2. Der historische Jesus hat seinen Tod nicht als Sühnegeschehen gedeutet
(1) Mk 10,45 par – das Lösegeldwort
(2) Mk 14,24 par - das Kelchwort beim Abendmahl
(3) Wie kam es zur nachösterlichen Deutung des Todes Jesu als Sühnegeschehen?
Anhang a: Durch das Opfer (Jesu Christi) erlöst?
Anhang b: Jes 53,7: Keine Stellvertretung im Erleiden der Strafe, sondern Verzicht auf Vergeltung
W. Zager (1999)
(1) Mk 10,45 par – das Lösegeldwort
„Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, bedient zu werden, sondern zu dienen" b: "und sein Leben als Lösegeld für viele zu geben“.
In Lk 22,24-27 findet sich eine parallele Überlieferung: „Es entstand aber unter ihnen ein Streit darüber, wer von ihnen als der Größte zu gelten habe. Er aber sprach zu ihnen: Die Könige der Völker herrschen über sie, und ihre Machthaber lassen sich Wohltäter nennen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Größte unter euch soll wie der Jüngste werden, und der Führende wie der Dienende. Denn wer ist größer: der zu Tische liegt oder der dient? Ist es nicht der, der zu Tische liegt? Ich aber bin mitten unter euch wie der Dienende“.
Hier wurden von beiden Evangelisten verschiedene, voneinander abhängige Ausprägungen ein und derselben Grundtradition benutzt. Lk 22,27c hat mit dem Fehlen der Sühneaussage das Ursprüngliche bewahrt. „Und sein Leben als Lösegeld für viele zu geben“ in Mk 10,45b ist eine spätere Erweiterung. Dagegen gehört die Rede vom Dienen Jesu zur Markus und Lukas gemeinsamen Grundtradition (37f).
Innerhalb der synoptischen Tradition werden die drei Gruppen von Menschensohnworten (vom kommenden, vom gegenwärtig handelnden und vom leidenden Menschensohn) klar voneinander unterschieden. Daran ist zu erkennen, dass eine Kombination vom Lebensdienst des Menschensohnes einerseits und von seiner Lebenshingabe als Lösegeld andererseits sekundär sein muss (38).
Die Urfassung von Mk 10,45a besaß das ‚Ich’ Jesu als Subjekt und nicht den ‚Menschensohn’: „Ich bin nicht gekommen, bedient zu werden, sondern um zu dienen“ (39).
Kann die von dem Spruch Mk 10,45a unabhängige Sühneaussage in Mk 10,45b auf den historischen Jesus zurückgeführt werden? Anders als im palästinisch-jüdischen Kultur- und Religionsbereich, dem die geschichtliche Person Jesu zuzurechnen ist, findet sich zur Deutung des Todes Jesu als Sühnegeschehen eine unmittelbare Parallele allein in der hellenistisch-jüdischen Tradition vom stellvertretenden Sühnetod: Die jüdischen Märtyrer geben ihr Leben hin als ‚Lösegeld’ für die Sünden ihres eigenen Volkes (4 Makk 6,29; 17,21).
Mk 10,45b repräsentiert ein jüngeres Überlieferungsstadium der frühchristlichen Dahingabeaussagen, was daran zu erkennen ist, dass nicht Gott als handelndes Subjekt der Dahingabe genannt, sondern Jesus als solches vorausgesetzt wird (41).
(2) Mk 14,24 par - das Kelchwort beim Abendmahl
Anfangs lag nach 1 Kor 11,25 zwischen den beiden Deuteworten die Sättigungsmahlzeit, die dann in einem späteren Stadium in Mk 14,23 wegfiel. Durch das Aneinanderrücken von Brotwort und Kelchwort fand eine sprachliche und inhaltliche Angleichung statt (41f).
Das Nebeneinander von dem als Deutewort gestalteten Kelchwort Mk 14,24 und dem Verheißungswort Mk 14,25, das ja ein weiteres Kelchwort ist, weil Jesus hier ansagt, dass er seinen nächsten Wein im Reich Gottes trinken werde, kann kaum ursprünglich sein. Das Logion Mk 14,25 schließt sich nahtlos an Mk 14,23 an. Das legt den Schluss nahe, dass ursprünglich Mk 14,25 das einzige Kelchwort war. Damit verbietet sich auch das Verständnis des letzten Mahles Jesu als einer kultstiftenden Symbolhandlung. Das Deutewort über dem Kelch lässt sich am besten als Analogiebildung zum Brotwort begreifen. Mk 14,25 kann man begründet auf den historischen Jesus zurückführen. Dieses Wort steht nämlich im Einklang mit seiner Proklamation der angebrochenen und sich in einem endzeitlichen Prozess durchsetzenden Gottesherrschaft, deren Vollendung als Reich Gottes sich in naher Zukunft ereignen wird. Jesus verstand seinen erwarteten Tod nicht als Infragestellung seiner Botschaft und Hoffnung (42f).
Hätte der historische Jesus seinem Tod eine universale Heilsbedeutung beigemessen und beim letzten Mahl davon klar gesprochen, wäre es nie zu den Auseinandersetzungen im frühen Christentum um die Heidenmission gekommen, weil deren Rechtmäßigkeit damit offenkundig gewesen wäre (43).
Innerhalb der authentischen Jesusüberlieferung wird Gottes Vergeben nie an Jesu Lebenshingabe als Voraussetzung gebunden (44).
Der historische Jesus eröffnet in seinen Mahlgemeinschaften und in seiner Verkündigung den direkten Zugang zu Gottes Verzeihen und Barmherzigkeit, dem der Mensch in seinem Verhalten zum Mitmenschen entsprechen soll. Von diesem Grundgedanken seiner Reich-Gottes-Botschaft war Jesus offenbar auch in seinem Tod durchdrungen, wenn er in Mk 14,25 die Hoffnung auf die sich in Bälde durchsetzende Gottesherrschaft durchhielt und von sich lediglich als Teilnehmer am endzeitlichen Heilsmahl sprach. Der historische Jesus hat seinen Tod nicht als Sühnegeschehen begriffen (45).
(3) Wie kam es zur nachösterlichen Deutung des Todes Jesu als Sühnegeschehen?
Jes 53,4-6.12: „Führwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. (5) Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. (6) Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn. (12) Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben, und er soll die Starken zum Raube haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet worden ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten“.
- Eine aus Jes 53 entwickelte Deutung?
Von den sieben Zitaten aus Jes 53 im NT (Mt 8,17; Lk 22,37; Joh 12,38; Apg 8,32f; Röm 10,16 ; 15,21; 1Ptr 2,22-25), greift nur das eine in 1 Ptr 2,24 („durch seine Wunden seid ihr geheilt worden“) den Gedanken vom stellvertretenden Leiden des Gottesknechtes auf, um damit Jesu Tod als Sühnegeschehen zu interpretieren. Dabei handelt es sich um einen späten Beleg. Röm 4,25 enthält eine Anspielung auf Jes 53,12, wobei die hier vorliegende Verbindung von Sterbens- und Auferweckungsaussage samt der soteriologischen Deutung von Jesu Auferweckung auf eine entwickeltere Traditionsstufe hinweist (47).
Die jüdische Exegese interpretiert zwar Jes 53 durchaus messianisch, aber sie nahm dabei nur die Hoheitsaussagen von Jes 53 auf. Umgekehrt fehlt in den zeitgenössischen jüdisch-hellenistischen Texten jeder Bezug zu Jes 53 (48).
- Ein Interpretament aus dem Kontext hellenistisch-jüdischen Martyriumsverständnisses?
Die Berichte über die Martyrien des Eleazar sowie der sieben Brüder und ihrer Mutter enthalten für das Verständnis des Todes Jesu als Sühnegeschehen folgende Anknüpfungspunkte: die Wendung vom ‚Sterben für’, die Rede von der Hingabe des eigenen Lebens und die Deutung des gewaltsamen Todes als ‚eine Art Ersatzleistung’ für das aufgrund der Sünde verwirkte Leben des Volkes (50f).
In 4 Makk tritt der Gedanke stellvertretenden Strafleidens durch die Benutzung von Opferterminologie deutlich hervor. Das zeigt sich in Eleazars Fürbitte 4Makk 6,28f: „Sei gnädig deinem Volk. Lass dir an unserer Bestrafung genügen, die wir für sie auf uns nehmen. Zu einem Reinigungsopfer für sie mache mein Blut und nimm mein Leben als Ersatz für ihr Leben“ (Anm. 59).
Die frühchristliche Rede vom Sühnetod Jesu verdankt sich dem Bedürfnis seiner Anhänger, Jesu Kreuzestod einen positiven Sinn abzugewinnen und nicht lediglich als durch die Auferweckung überwundene Schmach oder als heilsgeschichtliche Notwendigkeit zu betrachten. Laut Dtn 21,22f galt der am Holz Aufgehängte als von Gott Verfluchter. Der Gedanke des stellvertretenden Sühnetodes bot die Möglichkeit, das Skandalon zu überwinden und in einem höheren Sinne aufzuheben: Christus hat für uns den uns als Sündern drohenden Fluchtod auf sich genommen, um uns von diesem zu befreien. Dies können wir Gal 3,13 entnehmen (52).
Erstmals haben wahrscheinlich die griechisch sprechenden Judenchristen um Stephanus Jesu Tod als Sühnegeschehen interpretiert. Aufgrund ihrer kulturellen und religiösen Herkunft dürfte ihnen das Martyriumsverständnis vertraut gewesen sein, wie es seinen literarischen Niederschlag in 4Makk gefunden hat (53).
Theologische Konsequenzen aus dem exegetischen Befund
Der historische Jesus hat seinem ihm bevorstehenden Tod keine Sühnefunktion beigemessen. Vielmehr hat er sehr wahrscheinlich noch beim letzten Mahl mit den Jüngern seine Hoffnung auf die völlige Durchsetzung der Gottesherrschaft bekräftigt. Diese steht nach Jesu Botschaft allen offen, die sich Gottes Barmherzigkeit öffnen und der erfahrenen Vergebung in ihrem Verhalten entsprechen, ohne dass die menschliche Schuld zuvor gesühnt werden müsste (54).
Der historische Jesus als Prüfstein christlicher Verkündigung. Angesichts der großen Vielfalt christologischer und soteriologischer Konzeptionen im NT, geht es nicht an, von dem christlichen Kerygma – verstanden als das Kerygma von Sühnetod und Auferstehung Jesu Christi – schlechthin zu sprechen und dieses mit dem Wort Gottes gleichzusetzen, das nicht hinterfragt werden darf. Begreift man die sog ‚Erscheinungen des Auferstandenen‘ als subjektive Visionen, dann ist der ‚Auferstandene‘ stets ‚der interpretierte Jesus‘. Da die Interpretation des Todes Jesu als Sühnegeschehen sich nicht auf den historischen Jesus zurückführen lässt, ja in Spannung wenn nicht gar in Widerspruch zu dem von Jesus verkündigten und den Menschen zugewandten Verzeihen Gottes steht, das ohne weiteres aus dessen Barmherzigkeit kommt, kann der Gedanke vom Sühnetod Jesu nicht als theologisch unaufgebbar gelten (54f).
Albert Schweitzer zufolge verlangt Jesus nicht, dass wir glauben, dass wir Sündenvergebung nur haben auf Grund seines Todes, denn er selbst hat nichts Derartiges gelehrt. Er verlangt von seinen Jüngern nur das eine: Du aber folge mir nach, dass sein Geist in unseren Herzen herrsche. Albert Schweitzer konnte sich von dem Sühnetodgedanken verabschieden (54f).
Albert Schweitzer empfahl seinen Studenten, nicht die Erlösung durch Jesu Sühnetod zu predigen, sondern den ‚mystischen‘ Erlösungsgedanken des Mit-Christus-Sterbens und Mit-ihm-im-Geiste-Lebens. Erlösung geschieht nicht dadurch, dass Jesus für uns gestorben ist, sondern dass wir mit ihm ‚gestorben‘ sind und in seinem Geiste leben (60).
Das Kreuz dessen, der in radikaler Hingabe an Gottes Liebeswillen nicht sich selber, sondern in letzter Konsequenz für andere gelebt hat, ruft uns in die Nachfolge, die unter der Verheißung steht: „Wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird‘s erhalten“ (Mk 8,35 par). Denn wer sein Leben in Hingabe an andere verschenkt und ihnen daran teilgibt, der wird zum wahren Leben durchdringen (61).
Anhang a: Durch das Opfer (Jesu Christi) erlöst?
J. Nordhofen (2008)
Das Evangelium erzählt, wie Jesus das nahe Reich Gottes verkündete und den barmherzigen, allen Menschen zugewandten Gott offenbarte. Jesus stellte Gott als den vor, den jeder vertrauensvoll Vater nennen kann. Durch seine Hingabe für die anderen und durch seinen Selbsteinsatz machte Jesus den Menschen Gott zugänglich. Er bezeugte auf diese Weise einen Gott, der den Menschen um seiner selbst willen bejaht, ihn bedingungslos annimmt und liebt. Es ist eine frohe Botschaft, weil der Mensch zu diesem Gott eine enge und vertrauensvolle Beziehung haben kann. Sich diesem liebenden Gott anvertrauen zu dürfen, ist für den Menschen erlösend. Das Leiden und der Tod Jesu machen deutlich, dass Jesus an seinem Weg, diesen Gott darzustellen, um den Preis seines Lebens festhielt. Auch als man ihn aus dem Weg schaffen wollte, gab er seine Existenz für die anderen nicht auf. Erlösend sind Leiden und Tod Jesu insoweit, als sie die Konsequenz von Jesu Leben sind und die Unbedingtheit von Gottes Angebot vor Augen führen. Die Zusagen Jesu sind auch dann gültig, wenn sich der Mensch gegen Gott oder andere Menschen wendet, wenn er sich gegen die Güte Gottes entscheidet und Gottes Zuwendung ablehnt. Die vorbedingungslose Zusage der Zuwendung Gottes kann den Menschen erst dann erreichen, wenn er sich auftut, seine Ablehnung beendet und die Zusage an sich heranlässt. Jesu Dasein endet nicht mit dem Tod am Kreuz, vielmehr wird es durch die Auferweckung und Bergung in Gottes ewiges Leben hinein in Geltung gesetzt und zu beständiger Gegenwart gebracht. Bei der Deutung der Passion und des Todes Jesu muss immer der Bezug auf seine Pro-Existenz und Hingabe für andere einerseits und seine belebende Gegenwart andererseits mitbedacht werden (257).
Jesus predigte vom Reich Gottes und erzählte von Gott, der die Menschen annimmt. Er lebte konsequent bis zu seinem Tod die Hingabe für andere. Er stellte den barmherzigen Gott vor, der dem Menschen aus Gnade und ohne Vorleistung nahe ist. Nur dann, wenn das, was Jesu Leben und Predigt inhaltlich bestimmt, nämlich die allen geltende und sich gebende Liebe Gottes, in die Opfer-Schemata eingebracht wird, nur dann können diese christlich verwendet werden. Dann bezieht sich die Rede vom Opfer nicht allein auf Passion und Tod Jesu, sondern auf die ganze Existenz Jesu (258).
Die Rede vom Opfer darf nicht meinen, dass Jesus stirbt, um einen verärgerten Gott zu beruhigen, sondern dass er die sich gebende Liebe Gottes verkündet und lebt. Sie darf sich auch nicht auf Leiden und Passion beschränken, sondern muss sich auf die ganze Geschichte beziehen. Nur wenn der Verweis auf ein Opfer die Hingabe Jesu für die anderen mit einbezieht, kann dieser Ausdruck mit der Erlösung zusammen im christlichen Sinn zusammengebracht werden. Das Wort Opfer behält seine Vieldeutigkeit und ist der Gefahr des Missverständnisses ausgesetzt. Jesu Selbsteinsatz für andere in seinem ganzen Leben, in seiner Lehre, seinem Wirken, seinem Leiden und Sterben erlöst den Menschen, weil Jesus den Zugang zu einem Gott auftut, der die unbedingt für alle Menschen entschiedene Agape ist (264).
Vom ‚Opfer Jesu Christi‘ sprechen die Evangelien nie. Das Wort vom Lösegeld Mk 10,45 bezeichnet ein Leben im Dienst am Nächsten. Die Abendmahlsworte sind ein Verweis auf den Sinai-Bund, der in Beziehung mit dem bevortstehenden Tod Jesu gedeutet wird, nicht aber in den Vorstellungen kultischer Opfer wurzelt (268).
Anhang b: Jes 53,7: Keine Stellvertretung im Erleiden der Strafe, sondern Verzicht auf Vergeltung
A. Schenker
„Er wurde bedrängt und er ist gedemütigt worden, seinen Mund hat er nicht aufgetan wie ein Lamm, das zur Schlachtbank gebracht wird und wie ein Schaf vor seinem Scherer verstummt. Seinen Mund hat er nicht aufgetan“.
V 7: Zweimal hebt der Prophet das Schweigen des Knechtes Gottes hervor. Dieser hat seinen Mund nicht aufgetan, obwohl ihm schweres Unrecht zugefügt wurde. Auf dieses Schweigen kommt alles an. Er hat weder Klage erhoben noch Flüche ausgestoßen. Beides wäre die erwartete Antwort gewesen. Man muss das Recht gegen Verbrecher in Anspruch nehmen, um sich gegen Unrecht zu wehren. Dadurch bleibt das Recht lebendig und mächtig (21f).
Der Fluch ist der letzte Rekurs, den man bei einem göttlichen Richter einlegt. Wo der Zugang zu menschlicher Justiz verschlossen ist, wendet man sich an die höchste Instanz, die unbestechlich über die Gerechtigkeit wacht, an Gott selbst. Dies tut man, indem man flucht, wodurch man Gott bittet, auffordert, um der Gerechtigkeit willen einzuschreiten: „Schaffe mir Recht, Gott, führe Du meine Sache gegen ein zynisches Volk“ (Ps 43,1).
Das tut der Gottesknecht in Jes 53 nicht. Er müsste doch um der Gerechtigkeit und um des Rechtes willen an Gott appellieren! Dass er schweigt, ist völlig unerwartet. Warum bleiben Anklage und Fluch aus? Offenbar will der Gottesknecht weder klagen noch fluchen. Er erhebt keinen Anspruch auf Gerechtigkeit für sich, weil diese zu Lasten des Schuldigen ginge! Er verzichtet auf sein Recht, um seinen Gegnern, die ihm Unrecht tun, die strafenden Folgen ihres Tuns zu ersparen.
Auf diese Weise bringt das Schweigen eine Dynamik in Gang, die den normalen Ablauf von Unrecht, Anklage, Ahndung, Strafe zum Stillstand bringt und eine andere Bewegung auslöst. In dieser folgt auf Unrecht der Verzicht auf Anklage bei Menschen und auf Fluch bei Gott, damit die Übeltäter zu ihrem Erstaunen entdecken, dass ihr Opfer lieber Unrecht einsteckt als die Genugtuung haben will, sie dafür bestraft zu sehen. Das Opfer des Unrechts legt keinen Wert auf solche Genugtuung. Es liegt ihm nichts daran, seine Peiniger ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Es will sein Recht nicht auf Kosten ihrer Bestrafung beanspruchen (22).
Der Knecht Gottes trägt die Leiden der anderen dadurch, dass er das ihm zugefügte Unrecht trägt, ohne sich gegen die für dieses Unrecht Verantwortlichen zur Wehr zu setzen. So wird keine Strafe auf sie zurückfallen. Niemand zieht sie zur Verantwortung. Der, der es tun könnte und vielleicht sogar müsste, zieht es vor, ihnen das Leid der Strafe zu ersparen. Warum will er das? Offenbar, um sie zu gewinnen! Er will sie mit sich versöhnen, sie zu seinen Freunden machen, statt sie zu Feinden zu haben. Verzicht auf das eigene Recht ist so viel wie Verzicht auf die Bestrafung der Urheber des Unrechts, Straferlass für sie, damit der Straferlass kundgibt, wie sehr der Gottesknecht Aussöhnung statt Feindschaft wünscht (23).
Keine Stellvertretung im Erleiden der Strafe, sondern Verzicht auf Vergeltung. Ein solcher Verzicht auf Bestrafung ist selten. Der Grund für eine solche unerhörte Antwort auf zugefügtes Unrecht ist der Wille, Strafe zu vermeiden, um durch das Signal des Straferlasses die Täter des Unrechts zu gewinnen statt sie zu verderben. Versöhnung statt Bestrafung! Versöhnung gilt mehr als Durchsetzung von Gerechtigkeit. Es verlangt den unrecht Behandelten nicht nach Genugtuung, die Urheber dieses ihm zugefügten Unrechts vor Gericht zu besiegen und durch den Richter zu vernichten. Stattdessen versucht er in Großmut, sie zu seinen Freunden zu machen (23f).
Die Wahl der Versöhnung an Stelle von Vergeltung für eindeutiges Unrecht ist ein Wagnis, weil sie als Schwäche des Opfers des Unrechts missdeutet werden kann, während es in Wirklichkeit höchste Stärke zeigt, in voller Freiheit und Macht auf Gerechtigkeit zu verzichten, um seinen Feinden das Leiden der Strafe abzunehmen.
Die Selbstzurücknahme bis in die legitimen Ansprüche auf Gerechtigkeit und Recht, die es gibt, ist die Grundlage des Verzichts auf Gewalt. Der Gottesknecht gibt sein Recht auf, das auf Gerechtigkeit aufbaut. Wiederherstellung beschädigten Rechtes entspricht dem Gerechtigkeitsempfinden. Dennoch bedeutet dem Knecht Gottes dieses Recht nicht das Höchste. Im Interesse der Gewinnung seiner Feinde zu Freunden nimmt er seinen legitimen Anspruch zurück.
Im Gleichnis von den bösen Winzern Mk 12,1-9par erfährt dieser Gewaltverzicht eine erzählerische Ausgestaltung. Der Sohn kommt an Stelle der Polizei zu den Pächtern, nicht um sie zu bestrafen, sondern um mit ihnen eine gütliche Lösung des Konflikts auszuhandeln und sie so zu gewinnen und mit seinem Vater zu versöhnen (24).
Die Perspektive der Parabel ist die Sendung Jesu, des Sohnes des Vaters, als Verzicht Gottes auf Ahndung des ihm durch Sünde und Ablehnung angetanen Unrechts, um stattdessen die Urheber des Unrechts für sich zu gewinnen und den Konflikt durch gütlichen Ausgleich und Versöhnung zu ersetzen.
Jes 53 zeichnet das Verhältnis Gottes zu den Menschen im Bild der Großmut des Gottesknechtes, der auf sein legitimes Recht auf gerechte Behandlung und damit auf Bestrafung der für das ihm angetane Unrecht Verantwortlichen verzichtet. Diesen Verzicht leistet er, um ihnen zu zeigen, dass ihm nichts an ihrer verdienten Strafe, dafür aber alles an einem Ausgleich mit ihnen gelegen ist. Es ist ein Gleichnis der Versöhnlichkeit Gottes, die sein Knecht unter den Menschen vorlebt. Keine Stellvertretung in der Strafe, aber Verzicht auf Recht und Gerechtigkeit, wenn mit diesem Preis Versöhnung erreicht werden kann (24f).