3. Der Prozess gegen Paulus (Apg 21,27-28,31)


Die christliche Botschaft ist Ende der 40er Jahre nach Rom gekommen und hat als messianische Predigt zu schärfsten Auseinandersetzungen in der Judenschaft geführt (das Claudius-Edikt)

a. Apg 21,27 - 24-27
b. Apg 25,1-28,31

E. Haenchen (196514)


a. Apg 21,27 - 24-27

(1) Apg 21,27-36: Die Verhaftung des Paulus
(2) Apg 21,37-40: Paulus spricht mit dem Tribun
(3) Apg 22,1-21: Die Rede des Paulus im Tempelvorhof
(4) Apg 22,22-29: Paulus beruft sich auf sein römisches Bürgerrecht
(5) Apg 22,30-23,11: Paulus vor dem Hohenrat
(6) Apg 23,12-35: Verschwörung gegen Paulus, Transport nach Cäsarea
(7) Apg 24,1-23: Die Verhandlung vor Felix
(8) Apg 24,24-27: Felix und Paulus


(1) Apg 21,27-36: Die Verhaftung des Paulus


Als Paulus sich am Ende der Reinigungsfrist im Tempel befand, wurde er von ephesischen Juden, die ihn zuvor mit Trophimus in der Stadt gesehen hatten, erkannt. Sie vermuten, er habe den Unbeschnittenen in den heiligen Bereich mit hineingenommen, der für Nichtjuden bei Todesstrafe verboten war, und hetzten mit dieser Anklage die Menge auf. Paulus wird aus dem heiligen Bereich herausgeschleppt, dann schlägt man auf ihn ein. Die Menge hätte ihn umgebracht, wenn nicht die alarmierte römische Wache ihr den Gefangenen abgenommen hätte. Da von der wild durcheinanderbrüllenden Menge nicht zu erfahren war, was es mit ihm für eine Bewandtnis hatte, wurde er zur Vernehmung in die Burg Antonia gebracht (547f).

Lukas steigert den Tumult auf dem Tempelplatz: “Jerusalem ist in Aufruhr”! wird dem Tribun gemeldet. Dieser an der Spitze seiner Soldaten und Offiziere eilt herbei und nimmt die Verhaftung persönlich vor. Als Paulus an die Treppe kommt, wird er von den Soldaten getragen, um vor der Gewalt des andrängenden Volkes bewahrt zu bleiben. Paulus mußte getragen werden, weil er nach dem Lynchversuch der Menge nicht mehr im Stande war, die Stufen selbst zu ersteigen. Das aber konnte Lukas nicht berichten, denn Paulus wird sofort von eben dieser Treppe aus eine Rede halten (548)!


(2) Apg 21,37-40: Paulus spricht mit dem Tribun


Unmittelbar vor dem Kasernentor redet Paulus den Tribun höflich an. Dieser, erstaunt darüber, dass sein Gefangener Griechisch spricht, fragt: ob er nicht “der Ägypter” sei, der “vor diesen Tagen” mit 4.000 Anhängern in die Wüste zog. Paulus gibt sich in elegantem Griechisch als Jude und Bürger der berühmten Stadt Tarsus zu erkennen und bittet, zum Volk reden zu dürfen, was der Tribun sofort gestattet. Als die Menge sieht, dass Paulus Rednerhaltung annimmt, wird sie still, und er beginnt eine aramäische Ansprache (550).

Ein Mann, auf den soeben noch eine fanatische Menge eingeschlagen hat, ist physisch nicht mehr fähig, eine solche Rede zu halten. Dieser Grund genügt, um die Rede und das sie vorbereitende Gespräch als unhistorisch zu erweisen. Wie der Tribun auf den Gedanken kommt, sein Gefangener sei ausgerechnet “der Ägypter” ist rätselhaft. Ebenso dunkel bleibt es, warum er plötzlich diese Ansicht aufgibt, als Paulus Griechisch spricht. Weiter ist unbegreiflich, dass der Tribun dem soeben Verhafteten zur Menge zu reden erlaubt, nur weil der sich für einen Juden aus Tarsus ausgibt. Ob der Tribun Aramäisch versteht, ist ein Problem für sich. Die Menge, die soeben noch schrie: “Bringt ihn um”! wird plötzlich still, nur weil Paulus sich zu reden anschickt. Von wo aus man diese Situation prüft, ergibt sich dasselbe: diese Situation ist ungeschichtlich (550f).

Für Lukas kam es nicht darauf an, einen historisch korrekten Abriss der messianischen und unmessianischen Aufstandsbewegungen zu geben. Er hat vielmehr die verschiedenen Gruppen zu einer einzigen Erscheinung vereinigt und damit das Bild einer religiösen Aufruhrbewegung geweckt, die man Paulus zur Last legte. Der Verdacht, Paulus gehöre in diese Gesellschaft, wird sofort aufgegeben. Dass der Tribun seine Vermutung über Paulus äußert, unterrichtet den Leser, der von Anfang an darüber belehrt wird, dass das Christentum nichts mit politischem Messianismus zu tun hat und in diesem seinen unpolitischen Charakter auch sogleich anerkannt worden ist. Nur wer dieses Gespräch als Darstellungsmittel begreift, das die wahre Natur des christlichen “Weges” in anschaulich-lebendiger Kürze von einer entscheidenden Missdeutung befreit, würdigt die lkn Darstellung, wie es ihr gebührt (552).


(3) Apg 22,1-21: Die Rede des Paulus im Tempelvorhof


Paulus ist beschuldigt, den Tempel entweiht zu haben, indem er einen Heiden in den heiligen Bereich mitgenommen habe. Er erwähnt jedoch diesen Vorwurf gar nicht, sondern er schildert seine jüdische Vergangenheit, seine Berufung und schliesslich seine Wendung zur Heidenmission, die ihm im Tempel selbst befohlen wurde (557).

Es lag nicht in der Absicht des Lukas, den Prozess des Paulus genau zu schildern. Es muss sich um einen sehr schweren Vorwurf gehandelt haben, denn Paulus ist in einen Kapitalprozess verwickelt, in dem es um Leben und Tod geht. Lukas hatte nicht das mindeste Interesse daran diese Anklage mit aller historischen Genauigkeit aufzufrischen. Ihm ging es um die Auseinandersetzung des Christentums mit dem Judentum, um das Problem seiner eigenen Gegenwart. Zwischen dem Judentum und dem Christentum stand die christliche Heidenmission, die Aufnahme von Heiden in das Gottesvolk. Paulus war der große Heidenmissionar. Darum war es sachgemäß, dass er hier als der Angeklagte stand, der sich verteidigen mußte. Lukas lässt Paulus nicht auf jenen inzwischen so belanglos gewordenen Vorwurf der Tempelentweihung eingehen, sondern auf die entscheidende Frage nach dem Recht der christlichen Heidenmission. Sie ist nicht aus menschlicher Willkür entsprungen (Kp 10), und der fromme und gesetzesstrenge Jude Paulus hätte von sich aus nie daran gedacht (558)!

Dass Paulus ein solcher frommer Jude war, wird nun in dieser Rede so deutlich wie möglich herausgestellt. Paulus ist allerdings nicht in Jerusalem geboren, aber er ist doch schon seit seiner frühesten Kindheit dort aufgewachsen. Dann hat er dort, zu den Füßen des berühmtesten Rabbi seiner Zeit, studiert, in der genauen Erfüllung des Gesetzes unterwiesen, ein ebensolcher Eiferer für Gott wie die Juden, die ihn soeben noch zu lynchen versuchten. Als ein solcher Eiferer hat er “diesen Weg” - der Christusname wird vermieden - mit den schärfsten Maßnahmen verfolgt, was mit den Worten “bis zum Tod” (4) angedeutet ist. Dann wird der Zug nach Damaskus erzählt - mit Vollmacht vom Hohenpriester und Synhedrion! und das Ereignis vor Damaskus (558).

Ananias erscheint hier ganz als frommer Judenchrist. Der durch ihn repräsentierte Kreis, in den Paulus durch seine Berufung kam, war genau so gesetzesfromm, wie es Paulus bisher gewesen war. Die Bekehrung bedeutete also hiernach keinen vollständigen religiösen Bruch mit der Vergangenheit des Paulus; sie lässt ihn nicht dem Gesetz neu gegenübertreten, sondern nur Jesus, der mit dem atl klingenden messianischen Würdenamen “der Gerechte” genannt wird. Paulus soll allen Menschen das bezeugen, was er gesehen und gehört hat. Die entscheidende Wendung zur Heidenmission lässt Lukas erst in einer neuen Szene eintreten. Paulus kehrt von Damaskus nach Jerusalem zurück und erlebt dort im Tempel, den er als frommer Jude selbstverständlich aufsucht, eine Verzückung, in der ihm Jesus (wieder wird er nicht mit Namen genannt) gebietet, Jerusalem sofort zu verlassen, weil die Juden sein Zeugnis doch nicht annehmen. Paulus wendet ein: er habe doch die Christen erbittert verfolgt. Diese Verfolgung und der Anteil des Paulus daran erscheint insofern noch größer als in Kp 9, als eine Menge von Todesurteilen vorausgesetzt wird (4f). Diesem Verfolger sollten die Juden doch eigentlich Glauben schenken, wenn er nun von Jesus Zeugnis ablegt. Der Herr befiehlt: “Geh, ich sende dich weit zu den Heiden”. Damit ist in einer ganz neuen, allem früher Erzählten gegenüber durchaus selbstverständlichen Weise die pln Heidenmission auf einen unmittelbaren Befehl Jesu an ihn zurückgeführt (559).

So ist nicht nur die Heidenmission erneut gerechtfertigt, sondern zugleich auch der Punkt erreicht, wo Lukas wieder in die Rahmenerzählung einlenkt: dass Jesus - ausgerechnet bei einer Entrückung im Tempel! - Paulus zu den Heiden fortgeschickt haben soll, genügt, um die Menge erneut in wildes Gebrüll ausbrechen zu lassen: V 22 entspricht genau 21,36.

Lukas hatte in 21,28 die Juden aus Ephesus den Paulus nicht nur wegen Trophimus anklagen lassen - dieser Vorwurf wird mit einem ‘dazu auch noch’ nur angefügt -, sondern dass er gegen das Volk, das Gesetz, den Tempel lehre, war der eigentliche Vorwurf. Diese Anklage lässt sich nach 21,21 dahin verstehen, dass Paulus die Juden dem Gesetz und Tempelkult entfremdet, wobei das Unterlassen der Beschneidung besonders erwähnt wird. Aber die Lehre gegen das Volk, also das auserwählte jüdische Volk, das Gesetz und den Tempel lässt sich auch dahin verstehen, dass sie die beschneidungsfreie Heidenmission meint: bei ihr wird ja der Vorzug des jüdischen Volkes geleugnet, das Gesetz nicht mehr befolgt und damit der Tempelkult bedeutungslos. Wenn Paulus in Kp 22 also die christliche Heidenmission verteidigt, so entspricht das mithin sogar der jüdischen Anklage, die Lukas in Kp 21 genannt hatte. Man sieht, dass Lukas das Problem, mit dem sich Kp 22 beschäftigt, bereits in Kp 21 ins Auge gefasst hatte: es ist sein eigenes, das seiner eigenen Zeit (559f).

Diese Rede verwebt kunstvoll die Vergangenheit des Paulus und die Gegenwart des Lukas miteinander. Paulus verteidigt sich gegen Vorwürfe, die gegen ihn erhoben werden. Im Grunde spricht er gar nicht von einer damals schon überholten Vergangenheit - der Tempel lag längst in Trümmern, als Lukas die Apg schrieb -, sondern von der für Lukas und die Christen seiner Zeit brennenden Frage: lässt sich das Christentum in ungebrochener Kontinuität mit dem Judentum verstehen? Wenn das möglich ist, dann kann die christliche Lehre als innerjüdische Sekte und damit als religio licita anerkannt werden. Hier wird gezeigt, dass der größte christliche Heidenmissionar, ein frommer und gesetzestreuer Jude war, den nur wegen des jüdischen Unglaubens ein göttlicher Befehl zu den Heiden sandte. Wenn es sich aber so verhält, dann gibt es keine grundsätzliche Kluft zwischen Judentum und Christentum, dann ist die Kontinuität zwischen beiden ungebrochen und das Christentum kann beanspruchen, als Judentum toleriert zu werden (560).


(4) Apg 22,22-29: Paulus beruft sich auf sein römisches Bürgerrecht


Die Menge gerät aufs neue in rasende Wut und gebärdet sich wie toll. Daraufhin befiehlt der Tribun, Paulus in die Kaserne zu bringen und dort peinlich zu verhören. Schon bindet man ihn zur Geißelung fest. In diesem Augenblick höchster Spannung fragt Paulus den mit der Exekution beauftragten Feldwebel, ob man hier mit römischen Bürgern, noch dazu ohne Untersuchung, derart umgehe. Nun erfolgt der Umschlag: mit einemmal ist Paulus wieder ein geachteter und korrekt, ja höflich behandelter Mann. Der benachrichtigte Tribun eilt selbst herbei, lässt sich die überraschende Tatsache, dass Paulus ein römischer Bürger ist, bestätigen und hebt den Wert dieses Bürgerrechts damit hervor, dass er der hohen Summe gedenkt, für die er selbst es erworben hat. Aber diese Bemerkung lässt Paulus erneut als überlegen erscheinen: er ist sogar ein geborener Römer! Kein Wunder, dass es der Tribun nun mit der Angst bekommt, weil er diesen Mann in Ketten gelegt hat (563)!

Lukas hat die Rede und die sie vorbereitende Szene selbst entworfen. Es ist erstaunlich, wie er die geringen Möglichkeiten verwertet hat, welche die einmal begonnene Handlung bot. Der wirkungsvolle Abschluss der Rede, die neu ausbrechende Wut der Menge, bestätigt das Wort des Herrn, die Juden würden das Zeugnis des Paulus nicht annehmen. Zugleich gibt sie dem Tribun Anlass, nun die Geißelung des Gefangenen anzuordnen, um so die Wahrheit aus ihm herauzuholen. Lukas hat das Motiv, dass die römische Behörde über den Fall des Paulus keine Klarheit gewinnen kann, immer wieder verwendet (23,1.28; 24,22; 25,20-26). Hier dient es dazu, das römische Bürgerrecht des Paulus an den Tag zu bringen. Als guter Erzähler, der die Spannung aufs höchste steigen lässt, lässt Lukas seinen Helden erst im letzten Augenblick das lösende Wort sprechen. Für Lukas genügte das Bürgerrecht von Tarsus, um die Nichtidentität des Paulus mit dem “Ägypter” nachzuweisen. Darum hat er sich das römische Bürgerrecht für eine weitere Szene aufgespart, in der es die Korrektheit der römischen Behörde erweist und zugleich eine unerhört spannende Situation schafft (563f).


(5) Apg 22,30-23,11: Paulus vor dem Hohenrat


Der Tribun möchte wissen, was die Juden gegen Paulus haben. Den “Römer” darf er zwar nicht mehr peinlich verhören, aber er konnte ihn doch vernehmen. Auf diesen Gedanken kommt er nicht. Statt dessen beruft er das Syhedrion ein. Es wäre naiv anzunehmen, der Kommandeur der römische Wachtruppe hätte die Befugnis gehabt, das Synhedrion antreten zu lassen. Außerdem ist diese Maßnahme unzweckmäßig: der Hoherat war bei dem Tumult auf dem Tempelplatz nicht dabei, abgesehen vielleicht vom Tempelhauptmann. Wenn der Tribun sich mit diesem besprochen hätte, so wäre das sachdienlich gewesen. Aber er versammelt das Synhedrion und wohnt als unreiner Heide selbst der Sitzung bei (568).

Die Verhandlung beginnt sehr eigenartig. Ohne von jemandem aufgefordert zu sein, fängt Paulus an zu sprechen. Paulus versichert, er habe immer ein gutes Gewissen gehabt. Daraufhin lässt ihn der Hohepriester auf den Mund schlagen, ohne dass der Tribun den römischen Bürger schützt. Paulus (“man schmäht uns, so segnen wir” 1Kor 4,12) antwortet mit einer Verfluchung, die den Gegnern so den Atem verschlägt, dass sie nur schwach protestieren; er habe doch den Hohenpriester vor sich. Die Antwort des Paulus, er habe nicht gewusst, dass er der Hohepriester sei, ist so unglaubhaft, dass sie die Theologen zu verzweifelten Anstrengungen veranlasst hat: vielleicht sei Paulus kurzsichtig gewesen und habe darum den Hohenpriester nicht erkannt, oder er habe im Stimmgewirr nicht wahrnehmen können, wer den Befehl gab, ihn auf den Mund zu schlagen. Paulus entschuldigt sich und verbindet damit zugleich einen Beweis seiner Schriftgelehrsamkeit (568f).

Neu und im Widerspruch zum Eingang des Abschnitts ist die Feststellung des Paulus: “Du sitzt hier und richtest mich nach dem Gesetz und lässt mich schlagen gegen das Gesetz?” (23,3) und “ich stehe vor Gericht...” (6). Damit ist unter der Hand der Charakter der Szene verwandelt worden: sie ist zum Tribunal geworden und Paulus muss sich verantworten. Nicht wegen des Vorfalls im Tempel, sondern weil er ein Expharisäer ist und die pharasäische Lehre von der Totenauferstehung und die messianische Hoffnung vertritt. Sofort beginnen die Pharisäer und Sadduzäer leidenschaftlich miteinander zu disputieren, als ob sie nicht seit vielen Jahren schon im Hohenrat zusammen gearbeitet hatten und ihre theologischen Unterschiede hinreichend kannten! Außerdem wussten beide Parteien gut genug, dass die Stellung des Paulus zum Gesetz für sie unannehmbar war und dass gerade sie ihm die Todfeindschaft des Judentums eintrug. Darum ist die Art, wie hier die Pharisäer als Verteidiger des Paulus auftreten und sogar die Christophanie vor Damaskus rechtfertigen, eine historische Unmöglichkeit. Das Pro und Contra nimmt derartige Formen an, dass der Tribun die Wache aus der Burg Antonia herabkommen lassen muss, um Paulus der aufgeregten Parteinahme für oder gegen ihn zu entreißen (10) (569).

Lukas will kein Verhandlungsprotokoll geben. Für ihn ist die Anklage gegen Paulus nicht eine Sache der Vergangenheit, sondern die Gegenwartsfrage des Christentums. Dass sich das Christentum vom Judentum, von der wahren Religion, getrennt hat, das ist der wirkliche Vorwurf, gegen den Lukas das Christentum in seinem Anführer Paulus verteidigen will. Diese Rechtfertigung gibt Lukas nicht in einer theologischen Darlegung, sondern in einer Reihe von lebendigen und packenden Bildern und Szenen. Als Schriftsteller weiß Lukas um das Gesetz der Steigerung. Die Auseinandersetzung auf höchster Ebene, d.h. vor Statthaltern und Königen, darf nicht am Anfang stehen; sie kann erst den krönenden Abschluss bilden. Schon in der Verhandlung vor dem Hohenrat muss deutlich werden, dass Paulus zu Unrecht! als Angeklagter vor den Vertretern des Judentums steht. Das Durcheinander (Vers 9), das entsteht, hilft Lukas zur Veranschaulichung seiner These, dass das Judentum in dieser Frage keine Einheit bildet (569f).

Der Tribun, der die Lage nicht durchschaut, sondern erst Aufklärung darüber sucht, kommt als Leiter der Versammlung nicht in Betracht. Aber auch der Hohepriester nicht. Er und mit ihm das Judentum wird sich bis Kp 25 umsonst bemühen, das Heft in die Hand zu bekommen. Mittelpunkt der Szene kann nur Paulus sein, und so lässt Lukas ihn kühn mit dem Satz beginnen, dass er bis auf diesen Tag vor Gott mit gutem Gewissen gewandelt ist. Lukas beschreibt mit diesem Satz die Kontinuität von Judentum und Christentum, wie sie bruchlos zunächst in Paulus mit exemplarischer Deutlichkeit zu Tage getreten ist. Wenn Paulus mit diesem Satz im Recht ist, dann hat der Hohepriester und die ganze jüdische Anklage, die er vertritt, ihr Recht verloren. Dass es sich tatsächlich so verhält, wird in der Antwort des Paulus deutlich: mit einem prophetischen Wort kündigt Paulus dem stolzen Ananias das göttliche Gericht an (23,3) (570).

Wieder ergreift Paulus die Initiative, er ruft nur einen einzigen Satz in die Versammlung hinein: “Ich bin ein Pharisäer, aus einer streng pharisäischen Familie; ich stehe vor Gericht wegen der (messianischen) Hoffnung und der Auferstehung der Toten” (23,6). Es geht Lukas um die Wahrheit, dass zwischen Juden und Christen die Brücken nicht abgebrochen sind. Es ist die Überzeugung des Lukas, dass zwischen Pharisäismus und Christentum Gemeinschaft im Letzten möglich ist: auch die Pharisäer hoffen auf den Messias, warten auf die Auferstehung der Toten. Darin sind sie mit den Christen einig. Ihr Fehler ist nur, in dieser Hoffnung und diesem Glauben sind sie Jesus gegenüber nicht konsequent. Die Auferstehung Jesu und seine damit bewiesene Messianität ist dem jüdischen Glauben nicht zuwider (571).

Das macht Lukas in einer bewegten Massenszene sichtbar. Das Judentum gibt in sich zwei Richtungen Raum: der einen ist Auferstehung, Geist, Engel eine Glaubenswirklichkeit, der andern nicht. Dann steht aber die erste Gruppe notwendig auf Seiten der Christen, und d.h. hier des Paulus und muss für ihn eintreten: “Wir finden nichts Verwerfliches an diesem Mann” (23,9)! Selbst die Christuserscheinung vor Damaskus erlaubt eine pharisäische Interpretation.

Der wilde Tumult zwischen Pharisäern und Sadduzäern zeigt, dass das Christentum eine innerjüdische Angelegenheit ist. Die herbeigerufene Wachkompanie - damit Rom! - rettet Paulus das Leben (571f).


(6) Apg 23,12-35: Verschwörung gegen Paulus, Transport nach Cäsarea


Genau und mit betonender Wiederholung (23,12f.14.21) wird von dem jüdischen Komplott erzählt. Die Verschwörer wollen nicht essen und trinken bis sie Paulus umgebracht haben. Damit sie eine Gelegenheit zum Mord haben, soll das Synhedrion den Tribun bitten, Paulus zur weiteren Information in den Hohenrat zu schicken; unterwegs soll er überfallen werden. Das Synhedrion geht auf den Mordplan ein, ohne dass die soeben gezeigte Sympathie der Pharisäer für Paulus sich geltend machte. In Lukas Augen war der Hoherat von so verblendeter Wut erfüllt, dass er auch vor der Beihilfe zum Mord nicht zurückschreckte (577).

Der Anschlag wird einem Neffen des Paulus bekannt. Durch die Vermittlung des Paulus und eines Centurio gelangt dessen Wissen zum Tribun. Den Mordplan macht Lukas geschickt zum Anlass für den Tribun, den Gefangenen schnell und heimlich zum Statthalter zu schicken. Der Tribun mußte den römischen Bürger Paulus auf jeden Fall nach Cäsarea senden, wenn die jüdische Behörde die Aburteilung des Gefangenen für sich beanspruchte; für solche Fragen war er nicht zuständig. Indem aber dieser Transport mit der Verschwörung gekoppelt wird, verwandelt sich eine langweilige Routineangelegenheit in eine Erzählung voll atemloser Spannung; zugleich konnte Lukas das Eintreten der römischen Behörde für Paulus im hellsten Licht zeigen. Nun rettet Rom dem Apostel schon zum dritten Mal das Leben (21,32f im Tempel, 23,10 im Hohenrat, und hier 23,22)! Der Tribun legt in seinem Begleitbrief die Verhandlung genau so aus, wie Lukas es wünscht: Paulus, der römischer Bürger, hat nichts getan, was Tod oder Kerker verdiente. Sein Konflikt mit den Juden gründet in innerjüdischen Differenzen, wie sie zwischen Pharisäern und Sadduzäern bestehen. Damit wird Paulus durch den höchsten Vertreter Roms, der bisher mit dem Prozess zu tun hatte, entlastet (577f).


(7) Apg 24,1-23: Die Verhandlung vor Felix


Die Szene in Kp 24 lässt die Gegner und Paulus in Wechselrede vor dem Vertreter Roms zu Wort kommen. Für die Juden führt ausschliesslich der Rhetor Tertullus das Wort. Er versteht sein Handwerk und ist ein gefährlicher Gegner. Die eigentliche Anklage gliedert sich in zwei Teile: 1. Paulus ist Vorkämpfer der Nazoräersekte, der überall bei den Diasporjuden Unruhen erregt und sich damit als eine “Pestbeule” der Gesellschaft erweist. 2. Er hat versucht, den Tempel zu entweihen (585).

Paulus beginnt mit einer capitatio benevolentiae: Felix ist schon “viele Jahre Richter für dieses Volk” gewesen, er kennt also die Verhältnisse. Darum verteidigt Paulus sich zuversichtlich. Paulus geht zunächst auf die Anklage “Aufruhr” ein. Er weist nach, dass er in den wenigen Tagen seiner Anwesenheit nirgends als Redner aufgetreten ist, weder im Tempel noch in den Synagogen oder in der Stadt. Paulus kommt zum nächsten Punkt: er räumt ein, dass er dem “väterlichen Gott” nach dem “Weg” dient. Lukas verwendet den Begriff “Weg” so gern, weil er die neue Jesusreligion als eine eigene Größe bezeichnet und sie trotzdem nicht vom Judentum losreißt. Der Begriff erinnert aufs stärkste an atl Wendungen wie “die Wege des Herrn”, die das Judentum als die gelebte wahre Religion hinstellten. Dieser Weg hat Paulus nicht aus dem Judentum hinausgeführt; er glaubt alles im Gesetz und Propheten. Für den Christen Lukas ist Tod und Auferstehung des Messias Jesus überall in der heiligen Schrift vorhergesagt (vgl. Lukas 24,27). Paulus kann sagen, er habe dieselbe Hoffnung wie seine Gegner. Weil Paulus die Auferstehung aller (und damit das Gericht) erwartet, bemüht er sich, vor Gott und Mensch ein gutes Gewissen zu haben (585f).

Zur angeblichen Tempelschändung: Paulus der Pilger kam nach vielen Jahren, um Almosen für sein Volk und Opfer zu bringen. Bei diesem frommen Tun fanden ihn, einen soeben “geheiligten” Mann, im Tempel einige kleinasiatische Juden, die hier fehlen, also nichts bezeugen können. Die anwesenden Juden können nur bezeugen, dass sich Paulus als Pharisäer zur Totenauferstehung bekannt hat. Damit erklingt zum Schluss noch einmal das Thema, das Judentum und Christentum nach Lukas verbindet und ihre wesentliche Einheit hervorhebt.

Felix gibt der Klage nicht statt, sondern teilt seinen Vertagungsbeschluß mit. Bis er Lysias gehört hat, wird das Urteil verschoben. Paulus kommt in erleichterte Haft (586).

Zum Vorwurf, dass er der Anführer der Nazoräer sei, äußert sich Paulus nicht. Lukas hat nichts dagegen, dass man in Paulus den Repräsentanten des Christentums sieht. Denn es geht in diesen Kapiteln nicht nur um den Menschen Paulus, sondern um die Sache des Christus. Der neue Glaube, das wird hier wiederum betont, ist kein Verrat am alten. Die Auferstehungshoffnung ist die Klammer, die beide zusammenhält. Dass die Sadduzäer nicht an die Auferstehung glauben, besagt nur, dass es sich um eine innerjüdische Glaubensfrage handelt, und in eine solche braucht Rom sich nicht einzumischen, wo immer sie aufbricht. So ist auch die Frage nach dem ‘Aufruhr’ in der Diaspora mitbehandelt (587).


(8) Apg 24,24-27: Felix und Paulus


Felix war der zweite der vier großen Zeugen für die Unschuld des Paulus. Dieses Zeugnis besaß nur dann Wert, wenn der Statthalter zunächst als korrekter und aus Sachkenntnis wohlwollender Beamter erschien. Darum hat Lukas zunächst alle ungünstigen Züge aus seinem Bild ferngehalten, obwohl er sie kannte (V 26). Felix hatte einen Grund, Paulus nicht freizugeben: er wollte sich mit den Juden gutstellen und opferte darum den als unschuldig Erkannten. Paulus wäre freigelassen worden, wenn es nach Recht und Gerechtigkeit gegangen wäre (590f).

Nach zweijähriger Amtszeit wurde Porcius Festus Nachfolger des Felix.


b. Apg 25,1-28,31

(9) Apg 25,1-12: Die Appellation an den Kaiser
(10) Apg 25,13-22: Festus und Agrippa
(11) Apg 25,23-27: Festus stellt Paulus der Versammlung vor
(12) Apg 26,1-32: Paulus vor Agrippa und Festus
(13) Apg 27,1-44: Seefahrt und Schiffbruch
(14) Apg 28,1-10: Paulus auf Malta
(15) Apg 28,11-16: Von Malta nach Rom
(16) Apg 28,17-31: Paulus in Rom


(9) Apg 25,1-12: Die Appellation an den Kaiser


Dass Festus schon drei Tage nach seiner Landung Jerusalem aufsucht und nur acht Tage zur Erledigung der dortigen Regierungsgeschäfte braucht, macht klar: der neue Herr ist ein rascher und energischer Arbeiter. Er wird auch den verschleppten Prozess des Paulus unverzüglich zur Entscheidung bringen. Die Juden wünschen die Überführung des Gefangenen nach Jerusalem, um ihn unterwegs ermorden zu können. Ahnungslos zerstört Festus diesen Plan, indem er die Ankläger auffordert, mit ihm nach Cäsarea zu kommen. Auf diese Weise kommt es zur Verhandlung in Cäsarea. Anklage und Verteidigung werden nur eben angedeutet. Es fehlt nur noch, dass der Prokurator jetzt, nachdem er beide Parteien selbst gehört hat, das Urteil fällt. Statt dessen fragt der Statthalter den Angeklagten, ob er mit einer Verlegung des Prozesses nach Jerusalem einverstanden sei (595f).

Bei Lukas bleibt unverständlich: 1. warum nach Abschluss der Verhandlung kein Urteil erfolgt, sondern eine Verlegung des Prozesses ins Auge gefasst wird, 2. warum Paulus nicht einfach auf Fortführung des Prozesses in Cäsarea besteht, sondern an den Kaiser appelliert.

Lukas dürfte erfahren haben, dass Paulus an den Kaiser appelliert hat. Das war dem dramatischen Erzähler hoch willkommen: es ergab eine packende Szene voller Spannung. Wenn Paulus appelliert hatte, dann gegen eine Entscheidung des Statthalters. Das war aber unerträglich, weil Lukas die römischen Beamten als Entlastungszeugen in Anspruch nahm. Hier drohte der energische und redliche Festus in die Reihen der Paulus-Gegner abzuwandern. Das konnte Lukas nur verhindern, indem er die betreffende Entscheidung des Festus als eine solche darstellte, die keine Entscheidung war. Festus fragt nur, und eine Frage ist keine Entscheidung. Paulus aber beantwortet die Frage, als wäre sie eine Entscheidung. Darum appelliert Paulus an den Kaiser. So kann Lukas den Festus jetzt weiter als Entlastungszeugen verwerten. Diese Verwertung wird jetzt erst ganz ungehindert möglich. Auch Festus will den Juden gefällig sein. Dabei lässt Lukas es in der Schwebe, was eigentlich die Verlegung des Prozesses nach Jerusalem besagt. Es genügt, dass darin eine tödliche Gefahr für Paulus heraufzuziehen scheint. Damit ist die Appellation des Paulus gerechtfertigt und verständlich (597f).


(10) Apg 25,13-22: Festus und Agrippa


Dadurch, dass diese Szene und die nächste dem Abschied des Paulus von Cäsarea noch vorausgehen, enden die Beziehungen des Paulus nicht mit einer Dissonanz. Außerdem war es höchst wünschenswert, wenn sich noch eine hohe jüdische Persönlichkeit zu Gunsten des Paulus äußerte. Lukas hat den letzten jüdischen König auftreten lassen. Als die Staatsgeschäfte besprochen sind, erzählt Festus dem Gast von seinem interessanten Gefangenen, der ihm viel Sorge macht. Keine Quelle erzählt das Privatgespräch der beiden. Lukas ist hier selbstständig am Werk (601).


(11) Apg 25,23-27: Festus stellt Paulus der Versammlung vor


Diese theatralische Vorführung ist merkwürdig. Festus erklärt es in V 27 für sinnlos, einen Gefangenen ohne Begleitschreiben nach Rom zu senden. Es war nicht sinnlos, sondern verstieß gegen seine Pflicht. Der Statthalter mußte einen solchen Bericht schicken. Der Prokurator hatte keine Anklage gegen Paulus zu formulieren, er hatte nur den Stand bis zur Appellation zu beschreiben. Für solch einen Bericht aber waren Unterlagen vorhanden: Akten wie der Bericht des Tribunen über die Verhaftung des Paulus, oder die Anklage, die die Juden unter Felix eingereicht hatten, und das Protokoll über die Aussagen des Paulus bei seinen verschiedenen Vernehmungen. Die Urteilsfindung war ihm aus der Hand genommen, sie war allein Aufgabe des Kaisers. Damit wird V 26 wie V 27 im Munde des Festus unmöglich und bleibt nur verständlich als Wort des Schriftstellers, der sich ein solches Begleitschreiben falsch vorstellte. Wenn aber Festus die Schuldfrage für den Begleitbrief überhaupt nicht zu klären brauchte, verliert die gesamte Szene ihren Grund. Denn Agrippa sollte ja nur für Festus ermitteln, was dieser im Bericht an den Kaiser über die Schuldfrage zu schreiben hatte (604f).

Lukas war überzeugt, dass das Christentum für die ganze Welt von entscheidender Bedeutung ist. Dann konnte er aber diese Überzeugung im Stil der damaligen Literatur nur aussprechen und seiner Zeit mitteilen, indem er Paulus wieder und wieder mit den Staatsmännern und Fürsten konfrontierte und mit Asiarchen auf freundschaftlichem Fuß wie mit Gleichgestellten verkehren ließ und ihn so über die Winkelexistenz hinaushob, in der sich das Große nicht ereignen kann (605).


(12) Apg 26,1-32: Paulus vor Agrippa und Festus


Paulus war durch die Appellation der Jurisdiktion des Festus entnommen. Also hatte dieser die Schuldfrage gar nicht mehr zu beurteilen. Damit fehlt jeder Anlass, dafür den in Wirklichkeit gar nicht geeigneten König Agrippa zu bemühen. Auch die Durchführung dieser Szene spricht gegen einen historischen Kern. Von einem wirklichen Urteilsspruch redet Lukas nicht. Er weiß (32), dass der Fall dem Festus aus der Hand genommen ist. So bleibt eine Gerichtsverhandlung ohne Kläger und Zeugen übrig. Nur der Angeklagte spricht. Ohne Anklage beginnend, endet diese Szene mit einem für Paulus günstigen inoffiziellen Gespräch (616f).

Es geht hier nicht um den historischen Prozess des Paulus, sondern um den Kampf des Judentums gegen die christliche Mission, die Paulus als siegreicher Anwalt vertritt. Lukas hat seine Rede sorgfältig entworfen und genau auf das Auditorium abgestimmt.

Die Lebensgeschichte des Paulus wird nur angedeutet. Das Diasporajudentum des Paulus ist ausgelöscht. Wer 23,3 nicht mehr im Ohr hat, muss meinen, Paulus sei von Geburt an in Jerusalem gewesen. Dann folgt das lkn Argument, Paulus vertrete nur die pharisäische Hoffnungslehre (die hier zur Hoffnung des ganzen Zwölfstämme-Volkes wird). Lukas fügt ein in noch grelleren Farben gehaltenes Bild der pln Christenverfolgung an - ohne eine solche Steigerung wäre die Rede gegen die frühere abgefallen. Ananias muss fortbleiben: nur wenn der himmlische Befehl unmittelbar an Paulus selbst ergeht, leuchtet es ein, dass er “der himmlischen Erscheinung nicht ungehorsam ward” (19) (617).

Neu und wichtig ist, dass “nichts von diesen Dingen im Winkel geschehen ist” (26). Dieses Wort erhellt die lkn Darstellung in der Apg von Anfang an: der Auferstandene war 40 Tage bei seinen Jüngern und fuhr vor vielen Zeugen gen Himmel. Zu Pfingsten erlebten Tausende (2,41) das brausende Kommen des Geistes und seine Wirkung. Die Apostel taten Wunder vor allem Volk (3,9; 5,15: 19.11f) und sprachen zu Tausenden von Zuhörern (4,4) usw. Die ganze Geschichte des Christentums spielt sich in der Öffentlichkeit und vor hohen und höchsten Herrschaften ab. Das Christentum ist keine Winkelangelegenheit mehr, sondern ein Faktor in der Weltgeschichte. Was Paulus geschrieben hatte (“Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Angesehene sind berufen” 1Kor 1,26) ist in der lkn Zeit überholt. In Lukas macht sich ein neues Selbstbewusstsein der Christen geltend. Das Christentum findet Gehör auf dem Areopag und am Hofe des Statthalters. Paulus hat den Statthalter Sergius Paulus zum Glauben gebracht, auf die Prokonsuln Felix und Festus einen tiefen Eindruck gemacht und beinahe den König Agrippa bekehrt (617f).

Unter der lkn Voraussetzung, dass die Christen nur dasselbe verkünden wie Moses und die Propheten, nämlich den Messias und seine Auferstehung, ist eine solche Bekehrung durchaus denkbar: Agrippa glaubte als frommer Jude den Propheten, und die Propheten sind mit den Christen einig. Lukas lässt den König sagen: “Fast bringst du mich dazu, den Christen zu spielen”. Dieses zwischen Ja und Nein, Ernst und Humor spielende Wort nimmt Paulus auf und antwortet mit derselben Verbindung von Ernst und Humor: “Möchtet ihr über kurz oder lang alle werden wie ich abgesehen von diesen Fesseln”. Dieser Paulus weiß, wie man sprechen muss, um bei Hofe wohlgelitten zu sein. Darum bestätigt man ihm auch seine völlige Unschuld, und ohne die leidige Appellation wäre er jetzt frei! Der Leser soll den Eindruck mitnehmen: Paulus war ohne alle Schuld, obwohl er nicht frei kam (618)!

Von 21,27-26,32 variiert Lukas ein und dasselbe Thema: das Verhältnis zwischen Rom, den Juden und den Christen: Die Juden klagen die Christen an und Rom wird als Richter angerufen. Aber in Wirklichkeit steht es nach Lukas anders: Das (von Paulus vertretene) Christentum hat keine Verfehlungen gegen das römische Recht begangen. Die theologischen Differenzen der Juden und Christen bleiben zuletzt als einziger Anklagepunkt übrig. Dafür aber erweist sich die römische Behörde als unzuständig: die Auferstehungsfrage ist ihnen unbegreiflich (618f).

Auf eine Bekehrung der Juden hoffte Lukas nicht mehr. Die Stunde der Bekehrung, die ihnen in Gottes Heilsplan gewährt war, hatten sie nicht genutzt. Obwohl Paulus in Kp 22 zum jüdischen Volk, in 23 zum Synhedrion und in 26 zu König Agrippa spricht, wirbt Lukas mit all dem nicht um eine Bekehrung in letzter Minute. Als Lukas schrieb, lag der Tempel in Trümmern, und kein Christ wurde mehr wegen seiner Stellung zum Tempel angeklagt. Lukas hatte Paulus, den erfolgreichsten Missionar, als die eigentlich treibende Kraft der christlichen Mission dargestellt. Da war es fatal, dass er verhaftet, gefangengehalten, nach Rom gebracht und schliesslich hingerichtet wurde. Insofern war es unbedingt nötig, dass seine Unschuld überzeugend an den Tag kam. Lukas will der Gemeinde eine Lebensmöglichkeit innerhalb des römischen Imperiums erwirken. Warum sollte Rom den christlichen ‘Weg’ nicht tolerieren? Weil die Juden die Christen anklagten? Dem liess sich mit dem Nachweis begegnen, dass gerade die strengste Richtung im Judentum, der Pharisäismus, sich im Glauben an die Auferstehung mit dem Christentum traf. In Kp 23 und 26 hat Lukas das nachdrücklich dargestellt (619f).

Lukas lebt nicht mehr in der Welt des Paulus. Der Tempel in Jerusalem steht nicht mehr, und alles im Gesetz des Mose, was mit dem Tempelkult zusammenhängt, ist gegenstandslos geworden. Die Aufnahme unbeschnittener Heiden in die christliche Gemeinde hat Gott selbst herbeigeführt. Die atl Forderung der Beschneidung kommt für Nichtjuden nicht mehr in Betracht. Die Heidenchristen erfüllen die ihnen im Gesetz gestellten Forderungen. Also kann man ihnen nichts vorwerfen (21,25). Die sittlichen Gebote des Gesetzes haben bei den Christen selbstverständliche Geltung (620).


(13) Apg 27,1-44: Seefahrt und Schiffbruch


Kaum ist Paulus der Auslieferung an die Juden entgangen, da droht auf der Fahrt nach Rom ein Sturm, ihn und das ganze Schiff zu vernichten. Paulus sieht die Gefahr voraus und warnt. Um seinetwillen rettet Gott auch die Mitreisenden. Paulus verhindert die Flucht der Matrosen und flößt vor der Landung auf Malta allen die rechte Zuversicht ein. Als zuletzt die Soldaten die Gefangenen töten wollen, damit sie nicht fliehen, lässt Gott durch den Centurio alle sicher ans Land bringen und erfüllt damit seine eigene Verheißung (22.34): Paulus, der Gefangene, rettet alle (633)!

Lukas besaß einen Erlebsnisbericht über diese Reise. Paulus war kein vornehmer Reisender mit besonderer Autorität, sondern ein des Aufruhrs angeklagter Gefangener. Darum hatte er bei der Entscheidung nicht mitzureden. Gerade jene erbaulichen Zusätze, die Paulus feiern, sind Zutaten des Vf zu einem Erinnerungsbericht, der von Paulus nichts Besonderes melden konnte, wohl aber Fahrt, Gefahr und Rettung aller schilderte. Die Unwirklichkeit der Szene sieht man am leichtesten in den Vv 21-26: Paulus hält auf stampfendem Schiff im heulenden Sturm eine Rede, als stünde er auf dem Areopag. Der von Lukas übernommene Erinnerungsbericht ging von V 9a direkt zu V 12 über. V 12 sprach von einer Mehrheit, die zum Überwintern nach Phönix weiterfahren wollte. Eine Beratung hat stattgefunden. Natürlich nahmen nur die maßgebenden Männer daran teil. Das waren für Lukas: Paulus, der Centurio, der Reeder und der Kapitän. Aus prophetischer Verbundenheit mit Gott sah Paulus das Kommende voraus. Er hat gewarnt: das Schiff wird mit Mann und Maus untergehen! Nun konnte Paulus sich in einer zweiten Rede (21-26) dahin korrigieren, dass Gott um seinetwillen, weil er vor dem Kaiser Zeugnis ablegen sollte (24), alle Mitfahrenden retten wolle. Paulus konnte die Aufforderung, guten Mutes zu sein (22), damit begründen, dass ihm die Rettung inzwischen offenbart worden war (23f) (633f).

Wahrscheinlich war Paulus ebenso wie die anderen Gefangenen gefesselt und außer Stande, beliebig Reden an das Volk zu halten. Kp 27 ist im hohem Maße literarisch. Es sind gerade die von Lukas eingeschobenen Paulusreden, die diesem Abschnitt den Charakter des Literarischen geben. Die eingeschobenen Szenen entsprechen genau dem lkn Paulusbild. Paulus steht immer im Mittelpunkt. Er ist nie um Rat verlegen. Er spielt die Rolle des wahren Römers auf einem römischen Schiff. Sogar der Centurio schaut zu ihm auf. Paulus ist der Retter des Lebens aller (635).


(14) Apg 28,1-10: Paulus auf Malta


Die Erzählung von den Ereignissen nach der Landung und vom Aufenthalt auf Malta verbindet Lukas mit Wundergeschichten: Bei der Szene am Feuer steht Paulus allein im Vordergrund. Dass der Centurio nicht mehr genannt wird, ist dadurch bedingt, dass Lukas von nun an bis zum Schluss des Buches die Gefangenschaft des Paulus möglichst zurücktreten lässt. Weil Paulus selbst Reisig für das Feuer sammelt, kommt es zu jenem Zwischenfall mit der Schlange, deren giftiger Biss Paulus nicht schadet. Zunächst halten die Malteser Paulus für einen von der Gottheit verfolgten Mörder, dann für einen Gott. Dass die Geschichte mit dem triumphierenden Satz schließt: “sie sagten, er sei ein Gott”, ist heidnisch empfunden, nicht christlich. Es ist für Lukas bezeichnend, wie ungebrochen er Paulus als einen Wundertäter schildern kann (638f).

In der zweiten Szene hat der Erzähler nur Augen für Paulus, der den fiebernden Vater des hohen Beamten durch Handauflegung und Gebet heilt und danach noch alle Kranken der Insel. Lukas sagt nichts von einer Verkündigung des Evangeliums. Für ihn ist einzig die Fülle der Wunderheilungen wichtig, die Paulus vollbringt. Paulus wirkt bei alledem nicht mehr wie ein Gefangener, sondern nur wie ein mächtiger Wundermann, der rings um sich Segen verbreitet (640).


(15) Apg 28,11-16: Von Malta nach Rom


Paulus und die Seinen reisen wie freie Leute. Erst V 16b erinnert daran, dass Paulus noch in Haft ist, wenn auch in einer milden. Dieser Reisebericht ist dem von der Fahrt nach Jerusalem zum Verwechseln ähnlich. Lukas hat V 14a eingeschoben, damit während dieser Woche die Ankunft des Paulus den römischen Christen gemeldet werden konnte: sie wussten ja nicht von selbst, dass Paulus in Italien eingetroffen war (642).

Lukas hat an das Wort “Rom”, das er in dem benutzen Reisebericht fand V 15 angeschlossen, von dem in der Quelle nichts stand. Die Doppelangabe dieses Verses Forum Appii und Tres Tabernae, beruht vielleicht darauf, dass Lukas kein so detailliertes Bild vor Augen hatte, als er die beiden bekanntesten Stationen an der Via Appia zwischen Rom und Neapel nannte. Mit V 16a hat er dann seine Vorlage wieder erreicht.

Man könnte Lukas Schweigen über die Gemeinde in Rom - er spricht nur von Christen aus Rom, aber nicht von einer organisierten Gemeinde daselbst! - kritisch dahin auslegen, dass die Beziehungen zwischen ihr und Paulus keineswegs herzlich waren. Aber Lukas hätte sich gehütet, eine solche Spannung auch nur anzudeuten. Obwohl Paulus als Gefangener nach Rom kommt, beginnt er dort mit der christlichen Verkündung und krönt so in der Welthauptstadt sein Werk als der große Missionar des Christentums. Lukas hat sein Bild der pln Weltmission konsequent durchgeführt (643).


(16) Apg 28,17-31: Paulus in Rom


Die christliche Gemeinde in Rom wird nicht erwähnt. Paulus ruft die Leiter der Juden zusammen. Paulus war ein schwerverdächtiger Untersuchungsgefangener, durch Juden in einen Prozess auf Leben und Tod verwickelt, und für die römischen Juden alles andere als eine Respektsperson, deren Ruf man sogleich folgt (649).

Paulus berichtet zunächst über seinen Prozess: hier bestimmt der Schriftsteller die Darstellung. In Betracht kommt nur die Anklage wegen eines Vergehens gegen das jüdische Volk und die “väterlichen Sitten”. Gegen sie hat Paulus sich nicht vergangen. Trotzdem ist er “von Jerusalem” als Gefangener den Römern übergeben worden. Als diese ihn freilassen wollten, habe er wegen des jüdischen Widerspruchs an den Kaiser appellieren müssen. Hier wird jenes Bild des Prozesses angedeutet, das Lukas als das endgültige dem Leser einprägen will. In Wirklichkeit haben die Römer Paulus niemals freilassen wollen, sondern der Jude Agrippa hat in einer von Lukas entworfenen Szene - nach der Appellation - behauptet, man hätte Paulus freilassen können, wenn er nicht appelliert hätte. Dann versichert Paulus wieder, er stehe nur wegen der Hoffnung Israels in diesen Ketten vor ihnen - auch dies ist eine lkn Konstruktion, deren Unwirklichkeit auf der Hand liegt. Und so ergibt sich die unbegreifliche Lage: eigentlich ist niemand schuld - denn Paulus will ja auch sein Volk nicht anklagen - und dennoch steht Paulus, auf Tod und Leben verklagt vor Gericht (649f)!

Die römischen Juden haben anscheinend überhaupt noch nichts Ungünstiges über Paulus vernommen, das ist unglaubhaft. Sie scheinen jedoch - und das ist noch befremdlicher - nicht nur von Paulus, sondern von der ganzen christlichen Sekte bisher kaum etwas gehört zu haben und eigentlich nur zu wissen, dass sie überall auf Widerspruch stößt. Eine derartige Unkenntnis der römischen Juden ist unmöglich. Wir haben allen Grund für die Annahme, dass die christliche Botschaft Ende der 40er Jahre nach Rom gekommen ist und als messianische Predigt zu schärfsten Auseinandersetzungen in der Judenschaft geführt hat (650).

Lukas setzt voraus, dass die römischen Juden ernsthaft Belehrung wünschen, großes Interesse zeigen (es kommen nicht nur die “Ersten” zu Paulus, sondern mehr!), und dass Paulus selbst sie ernst nimmt. Lukas ignoriert die christliche Gemeinde in Rom. Dass er damit den Boden des Historischen verlässt, ist deutlich (651).

Die unhistorische Voraussetzung, dass die römischen Juden das Christentum nur vom Hörensagen kennen, trägt auch die zweite Szene und erschüttert sie damit zugleich. Paulus spricht einen ganzen Tag vom Reich Gottes und dem Jesusgeschehen und bringt den Schriftbeweis dafür. Ein Teil der Juden lässt sich überzeugen, der andere nicht, und miteinander streitend gehen beide Gruppen endlich fort, während Paulus die Weissagung Jes 6,9f erfüllt sieht: Gott hat die Juden verstockt; das Heil ist nun für die Heiden da, und “sie werden hören”! Das ist das letzte Wort des Paulus in der Apg. Die Bahn für die Heidenmission ist endgültig frei (651f).

Es ist sehr merkwürdig, dass Paulus alle Juden als verstockt bezeichnet, während doch die einen “sich überzeugen ließen”. Lukas muss zwei widerstreitende Gedanken vereinen. Einmal ist die christliche Botschaft nach seiner Darstellung in wesentlicher Übereinstimmung mit dem Judentum. Das hatte Lukas in der fiktiven Szene vor dem Synhedrion (23,7ff) durch die Zustimmung veranschaulicht, die die Pharisäer Paulus zuteil werden lassen. Hier hat Lukas sich nicht die Mühe gemacht, wieder den Gegensatz von Pharisäern und Sadduzäern einzuführen. Er passt auch für Rom schlecht. Dann blieb ihm nur übrig, dass er einfach eine jüdische Gruppe Paulus zustimmen liess. Andererseits aber lag es keineswegs in seiner Absicht, hier eine jüdische Bekehrung zu schildern. Im Gegenteil, er wollte die jüdische Verschlossenheit gegen die christliche Botschaft darstellen, die die Heidenmission erzwingt. Beides zusammen ergab die Spannung in unserem Text, dass manche Juden sich überzeugen ließen und doch alle als verstockt behandelt werden (652).

Warum hat Lukas die Tätigkeit des Paulus in Rom in dieser unhistorischen Weise dargestellt? Die letzte Szene des Buches stimmt genau mit jener im pisidischen Antiochia (13,46) und mit der in Korinth (18,6) überein. Dreimal hat Lukas in der Apg ausführlich die Erfahrung geschildert, dass sich die Juden gegen das Evangelium verschließen. Der erste dieser Fälle ereignet sich auf der ersten Missionsreise in Kleinasien, der zweite in der Mitte der pln Tätigkeit in Griechenland, der dritte hier an ihrem Ende in Italien. Das ist kein Zufall, sondern das Werk eines bewusst schaffenden, auf Kunstmittel nicht verzichtenden Autors. Diese drei Szenen machen, stellvertretend für alle entsprechenden, die Grunderfahrung des Paulus und der christliche Mission überhaupt sichtbar. Gegen den Willen der christlichen Missionare wird ihre Verkündigung durch die Ablehnung der Juden zu den Heiden abgedrängt.

Damit, dass Lukas hier die Missionserfahrung des Paulus darstellt, ist nun gegeben, dass er Paulus auch in Rom missionierend vor den Juden auftreten lässt. Paulus ist in Rom kein freier Mann mehr, deshalb muss er die Juden in sein Quartier kommen lassen. Damit wird der Anfang unseres Abschnitts als notwendiges Glied der lkn Komposition durchsichtig. Andererseits kann aber Paulus die Juden nicht einfach zusammenrufen, um ihnen zu predigen. So tritt als Grund der Einladung die Unterrichtung über seine Lage ein. Für Lukas ist es ein Widersinn, dass der Apostel nicht freigelassen wurde. Paulus ist für Lukas eine derartige Respektsperson, dass sich die “Ersten der Juden” selbstverständlich sogleich auf seine Aufforderung hin bei ihm einstellen. Lukas hat stets sein Glaubensbild des Paulus vor Augen und nicht das Bild, das die Gegner des Paulus nach 2Kor 10,10 besessen haben: “Seine Briefe, sagen sie, wiegen schwer und sind stark; aber wenn er selbst anwesend ist, ist er schwach und seine Rede kläglich” (652f).

Die Lage, dass Paulus als Missionar vor den römischen Juden spricht, kann nur eintreten, wenn Paulus bei ihnen noch nicht in Misskredit gekommen ist. Die römischen Juden dürfen auch das Christentum noch nicht genau kennen. Dem entspricht V 22. Damit ist die Missionssituation hergestellt: Unkenntnis der christliche Botschaft, verbunden mit dem Willen, etwas darüber zu erfahren.

Lukas hat die römischen Christen beim Kommen des Paulus nach Rom kurz berücksichtigt, sie eilen Paulus entgegen und geben ihm mit ihrem Anblick Mut. Damit hat Lukas der römischen Gemeinde - außerhalb Roms - die ihr zukommende Erwähnung zuteil werden lassen. Als er den römischen Aufenthalt des Paulus schildert, braucht er sie nicht mehr (653).

Es war Lukas gelungen, die Fahrt des Paulus von Cäsarea nach Rom zu einem Triumph des Gottesmannes zu gestalten. Die Gefangenschaft muss dazu dienen, seine Aktivität im hellsten Licht zu zeigen. Der Leser schließt das Buch mit der Überzeugung, dass Paulus in den zwei Jahren dieses Aufenthaltes es erlebt hat, dass “die Heiden hören”. In Rom wirkt Paulus “ungehindert”, das besagt, dass die römische Staatsmacht dem jungen Christentum wohlwollend gegenüberstand und seine Verkündung zuliess (654).