(3) „Die Juden“ im Johannesevangelium

 

a. Für das JohEv ist die endgültige Trennung der Christen vom Judentum bereits vollzogen
b. Eine zweite Linie in der Verwendung von „die Juden
c. Die dritte Linie
d. An vielen Stellen im JohEv hat die Bezeichnung „die Juden“ einen negativen Klang

F.Hahn (1996)

Jede pauschale Beurteilung des Begriffes „die Juden“ im JohEv führt zu groben Fehldeutungen der eigentlichen Aussageabsicht dieser ntl Schrift (119).


a. Für das JohEv ist die endgültige Trennung der Christen vom Judentum bereits vollzogen. Die entstandene Konfrontation von Synagoge und Kirche hat einen deutlichen Niederschlag gefunden. Hinzu kommt: das Judentum selbst hat sich erheblich gewandelt. An die Stelle der verschiedenen Gruppen und des vielgestaltigen Erscheinungsbildes z.Zt. Jesu und der Apostel ist nach der Katastrophe des Jahres 70 n.Chr. die Reorganisation des Judentums unter ausschließlich pharisäischer Führung getreten. Das Judentum steht nun in viel stärkerem Maß als Einheit der Kirche gegenüber, sodass fließende Übergänge nicht mehr vorhanden sind (Hinweise auf die synagogale Exkommunikation: Joh 9,22; 12,42; 16,2). Aussagen von äußerster Schärfe gegen „die Juden“ dürfen nicht zum alleinigen hermeneutischen Schlüssel gemacht werden. Es bliebe dann unverständlich, was demgegenüber die positiven Stellen zu bedeuten haben (119f).

Linien, die die Verwendung des Begriffs „die Juden“ im JohEv kennzeichnen: Wo von den „Festen der Juden“ die Rede ist (5,1; 6,4; 7,2; 2,13; 19,42), geht es um Spezifika einer bestimmten religiösen Gemeinschaft, die in den jeweiligen Festfeiern ihren Ausdruck finden. Dasselbe gilt, wenn von „euren“ bzw. „ihrem Gesetz“ gesprochen wird (7,22; 8,17; 10,34). Jeweils handelt es sich um wesensbestimmende Elemente der religiösen Tradition. Derartige Aussagen sind nicht von vornherein polemisch verstanden, da auch Jesus sich an den Feste beteiligt und auf die Tora berufen hat (2,13; 5,1; 7,2ff; 10,22f; 11,55ff). Die Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinschaft der Juden ist für Jesus wie für seine Jünger eine selbstverständliche Gegebenheit, bis es dann zu seiner Verwerfung und der Verwerfung der Jünger (16,1-4) kommt. Die Trennung steht nicht am Anfang und die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft ist als solche keineswegs negativ qualifiziert. Weil das Heil von den Juden kommt (4,22b), darf auch bei einer äußeren Trennung die Rückbindung an die Gemeinschaft, die Träger der Verheißung und Ursprungsort der Heilsverkündigung war, nicht preisgegeben werden (120f).

Das gilt auch dann, wenn die Juden diese Tradition für sich beanspruchen und in ihrem Sinn auslegen. Die Spannung und Gegensätzlichkeit wird dort erkennbar, wo sich die Juden (5,39-47) auf das Gesetz beziehen, aber von einem Verständnis dieses Gesetzes ausgehen, das dessen Verheißungscharakter verkennt. Auch wenn sie unter Inanspruchnahme ihres Gesetzes Jesus verwerfen, werden sie dennoch durch das Gesetz und die prophetischen Schriften auf das eschatologische Heil verwiesen. Deshalb wird auch Mose, auf den sie sich berufen, im Gericht Gottes ihr „Ankläger“ sein. So stoßen wir an diesen Stellen auf einen Sprachgebrauch, der für das Selbstverständnis der Christen im Gegenüber zum Judentum bezeichnend ist, weil hiermit die gemeinsame Herkunft und die unterschiedliche Grundhaltung gleichzeitig zum Ausdruck kommen, ohne dass damit eine prinzipielle Polemik verbunden ist (121).

 

b. Eine zweite Linie in der Verwendung von „die Juden“: Es ist in der Darstellung des Evangelisten durchweg vorausgesetzt, dass die zur ‚Menge‘ gehörenden Menschen Juden sind. Das wird in 12,9 ausdrücklich gesagt, ist in Joh 5 und 7 aufgrund des Kontextes eindeutig, gilt aber auch für die ‚Menge‘ bei der Brotvermehrung „jenseits des Meeres“ (Joh 6), weil die Absicht, den, der „wahrhaft der in die Welt gekommene Prophet ist“, zum „König“ zu machen, nur aus der messianischen Erwartung des Judentums verständlich ist. Kennzeichnend für diese zur ‚Menge‘ gehörenden Menschen ist es, dass sie durch Jesu Wort und Wirken betroffen, aber noch nicht abschließend festgelegt sind. So kann es von ihnen auch heißen, dass sie darüber streiten, ob Jesus der verheißene Heilbringer ist (Joh 7,12.31.40f.43). Nicht nur im Blick auf die ‚Menge‘ kann gesagt werden, viele Menschen seien zum Glauben an Jesus gekommen (7,31; 2,23; 11,48), sondern dass auch direkt formuliert wird, „Juden“ seien gläubig geworden (8,31; 11,45; 12,11; 12,42). Der Evangelist zeigt auch, wie schwer es für einen „Lehrer Israels“ wie Nikodemus sein kann, die Botschaft Jesu zu akzeptieren (3,1-12). Der Begriff „die Juden“ ist nicht einseitig negativ festgelegt. Auch mit dieser Bezeichnung wird zum Ausdruck gebracht, dass die in Jesus sich ereignende Offenbarung all denen gilt, die zur jüdischen Gemeinschaft gehören und dass sie gerufen sind, sich Jesus glaubend anzuschließen. Die Berufung des Nathanael am Anfang des JohnEv (1,35-51) ist Höhepunkt der Nachfolgeerzählung. Er erkennt im Zusammenhang mit Gesetz und Propheten, wer Jesus ist und wird deshalb von diesem als „wahrer Israelit“ angesprochen (122f).

 

c. Die dritte Linie: Der Evangelist verwendet die Bezeichnung „die Juden“, wenn es sich speziell um die gegen Jesus einschreitenden jüdischen Autoritäten handelt. Die offiziellen Repräsentanten des Judentums sind es, die ihn zur Rede stellen, sie betreiben seine Verhaftung und schließlich seine Verurteilung. Der Hohepriester Kajafas gibt den letzten Ausschlag (11,47-52). Der Evangelist hat nicht vergessen, dass es eine bestimmte Gruppe von Juden war, die die Beseitigung Jesu vorbereitet und veranlasst hat (124).

Z.Zt Jesu und der Apostel war Jerusalem mit seinem Tempel der Mittelpunkt und Sitz der obersten jüdischen Instanz, des Synedriums. In der Zeit nach der Katastrophe von 70 n.Chr. war nicht mehr Jerusalem, wohl aber immer noch Judäa mit Jabne als neuem Zentrum maßgebend für alles, was das Judesein betraf. An vielen Stellen des JohEvs sind bei der Verwendung von „die Juden“ die offiziellen Vertreter des Judentums gemeint. Im Zusammenhang mit Jesu Wirken ist es fraglich geworden, ob die Inhaber amtlicher Funktionen als Repräsentanten des Judentums zu Recht reden und handeln und zwar noch abgesehen von seinem göttlichen Auftrag und Anspruch, sondern allein schon im Blick auf die Glieder der jüdischen Gemeinschaft, die sich zu einem großen Teil Jesus bereits angeschlossen haben und nicht mehr jenen Autoritäten zu folgen bereit sind. Diese offiziellen Vertreter repräsentieren in keiner Weise mehr das atl Gottesvolk als ganzes. Es ist durch das Wirken Jesu zu einer Scheidung gekommen. Wer sich zu Jesu Person und Wort hält, wird als „wahrer Israelit“ bezeichnet, wer sich den Autoritäten unterordnet, gehört zu jenen „Juden“, die Jesus und damit das Heilsangebot Gottes ablehnen. Wo Gesetz und Glaubenstradition lediglich dazu dienen, den Unglauben zu legitimieren und Jesus zu verurteilen, ist die Chance der Umkehr vertan, dort gilt das Wort aus Jes 6,9f (Joh 12,39f). Die Autoritäten repräsentieren nur einen Teil des jüdischen Volkes, jene Gruppe, die Jesus verwirft und damit zugleich ein Judentum konstituiert, das aus der Feindschaft gegen Jesus und seine Jünger lebt und wegen dieser Feindschaft unter das Gerichtswort gestellt ist (124f).

Die äußere Trennung zwischen dem sich neuformierenden Judentum und den Christen war gerade deswegen unumgänglich geworden, weil eine Großzahl von Gliedern des atl Gottesvolkes jetzt in der Kirche lebte. Dass die Trennung von den Juden ausgegangen ist, lässt das JohEv klar erkennen (9,22; 12,42; 16,2). Es war seitens der Vertreter des Jesus verwerfenden Judentums eine Bewältigung jener Krise im 1.Jh.n.Chr., die nicht allein durch den Jüdischen Krieg samt Zerstörung Jerusalems und des Tempels hervorgerufen worden war, sondern ebenso tiefgreifend durch Jesu Wirken und die christliche Mission verursacht gewesen ist, denn die vielen Judenchristen ließen sich nicht mehr in die von Pharisäern geleiteten Synagogen zurückholen (125f).

 

d. An vielen Stellen im JohEv hat die Bezeichnung „die Juden“ einen negativen Klang. Es geht um die Angehörigen eines Judentums, die eine eigene kultische und rituelle Ordnung vertreten, die nicht mehr bereit sind, auf Jesu Wort und Ruf zum Glauben zu hören und die sich ihren Autoritäten, von denen Jesus und seine Jünger verworfen und verfolgt werden, unterordnen. Für sie ist die Frage, wer Jesus ist, entschieden. Sie können in ihm nicht den Offenbarer und Heilbringer Gottes sehen, sind daher der Auffassung, dass er besessen sei und mit seinem Anspruch, Sohn Gottes zu sein, Gotteslästerung begehe (8,48f.52; 10,20f; 10,33). Für den Evangelisten konstituiert sich damit eine neue religiöse Gemeinschaft, die sich ebenfalls auf die atl Tradition beruft, aber aus der Ablehnung der Person und Botschaft Jesu heraus ihr Selbstverständnis gewinnt. In gewissem Sinn kann man sagen, dass der 4. Evangelist die Auffassung vom fortan „gespaltenen Gottesvolk“ vertritt. Für ihn geht es hierbei um Glaube und Unglaube (126).

Am Offenbarungsanspruch Jesu fällt eine Entscheidung, die das alte Gottesvolk in eine Krisis hinein führt. Der vom Vater beauftragte Sohn will nichts anderes als die Verheißung Israels zu ihrem Ziel führen. Ihm hat der Vater alles in die Hand gegeben (13,3; 18,3), durch ihn soll sich das Heil über Israel hinaus für die ganze Welt erfüllen (4,1-42). Aber die Träger der Verheißung verschließen sich zu einem Teil dem Offenbarunsanspruch und stellen dem einen nomistischen Absolutheitsanspruch gegenüber. Für den Evangelisten enthüllt sich darin das eigentliche Wesen des Unglaubens, sofern hier unter Berufung auf Gott und auf das Zeugnis der Schrift die Heilszuwendung Gottes verworfen und eine eigene Frömmigkeit vertreten wird. Der Unglaube in Israel ist nicht ein bloßes Beispiel für den Unglauben der Welt, sondern im Unglauben Israels wird erkennbar, was letztlich Unglaube ist, sofern unter Berufung auf Gott Gottes Anspruch nicht gehört wird und Menschen sich in ihrer Verblendung Gott gegenüber verschließen (127).

Unter diesen Voraussetzungen wird verständlich, warum die Juden in Joh 8,30-59 Repräsentanten des ungläubigen Kosmos sind. Die Berufung auf Abraham wird in dem Augenblick hinfällig, wenn die „Werke Abrahams“ nicht getan und der Wahrheitsanspruch in Jesu Wort und Wirken nicht anerkannt wird. Wer sich durch Todfeindschaft gegen Jesus außerhalb der Abrahamskindschaft stellt, hat kein Recht mehr, sich auf Gott als Vater zu berufen. Er ist einem anderen Vater verfallen, dem Teufel (8,44). Hier stehen nicht nur Glaube und Unglaube, sondern ebenso Wahrheit und Lüge einander gegenüber. Wo Jesu Anspruch verkannt wird, ist die Wahrheit Gottes, für deren Bezeugung Jesus in die Welt gesandt wurde (18,37), den Menschen verschlossen. Sie bleiben ihrem eigenen Sein und Tun verhaftet, das von Sünde und Lüge gekennzeichnet ist. Wo die Tür, die durch Jesu Offenbarung der Wahrheit eröffnet worden ist, nicht glaubend und vertrauend durchschritten wird, der Mensch vielmehr im Unglauben verharrt, bleibt er der Macht des Bösen ausgesetzt, die zutiefst Feindschaft gegen Gott ist (8,44). Die Schärfe der Anklage von 8,30-59 liegt darin, dass gerade diejenigen, die sich auf Abraham berufen, die die Geschichte Gottes mit Israel und seine Verheißungen kennen, den Offenbarungsanspruch Jesu nicht annehmen (127f).

Der Evangelist ist mit seiner Gemeinde am Ende des 1.Jh. einem sich neuformierenden Judentum konfrontiert, das die christliche Botschaft radikal verwirft. Es bejaht die getroffene Entscheidung gegen Jesus und bekräftigt sie in Auseinandersetzungen mit den Gliedern der christlichen Gemeinde (128).


(4) Die Bedeutung des Judeseins Jesu im Johannesevangelium

 

a. Die Problemstellung
b. Der jüdische Prophet als Retter der Welt
c. Josephs Sohn aus Nazareth als Messias aus Davids Geschlecht
d. Der Gekreuzigte als König von Israel
e. Auswertung

T. Söding (2000)

a. Die Problemstellung 

Das Johannesevangelium formuliert die schärfste Kritik an 'den Juden', die das Neue Testament kennt, zugleich ist es auch das Evangelium mit der stärksten Betonung des Judenseins Jesu: Die Herkunft Jesu aus Nazareth, seine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, seine Wirksamkeit in Galiläa und Judäa, seine Sendung als Messias Israels in Prophetien und Selbstoffenbarungen, in Anklagen und Verteidigungen Jesu zieht sich dieses Motiv durch das Evangelium: von der Berufung der ersten Jünger (1,38-51) bis zur österlichen Begegnung mit Maria Magdalena (20,16), vom Dialog mit der Frau am Jakobsbrunnen (4,41f) bis zum Pilatusprozess (18,28-19,16a), von der Auseinandersetzung mit seinen Brüdern (7,1-12) bis zur Bitte der gottesfürchtigen Griechen, die in der letzten Paschawoche Jesus begegnen wollen (12,20-26) (21f). 

Jesus in typisch jüdischen Rollen:

- als Rabbi, der sich, obwohl er nicht studiert hat (7,15), in der Synagoge und im Tempel, privatim (3,1-21) und coram publico (18,20) als Meister der Lehre (3,2), besonders der Schriftauslegung (6,35f; 7,15), erweist. 

- als Pilger, der kaum eines der großen Jerusalemer Feste versäumt (vgl. 2,13; 4,45; 5,1; 7,2.8-11.14; 10,22; 11,55 gegen 6,4) und sich auch vom drohenden Martyrium nicht abhalten lässt, die heiligen Stätten zu besuchen (vgl. 11,56; 12,12). 

- als Prophet, der die Wahrheit der Menschen und des Willens Gottes ans Licht bringt (4,19.44; 6,14; 7,40.52; 9,17), 

- als Märtyrer, der 'für das Volk stirbt', wie es Kaiaphas kraft des Geistes prophezeit (11,45-53; vgl. 18,14),

- als der messianische König Israels, der als er schon von Nathanael (1,49) angeredet und dann beim Einzug in Jerusalem von der Volksmenge begrüßt wird (12,12,-18), als den ihn Pilatus verurteilt (18,33-37.39; 19,3-14f) und die Kreuzesinschrift auf Hebräisch, Lateinisch und Griechisch öffentlich ausweist (22f). 

Jede dieser unverwechselbar jüdischen Rollen hat auf spezifische Weise mit der Sendung Jesu zu tun, Gott als Vater und sich selbst als den eingeborenen Sohn Gottes zu offenbaren (1,17f), den Gott aus Liebe zur Welt 'gegeben' hat, um die Glaubenden zu retten (3,16). 

Christologische Leitfragen zum Judentum Jesu:

- „Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen“ fragt Nathanael (1,46), um dann zu bekennen: „Rabbi, du bist der Sohn Gottes, der König von Israel“ (1,49). 

-„Wie kannst du (Jude) mich (Samariterin) um etwas zu trinken bitten“ (4,9) lautet die Frage am Jakobsbrunnen, die zum Anlass eines Glaubensgesprächs über Jerusalem, Garizim und die Anbetung Gottes in Geist und Wahrheit wird. 

-„Kommt denn der Messias aus Galiläa? Hat die Schrift nicht gesagt: Der Messias kommt aus dem Geschlecht Davids und aus dem Dorf Bethlehem, wo David lebte“ (7,41f), so fragen am letzten Tag des Laubhüttenfestes die Skeptiker aus dem Volk, nachdem Jesus seinen Anspruch formuliert hat, das Leben Gottes zu vermitteln. 

- „Bin ich denn ein Jude? Dein eigenes Volk und die Hohenpriester haben dich mir ausgeliefert“ (18,35), sagt Pilatus und gibt damit sein Scheitern an der Wahrheitsfrage zu erkennen, während Jesus sich als der König offenbart, der für die Wahrheit Zeugnis ablegt (23). 

 

b. Der jüdische Prophet als Retter der Welt

Die jüdische Rolle Jesu im Gespräch mit der Samaritanerin: In der Begegnung mit der samaritanischen Frau am Jakobsbrunnen tritt Jesus betont als jüdischer Prophet auf. Das Kapitel ist ein Programmtext, der zum einen die genuine Universalität des Heilswerks Jesu sichtbar macht (4,31-38; vgl. 18,20) und zum anderen am Beispiel der Samaritanerin zeigt, wie Jesus auch Nicht-Juden zum Glauben führt. Die Bitte Jesu um Wasser führt die Samaritanerin zur anfänglichen Abweisung Jesu, die sie mit der Abweisung der Samaritaner durch die Juden begründet: Juden gehen doch nicht mit Samaritanern um (4,9f). Am Ende heißt es im Munde der gläubig gewordenen Samaritaner: „Wir wissen: Er ist wahrhaftig der Retter der Welt“ (4,42). Die Anbetung Gottes in Geist und Wahrheit bedeutet eine neue Qualität der Gottesverehrung, die den traditionellen Gegensatz zwischen Samaritern und Juden überwindet (24f). 

Wie die Frau betont, sind auch die Samaritaner Kinder Jakobs (4,12); Jakob hat ihnen sogar den Brunnen geschenkt, der ihnen Wasser zum Leben spendet (4,12); Jesus selbst attestiert den Samaritanern, große Beter zu sein (4,22a). Überdies weckt er in der Samaritanerin das Bekenntnis ihrer Hoffnung auf den Messias (4,25). Gleichzeitig erinnern die Topoi Garizim und Jerusalem (4,20f) an den Dissens zwischen Samaritanern und Juden. In ihrer Geschichte und Religiosität sind sie einerseits eng miteinander verbunden und andererseits scharf voneinander getrennt (25f). 

Im zentralen Gesprächsteil wird der Unterschied zwischen Juden und Samaritanern auch im Munde Jesu zum theologischen Thema dadurch, dass er auf die Not und Hoffnung der Frau eingeht. Sie fragt, wo sie beten könne: „Unsere Väter haben an diesem Ort angebetet und ihr sagt, dass in Jerusalem der Ort ist, da man anbeten muss“ (4,20). 

Jesu Verheißung der Anbetung von Juden und Samaritanern „in Geist und Wahrheit“ ist nicht an den Garizim noch an den Tempel in Jerusalem, sondern an Jesus gebunden (4,21ff). „Ihr betet an, den ihr nicht kennt, wir beten an, den wir kennen, denn das Heil kommt von den Juden“ (4,22). Jesu Judesein prägt das gesamte Kapitel; er nimmt hier die Rolle als Jude an, die ihm die Frau zugeschrieben hat, weil sie der historischen und der theologischen Realität entspricht. Nun unterscheidet Jesus zwischen 'ihr' und 'wir'. Jesus schließt sich mit seinem Volk zusammen: Wir Juden beten an, den wir kennen. Damit markiert Jesus ein theologisches Plus Israels, das die Voraussetzung bildet, die Trennung zu überwinden (26f). 

Das theologische Plus der Juden besteht darin, dass sie wissen, was sie anbeten, während die Samaritaner zwar auch Gott verehren, aber ihn nicht wirklich kennen (vgl. 2Kön 17,24-41). Der Wissensvorsprung der Juden ist für Johannes vor allem durch die Heilige Schrift begründet und zwar nicht nur durch die Mose-Tora, die den Samaritanern gleichfalls als Kanon gilt, sondern auch durch die Propheten. Die Schrift ist für Johannes Wort Gottes, das durch das (geschriebene) Wort des Propheten ergeht (1,45; 9,29; vgl 1,23; 12,38ff). Die Schrift dokumentiert nach Johannes wesentliche Stationen der Geschichte Israels, besonders den Exodus mit dem Manna-Wunder (vgl. 6,32ff) und der Gesetzgebung (1,77; 7,19), vor allem bezeugt sie die Einzigkeit Gottes (vgl. 5,44) und die Gotteskindschaft der Israeliten (10,34; Ps 82,6). Sie zeugt vom 'Eifer' des Gerechten für das Haus Gottes (2,17/Ps 69,10), aber auch vom Verrat des Gerechten durch einen der Seinen (13,18/Ps 41,10) und von der Demütigung durch seine Feinde (19,24/Ps 22,19). Sie redet von der umfassenden Belehrung des Gottesvolkes durch Gott (6,45/Jes 54,13; 31,33ff), aber auch von der Verstockung Israels (12,38ff/Jes 53,1 LXX; 6,9f). Sie begründet die Hoffnung auf den Messias (7,42/Mi 5,1), den 'König Israels' (12,15/Jes 40,9; Sach 9,9) und auf das 'Brot vom Himmel' (6,31/Ps 78,24; Ex 16,4), im ganzen zeugt sie von der Verheißung des Lebens in Fülle (7,38; vgl. 5,39), vom Schutz des Gerechten durch Gottes Gnade (19,36/Ex12,46; Ps 34,21) und vom Schauen auf den Durchbohrten als einem Inbild des Gerichts und des unendlichen Heils (19,37/Sach 12,10). Auch Mose und das Gesetz werden von Johannes auf diese Linie seiner christologischen Schrift-Hermeneutik gebracht. Zuletzt ist es der Täufer Johannes, jener „Mensch, von Gott gesandt“ (1,6), der durch seine Taufe am Jordan (1,28; vgl. 3,23) und sein Zeugnis für Christus das Licht der Wahrheit nach Israel trägt (1,6ff; 15,19-38; 3,23-36) (27f). 

Der Wissensvorsprung, den die Juden durch die Schrift, durch das Gesetz, durch Mose und die Propheten haben, zeigt sich auch darin, dass sie nicht am Garizim, sondern im Tempel zu Jerusalem anbeten. Die Tempelaustreibung, die Johannes an den Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu in Jerusalem stellt (2,13-22), ist hingeordnet auf die Anbetung Gottes 'in Geist und Wahrheit' (4,23); aber sie ist kein Ausdruck der Abwendung, sondern der radikalen Hinwendung Jesu zum Tempel: der ist für Jesus das „Haus meines Vaters“, das als solches heilig ist und nicht zu einer Markthalle verkommen darf (2,16). Die Qualifizierung des Jerusalemer Tempels als Haus Gottes durch Jesus verifiziert im Kontext des JohEvs den Satz der Samariterin: „… ihr sagt, dass in Jerusalem der Ort ist, da man anbeten muss“ (4,20) (28f). 

Die Realisierung der Heilsuniversalität: Schrift und Tempel, die beiden zentralen Instanzen jüdischer Identität, werden nach Johannes durch Jesu Werk zugleich Instanzen jüdisch-christlicher Identität. Die Schrift ist nach Johannes das Zeugnis für den Messias, der nach Israel kommt, um Gottes Heilswahrheit dem ganzen Kosmos zu bringen. Genau darum geht der Streit mit den Pharisäern. Ihnen wird zwar attestiert, dass sie „in den Schriften forschen“, weil sie meinen „in ihnen das ewige Leben zu haben“ (5,39). Das führt bei ihnen, weil sie verstockt sind, nicht zum (christologischen) Verstehen (5,39). Sie erkennen nicht, inwiefern die Schriften das ewige Leben haben und dass sie aufgrund des Willens Gottes von Anfang an auf das Kommen des Messias angelegt sind, der allen Menschen das Licht Gottes bringt. Wer die den Juden gegebene Schrift Johannes zufolge in der Dynamik des Offenbarungshandelns Gottes an seinem Volk Israel liest, entdeckt sie als Zeugnis der Verwirklichung des universalen Heils. Das jedoch kann nur erkennen, wer – unter christologischem Vorzeichen – die Heilige Schrift Israels liest (29). 

Zum Wissen um Gott und zur Verehrung Gottes gehört im john Sinn entscheidend auch, dass Gott, weil er seinen Geist gibt, den Messias sendet, der die ganze Welt retten wird. Wenn Jesus der Samaritanerin sagt: „Wir wissen, wen wir anbeten“ (4,22), setzt er sich von der pharisäischen Schriftauslegung ab und redet über dass Glaubenswissen derer, die ihres wahren Judentums inne geworden sind: wie die Schwestern des Lazarus, wie die Magdalenerin oder wie Nathanael, zu dem Jesus sagt: „Siehe, ein wahrer Israelit, an dem kein Falsch ist“ (1,47). Mit diesen Juden, die für Johannes, die Juden nach dem Herzen Gottes sind, schließt sich der Jude Jesus zum ‚wir‘ von Joh 4,22 zusammen (30).

Der Dienst des Propheten Jesus zur Rettung der Welt: Sowohl das theologische Plus der Juden als auch die Realisierung der Heilsuniversalität werden von Johannes christologisch identifiziert. Jesus ist der jüdische Prophet (vgl. 7,40f; 9,17), der als solcher der Retter der Welt ist. Prophet kann er nur als Jude sein (vgl. 7,52). Jüdische Prophetie, wie Johannes sie voraussetzt, ist durch die von Gott verliehene Fähigkeit inspirierter Rede gekennzeichnet, die dem Volk Gottes den Willen Gottes offenbart. Das geschieht in unüberbietbarer Weise durch Jesus. Er ist d e r Prophet schlechthin und als solcher ist er der Messias. Er ist der Gesandte des Vaters. Als der eingeborene Sohn, der Mensch geworden ist (1,14-18), kann er an der Stelle des Vaters und in der Autorität Gottes die Wahrheit Gottes offenbaren. Nur weil er als der präexistente Logos (1,1ff) Gott selbst gesehen hat (1,18) und als irdischer Offenbarer fortwährend sieht (5,19f), kann er prophetisch verkünden, wer Gott wirklich ist und was Gott wirklich will. Diese Offenbarung Gottes durch den Propheten Jesus ist nicht nur die Ankündigung, sondern die Realisierung des universalen Heilshandelns Gottes. Jesu Offenbarung i s t das eschatologische Heilsgeschehen, das 'Werk', das Jesus aufgetragen ist und das er vollbringt (4,34) (30f). 

'Retter der Welt' (4,42) ist Jesus in der Universalität seines Heilswirkens (vgl. 3,17; 6,33; 12,47), die schon der Prolog vorzeichnet (1,1-5). Jesus rettet die Menschen indem er ihnen das Licht der Wahrheit Gottes bringt, das er in Person ist (1,4f.9). Das 'Kommen' dieses Lichts (1,9) vollendet sich in der Hingabe seines Lebens aus Liebe zu den Seinen (13,1ff); denn Gottes Wahrheit ist seine Liebe, deshalb kann über die Wahrheit nicht nur informiert werden, sie muss geschenkt werden – mit dem ganzen Leben (vgl. 3,14-21). Weil Jesus auf Leben und Tod mit der Rolle als jüdischer Prophet verwachsen ist, begründet er die Anbetung Gottes in Geist und Wahrheit, die der Gottesdienst aller wahren Gotteskinder ist. Als jüdischer Prophet ist Jesus der Retter der Welt; und Retter der Welt kann Jesus nur als jüdischer Prophet sein, als der Messias (7,40f) (31f).

 

c. Josephs Sohn aus Nazareth als Messias aus Davids Geschlecht

Die Messianität des Juden Jesus ist das zentrale Thema der Diskussion, die er nach Joh 7 – 8 beim Laubhüttenfest in Jerusalem führt. Johannes schildert, wie es im jüdischen Volk (7,15.20.25ff.31.35.40-42), aber auch im Hohen Rat (7,45-52) zu einer Spaltung kommt, bevor Jesus dann gegenüber den Pharisäern (8,12-20), den 'Juden' (8,21-29) und seinen potentiellen Anhängern (8,30-59) endgültige Klarheit schafft. Positive und negative Urteile über Jesus, hoffnungsvolles Fragen und entschiedene Ablehnung stehen einander gegenüber. Streitpunkt ist durchgehend der messianische Anspruch, den Jesus erhebt (32).

Was im Urteil vieler Juden für Jesus spricht, sind die Zeichen, die er tut (7,31) und die Worte, die er spricht (7,40; vgl. 7,26.46). Ebenso deutlich werden in Joh 7 auch die Argumente, die aus jüdischer Sicht gegen Jesu Messinität sprechen. Das Grundmotiv: Es ist die natürliche Abkunft, es ist sein geschichtliches Menschsein (vgl. 5,18; 10,33). Es ist auch sein gelebtes Judentum, das dem Anspruch Jesu zu widersprechen scheint, er sei der Prophet, der die Lehre Gottes selbst verbreitet (7,16) und der Messias, der Gesandte Gottes (7,28f), der das ewige Leben bringt (7,38f). Der innere Monolog 'einiger Jerusalemer', die rätseln, weshalb ihre Mächtigen Jesus nicht arretieren, gipfelt in dem Urteil: „Von diesem wissen wir, woher er ist. Der Christus aber – wenn er kommt, weiß niemand, woher er ist“ (7,27). „Kommt denn der Messias aus Galliläa? Hat die Schrift nicht gesagt: Der Messias kommt aus dem Geschlecht Davids und aus dem Dorf Bethlehem, wo David lebte“ (7,41bf)? (32f)

Die Unbekanntheit des bekannten Jesus: Joh 7,27 ist ein 'Dogma' biblischer Messianologie. Die Skeptiker unter seinem jüdischen Publikum wissen, wer Jesus ist: der Mann aus Nazareth. Das Wissen um seine geschichtliche Herkunft wird ihnen von Jesus bestätigt (7,28): „Ich bin nicht von mir selbst gekommen, sondern es ist wahrhaftig der, der mich gesandt hat, deihr nicht kennt“. Das Problem der Skeptiker besteht darin, dass sie glauben, die ihnen bekannte familiäre Abstammung Jesu spreche gegen seine Messianität (vgl. 6,42). Johannes zufolge gilt es gerade umgekehrt, den messianischen Gottessohn als den Juden Jesus zu erkennen, dessen Herkommen bekannt ist. Indem die Skeptiker mit ihren richtigen Bemerkungen zur Bekanntheit der Herkunft Jesu und zur Unbekanntheit der Herkunft des Messias den christlogischen Anspruch Jesu ablehnen, bestätigen sie ihn. Sie wissen, woher Jesus stammt; sie wissen, dass die Herkunft des Messias niemand kennt, weil er von Gott kommt. Aber sie wissen nicht, dass Jesus von Gott stammt und deshalb als ihr Bekannter der unbekannte Messias ist. Sie wissen es nicht, weil sie Jesus auf seine geschichtliche Herkunft festlegen und deshalb das Geheimnis seines Ursprungs in Gott nicht wahrhaben wollen. „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (1,26). Das 'mitten unter euch' signalisiert die Zugehörigkeit des Juden Jesus zum jüdischen Volk. Das 'ihr kennt nicht' signalisiert die Wahrheit seines Anspruchs, der verkannt wird, weil er alles sagt, was es von Gott zu sagen gibt (33f). 

Das Kommen des Davidssohns aus Nazareth: Jesus kommt aus Nazareth in Galiläa. Damit kommt er als Messias nicht in Betracht, denn der „Messias kommt aus dem Geschlecht Davids und aus dem Dorf Bethlehem, wo David lebte“ (7,41f; vgl Mi 5). Die „unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35) ist der Kernsatz john Bibel-Hermeneutik. Erstens: Der Messias kommt aus Bethlehem; er ist der Davidssohn (vgl. 2 Sam 7; 1 Sam 20,6; Ps 89,4f). Nazareth wird in der Schrift nicht erwähnt – also kann aus Nazareth, wie Nathanael denkt, nichts Gutes kommen (1,46). 

Zweitens: Jesus kommt aus Nazareth (1,46). Galiläa ist seine Heimat (4,44). Sein Vater ist Joseph (1,45; 6,42). Das ist ein historisches und ein theologisches Faktum. Johannes baut den Widerspruch auf, um ihn christlogisch auszuwerten. „Kein Prophet hat Ehre in seiner Vaterstadt“ (4,44). Indem Jesus als Nazarethaner wirkt, geht er den Weg des Leidens, den jeder wahre Prophet im sündigen Gottesvolk gehen muss (Neh 9,26), um Gott die größere Ehre zu geben und allein darin seine eigene Ehre zu finden. Gleichzeitig provoziert dieses Auftreten Jesu als Sohn des Joseph aus Nazareth in Galiläa die Frage, wer der wahre Vater Jesu ist. Dies geschieht, wie es dem john Krisismotiv entspricht, gerade durch die Aufdeckung und Überwindung des Widerspruchs gegen die konkrete Form des Offenbarungshandelns Gottes. In Jerusalem halten (unmittelbar im Anschluss an die Diskussion von Joh 7) kritische Pharisäer Jesus entgegen: „Wer ist dein Vater“ (8,19), um dadurch den Anspruch Jesu zu durchkreuzen, der wahre Zeuge Gottes zu sein. In Galiläa wird Jesus zuvor schon von den Menschen, denen er die Brote vermehrt hatte, mit der kritischen Rückfrage konfrontiert: „Ist das nicht Jesus der Sohn Josephs? Kennen wir nicht seinen Vater und seine Mutter“ (6,42), um seinen Anspruch, das wahre Lebensbrot zu sein, abzulehnen. Es gilt zu erkennen, dass der eingeborene Sohn Gottes als Sohn des Joseph und der Maria wahrhaft Mensch geworden ist (35f).

Daraus folgt: Die Ablehnung Jesu als Nazarethaner, die mit Berufung auf die Messiashoffnung der Schrift geschieht, weist ihn gerade als den wahren Propheten und den unbekannten Christus aus – und gibt den Blick frei auf die Passion. Der Prophet kann nicht aus Galiläa kommen – aber das gilt es gerade als Argument für die Messianität Jesu zu erkennen, weil er von Gott kommt und durch den Widerspruch der Menschen hindurch den Weg des Leidens bis ans Kreuz geht.

Sichtbar wird dies denen , die dem Berufungswort Jesu folgen: Wer kommt und sieht (1,39), kann die Wahrheit Jesu erkennen, weil er wahrnehmen kann, wo Jesus 'wohnt' – nämlich (bis seine Stunde des Hinübergangs zum Vater 13,1f gekommen ist) bei den 'Seinen' in Israel. Jesu geschichtliche Identität als Jude aus Nazareth i s t in der Logik der Inkarnation seine theologische Identität als Messias Gottes – wie es Philippus zur Sprache bringt, wenn er zu Nathanael sagt: „Den Mose im Gesetz und die Propheten beschrieben haben, den haben wir gefunden: Jesus, den Sohn des Joseph aus Nazareth“ (1,45). Der Gottessohn, der als Lamm Gottes die Sünde der Welt wegträgt (1,29,36), kann nur als „Sohn des Joseph aus Nazareth“ gefunden werden; denn dies ist die geschichtliche Rolle, die ihm um seiner Sendung willen in Fleisch und Blut übergegangen ist. Weil er den Menschen Gott offenbart, ist er dieser Mensch aus Fleisch und Blut geworden (1,4). Er wahrt sein messianisches Incognito, indem er als einfacher Jude lebt. Er schafft dadurch die Voraussetzung für die messianische Offenbarung, um die menschlichen Widersprüche gegen das Heilshandeln Gottes aufzudecken und sie an ihrer Wurzel zu überwinden: der Anerkennung der Ehre Gottes. Damit führt sein Weg in die Passion. Sein Tod am Kreuz ist die Vollendung seines Werkes (36). 

 

d. Der Gekreuzigte als König von Israel 

Die Sinnlinien des Judentums und der Messianität Jesu verknoten sich im Pilatus-Prozess. Schon in der ersten Verhörszene (18,33-38a) wird der Titel 'König der Juden' eingeführt, der zum Leitmotiv der gesamten Passionsgeschichte wird. 

Das Königtum Jesu knüpft zum einen an die atl und frühjüdischen Traditionen an, dass der Messias als neuer König aus dem Geschlecht Davids auftritt, um der Herrschaft Gottes zum Sieg zu verhelfen. Johannes hat in Joh 7 auf seine Weise bei seiner Schilderung des Einzugs Jesu in Jerusalem die Melodie auf den Grundton der sacharjanischen Friedenstheologie gestimmt (12,12-19; vgl Sach 9,9). Im Pilatus-Prozess nutzt er die Dissonanzen der Anklage, Verspottung und Verurteilung Jesu aus, um den leidenden Gerechten als den wahren König Israels zu präsentieren: „Seht den Menschen“ (19,5) – „Seht euren König“ (19,15). Der Vierte Evangelist nutzt das Königsmotiv, um die Passion Jesu als Vollendung seines Heilswerks darzustellen und dieses Heilswerk, die Offenbarung Gottes, auf die Leidesgeschichte des Menschen Jesus zurückzubeziehen, die in der john Logik des Prologs angelegt ist (36f). 

Zum anderen wirft das Königs-Motiv die Macht-Frage auf, die im Verhältnis zwischen Juden und Römern besonders sensibel ist nach der Niederschlagung des jüdischen Aufstandes. Angst um seine Macht wird Pilatus schließlich zur Verurteilung führen (19,12-16a). Umgekehrt nimmt Jesus für sich in Anspruch, gerade dadurch „König“ zu sein, dass er von der Wahrheit Zeugnis ablegt (18,35); er verhilft der Herrschaft Gottes zum Sieg, indem er bis in den Tod hinein die Wahrheit sagt, damit aber die Autorität der Wahrheit zum Zuge kommen lässt, die in der Offenbarung des Vaters liegt (37). 

Das Judentum Jesu: Das Judesein Jesu gewinnt im Pilatus-Prozess von zwei Seiten aus seine Konturen. Auf der einen Seite wird Jesus als Jude im Gegenüber zum Römer Pilatus porträtiert. Pilatus repräsentiert als Richter den Kaiser; damit repräsentiert er auf seine Weise den Kosmos, der Jesus den Prozess macht, während in Wahrheit Jesus dem Kosmos den Prozess macht. Im Gegenüber zu Pilatus repräsentiert Jesus das leidende, verfolgte, unterworfene Judentum, das von einer Hoffnung und einem Glaubenswissen lebt, dessen Kraft stärker ist als die des römischen Staates, weil sie die Kraft Gottes ist (37). 

Auf der anderen Seite wird Jesus als Jude auch im Gegenüber zu den Juden porträtiert, die ihn anklagen und Pilatus schließlich zum Todesurteil bewegen. Die treibenden Kräfte sind die „Hohenpriester und ihre Diener“ (19,6; vgl 18,28f; 19,15). Anstößig ist, dass sie an zahlreichen Stellen als 'die Juden' erscheinen (18,31.38b, 19,7.12.14). Das geschieht nicht, um pauschal 'die Juden' der Zeit Jesu oder gar aller Generationen zu denunzieren, sondern um zu betonen, dass der Jude Jesus von Mitgliedern seines eigenen Volkes ausgeliefert worden ist, die glauben, als die berufenen Repräsentanten Israels zu handeln und Gott einen Dienst zu erweisen (vgl 16,2). Im Gegenüber zu den Hohenpriestern repräsentiert Jesus den leidenden Gerechten als den wahren Juden, dessen Leiden zu einem Zeugnis für die Wahrheit wird, der Gott selbst Geltung verschaffen wird, um alle Glaubenden zu retten (38). 

 

e. Auswertung

Erstens: Das Judentum Jesu, das Johannes in seinem Ev imaginiert, ist ein 'orthodoxes' Judentum, das seine Identität aus seinem Wissen um die Einzigkeit Gottes, aus seiner Abrahamskindschaft, aus dem Exodus, aus der Gesetzgebung, aus der Jüngerschaft des Mose, vor allem aus der Heiligen Schrift und auch aus dem Tempel in Jerusalem zieht. Es ist ein Judentum, dessen Herz an der Synagoge und am Tempel hängt, das vor allem von der Prophetie lebt und von der Hoffnung auf den Messias, der als König aus Davids Geschlecht erwartet wird und am deutlichsten im Bild des sacharjanischen Friedensfürsten aufleuchtet (Sach 9,9). Es ist ein Judentum, das von Gott her im Zeichen der Messias-Erwartung den Gegensatz zu den Samaritanern überwindet, ohne ihn zu leugnen (4,31-38) und sich den Griechen öffnet, ohne seine jüdische Identität preiszugeben (12,20-26). Es ist das Judentum derer, die ihren Bruder Jesus als den Sohn Gottes erkannt haben. 

Zweitens: Die Dialektik zwischen der Verwurzelung Jesu in Israel und seiner Heilsbedeutung für die ganze Welt ist ein Grundzug ntl Theologie. Er ist im Grundgeschehen des Todes Jesu von Nazareth 'für die Vielen' angelegt, der durch seine Auferweckung zu eschatologischer Gültigkeit gelangt. Die Herausstellung des Judeseins Jesu ist angewandte Inkarnationschristologie. Dass Jesus Jude ist, erweist sich als essentieller Ausdruck seines Menschseins, an dem nach Johannes die eschatologische Heilsbedeutung Jesu hängt (39f). 

Der Prolog liefert den Schlüssel: Die Erschaffung der Welt, die Gott durch den Logos vornimmt (1,3.10), ist von vornherein auf das ewige Leben angelegt. Deshalb leuchtet durch den Logos das Licht Gottes in der Dunkelheit. Die Reaktion der Menschen aber ist es, die Finsternis mehr zu lieben als das Licht (vgl 3,19). Die Reaktion Gottes darauf ist nicht die Zurückstoßung der Welt in den Tod, sondern das Kommen des Logos, seines eingeborenen Sohnes, als Messias zu den Seinen, d.h. zum Volk Israel (1,10f). Denn Israel ist das Eigentumsvolk Gottes, die Gemeinschaft der Abrahamskinder (8,37). Israel ist die Schrift und durch Mose das Gesetz geschenkt. Israel ist das Volk des Messias aus dem Geschlecht Davids (7,41) (39f). 

Das Heil kommt von den Juden“ (4,22) erweist sich als Kernsatz john Soteriologie. Joh 4,22 verweist nicht nur auf das Judesein Jesu, sondern ordnet es auch in die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel ein, die von Anfang an (1,1-18) durch das Gericht hindurch als Hoffnungsgeschichte für die ganze Welt angelegt ist. Die Betonung des Judeseins Jesu resultiert aus der john Einsicht in die Einzigkeit, die Größe und Herrlichkeit Gottes, in seinen Heilswillen und in die Treue Gottes zu seinen Verheißungen. Weil die john Christologie so hoch ansetzt, betont sie das Judesein Jesu als Ausdruck des geschichtlichen Menschseins (40f). 

Drittens: Das john Potrait Jesu als des Jude gewordenen Gottessohnes zeigt, dass die scharfe und pauschale Kritik an den Juden, die den Glauben an Jesus verweigern, im Sinn des Evangelisten nicht antijüdisch, sondern projüdisch zu deuten ist. Sie ist nicht einfach die Reaktion auf eine Unterdrückung der john Gemeinde durch eine jüdische Majorität in ihrer Umwelt. Dann bliebe die Rede von 'den Juden' Ressentiment, sie wäre theologisch obsolet. Sie gehört aber in das john Krisis-Motiv: dass Jesu Kommen gerade bei den 'Seinen' alle menschlichen Widerstände gegen Gott aufdeckt – zu dem einzigen Zweck, das „Leben in Fülle“ zu bringen. Die Polemik gegen 'die Juden' spiegelt die Zugehörigkeit Jesu zu seinem Volk und den darin begründeten Einsatz seines Lebens zur Rettung aller Menschen. Sie erweist sich als Streit um das wahre Judentum, den Johannes im Interesse Jesu, im Interesse der Juden, im Interesse der Samaritaner und der Griechen nicht verloren gibt. 

Das JohEv antwortet auf die Frage des Nathanael („Was kann aus Nazareth schon Gottes kommen“): Der König von Israel, der Davidssohn, als Retter der Welt, der Jude Jesus als der menschgewordene Gottessohn, der allen Gotteskindern die Wiedergeburt zum ewigen Leben schenkt (1,12f; 3,3ff) (41).