(5) 2Kor 12,9b-10 „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark


Die Interpretation des Leidens als eine Vergegenwärtigung Christi im Apostolat


2Kor 12,9b: „Darum will ich mich am liebsten meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi bei mir wohne. (10) Darum bin ich guten Mutes in Schwachheiten, in Misshandlungen, in Notlagen, in Verfolgungen und Bedrängnissen, um Christi willen, denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“.

Y.S. Choi

a. Der Kontext von 2Kor 12,1-10
b. Die erste Offenbarungserfahrung: Entrückungsgeschichte 2Kor 12,2-4
c. Die zweite Offenbarungserfahrung: Krankheitsgebet mit Herrenwort (2Kor 12,7b-9a)
d. Einzelauslegung des Peristasenkatalogs 2Kor 12,9b-10
e. Peristasen als autobiographischer Ursprung christologisch orientierter Theologie des Paulus
f. Fazit


a. Der Kontext von 2Kor 12,1-10

Der Peristasenkatalog 12,9b-10 steht innerhalb der Perikope 2Kor 12,1-10, die mit dem Herrenwort (9a: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“) das wichtigste Argument gegen den Schwachheitsvorwurf (10,10) der Gegner liefert. Mit dem Hinweis auf seine Wundergeschichte demonstriert Paulus seine Überlegenheit als Diener Christi gegenüber den Superaposteln. Er betont damit seinen Selbsruhm, um aber sofort auf seine Schwachheiten zurückzukommen. Zwischen zwei Peristasenkatalogen berichtet Paulus zwei Episoden: Zum einen die Damaskusepisode (11,31-33) und zum anderen zwei Offenbarungserlebnisse (Entrückungsgeschichte und Krankheitsgebet mit Herrenwort) (12,1-10). Die Damaskusepisode (11,31-33) und die Erzählung der Krankheit (12,7f) passen gut in den Zusammenhang der beiden Peristasenkataloge 11,21b-30 und 12,10a. Beide Episoden dienen als Beweise für das Sich-der-Schwachheit-Rühmen des Paulus gegenüber seinen Gegnern. Zum einen braucht Paulus die Damaskusepisode als Beispiel für das Schwachsein des Apostels, zum anderen dient die Entrückungsgeschichte als Erweis der Wirkung der Kraft des Herrn. Damit bereitet Paulus die paradoxe These 'Kraft in Schwachheit' in 12,10 vor. 12,1: „Gerühmt muss werden, wenn es auch nichts nützt, so will ich doch zu den Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn kommen“ (225f).

b. Die erste Offenbarungserfahrung: Entrückungsgeschichte 2Kor 12,2-4: Paulus berichtet der korinthischen Gemeinde von zwei ganz unterschiedlichen Offenbarungen. Die beiden antithetischen Konstellationen des apostelischen Rühmens entfalten einerseits die Überfülle der Offenbarungen, die die apokalyptische Entrückung kennzeichnen, andererseits dagegen die apostolischen Schwachheiten, den 'Dorn im Fleisch' und die Leiden (V.10). Abschließend bestimmt der Apostel seine Schwachheiten als seine Dynamis (V.10b). Darin besteht der Grund, dass er sich seiner Schwachheit rühmen kann (V.9b). Als einer, der nach 11,30 sich seiner Schwachheiten rühmen will, rühmt er sich seiner Offenbarungen unter dem Zwang seiner Gegner. Paulus gibt Beispiele für das Thema Sich-der-Schwachheit-Rühmen, die in den beiden Peristasenkatalogen 11,21b-30 und 12,9b-10 berichtet werden. Die Entrückungsgeschichte erweist die im Apostel wirksame Kraft Gottes, die Krankheit in Vv 7b-9a dient dazu, die Schwachheit des Apostels zu charakterisieren. Beide Offenbarungen werden durch das Herrenwort „meine Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung“ (V.9a) erklärt. Dem Wunder der Entrückung des Apostels korrespondiert das Bleiben in der Krankheit - der Dorn im Fleisch -, damit er sich nicht überhebe (7b). Das Sich-Rühmen der Offenbarungen nützt zwar nichts, aber er wird darin als Diener Christi gegenüber den Überaposteln (12,11) erwiesen. Paulus führt diese Offenbarungserfahrungen als Beweis seiner Christusbeziehung und als Beispiel für seine Überlegenheit als Diener Christi ein, was er in V.7a mit der Rede vom Übermaß der Offenbarungen auf den Begriff bringt. Paulus bezieht sie auf den Ausgangsvorwurf in 10,10, wonach „seine Briefe stark, seine Anwesenheit aber schwach und seine Rede verachtenswert“ seien. Paulus sieht seine Christuszugehörigkeit in der Teilhabe an der Kraft Christi begründet. Der Argumentationsgang zeigt die kreuzestheologische Perspektive des Sich-der-Schwachheit-Rühmens. Es handelt sich um wirklichen Ruhm im Sinne des Herrn (11,17f) (229f).

c. Die zweite Offenbarungserfahrung: Krankheitsgebet mit Herrenwort (2Kor 12,7b-9a): Die Entrückungsgeschichte dient zum Rühmen der Offenbarung, die Erzählung vom 'Dorn im Fleisch' zum Rühmen der Schwachheit des Paulus. Der Herr heilt Paulus nicht und das Bittgebet des Paulus bleibt unerhört. Aber stattdessen erfährt Paulus das Herrenwort bei seinem schweren Leiden und interpretiert dieses als Überfülle der Offenbarung bzw. als Vollendung der Kraft in seinen Schwachheiten. Die Erfahrung vom 'Dorn im Fleisch' entspricht den Schwachheiten des Apostels als Diener Christi im vorherigen Peristasenkatalog. Beide Erfahrungen, Entrückungsgeschichte und 'Dorn im Fleisch' bestimmen seine Verbundenheit mit Christus. In beiden Fällen spielt Paulus nur die Rolle des von Gottes Handeln Betroffenen. Die beiden Erfahrungen dienen als Einwand gegen den Schwachheitsvorwurf (10,10), sie legitimieren die Schwachheit des Paulus. Das Herrenwort ist das wichtigste Argument in der Apologie des Paulus in den Kp. 10-13. Der Ruhm aus der ersten Offenbarung wird durch die zweite Offenbarung entscheidend verändert und kontradiktorisch interpretiert. Paulus wird auf seine Schwachheit verwiesen, dadurch rühmt er sich nicht mehr seiner Offenbarungen, sondern seiner Schwachheiten und der Nöte, die seine apostolische Existenz begleiten und charakterisieren (232f).

d. Einzelauslegung des Peristasenkatalogs 2Kor 12,9b-10: In den Schlussfolgerungen in 12,9b-10 formuliert Paulus das Resultat aus der gesamten Narrenrede (11,1-12,13), die von 11,21b an seine Überlegenheit als Diener Christi beweisen soll. Sinn und Zweck des Sich-der-Schwachheit-Rühmens ist: „Damit die Kraft Christi bei mir wohne“ (V.9b). Mit dem zentralen Begriff Schwachheit umschreibt der Katalog in 12,10a fünf Lebensumstände als Peristasen: Schwachheiten, Misshandlungen, Nöte, Verfolgungen und Bedrängnisse. Diese Aufzählung betont das Wirksamwerden der Kraft Christi. Der Peristasenkatalog 11,21b-30 behandelt zahlreiche autobiographische Einzelheiten und bezieht das zum Vorwurf gemachte schwache Auftreten (10,10) auf die gesamte Existenz des Apostels. Die Aufzählung in 12,10a stellt die Leiden als Diener Christi (vgl. 11,23) in den Zusammenhang mit den Aussagen vom 'Dorn im Fleisch' und dem Herrenwort (233f).

Das Wohnen der Kraft bei Paulus (12,9b): „Darum will ich mich am liebsten meiner Schwachheiten rühmen, damit die Kraft Christi bei mir wohne“. Die zu der Wortfamilie 'Zelt' gehörenden Wörter weisen bei Paulus auf ein atl Vorstellungsmodell hin: Das Zelt ist der Ort der sichtbaren Gegenwart Gottes auf Erden, der Ort seiner Epiphanie. Paulus wählt das Verb in Erinnerung an den jüdischen Terminus 'Schechina', der die Zusage göttlichen Wohnens inmitten der Israeliten und im Tempel enthält. Die Vorstellung von der Gottesgegenwart gemäß der jüdischen Schechina-Idee liegt auch in 2Kor 6,61; Lk 17,20ff; Röm 8,9-11; Offb 21,3 und Jh 1,14 im Logoshymnus vor. In diesem Sinn scheint Paulus hier von der Gegenwart der Kraft Christi in seinem Leben zu sprechen. In dem Finalsatz kommen somit Wohnen und Wirksamkeit der Kraft Christi zusammen. Das Sich-der-Schwachheit-Rühmen hat in der Zusage der Entfaltung der Kraft Christi Grund und Ziel (234f).

Die Paradoxie: Kraft in Schwachheit (2Kor 12,9-10): „Die Kraft vollendet sich in (der) Schwachheit“ (12,9a). Die Schwachheit ist an Paulus, die Kraft ist an Christus geknüpft. In 12,10b hat Paulus die Dialektik des Herrenwortes auf sich selbst bezogen. Damit ist aus der allgemeinen theologischen Aussage von 12,9a ein persönliches Bekenntnis geworden. Die Vollendung von Kraft in Schwachheit wird auf die konkrete Situation des Paulus angewendet. Das Schwachsein des Paulus wird als Starksein qualifiziert (236).

In 12,7 im Zusammenhang mit seiner Krankheit hat Paulus die Leiden als leibliche, körperliche Schwäche beschrieben. Die Schwachheit des Paulus umfasst die Peristasen, die er in der Realität erleidet. Zudem hat die Schwachheit des Paulus viel mit der Tatsache als Handarbeiter zu tun, um selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Zum anderen zeigt der Ausgang beim Schwachheitsvorwurf in 10,10 („seine Briefe seien gewichtig und kräftig, sein persönliches Auftreten schwach und seine Rede verächtlich“), dass der entsprechende Vorwurf der Gegner in 2Kor 10-13 sich nicht nur auf körperliche Schwachheiten aufgrund von Krankheiten (12,7) beziehen kann. Schwachheit umfasst deshalb seine alltägliche Existenz für die Gemeinde, wie besonders der Peristasenkatalog 11,21b-30 demonstriert. Der Ort der Schwachheit des Paulus bezeichnet die menschlich-irdische Existenz als schwach und vergänglich. Die Schwäche besteht in Nöten und Bedrängnissesn äußerer und innerer Art, die Paulus in seinen Lebensumständen ständig widerfahren. Die Schwachheit gilt nicht mehr als Mangel an Vollmacht und sie wird nicht mehr nur als Ende und Grenze menschlicher Kraft erfahren, sondern zur Verheißungsträgerin aufgewertet und als Ansatzpunkt für das Wirksamwerden der Kraft Christi erkannt. Die Schwachheit ist das Wirkungsfeld, das die Kraft Christi offenbart und bewirkt (237f).

Ausgangspunkt des Begriffs 'Kraft Christi' ist das Herrenwort (2Kor 12,9a). In 1Kor 1,24 ist Christus die Kraft Gottes. Dieser Christus ist der Gekreuzigte und Auferstandene. Die Kraft Christi ist Auferstehungskraft. So betont Paulus die Auferstehung Christi und bringt zum Ausdruck, was das Herrenwort in seinem Leben bewirkt. Um in Christus einbezogen zu werden, spricht er auch im Herrenwort von Christus und nicht von Gott. Insbesondere die Peristasenkataloge sind immer wieder auf Christus bezogen. In diesem Sinn sind die Peristasenkataloge Ausdruck der Christuszugehörigkeit. Paulus unterstreicht die Zugehörigkeit zu Christus, das Sein in Christus. Der Gedanke der Christuszugehörigkeit begegnet auch in 1Kor 4 und 2Kor 10-13. Er ist für Paulus zentral (238f).

Die iterative Gleichzeitigkeit von Schwachheit und Kraft: Die Schwachheit ist nicht die Vorbedingung für die Kraft selbst, sondern nur das bessere Sichtbarwerden der Kraft. Das Leiden wird von Paulus weder beschönigt noch beklagt und auch nicht für irrelevant erklärt, sondern als die Gelegenheit ergriffen, in der die Kraft Christi durch die Schwachheit seiner Diener zur Wirkung kommt: „Immer/jedesmal wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“, d.h. für Paulus ist in jeder seiner Schwachheiten die Christuskraft gegenwärtig. Die in 12,12 erwähnte Wundertätigkeit wird völlig unabhängig von der menschlichen Schwachheit durch das passivum divinum auf die göttliche Kraft zurückgeführt. Dass der Satz in V.9b nicht konditional verstanden werden darf, sondern ein Finalsatz ist („damit die Kraft Christi bei mir wohne“) wird mit dem 'dann' als immer wieder eintretende Folge unterstrichen. Dieser Finalsatz unterscheidet und verbindet das Sich-der-Schwachheit-Rühmen und die Erfahrung der Gegenwart der Kraft Christi. Das Sich-der-Schwachheit-Rühmen ist das Mittel und die Wirksamkeit der Kraft Christi das Ziel (240f).

Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“: Das Herrenwort wird auf die Existenz des Paulus angewendet. Dieser Gegensatz (schwach/stark) wird durch den unterschiedlichen Ursprung von Schwachheit und Kraft geschildert. Das Starksein des Paulus in V.10b. hat im Unterschied zur Schwachheit keinen menschlichen Ursprung, sondern verdankt sich der Kraft Christi (V.9): „Wenn ich (aus meiner menschlichen Kraftlosigkeit) schwach bin, dann bin ich stark (aus der göttlichen Kraft Christi, die in mir wirksam ist)“. (Die paradoxe Formulierung in 2Kor 4,7-15: Menschen haben grundsätzlich den göttlichen Gnadenschatz nur in irdenen Gefäßen, weil damit das Übermaß der Kraft von Gott kommt und nicht von ihnen selbst 4,7a;  vgl. 3,2;  12,9). Die menschliche Schwachheit ist der Ort, an dem sich Christi Herrlichkeit offenbart, „wo sie allein sichtbar und wirksam ist“. Das gilt in besonderer Weise für den zum Diener Christi empfohlenen Apostel (10,17;  11,23). Die Schlußsentenz in 12,10b bezieht sich im Kontext der Kp. 10-13 auf die paulinische Autorität als Apostel, da er sich mit der Narrenrede (11,1-12,13) gegen den Vorwurf des Widerspruchs zwischen seinen kraftvollen Briefen und seinem schwachen persönlichen Auftreten (10,10) verteidigt. Paulus zeigt gegen den Vorwurf der Schwachheit den Korinthern mit dem Paradoxon in 12,10b: Sein Missionserfolg beruht nicht auf seiner eigenen Kraft, sondern nur auf der Kraft Christi. Im Missionserfolg des schwachen Apostels bringt der Herr seine Kraft zur Entfaltung und Vollendung (12,9). Seine Schwachheit empfiehlt ihn als bewährten Apostel (10,18) und legitimiert den Apostel als Diener Christi (11,23) (241f).

e. Peristasen als autobiographischer Ursprung christologisch orientierter Theologie des Paulus: Im Kontext von 12,1-10 geht es um einen biographischen Ich-Text, der von einer kurzen autobiographischen narratio mit zwei Episoden geprägt ist. Paulus spricht als Ich-Erzähler über sich selbst wie über eine dritte Person. Auch im Peristasenkatalog 11,21b-30 werden im Ich-Stil zahlreiche autobiographische Einzelheiten von Leidenserlebnissen aufgezählt. Den Peristasenkatalog 11,21b-30 schreibt Paulus als leidendes Ich, während die Perikope 12,1-10 vom begnadeten Ich handelt (242f).

In der Perikope 12,1-10 verbindet Paulus mit der autobiographischen narratio das Thema 'Rühmen' und berichtet der korinthischen Gemeinde von zwei unterschiedlichen Offenbarungserlebnissen. In der ersten Offenbarung geht es um eine Entrückungsgeschichte. In der zweiten Offenbarung spricht Paulus von einem dreimaligen Gebet, in dem er um Heilung von der von ihm als 'Dorn im Fleisch' dargestellten schweren Krankheit bittet. Paulus führt das Herrenwort als Antwort auf sein Gebet ein und entnimmt diesem Herrenwort eine Interpretation seines Lebens im Leiden. Der Selbstruhm, den er aus der ersten Offenbarung empfängt, wird durch die zweite Offenbarung umgedeutet und kontradiktorisch interpretiert. Die Offenbarungen dienen der Entfaltung des gemeinsamen Themas Sich-der-Schwachheit-Rühmen, das die zwei Peristasenkataloge von Kp. 11 und 12 verbindet. Die erste Offenbarungsepisode dient als Beispiel für die Wirksamkeit der Kraft Christi, die Paulus zum Selbstlob dient. Die zweite Offenbarungsepisode zeigt beispielhaft, wie seine schwache Existenz zum Wirkungsfeld der Kraft Christi wird. Indem Paulus durch den Herrn selbst endgültig auf sein Schwachsein verwiesen wird, rühmt er sich nun seiner Schwächen, Bedrängnisse und Nöte, die seine apostolische Existenz begleiten und charakterisieren. Die Erfahrung mit Gott formuliert Paulus als apokalyptische Entrückung, die Erfahrung mit dem Herrn wird als dessen Antwort auf sein Bittgebet vorgestellt. So wird menschliche Lebenserfahrung transparent für Gottes Handeln. Diese individuelle Erfahrung mit Gott und die Erfahrung mit dem Herrn erhalten theologische Qualität. Aus seiner autobiographischen Erfahrung entwickelt sich seine christologisch orientierte Theologie (243f).

f. Fazit: Paulus ist genötigt, sich der Offenbarung zu rühmen (vgl. 12,1.11), um nicht hinter den Überaposteln zurückzustehen. Wahrer Ruhm bedeutet jedoch sich der Schwachheit zu rühmen, denn Jesus Christus ist in Schwachheit gekreuzigt worden. Für Paulus bedeutet das Sich-der-Schwachheit-Rühmen Zugehörigkeit zu Christus und 'Sein in Christus'. Durch die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn gibt Paulus Beispiele für das Thema Sich-der-Schwachheit-Rühmen, die in beiden Peristasenkatalogen 11,21-30 und 21,9b-10 berichtet werden. Die Entrückungsgeschichte erweist die im Apostel wirksame Kraft Gottes, die Krankheitsgeschichte dient dazu, die Schwachheit des Apostels zu charakterisieren. Beide Offenbarungen werden durch das Herrenwort „meine Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung“ erklärt (V.5b und 9b).

Paulus führt in 11,21b-12,10 aus, worin er seine Überlegenheit als Diener Christi sieht: Die Fülle seiner Schwachheiten wird zum Gegenstand seines Sich-Rühmens. Mit der Wendung Sich-der-Schwachheit-Rühmen in 11,30 und 12,5.9b wird Schwachheit zum Erweis seiner apostolischen Existenz als Diener Christi. Schwachheit verbindet mit dem gekreuzigten Christus, Kraft ist Auferstehungskraft. Dass Paulus die Schwachheit seiner Person und die Kraft allein Christus zuschreibt, ist charakteristisch für das Verständnis seiner apostolischen Autorität. Wenn Paulus aus seiner menschlichen Kraftlosigkeit schwach ist, dann ist er stark aus der göttlichen Kraft Christi. Dieser Hinweis auf das Christusgeschehen in 2Kor 13,3f ist theologische Grundlage der Kp. 10-13 und des Herrenwortes in 12,9a (244f).

Dann aber steht seine Schwachheit nicht mehr im Widerspruch zu seiner Christuszugehörigkeit und zu seiner Vollmacht (10,7b-10), sondern empfiehlt ihn als bewährten Apostel (10,18), bestätigt und legitimiert ihn als Diener Christi (11,23a). Gerade im Missionserfolg seines schwachen Apostels bringt der Herr seine Kraft zur Entfaltung. Wundertaten (12,12) veranlassten die Gegner zum Vorwurf der Schwachheit, Paulus aber lehnt Selbstruhm und Wundertaten ab. Stattdessen sind für ihn die Verkündigung des gekreuzigten Christus und die Erkenntnis der Kraft seiner Auferstehung der entscheidende Beweis des Geistes und der Kraft (vgl. 1Kor 2,4f). Der Gekreuzigte dient Paulus als Identifikationsmuster für sein Verhalten in den persönlichen Peristasen seines Lebens: Die Leidenssituation des Paulus wird christologisch neu interpretiert. Dies ist vergleichbar der Aussage vom Offenbarwerden des Lebens Jesu im Peristasenkatalog 2Kor 4,10f, wobei diese Kraft in der gegenwärtigen Schwachheit des Paulus voll zur Wirkung kommt. Die Schwachheit macht zum Verheißungsträger und zum Wirkungsfeld der göttlichen Kraft Christi (vgl. 2Kor 4,7). So beweisen die in 12,10a aufgezählten Peristasen, die an den Katalog in 11,21b-30 erinnern, seine apostolische Existenz als Diener Christi (245).


(6) 2Kor 10-13: Der schwache Apostel und die Kraft der Rede
Paulus ist dem Vorwurf der Amtsanmaßung ausgesetzt


H.-G. Sundermann: Paulus lässt sich auf die Situation der Korinther ein; er übernimmt nicht nur die Rolle des Angeklagten, sondern lässt sich darüber hinaus – wenn auch nur als Narr – auf den Vergleich mit seinen Gegnern ein. Paulus ist bereit, den Korinthern mit einer Argumentation zu begegnen. Über die Rede möchte er ihre Zustimmung erreichen und ihre Überzeugungen und Einstellungen verändern. Paulus wirbt um das Einverständnis der Korinther. Er spielt die Rolle des Angeklagten, vergleicht sich mit seinen Gegnern und lässt sich auf deren Maßstäbe ein. (1Kor 9,19ff: Paulus ist „den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche, den Schwachen ein Schwacher. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette“) (265f).

Paulus fordert die Gemeinde auf, den Tatsachen ins Auge zu sehen (10,7) und kündigt eine Offenlegung seiner Verhältnisse an (11,6). Er verlangt, die Ansprüche seiner Gegner genauso zu untersuchen wie die seiner eigenen Person (11,12). Er verzichtet in seiner Argumentation auf das Heranziehen unüberprüfbarer Phänomene (12,6). Paulus ist von einer religiösen Sondersprache ebensoweit entfernt wie von der Rhetorik des Befehls. Paulus verlangt kein sacrificium intellectus. Der Apostel apelliert an die Vernunft der Adressaten, er kämpft um ihre Zustimmung und gibt ihnen Gelegenheit, ein verstehendes Ja zu sagen. (Indem Paulus alles auf die Antwort der Adressaten stellt, gewährt er ihnen Freiheit. Indem er ihnen Freiheit gewährt, unterwirft er sich der Freiheit seines Herrn). Paulus versteht sich als Apostel der Schwachheit. Da, wo seine Gegner mit 'Zeichen, Wundern und Krafterweisen' renomieren (12,12), verweist er auf die Schwachheit als einzigen Offenbarungsort der Kraft Christi (2Kor 11,30;  12,5.9f: „wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“) (266f).

Die in der Schwachheit zur Vollendung kommende Kraft Christi (12,9a) zeigt sich in der Bereitschaft zur Argumentation. Die der Schwachheit Christi entsprechende Schwachheit des Paulus (2Kor 13,4) findet in der sich dem Urteil der Zuhörer ausliefernden Argumentation ihren Ausdruck. (Das schwache Wort hält dazu an, den Angeredeten mit nichts anderem als mit der Kraft des Arguments zu bewegen). Im Gegensatz zur Machtposition, die seine Gegner zur Geltung bringen, setzt der schwache Apostel auf die Kraft der Rede. Diese zielt auf Zustimmung. Sie zeigt sich der 'Sprache der Liebe' verpflichtet, die adäquater Ausdruck der Sache des Evangeliums ist (267f).


L. Aejmelaeus geht davon aus, dass 2Kor 10 - 13 den in 2,4 genannten ’Tränenbrief’ bildet und dass 2Kor 1 - 9 (ohne 6,14 - 7,1) erst später als Versöhnungsbrief geschrieben wurde (19).


Der Tränenbrief ist in Ephesus im Sommer 54 (?) geschrieben und Titus hat ihn nach Korinth gebracht. Kurz vor dem Schreiben hatte Paulus zum zweiten Mal (das erste Mal war der Gründungsbesuch) die Gemeinde in Korinth besucht. Das war ein kurzer und trauriger Zwischenbesuch. Paulus ist schlecht behandelt worden, und er hat sich nicht behaupten können. Die eigentliche Ursache des Konfliktes zwischen Paulus und der Gemeinde sind die neuen christlichen Apostel (die Gegner), die nach dem Schreiben des 1Kor in die Gemeinde gekommen sind. Diese Männer haben die Autorität des Paulus untergraben, so dass die Korinther ihren alten Apostel zu kritisieren begannen. Die Gegner waren schon in der Gemeinde, als Paulus während des Zwischenbesuchs an seinen Gemeindegliedern scheiterte (396f).

Drei Argumentationsmodelle und die Disposition desVierkapitelbriefs

Paulus versucht zu bewirken, dass die Korinther ihre falschen Auffassungen von echter christlicher Kraft und Schwachheit verändern. Außerdem versucht er, sich so effektiv wie möglich gegen die gegen ihn gerichtete Kritik zu verteidigen. Nebenbei ist eine heftige Polemik gegen die neuen Eindringlinge zu bemerken (395).

a. Die Argumentation mit der zukünftigen Kraftdemonstration

Wenn Paulus das nächste Mal in die Gemeinde kommt, sollen die Korinther einen sicheren Beweis seiner Kraft bekommen. Das wird alle Diskussion über seine vermeintliche Schwachheit beenden (395f).

b. Die Argumentation mit den schon vorhandenen Beweisen von Kraft

Die Existenz der Kraft wird darin sichtbar, dass Menschen gläubig werden, Gemeinden entstehen und die Herrschaft des Christus sich weiter verbreitet.

c. Die Schwachheit des Paulus ist Kraft

Paulus gibt zu, dass er aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet so schwach gewesen sei, wie man ihn in der Gemeinde bewertet habe. Diese Schwachheit müsse jedoch ihrer Natur nach für positiv gehalten werden, denn dadurch sei die Gemeinde gesegnet und geistlich bereichert worden. Mit Hilfe dieser Schwachheit sei die positive Kraft Gottes imstande gewesen, unter den Menschen effektiv zu wirken (396).

Die Disposition des Tränenbriefs unter dem Gesichtspunkt dieser drei Argumentationsmodelle stellt sich so dar, dass Paulus in zwei aufeinander folgenden Runden die dreifache Argumentation zum Vorschein bringt.

Anfang des Briefes (nicht mehr vorhanden)


Die erste Runde 10,1 - 12,10


a. 10,1-6: Die Argumentation mit der zukünftigen Kraftdemonstration


b. 10,7 - 11,15: Die Argumentation mit den schon vorhandenen Beweisen von Kraft


c. 11,16 - 12,10: Die Schwachheit des Paulus ist Kraft


a. 10,1-6: Die Schwachheit des Paulus wird zur Kraft 

Die neuen Apostel behaupten, dass Paulus ‚nach dem Fleische wandelt‘, dass er von seinem Wesen her „fleischlich“ sei, dass er nicht wirklich Gott gehöre. Darum kann er nach ihrer Auffassung auch kein echter Apostel sein. Das Agieren der neuen Apostel gegen Paulus hat zur Folge gehabt, dass die Gemeindeglieder ihren Apostel zu kritisieren begannen. Der in der Gemeinde anwesende Paulus war nach der Meinung der Korinther „schwach“, „unterwürfig“, der abwesende Brief-Paulus dagegen mutig (10,1). Zur indirekten Verteidigung des Paulus gehört die Art und Weise, wie er auf die „Sanftmut und Milde Christi“ hinweist. Dadurch zeigt er, dass seine getadelte ‚Unterwürfigkeit‘ näher betrachtet nichts anderes als Nachfolge des Lebenswandels des demütigen Christus ist. Was die Anschuldigung der ‚Fleischlichkeit‘ betrifft, weist Paulus durch die Wendung „im Fleisch, aber nicht nach dem Fleisch“ (10,3) darauf hin, dass die Gegner eine falsche Auffassung von der zeitlichen Existenz der Christen haben. Paulus will die Gemeinde warnen, ihn durch ihr Verhalten zum Kampf herauszufordern. Wenn die Korinther das, was Paulus hier sagt, richtig verstehen, werden sie ihre Einstellung so ändern, dass Paulus nicht ‚mutig‘ gegen sie aufzutreten braucht. Auch Paulus kann stark sein, aber das würde ihnen nichts Gutes bringen. Er verspricht mit höchst wirksamer göttlicher Kraft in die Gemeinde zu kommen. Wenn er den ‚heiligen Krieg‘ einmal begonnen hat, wird er ihn auch konsequent bis zur Bestrafung der Besiegten führen. Ob er wie ein strenger Krieger in die Gemeinde kommt, hängt von den Gemeindegliedern selbst ab. Gegen die in die Gemeinde eingedrungenen neuen Apostel wird Paulus in jedem Fall kämpfen und sie aus der Gemeinde vertreiben (76f).


b. 10,7 - 11,15: Paulus ist bereits im Besitz von Kraft

Kraft zum Aufbauen, nicht zum Zerstören (10,7-11)

Nach der gegen Paulus vorgebrachten Kritik (10,10) herrscht zwischen der Selbstdarstellung des Brief-Paulus und dem anwesenden Paulus in den Augen der Gemeindeglieder eine große Diskrepanz. Paulus betont, dass er eine von Gott erhaltene „Vollmacht“ (10,8) besitze. Diese ist ihm zum „Aufbauen“ der Gemeinde, nicht zum „Zerstören“ verliehen worden. Mit einer krafterfüllten Demonstration seiner geistlichen Autorität wäre Paulus gezwungen gewesen, die auf verschiedene Weise Widerspenstigen zu bestrafen und sie aus der Gemeinschaft auszuschließen. Äußerliche Schwäche war darum für den anwesenden Paulus die einzige Alternative, wenn er den die Gemeinden ’aufbauenden’ Charakter seiner ’Vollmacht’ beibehalten wollte. Prinzipiell hätte Paulus durchaus Gelegenheit gehabt, die in seiner ’Vollmacht’ enthaltene Macht auch zu kraftvollem Auftreten zu gebrauchen, aber er hat bewusst darauf verzichtet. Dass der behauptete Widerspruch zwischen dem Brief-Paulus und dem anwesenden Paulus (10, 11) nicht besteht, machen die Ergebnisse seines Wirkens deutlich (99f).

Paulus besitzt Gottes ’Auftrag’ (10,12-18)

Kräftigkeit muss nach Paulus nicht am Auftreten, sondern an den Ergebnissen des Wirkens gemessen werden. In Anbetracht der Ergebnisse aber wird Gott selbst zum Fürsprecher für Paulus (10,1.18). Gott selbst hat nämlich Paulus die „Beauftragung“ erteilt, zu welcher auch die Gründung der Gemeinde von Korinth gehört hat (10,13-16). Entstehung und Vorhandensein der Gemeinde zeugen von der geistlichen Kraft des Paulus. Die Gegner gründen ihre Autorität nur auf subjektive Dinge (10,12). Sie rühmen sich über ihre realen Möglichkeiten hinaus (10,13). Sie geben mit den Früchten anderer an (10,15f). Sie haben in Bezug auf die Gemeinde von Korinth keine von Gott gegebene Beauftragung, sondern sie sind ihre eigenen Bevollmächtigten (114f).

Der „ungelehrte“ Verkündiger der Wahrheit (11,5f)

Übertreibend behauptet Paulus von sich selbst, dass er „Laie in der Rede“ sei. Gleichzeitig ist er jedoch, was den Inhalt angeht, Besitzer der tiefsinnigen, die göttliche Rettung bringenden „Kenntnis“. Die für Paulus unvorteilhafte Konstellation in der Frage der Redekunst wird in 11,5f total verkehrt. Er vertritt die rettende „Kenntnis“, die auch von den Korinthern hochgeschätzt wird. Die Gegner gleichen als Typen eher den Sophisten, die mit der leeren Rhetorik Menschen nur zu verblüffen und zu betrügen versuchen (128).

Der Verzicht des Paulus auf den Unterhalt (11,7-12)

Paulus benutzt das Thema der finanziellen Unterstützung als Angriffswaffe gegen die „Überapostel“, die von der Gemeinde Unterhalt empfangen haben. In seiner scheinbaren Verteidigung ist es nützlich für Paulus, seine Uneigennützigkeit zu betonen. Das 'Sich-Erniedrigen’ des Paulus (11,7) ist seiner Natur nach etwas gewesen, was der Gemeinde nur Vorteile brachte. Dadurch ist die Gemeinde nämlich in den Besitz des Evangeliums und der ewigen Rettung gelangt. Paulus weiß, dass er eine Sonderstellung in der korinthischen Gemeinde hat. Die Beziehung zwischen Paulus und den Korinthern ist wie die Beziehung zwischen einem Vater und seinen Kindern. Ein Lohndenken hat in ihr keinen Platz (180).

Das ’Sich-Erniedrigen’, insofern es eine uneigennützige und aufopfernde Tätigkeit für die Gemeinde bedeutet, gehört also zu einem Verhalten, das wirkungsvoll dem Evangelium Christi dient. Die Unterwürfigkeit, die Schwachheit, deren er beschuldigt worden ist, ist im Grunde genommen Kraft. Die Gegner werden zweifach besiegt: Erstens fallen sie der Gemeinde zur Last und haben keine Vater-Kind-Beziehung zur Gemeinde. Zweitens stehen sie unter dem Verdacht der betrügerischen Geldgier und religiösen Heuchelei (180f).


c. 11,16 - 12,10: Die Schwachheit des Paulus ist Kraft

• Der uneigennützige Diener der Gemeinde (11,16-21a)

Die positive Schwachheit des Paulus bedeutet seine Uneigennützigkeit und Feinfühligkeit gegenüber der Gemeinde. Er hat die Gemeinde nicht durch finanzielle Forderungen oder arrogantes Benehmen belästigt wie die Gegner (193).

• Die Strapazen als Merkmal des echten Dieners Christi (11,21b-33)

Paulus vergleicht sich als „Diener Christi“ mit seinen Gegnern. Er will dadurch den Nachweis erbringen, dass er ein besserer „Diener Christi“ ist als die „Überapostel“. Für Paulus ist Christus vor allem „ein sich selbst entäußerter und erniedrigter“ Christus (Phil 2,7f), ein Gottessohn, der freiwillig arm und schwach geworden war (2Kor 8,9). Der echte „Diener Christi“ muss in seinem Wesen Ähnlichkeit mit einem solchen Christus zeigen (225).

Die Schwachheit, deretwegen Paulus sich rühmt (11,30), ist eine zusammenfassende Bezeichnung für die Bedrängnisse, Mühen und Leiden, denen Paulus sich in der Nachfolge Christi zum Besten der Gläubigen aussetzt. Diese Schwachheit bedeutet auch die empathische und mitleidende Einstellung des Paulus, sein Vater-Kind-Verhältnis zu allen Gemeindegliedern (226).

Ein sich mit den Grenzen des normalen Lebens begnügender Mensch als Gottes Werkzeug (12,1-10)

•   Die Krankheit des Paulus (12,7)

Damit ich mich nicht überhebe, wurde mir deswegen [wegen des Übermaßes der Offenbarung] ein Dorn ins Fleisch gegeben, ein Engel Satans, damit er mich schlage, damit ich mich nicht überhebe“.

Gal 4,13: „Ihr wisst doch, dass ich euch in Schwachheit des Leibes das Evangelium gepredigt habe beim ersten Mal. (14) Und obwohl meine leibliche Schwäche euch ein Anstoß war, habt ihr mich nicht verachtet oder vor mir ausgespuckt, sondern wie einen Engel Gottes nahmt ihr mich auf, ja wie Christus Jesus“.

Gal 6,17: „Hinfort mache mir niemand weiter Mühe, denn ich trage die Malzeichen Jesu an meinem Leibe“.

Die Krankheit des Paulus ist ihrer Natur nach eine andauernde Beschwerde. In 12,8 bittet Paulus, dass die Krankheit von ihm ablassen, nicht dass sie nicht wiederkommen solle. Paulus hat die Krankheit in seinem Körper immer gefühlt, obwohl sie sich nur dann und wann auf eine aggressive Weise durch Schmerzen und andere Beschwerden bemerkbar gemacht hat. Die Krankheit ist qualvoll gewesen, darauf weisen die Bilder „Pfahl“ und „mit Fäusten schlagen“ hin (268).

Die pln Krankheit ist den Gemeinden bekannt (Gal 4,14). Nach den damaligen Auffassungen hätten die Menschen die pln Krankheit als eine dämonische Angelegenheit verstehen können, wie der Hinweis auf die Möglichkeit des Ausspuckens als apotropäische (Dämonen abweisende) Geste oder als Zeichen der Verachtung erkennen lassen (Gal 4,14). Als kranker Mann hat Paulus Enormes geleistet. Alle Erfolge, deren sich Paulus ’rühmen’ kann, sind nicht die mühelose Leistung einer ungebrochenen Kraftnatur, sondern sind einem gequälten Leib mühselig abgetrotzt (268f).

•   Der Zweck der Erwähnung der Krankheit

Paulus bringt mit Absicht auch diesen Teil der Schwachheit zum Vorschein, weil er mit dieser Schwachheit ein Herrenwort verknüpfen kann. In diesem Wort wird die Krankheit des Paulus eindeutig positiv bewertet (12,8f). Es geht hier um die pln Erklärung, warum es für ihn unmöglich ist, sich selbst zu überheben. Dies muss erklärt werden, weil die Gegner sich eifrig überhoben haben und man auch von Paulus etwas Ähnliches erwartet hat. Darum muss er den Grund für seine Einstellung, also die Krankheit, sein Gebet und die Antwort des Herrn ans Licht bringen (271f).

Paulus will nur aufgrund dessen, „was man an ihm sieht oder von ihm hört“ bewertet werden. Paulus will inmitten seiner Gemeindeglieder nur ein in ’Schwachheit’ lebender Mensch sein. Die Krankheit hat den Apostel fest auf der Erde gehalten. Das positive Ziel der Krankheit wurde Paulus erst dann deutlich, als ihm klar wurde, dass sie von Gott stammte, und nicht ein Angriff des Satans gegen ihn und seine Arbeit war (Jakobs ’Lähmung’ Gen 32,26) (272f).

Im Leben der Gegner hatte es nichts gegeben, was ihr Verhalten auf diese Weise reguliert und sie davon abgehalten hätte, „sich zu überheben“. Die ekstatischen Erlebnisse können zu einem so törichten Verhalten verführen, wenn Gott nicht einen hütenden „Stachel“ sendet. Der „Stachel“ hält den Empfänger der großen Erlebnisse auf dem richtigen schmalen Weg, so dass er als Mensch unter anderen Menschen lebt und der von Gott ihm gegebenen Berufung folgt (275).

Zusammenfassung

Die passive Gewöhnlichkeit ist die Ebene, auf der die aktive Schwachheit, d.h. die Hingebung an Mühen und Leiden für andere Menschen im Auftrag des Christus, sich verwirklichen kann. Erst unter dieser Voraussetzung kann die Segen bringende Kraft Gottes in einem Menschen wirksam werden. Die Existenz der Kraft kommt in den Ergebnissen der pln Wirksamkeit, in den Ergebnissen seiner Verkündigung, Seelsorge, Hingabe an Mühen und Leiden zum Vorschein. Sie wird darin sichtbar, dass Menschen gläubig werden, Gemeinden entstehen und die Herrschaft des Christus sich weiter verbreitet (320).

Christus war ein Mensch unter Menschen. Das entspricht der passiven Bedeutung des pln Begriffs ‚Schwachheit‘. Die Erniedrigung des Christus hatte noch nicht als solche die Rettung der Menschen zur Folge, sondern erst seine Wirksamkeit auf der Ebene dieser freiwilligen Schwachheit, d.h. seine Hingabe an Leiden und Sterben. Dieses entspricht dem aktiven Sinn des Begriffs ‚Schwachheit‘ bei Paulus. Die passive Schwachheit zeigt sich in der menschlichen Kraftlosigkeit und Vergänglichkeit. Die aktive Schwachheit zeigt sich in den Mühen, Leiden und Strapazen, die Paulus auf sich nimmt. Es geht hier nicht nur um ein besseres Sichtbarwerden der Kraft, sondern um einen realen Zuwachs der göttlichen Kraft (321).


Die zweite Runde 12,11 - 13,10


b’. 12,11-18: Die Argumentation mit den schon vorhandenen Beweisen von Kraft

a’. 12,19 - 13,4: Die Argumentation mit der zukünftigen Kraftdemonstration

c’. 13,5-10: Die Schwachheit des Paulus ist Kraft


b'. 12,11-18: Paulus ist bereits im Besitz von Kraft

Die Korinther hätten Paulus empfehlen müssen, denn er ist in nichts schlechter als seine Gegner gewesen, obwohl er gleichzeitig „nichts“ ist. Der Satz „ich bin nichts“ weist auf die menschliche Nichtigkeit des Paulus hin, d.h. auf dieselbe Sache wie der passive Schwachheitsbegriff in 11,23 - 12,10. Indem er auf diese Weise von sich selbst schreibt, weist er gleichzeitig auf die Grundlosigkeit der hohen Selbstbewertung der Gegner hin (340).

Gott hat in der Gemeinde durch Paulus Wunder getan. Seine Wundertaten haben die Gemeinde ’erbaut’. Es hat in Paulus Tätigkeit Krafttaten gegeben, aber zur Begründung seines Apostolats verweist er auf sie nur zwangsläufig. Die Zeichen sollen nur erweisen, dass er nicht schlechter als die „Überapostel“ ist. Paulus vollbrachte die „Zeichen des Apostels“ „in aller Geduld“. D.h. dies geschah, als er nicht nur im Zustand der ’passiven Schwachheit’ war, sondern auch unter Leiden und Prüfungen litt, also auch im Zustand der ’aktiven Schwachheit’ war. Trotz der Wundertaten ist Paulus „nichts“. Die Krafttaten sind nur gleichsam durch ihn geschehen, sind also in Wirklichkeit Gottes Taten gewesen. Auch als sie geschahen, ist Paulus selbst nur ein leidender Diener Christi gewesen „in aller Geduld“ (341).

a'. 12,19-13,4: Die Schwachheit des Paulus wird zur Kraft

Der traurige Züchtiger (12,19-21)

Wenn der schlechte Zustand der Gemeinde sich nicht bessert, muss Paulus als strenger Strafvollzieher in Korinth auftreten. Die Liebe des Apostels zu den Gemeindegliedern und seine Abneigung gegen das strenge Auftreten lindern die Härte der pln Drohungen. Er sagt, dass er die, die er zu bestrafen hat, betrauern wird. Die Strafe bedeutet wahrscheinlich Exkommunikation. Wenn Paulus bestrafen muss, ist er gleichzeitig auch gedemütigt und traurig. Die Verantwortung für die Gemeinde, die Paulus trägt, und die schicksalhafte und empathische Verbindung mit der Gemeinde haben zur Folge, dass Paulus auch sich selbst bestraft, wenn er die Gemeinde züchtigt. Er fürchtet sich davor, dass er streng und hart, also kraftvoll bei seiner Ankunft in der Gemeinde werde sein müssen. Der strenge Strafvollzieher und kraftvolle Apostel wird gleichzeitig auch ein von Gott gedemütigter und seine Glaubensbrüder betrauernder Mann sein (352f).

Der Besitzer der eschatologischen Macht (13,2-4)

13,3f paraphrasiert lautet: „Ich werde gegen euch sehr streng und in diesem Sinn kraftvoll sein, weil ihr, die ihr euch selbst wegen eurer pneumatischen Erlebnisse für kraftvoll und mich für schwach haltet, einen Beweis von der in mir vorhandenen Kraft des Christus verlangt. Christus war schwach, aber jetzt ist er kraftvoll. Ich bin schwach, aber ich werde euch das mit Gottes Kraft erfüllte Leben mit Christus zeigen“. Derselbe Paulus, der einerseits so schwach ist, dass man sich vor ihm nicht geniert, von ihm einen Beweis von dem in ihm redenden Christus zu verlangen, ist andererseits dazu fähig, der Gemeinde mit einer machtvollen Kraftdemonstration zu drohen. Paulus Kraftdemonstration wird nicht in ekstatischem Reden zum Vorschein kommen, sondern in der Demonstration der Kraft des eschatologischen Richters, der über die Kraft verfügt, die eigentlich erst in die Enderfüllung gehört. Diese Demonstration ist gegen die Gemeinde gerichtet und ist wenig angenehm. Wie der spätere Versöhnungsbrief (2Kor 1 - 9) beweist, brauchte Paulus keine Kraftdemonstration zu geben. Die Korinther hatten schon vor seiner Ankunft seine Autorität wieder akzeptiert (376f).

c'. 13,5-10: Die Schwachheit des Paulus ist Kraft

Am Ende des Briefes spricht Paulus seinen Wunsch aus, nicht als strenger Richter in die Gemeinde kommen zu müssen. Der Wunsch kann sich nur dann erfüllen, wenn die Gemeinde ihr Leben und Benehmen verändert. Die Korinther müssen sich wieder nach dem echten christlichen Glauben, den Paulus in die Gemeinde gebracht hat, orientieren. Dann braucht Paulus sein eigenes Verhalten nicht zu verändern, sondern er kann derselbe „schwache“ Apostel bleiben, der er schon immer war (388).

In 13,5-10 bedeutet die pln ’Schwachheit’ den Verzicht auf die von der Gemeinde verlangte Demonstration der ’Kraft’ (13,3). Die Kraftdemonstration hätte nur strenge Bestrafung der Gemeinde bedeutet. Die positive ’Kraft’ der Gemeinde bedeutet das richtige christliche Leben. Es wird von Paulus durch den Ausdruck „Tun des Guten“ ausgedrückt (388f).

Die Briefe sind „schwer und stark“ geschrieben worden, damit Paulus, wenn er persönlich anwesend ist, nicht ’kraftvoll’, d.h. streng gegen die Gemeinde zu sein braucht. Als ’schwacher’ Apostel wird er der Gemeinde zum Segen (389).

Paulus verknüpft seine eigene Unterwürfigkeit mit der Segen bringenden „Sanftmut und Freundlichkeit“ des Christus (10,1). Dieselbe positive Schwachheit kommt auch in 13,4 zum Vorschein, wenn Paulus seine eigene Schwachheit mit der rettenden Schwachheit des Christus am Kreuz vergleicht. Paulus verwandelt den gegen ihn kritisch benutzten Begriff „Schwachheit“ aus dem Negativen zum Positiven. Er hat, wie Christus, gerade in seiner Schwachheit eine wichtige geistliche Leistung zum Besten seiner Gemeindeglieder vollbracht (400f).

Paulus bekennt, dass er „schwach“ gewesen sei (11,21). Das soll für positiv gehalten werden, weil es im Gegensatz zur wirtschaftlichen und geistigen Plünderung der Gemeinde durch die neuen Apostel steht. Die pln Bescheidenheit ist Mangel an Arroganz und wirtschaftlich-geistiger Belästigung der Gemeinde. Die positive Schwachheit des Paulus bedeutet (11,16-21a) seinen freiwilligen Verzicht auf die ihm zustehenden Privilegien (401).

Die umfangreichste Darlegung der positiven Schwachheit des Paulus findet sich in 11,21b–12,10. Hier wird die Schwachheit zuerst als die pln Geisteshaltung definiert, in der er sich in der Nachfolge Christi vielen Bedrängnissen, Mühen und Leiden für das ewige Wohl der Gemeindeglieder hingibt (11,23-30). Daneben bedeutet diese „Schwachheit“ die empathische und mitleidende Einstellung des Paulus, sein Vater-Kind-Verhältnis zu allen Gemeindegliedern (11,29). Wegen dieser „Schwachheit“ ist Paulus ein ausgezeichneter „Diener Christi“, ein Diener, der in den Fußspuren seines Herrn wandelt. Nur die so verstandenen „Schwachheiten“ sind Grund zum Rühmen (11,30). Paulus definiert den Inhalt der echten und selbstlosen Nachfolge Christi mit dem Terminus neu, mit dem er negativ kritisiert worden ist. Wenn die Korinther den schwachen Paulus nur richtig sehen, können sie nicht anders als seine Schwachheit loben (401f).

Paulus ist als „schwacher“, d.h. als ein mitten in den Schwierigkeiten dieser Welt lebender Apostel zur Arbeit des Herrn berufen worden. Erst durch seine Erlebnisse mit „dem Engel Satans“, den Gott ihm in Form einer qualvollen Krankheit geschickt hatte, und durch eine göttliche Gebetsantwort wurde ihm klar, was die echte Berufung eines Apostels Christi ist. Er sollte seine Arbeit in der Begrenztheit eines normalen sterblichen Menschen tun. Man durfte „nicht mehr von ihm halten, als was man an ihm sah oder von ihm hörte“ (12,6).

Paulus war „schwach“ gewesen, wie man ihn beschuldigt hatte, aber ebenso war er auch der göttlichen Berufung treu gewesen und so hatte Gottes Kraft durch ihn sehr viel geleistet: Viele Gemeinden waren entstanden, viele Menschen hatten den Weg zum Glauben gefunden. Die Rettung bedeutet nicht, dass ein Mensch sich auf eine übermenschliche Ebene erhebt, sondern dass Gottes Gnade in den gewöhnlichen Alltag des Menschen, in seine Strapazen und Leiden, herabsteigt (402).

In der pln Schwachheitstheologie ist es wichtig zu sehen, dass die positive christliche Schwachheit zwei Seiten hat; eine aktive und eine passive: Die echte Schwachheit bedeutet nicht nur das Gegenteil des Sich-Erhebens (die passive Schwachheit), sondern dass zu ihr auch das Sich-Hingeben an die Strapazen und Leiden im Dienst an anderen (die aktive Schwachheit) gehört (402f).

Weil die pneumatische Kraft ihrer Natur nach fremde Kraft, Gottes Kraft, ist, nimmt sie in einem Menschen Wohnung nur wann und wie sie will (4,7; 12,9). Sie kann große Wunder zutage bringen (12,12), aber gewöhnlich erscheint sie gleichsam verhüllt, so dass die Gegenwart des Geistes nur an den Früchten zu erkennen ist. Die echte Geistlichkeit zeigt sich vor allem in der Verkündigung und in der ganzen Lebenseinstellung eines Christen, der sein Leben dem Dienst am Herrn und am Nächsten gewidmet hat und der alles mit Geduld unter ganz normalen menschlichen Umständen tut (403f).

Weil Paulus als „schwacher“ Apostel kritisiert worden ist und weil seine Gegner die äußeren Erscheinungsformen der geistlichen Kraft betont haben, malt er selbst von der christlichen Existenz ein ganz anderes Bild, in dem das indirekte Wirken des Geistes stärker betont wird.

Schwachheit und Kraft schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern die echte Kraft setzt die echte Schwachheit voraus, und so verwirklichen sich die göttlichen Absichten in dieser Welt durch Menschen, die nichts mehr sein können als eben Menschen in ihrer echten neuen Menschlichkeit im Glauben an Christus (404f).