D. Die christliche Botschaft in unserer Zeit
1. Die Selbstbekundung Gottes in Jesus Christus
2. Jesus der Gottgesandte in seiner Botschaft und in seinem Verhalten
3. Gott im Geschick Jesu
4. Jesus Christus, der Sohn und Herr
5. Das Problem des Ursprungs Jesu
6. Das Problem der Gottheit Christi
7. Die Herrschaft des erhöhten Herrn
8. Versöhnung und Gemeinschaft mit Gott durch die Sendung Christi (Das Werk Christi)
H.Graß (1973)
1. Die Selbstbekundung Gottes in Jesus Christus
Christologien sind Interpretationen des Christusgeschehens, sie müssen überprüft werden, weil wir im NT verschiedene Interpretationen haben und weil die Christologie, die in der alten Kirche sich durchgesetzt hat, weder mit der ntl Christologie identisch ist, noch ohne weiteres als legitime Konsequenz der ntl Botschaft angesehen werden kann. Das NT ist der Überzeugung, dass dieser Jesus mit Gott zusammengehört, dass wir es hier mit Gottes Gesandtem zu tun haben. Das Urchristentum hat diese Überzeugung nicht ohne Anfechtung gewonnen. Der schmähliche Tod Jesu am Kreuz ließ seinen Anspruch als fraglich erscheinen. Die Überzeugung musste aus der Anfechtung heraus neu gewonnen werden. Nachdem das geschehen war, hat es keine Gottesvorstellung mehr vertreten, abgesehen von Jesus von Nazareth. Es hat von Jesus nicht mehr gesprochen, ohne ihn in Beziehung zu Gott zu setzen. Auch für uns gilt, dass Jesus von Nazareth unter uns nur lebendig ist, sofern er in Beziehung zu Gott gesehen wird (80f).
2. Jesus der Gottgesandte in seiner Botschaft und in seinem Verhalten
In dem „ich aber sage euch“ dürfte der Charakter der Verkündigung Jesu richtig wiedergegeben sein, nämlich dass sie eine Verkündigung in besonderer Vollmacht gewesen ist. In dem „ich aber sage euch“ liegt ein Anspruch, der den Anspruch jedes Rabbi und jedes Propheten überschreitet. Jesus kritisiert nicht nur die spätjüdische Frömmigkeit und Gesetzlichkeit. Zum Teil sind es atl Gebote, denen er sein „ich aber sage euch“ entgegenstellt. Damit bekundet er seine Freiheit gegenüber dem atl Gesetz. Wenn das Judentum glaubte, den Willen Gottes im Gesetz zu haben, so handelte Jesus in der Gewissheit, den Willen Gottes unmittelbar zu kennen und zu verkündigen. Auch der Schrift gegenüber bekundet Jesus seine Freiheit. Seine Verkündigung, vor allem seine Gleichnisse, tragen den Charakter schöpferischer Unmittelbarkeit. Offenbar ist er selbst es gewesen, der sich souverän über die Sabbath- und Reinheitsvorschriften des Judentums hinweggesetzt hat (Mk 2,27; 7,15). Das Judenchristentum hatte Mühe, sich zu dieser Freiheit Jesu durchzuringen oder sie wenigstens den Heidenchristen zu konzedieren (Gal 2,11ff). Bei den Sabbath- und Reinheitsvorschriften war die Thora, das mosaische Gesetz selbst betroffen. Die Art wie Jesus mit Sündern, mit Unreinen und Verfemten umging, zeigt, dass er sich an die rituellen Vorschriften seines Volkes nicht gebunden wusste in dem Bewusstsein, dass sein Verhalten dem Willen Gottes entsprach. Jesus macht in seiner Botschaft und in seinem Verhalten kund, dass Gottes Liebe den Verlorenen und Unreinen, den Zöllnern, den Sündern, den Aussätzigen gehört, dass das Reich auch ihnen offensteht. „Es wird im Himmel mehr Freude sein über einen Sünder, der Buße tut, als über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen“ (Lk 15,7; 18,14). Jesus hat die Grenze zu den Samaritanern niedergelegt (Lk 10,33; 17,16ff). Auch die Bewohner Galiläas galten als Juden minderen Ranges (83f).
Es scheint, dass bereits Jesus selbst in seinen Heilungen Zeichen des hereinbrechenden Reichs gesehen hat (Lk 11,20; Mt 12,28). Als Motiv seiner Heilungen wird man auch Barmherzigkeit und Liebe annehmen dürfen. Nicht die Naherwartung, sondern die Verkündigung des Anbruchs der Gottesherrschaft ist die Besonderheit der Botschaft Jesu. „Die Stunde ist da, von der die Verheißung der Propheten redete: Die Blinden sehen...“ (Mt 11,5; Jes 35,5). Dass Jesus in sich selbst, in seiner Botschaft und in seinem Wirken den Anbruch der Gottesherrschaft gesehen hat, lässt sich auch sonst wahrscheinlich machen (Lk 10,23f; 4,17-21; Mk 3,27; Lk 11,20). Auch das Wort von der Gottesherrschaft (Lk 17,21) spricht von Gottesherrschaft in ihrer Mitte, wie sie durch Jesus selbst existent geworden ist. Darum gilt: „Heil dem, der keinen Anstoß an mir nimmt“ (Mt 11,6) (84f).
3. Gott im Geschick Jesu
In Jesu Wort und Taten wird nicht nur Gottes Wille sichtbar, sondern der Künder dieses Wortes, der Vollbringer dieser Taten repräsentiert in besonderer Weise das Kommen Gottes zu den Menschen. Erkannte man im Kreis seiner Jünger Jesus als Gottgesandten, so war sein Leiden und Sterben eine Infragestellung seiner göttlichen Sendung. Wie stark man diese Infragestellung empfand, zeigt noch die Darstellung des Sterbens Jesu, die Mk 15,34 und Mt 27,46 als Gottverlassenheit Jesu geschildert wird. Lukas hat diesen Zug getilgt, er lässt Jesus mit den Worten: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ sterben (Lk 23,46), während er bei Mk 15,35; Mt 27,50 mit einem lauten Schrei verscheidet. Die alte Bekenntnisformel 1Kor 15,3 deutet seinen Tod als Tod für unsere Sünden und bezeugt seine Auferweckung. Hebr 9,12.14 lässt Christus als Hohenpriester mit seinem eigenen Blut in das Heiligtum eingehen, er ist Opferer und Opfer zugleich (9,26.28; 10,12.14). Mk 8,31fparr und Lk 24,26 stellen das Sterben Jesu einfach unter das göttliche Muss. Das Sterben Jesu bewältigte man im Urchristentum theologisch auf verschiedene Weise (99f).
Die Auffassung von der Erhöhung Jesu findet sich Phil 2,5-11. Ebenso haben wir im Hebr nahezu ausschließlich den Gedanken der Erhöhung. Christus, der vornehmlich als Sohn Gottes und Hoherpriester bezeichnet wird, wurde nach Leiden und Sterben erhöht und ist in das himmlische Heiligtum eingegangen, wo er sich zur Rechten der Majestät gesetzt hat (Hebr 1,3; 2,9; 4,14; 5,5-10; 8,1; 9,24; 10,12f; 12,2). Hebr 13,20 wird beiläufig die Wiederbringung Jesu von den Toten erwähnt. In 1Tim 3,16 werden Kreuz und Auferweckung nicht erwähnt: „geoffenbart im Fleisch, hinaufgenommen in die Herrlichkeit“.
Die Apokalypse Johannes bezeichnet Jesus Christus als den Erstgeborenen aus den Toten (Apk 1,5.18; 2,8), sie kennt für die Endereignisse eine doppelte Auferstehung der Toten vor und nach einem tausendjährigen Zwischenreich (20,5f.12ff). Andererseits erwähnt sie in Kp 5 die Auferstehung Christi nicht, sondern beschreibt seine Erhöhung als Inthronisation des geschlachteten Lammes.
Das Johannesevangelium hat am Schluss eine Reihe von Ostergeschichten, aber in den sog. Abschiedsreden Jesu ist der Hingang zum Vater der zentrale Begriff für den Ausgang Jesu (7,33; 8,14.21ff; 13,3.33.36; 14,4f.12.28; 16,5.10.16-19,28). Außerdem spricht der john Christus mehrfach in doppeldeutiger Weise von der Erhöhung des Menschensohnes; damit ist sowohl die Erhöhung am Kreuz wie zur Herrlichkeit gemeint (3,13f; 8,28; 12,32-34). Joh 11,25: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt“. Das spezifisch Johanneische liegt mehr in den Aussagen über den Hingang zum Vater und über die Erhöhung als in den Aussagen über die Auferstehung. Wir haben neben den Ostergeschichten der Evangelien sehr unterschiedliche Aussagen in knappen Formeln (Probleme des Ostergeschehens s. 9.7) (100f).
4. Jesus Christus, der Sohn und Herr
Alle christologischen Aussagen des NTs sind Interpretationen des Christengeschehens (117).
Am Anfang steht das eine Christusgeschehen, es wurde aber von Anfang an nicht einheitlich ausgelegt. Man hatte einige Mühe, das Christusgeschehen zu verstehen und seine Verkündigung stellte immer neue Aufgaben (108).
Wenn Jesus als Menschensohn bezeichnet wird, dann gehört das in den Traditionsbereich des Judenchristentums, aber indem sowohl vom kommenden, wie vom irdischen, wie vom leidenden und auferstehenden Menschensohn die Rede ist, scheinen Entwicklungen und Sinnverschiebungen im Begriff vorzuliegen. Wenn bei Joh der Menschensohn vorkommt (3,13; 6,62) als der vom Himmel herab gekommene und dorthin zurück gekehrte Menschensohn, dann hat die damit verbundene Präexistenzvorstellung nicht nur Parallelen im gnostischen, sondern auch im jüdischen Menschensohngedanken. Aber diese Präexistenzvorstellung ist in den synoptischen Menschensohnvorstellungen nicht aufgenommen und entwickelt worden (109).
Der Messiastitel dürfte ebenfalls im judenchristlichen Bereich anzusiedeln sein. Wahscheinlich ist es aufgrund des Petrusbekenntnisses (Mk 8,27-29) Petrus gewesen, der nach den Ostererfahrungen Jesus als Messias bekannte, so dass die Jerusalemer Gemeinde, deren Begründer und Führer Petrus war, der ursprüngliche Ort eines Messiasglaubens gewesen ist. Von vornherein musste der jüdische Messiasbegriff umgeprägt werden, um auf Jesus zu passen. Eine unverwandelte Übernahme jüdischer oder apokalyptischer Vorstellungen hat nicht stattgefunden. Man übernahm Vorstellungen, die nur z.T. passten, füllte sie von Jesus her mit neuem Gehalt, verkündigte ihn als Erfüller von Erwartungen, die so nicht vorhanden gewesen waren und beschlagnahmte gleichsam jüdisches Glaubensgut für sich. Die Verwandlung, die schon bei der Übernahme geschah, setzte sich fort, indem verschiedene Gedanken den Begriffen zugeordnet wurden. Diese wurden schließlich auch miteinander kombiniert, so dass sich die verschiedene Herkunft verwischte. Obgleich die Begriffe, Messias und Menschensohn eine gewisse Anpassungsfähigkeit gezeigt haben, konnten sie sich nicht als christologische Grundbegriffe der Kirche behaupten. Der Menschensohntitel trat zurück, verschwand schließlich. Der Messiastitel wurde zu einem Bestandteil des Namens. Jesus Christus ist für uns, wie für das gesamte Heidenchristentum Name, nicht mehr Würdetitel (109f).
Gottessohn und Kyrios: Röm 1,3f heißt es von Jesus Christus „der aus der Nachkommenschaft Davids hervorgegangen ist nach dem Fleisch, der eingesetzt ist zum Sohn Gottes voll Macht nach dem Geist der Herrlichkeit seit der Auferstehung von den Toten“. Der ursprüngliche Sinn dieses 'eingesetzt' wird heute fast durchweg adoptianisch verstanden, als Rechtsakt, nicht hellenistisch als Vergottung. Die Formel setzt ein Bekenntnis zur Messianität Jesu voraus (Davidssohn), überbietet es aber durch die Proklamation der Gottessohnschaft des Auferstandenen bzw. Erhöhten. Eine Präexistenzvorstellung liegt der ursprünglichen Formel nicht zugrunde. Das Schema ist nicht Menschwerdung (Erniedrigung) und Erhöhung, sondern irdischer Davidssohn, himmlischer Gottessohn. Die Vorstellung von der Adoption zum Gottessohn verweist in den jüdischen Vorstellungsbereich. Formeln, wie sie Gal 4,4f und Röm 8,3 begegnen, setzen bereits den Präexistenzgedanken voraus und dürften dem hellenistischen Judenchristentum zuzuschreiben sein. Der Titel Gottessohn kommt sowohl im adoptianischen Sinn, wie im metaphysischen Sinn vor (111f).
Jesus als Kyrios: Die Kyrios-Bezeichnung dürfte vom erhöhten Herrn auf den irdischen übertragen worden sein, so wie auch beim Titel Menschensohn der irdische Jesus in diese Bezeichnung einbezogen wurde. Im Bekenntnis Kyrios Jesus liegt ein Bezug auf die Vergangenheit, auf eine bestimmte geschichtliche Person. Es ist wahrscheinlich, dass der Präexistenzgedanke und derjenige des Schöpfungsmittlers ursprünglich nicht zum Motivbestand der Kyriosvorstellung gehörten. Aber sehr bald verbindet sich der Titel mit anderen Motiven, neben dem Kyrios Jesus. In Phil 2,6-11 wird das Bekenntnis zum Kyrios Jesus Christus mit seinem Weg von der Präexistenz über Menschwerdung und Tod bis zur Erhöhung und Verherrlichung verbunden. Mit der Heilsbedeutung des Todes scheint die Kyriosbezeichnung in der Abendmahlsformel verbunden gewesen zu sein (1Kor 11,23ff). Indem der Kyriostitel und der Sohnestitel sich Vorstellungen zueignen können, die ihnen ursprünglich nicht eigentümlich waren, zeigen sie bessere christologische Eignung als die Titel Menschensohn, Messias und Davidssohn (115f).
5. Das Problem des Ursprungs Jesu
Die Lehre von der Präexistenz und Menschwerdung Christi stellt die mit der Jungfrauengeburt konkurrierende Lösung des Ursprungsproblems im NT dar (122).
Der Präexistenztheologe des NTs ist Johannes mit seinem „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort“ (1,1). „Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was ist“ (1,3.10). Ebenso heißt es 1John 1,1f vom Wort des Lebens, das von Anfang an war, das beim Vater war und uns erschienen ist (2,13f). Das JohEv trägt die präexistente Sohnschaft auch in das Selbstzeugnis Jesu ein, lässt ihn zu den Juden sprechen: „Ehe Abraham ward, bin ich“ (8,58). Erst bei Joh ist die ewige Gottessohnschaft Jesu zu einem Hauptthema der Verkündigung geworden (123f).
Hinsichtlich der Auferweckung Jesu muss an dem Ja Gottes zu diesem hingerichteten Jesus von Nazareth festgehalten werden. Hinsichtlich der Präexistenz muss an der Erwählung und Sendung Jesu durch Gott festgehalten werden. Bei den Synoptikern liegt keine Präexistenzvorstellung zugrunde, während das bei Paulus und vollends bei Johannes der Fall ist. Gemeinsam ist diesen Stellen die Sendung Jesu durch Gott. Das ist letzten Endes der Sinn der Präexistenzvorstellung. Jesu Sendung ist unüberbietbar. Er ist das endgültige Wort Gottes an uns. Jesus Christus präexistierte als Erlöser von Ewigkeit her im Ratschluss und Willen Gottes. Von Ewigkeit her hat Gott diesen Jesus von Nazareth zum Offenbarer und Vollbringer seines Heilswillens bestimmt (126f).
Die Christologie muss daran festhalten, dass Gott mit Christus war, aber sie identifiziert nicht Gott mit Christus. Eine reale Schöpfungsmittlerschaft und präexistente Kosmokratie Christi kann nicht mehr festgehalten werden. Eine Schöpfungsmittlerschaft Christi bietet abgesehen von ihrem spekulativ-mythologischen Charakter auch zusätzliche theologische Schwierigkeiten durch die offenkundige Subordination, in der im NT der Präexistente gesehen wird (128f).
Weder die Anschauung von der Jungfrauengeburt noch die Präexistenzanschauung kann festgehalten und für dogmatisch verbindlich erklärt werden. Festzuhalten ist dagegen die Erwählung und Sendung Jesu von Nazareht durch Gott, der in ihm sein entscheidendes und endgültiges, heilbringendes Wort gesprochen hat. Diese Erwählung und Sendung kann nicht mehr als Inkarnation, als Menschwerdung Gottes verstanden werden (129).
6. Das Problem der Gottheit Christi
Man muss den abstrakten Logosbegriff des Prologs von dem konkreten Bild, das Johannes von Christus dem menschgewordenen Wort zeichnet, her verstehen (130f).
In Röm 9,5 ist die Doxologie auf Gott, nicht auf Christus zu beziehen. Doxologien beziehen sich bei Paulus gewöhnlich auf Gott (Röm 1,25; 11,36; 2Kor 11,31; Gal 1,5; Phil 4,20). Nur an zwei Stellen im NT wird Jesus unzweifelhaft als Gott bezeichnet Joh 1,1 und 20,28. Davon, dass das NT sich selbstverständlich zu Christus als Gott oder gar als Gottgleichen bekennt, kann keine Rede sein (132).
Kyrios und Gottessohn: Auch die Kyriosbezeichnung hat in der urchristlichen Tradition eine Entwicklung durchgemacht, bei der es erst im hellenistischen Christentum zu einer gottheitlichen Verehrung des Kyrios kam. Wenn auf hellenistischem Boden das Bekenntnis zum Kyrios Christos sich zugleich gegen die heidnischen Kyrioi und den Kyrios Kaisar gerichtet hat, dann ist dem Kyrios Christos damit noch nicht die Würde des Kyrios Jahwe des ATs zugestanden. Der Herr Christus wird Gott dem Herrn nicht gleichgeordnet oder gar mit ihm identifiziert, sondern er bleibt Gott untergeordnet. Die Mächte (Phil 2,6ff), die die Kniee beugen und das Kyrios Jesus Christos bekennen, tun es zur Ehre Gottes des Vaters. In 1Kor 15,27f sagt Paulus, dass Christus, dem Gott alles unterworfen hat, sich selbst Gott unterwerfen wird, damit Gott alles in allem sei. Hier wird nicht nur das Herrsein Christi durch das alleinige Herrsein Gottes am Ende begrenzt, sondern das Herrsein Christi ist auch abhängig gedacht von Gott, der ihm die Herrschaft verschafft, ihm alles unterworfen hat und unterwirft. Der Kyrios Christos ist gleichsam der Statthalter Gottes, er bleibt ihm stets unterstellt. Dieser Stellung entspricht es, wenn Paulus 1Kor 11,3 Gott als das Haupt Christi bezeichnet, so wie der Mann das Haupt der Frau ist und Christus das Haupt des Mannes. 1Kor 3,22f: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes“ (132).
Die Bezeichnung Sohn Gottes wurde ursprünglich, d.h. in der judenchristlichen Gemeinde adoptianisch und funktional verstanden. In der hellenistischen Gemeinde wird sie zur Wesensbezeichnung. Aber auch hier wird der Sohn Gottes vom Vater nicht nur personell, sondern auch dem Rang nach unterschieden (Joh 4,34; 5,19.30 u.a.). In den christologischen Aussagen des NTs ging es in erster Linie um die Funktion Christi. Er soll als der Offenbarer Gottes gekennzeichnet werden, als der, in dem Gott begegnet, in dem Gottes Heilshandeln geschieht (133).
Das Heilsgeschehen ist etwas, was sich einst vollzogen hat, als Gott diesen Jesus von Nazareth sandte und sein Werk in ihm und durch ihn vollbrachte, in das wir durch Wort und Glauben hineingezogen werden. In dieser Funktion im Dienst Gottes hat Christus teil an dem göttlichen Charakter des Offenbarungshandelns Gottes. Er ist der Offenbarer Gottes, in ihm offenbart sich Gott, er ist die Offenbarung Gottes. Als Gottgesandter und Offenbarer Gottes vollzieht er aktiv und passiv, in seinem Wirken und Schicksal, den Willen dessen, der ihn gesandt hat. In dieser Erfüllung des Willens Gottes liegt das, was man traditionell als die Sündlosigkeit Jesu bezeichnet hat. In der Ausübung seiner Funktion entspricht er dem Willen Gottes. Das Ja Gottes, das in der Auferweckung/Erhöhung geschieht, ist ein bestätigendes Ja für den, der seinen Auftrag erfüllte. Als der, in dem und durch den Gott zu unserem Heil handelt, ist er eins mit dem Vater. Der Vater hat sein offenbarendes und rettendes Handeln mit seinem Wirken und Schicksal identifiziert, so dass in diesem Sinn gilt: Wer micht sieht, der sieht den Vater. Es handelt sich zwischen Gott und Christus um eine Identität der Aktionen, nicht um die Wesenseinheit oder Wesensgleichheit zweier Personen. „Ich und der Vater sind eins“ heißt nichts anderes als: 'ich tue den Willen dessen, der mich gesandt hat und vollbringe sein Werk' (135f).
Anbetung Christi? Das Gebet im NT wird häufiger an Gott selbst gerichtet durch Jesus Christus als an Christus selbst. An Gott richtet Paulus seinen Dank durch Jesus Christus für den Glaubensstand der römischen Gemeinde (Röm 1,8). Die Christen sollen alles im Namen des Herrn Jesus tun und Gott dem Vater durch ihn danken (Kol 3,17). In Christus sind alle Verheißungen Gottes Ja und Amen, Gott zur Ehre durch uns (2Kor 1,20). Eph 5,20: „Sagt allezeit Gott dem Vater Dank für alles im Namen unseres Herrn Jesu Christi“. Vor dem Vater gilt es die Kniee zu beugen (Ph 3,14), ihm gebührt die Ehre in der Gemeinde und in Jesus Christus (3,21). Auch im Joh-Ev ist das eigentliche christliche Gebet das, das sich an Gott im Namen Jesu Christi richtet (Joh 14,13; 15,16; 16,23ff). Dem Gebet im Namen Jesu wird zwar eine besondere Wirksamkeit zugeschrieben, aber gerichtet ist das Gebet an den Vater. Das NT ist der Meinung, dass die Anbetung Gott dem Vater gebührt. Sie soll allerdings durch Christus, im Namen Christi geschehen. Dadurch wird zum Ausdruck gebracht, dass der Zugang zu Gott durch Christus eröffnet ist und dass man Kraft der in Christus geschenkten Gnade Gottes getrost und voller Zuversicht Gott bitten darf. Phil 2,10f: „im Namen Jesu sollen sich alle Kniee beugen (…) und jede Zunge bekennen, dass Jesus Christus der Herr ist zur Ehre Gottes des Vaters“. Das Hauptgebet der Christenheit, das Vaterunser, ist allein an Gott den Vater gerichtet (136f).
7. Die Herrschaft des erhöhten Herrn
Jesus, der in einzigartiger Weise der Auserwählte und Gesandte Gottes zur Durchführung seines Heilswillens war, ist auch im Tode von Gott nicht verlassen worden. Gott hat sich zu ihm bekannt. Das war der Sinn der Auferweckung/Erhöhung Christi. Die Erhöhung bezeichnet einen Hingang zum Vater und ein Sein bei Gott (138).
Das Zeugnis vom gegenwärtigen lebendigen Herrn vollzieht sich in der immer erneuten Vergegenwärtigung der geschichtlichen Gestalt Jesu. Es ist der Herr, den wir als Jesus von Nazareth kennen. Die eigentliche Wirkunsgweise des erhöhten Herrn geschieht in der Botschaft des Evangeliums und in der durch diese Botschaft gesammelten Gemeinde (140).
Jesus hat ein Sein für sich beim Vater. Das wird mit den mythologischen Ausdrücken: 'Sitzend zur Rechten Gottes, sitzend auf dem himmlischen Thron' angezeigt, ohne dass solche Ausdrücke dogmatisiert werden können. Wir sind an seine Vergegenwärtigung in seinem Wort und seinen Wirkungen gewiesen (142).
Der Herrschaftsbereich des erhöhten Herrn: Paulus kann von seiner Verkündigung sagen, dass sie nichts anderes habe bringen wollen als Christus den Gekreuzigten, der den Weisen und Mächtigen weithin verborgen, den Törichten und Schwachen dagegen eher offenbar ist (1Kor 1,17-22). So ist auch im NT Christi Herrschaft eine tief verborgene Herrschaft, es geht um das regnum gratiae. D.h. die Herrschaft Christi geschieht durch die Botschaft des Evangeliums, durch die er bei denen, die an ihn glauben, das Reich der Gnade baut inmitten dieser Welt, mit der er sie sendet in die Welt als Glaubensboten und Boten dienender Liebe. Gottes Reich dagegen ist ein regnum potentiae. Die ganze Schöpfung ist in seiner Hand und wird von ihm regiert. Dieses regnum potentiae, das Gott auf diese Weise als Herr der Welt übt, gehört nicht zur Funktion Christi. Jesus ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, die Mühseligen und Beladenen zu sich zu ziehen, um sie zu erquicken (Lk 19,10; Mt 11,28) (144f).
8. Versöhnung und Gemeinschaft mit Gott durch die Sendung Christi (Das Werk Christi)
Mit der Konzentration des Herrseins Christi auf das regnum gratiae haben wir uns freigemacht von metaphysischen Spekulationen über eine himmlische Seinsweis Christi sowohl vor wie nach bzw. hinter und abgesehen von dem Offenbarungsgeschehen. Dieses vollzieht sich in der geschichtlichen Wirksamkeit und dem Geschick Jesu und nimmt nach seinem Hingang zum Vater in der Christusverkündigung seinen Fortgang. Im NT haben wir eine Fülle von Vorstellungen und Begriffen mit denen das Werk Christi umschrieben wird. In der synoptischen Tradition kann der Tod Jesu auch einfach unter dem Gesichtspunkt der göttlichen Notwendigkeit oder der Schriftgemäßheit gesehen werden, ohne dass dabei eine Heilsbedeutung expliziert wird (Mk 8,31parr; Lk 24,25ff). Die Breite der Darstellung der Passion Jesu in den Evangelien steht in einer Spannung zu einer nur ganz spärlichen soteriologischen Deutung dieser Passion (146f).
Für Paulus konzentriert sich das Werk Christi in seinem Tod, ohne sich darauf zu beschränken. Der Sinn des Todes wird mit Begriffen ausgedrückt, die aus verschiedenen Anschauungskreisen stammen. Aus der jüdischen Kultustradition stammt der Gedanke des Sühnopfers (Röm 3,25). Der Stellvertretungsgedanke bekommt eine besondere Wendung, wenn es Gal 3,13 heißt, dass Christus uns von dem Fluch des Gesetzes losgekauft habe, indem er für uns am Kreuz zum Fluch wurde (147f).
Der Hebräerbrief: Der traditionelle Sühnopfergedanke ist dadurch abgewandelt, dass Christus dieses Opfer nicht nur selbst gebracht hat, sondern als der Hohepriester mit seinem Opfer im Himmel vor Gott steht. Neben dem Selbstopfer am Kreuz liegt auf dem Eingang in den Himmel, durch den er den Seinen den Zugang zum Vater eröffnet hat und auf dem Eintreten für die Seinen beim Vater der entscheidende Ton. Weiter ist kennzeichnend für den Hebr, dass er sich nicht mit dem Opferakt am Kreuz begnügt, sondern den Leidensgehorsam stark hervorhebt (5,7-9), wie er auch das uns Gleichsein und die Versuchung unterstrichen hat (2,17f; 4,15). Auch dieses Verhalten Jesu in seiner Niedrigkeit scheint als ein Beitrag zur Erlösung verstanden zu sein (149).
Im Johannesevangelium ist das eigentliche Heilsereignis nicht Tod und Auferstehung, sondern die Inkarnation, das Kommen des Gottessohnes in das Fleisch und die Erhöhung, d.h. der dem Kommen des Erlösers korrespondierende Hingang zum Vater (1,12-18; 3,13-17; 13,3; 16,28). Die Offenbarung vollzieht sich in der menschlichen Geschichte Jesu im Ganzen seines Wirkens, das im Tod seine Vollendung findet. Dabei wird nicht die Niedrigkeit, sondern die Hoheit des irdischen Jesus zum Ausdruck gebracht. In seinen Reden zeigt sich diese Hoheit vor allem in den Ich-bin-Worten (6,35; 8,12; 10,7.11; 14,6; 15;1). Er redet nicht nur die Wahrheit, verkündigt das Leben, sondern er selbst ist die Wahrheit und das Leben, das Licht der Welt, die durch Finsternis, Lüge und Tod bestimmt ist. Teilhaftig wird man des Heils indem man ihn erkennt, d.h. indem man an ihn glaubt und in ihm den Vater erkennt (6,35; 10,9; 14,6f; 17,3). Wer nicht an ihn glaubt, der ist schon gerichtet (3,18; 5,24). Durch seinen Hingang zum Vater eröffnet er den Seinen den Weg zum ewigen Leben (14,2f; 17,24; 12,32). Christi Werk besteht in seinem Kommen, Wirken und Gehen gemäß der Sendung und dem Willen des Vaters (4,34; 5,36; 10,25.37f; 14,9ff; 17,1-8) (149f).
Lukas sagt, dass Jesus das Heil ist und dass in seiner Wirksamkeit das Heil geschieht. Dem Tod Jesu wird keine Heilsbedeutung zugeschrieben (150).
Zusammenfassung: Es ist nicht möglich von der ntl Versöhnungs- oder Erlösungslehre zu sprechen und für sie dogmatische Verbindlichkeit zu beanspruchen. Es handelt sich um unterschiedliche Konzeptionen, die in Spannung zueinander stehen. Hinzu kommt, dass die Veranschaulichungen, deren sich das NT bedient, zum guten Teil ihre Anschaulichkeit für uns eingebüßt haben. Das mythologische Material, in das die Aussagen über das Heilsgeschehen eingebettet sind, ist für uns problematisch geworden (150f).
Die john Anschauung: Mit dem Kommen des Gottgesandten in das Fleisch, d.h. in unser Menschsein, geschieht die Erlösung. Damit ist ein entscheidendes Grundanliegen der Soteriologie zum Ausdruck gebracht. Christus ist von Gott gesandt zu unserem Heil. Er selbst ist unser Heil. Das Heil wird nicht an ein einzelnes Geschehnis oder Widerfahrnis im Leben Christi gebunden. Sein Leiden und sein Kreuz gehören mit zu dem Offenbarungsgeschehen, bilden aber nicht das Zentrum. Christus selbst ist in seinem Reden und Wirken der Offenbarer Gottes, an dem sich die Entscheidung für oder gegen Gott vollzieht. Dem Kommen des Erlösers entspricht sein Hingang zum Vater; dieser ist verbunden mit der Sendung des Parakleten, des heiligen Geistes (14,26; 15,26; 16,7), der sein Werk fortführen wird (152f).
Im JohEv ist das Kommen Christi in die Welt, in sein Eigentum (Joh 1,9.12-14) das entscheidende Heilsereignis. Indem Gott sich in der Sendung Christi der ihm entfremdeten Menschen annimmt, geschieht Versöhnung. Diese vollzieht sich in dieser Sendung und mit dieser Sendung selbst. Das versöhnende Handeln Gottes liegt nicht bloß in dem Faktum der Sendung, sondern es vollzieht sich in dem, was in dieser Sendung beschlossen ist, im Wirken und Handeln, im Leiden und Sterben des Gottgesandten. Auch dass Gott sich im Tod Christi zu seinem Gesandten bekannt hat, gehört dazu. Das versöhnende Handeln Gottes vollzieht sich in ihm, in der Totalität seines Seins. Joh 14,6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater, denn durch mich“ (161).
Indem Gott die Verwerfung seines Gesandten in das versöhnende Geschehen hineinnimmt, bekundet er, dass er sich in seiner Versöhnungsabsicht auch durch dieses Verhalten der Menschen nicht beirren lässt. Er ist und bleibt dennoch der Gnädige und Barmherzige. Im Geschick Christi ist Gottes Barmherzigkeit noch nicht an ihr Ende gekommen, sondern erweist sich gerade in ihrer ganzen Tiefe. Er erduldet wie Christus den Widerspruch der Sünder (Hebr 12,3) und umfasst sie dennoch mit seiner Liebe. Gott tötet und macht lebendig, er führt in die Tiefe und wieder herauf, er gibt Jesus der Gottverlassenheit preis und verlässt ihn dennoch nicht. Im Kreuz Christi offenbart sich derselbe Gott, der in die Tiefe führt und wieder heraus, der so auch in der Rechtfertigung an uns handelt. Das Kreuz Christi war der Christenheit von vornherein vorgegeben und sie hat sich von Anfang an um seine Sinngebung bemüht. Diese Sinngebungen sind mannigfaltig. Nicht alle sind heute mehr nachvollziehbar (166).
Literatur
Dibelius, Martin
1953, Jungfrauengeburt und Krippenkind, in: Botschaft und Geschichte
Fischer, Günter
1975, Die himmlischen Wohnungen, Untersuchungen zu Joh 14,2f
Frankemölle, Hubert
1984, Jahwe-Bund und Kirche Christi
Graß, Hans
1973, Gott in Christo, in: Christliche Glaubenslehre 1
Luz, Ulrich
2002, Das Evangelium nach Matthäus