi (12,2): “der wegen der vor ihm liegenden Freude, das Leiden in Schmach und Schande (als Gipfel der Erniedrigung) erduldete“ und anschließend “sich zur Rechten des Thrones Gottes gesetzt hat“. Die Leser, die alles für den Glaubenskampf Hinderliche zu verlassen haben, sollen auf Jesus, den Anfänger und Vollender ihres Glaubens blicken, der sich um seines göttlichen Heilsauftrags willen der ihm eigenen “Freude“, seiner göttlichen Doxa, entkleidet und dafür zunächst das schimpfliche Ende eines Verbrechers auf sich genommen hat. Die Leser sind gehalten, gleich ihrem Hohenpriester im Hinblick auf das ihnen von Gott bestimmte vollendete Heil als Kampfpreis die für den Anhänger Jesu notwendig gegebenen Schwierigkeiten geduldig zu ertragen und nicht mutlos zu werden (295f).

Der Vers 12,3 fordert eine intensive Betrachtung des Beispiels Jesu (“denkt“), durch die die Gemeinde vor einer vorzeitigen Ermüdung bewahrt werden soll. Sie haben von Jesus die Standhaftigkeit zu erlernen. Das gesamte messianische Wirken Jesu wird vom ungläubigen Widerspruch der Sünder, der Feinde Gottes, gegen den göttlichen Boten geprägt (296).

“Daher lasst uns hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen, denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ (13,13f). Die Leser sollen sich bewusst werden, dass die in Christi Erlösungstat gründende neue Heilsordnung für den Menschen des neuen Bundes eine schon gegenwärtige Wirklichkeit ist, deren abschließende Vollendung er im Glauben entgegenharrt. Diese Stadt des Hebr ist nicht nur zukünftig, sondern bereits jetzt ist sie eine himmlische Wirklichkeit und als solche die eigentliche, der gegenüber das Irdische nur Abbild (8,5), Schatten (8,5;10,1) und Gleichnis (9,9) ist (97f).

 

Literatur

 

Becker, Jürgen
1975, Das Gottesbild Jesu und die älteste Auslegung von Ostern, in: FS für Hans Conzelmann
1991, Das Evangelium nach Johannes

Berger, Klaus
2004³, Im Anfang war Johannes

Eisele, Wilfried
2003, Ein unerschütterliches Reich

Gäbel, Georg
2006, Die Kulttheologie des Hebräerbriefes

Glöckner, Richard
1975, Die Verkündigung des Heils beim Evangelisten Lukas

Haenchen, Ernst
1965¹⁴, Die Apostelgeschichte

Kessler, Hans
1970, Die theologische Bedeutung des Todes Jesu
1972, Erlösung als Befreiung

Müller, Ulrich.B.
1975, Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu im Joh-Ev, in Kerygma und Dogma 21

Schenke, Hans-Martin
1973, Erwägungen zum Rätsel des Hebräerbriefes, in: FS H. Braun, NT und christliche Existenz

Schulz, Anselm
1962, Nachfolgen und Nachahmen

Stiewe, Martin/Vouga, Francois
2011, Bedeutung und Deutung des Todes Jesu im Neuen Testament

Vielhauer, Philipp
1978, Geschichte der urchristlichen Literatur