D. Die Kulttheologie des Hebräerbriefes

Jesu Sterben – kein Sühnegeschehen sondern gehorsame Selbsthingabe

Der Neue Bund wird im Hebr im nicht-kultischen, gelebten Glauben vollzogen

Wir haben einen Hohenpriester im Himmel


 

1. Einleitung
2. “Durch Leiden vollendet“ (2,5-16)
3. Der Weg Jesu Christi: Gehorsam, Erhörung und Erhöhung
4. Himmlischer Hoherpriester und himmlischer Kult
5. Irdische Existenz und Zuordnung zum himmlischen Kult
6. Ergebnisse
7. Zum historischen Ort
8. Die Imitation Jesu im Brief an die Hebräer


G. Gäbel

 

1. Einleitung

 

Wird Jesu Sterben auf Erden als sühnender Opfertod verstanden, wie verhält sich dann sein hohepriesterliches Wirken im Himmel dazu (3)?

Die einzige Erwähnung des Kreuzes im Hebr 12,2 trägt keine kreuzestheologische Betonung und die Deutungen des Sterbens Christi in 2,9f; 5,7; 9,12.24f; 10,10; 13,11f erwähnen das Kreuz nicht explizit (9).

Thesen: (1) Die Erhöhung Christi überführt den Ertrag seines auf Erden gelebten Lebens in die himmlische Sphäre. In seinem einmaligen himmlischen Selbstopfer wird dieser Ertrag dort ewig wirksam. Das himmlische Wirken Christi setzt seinen irdischen Weg voraus; der irdische Weg Christi kommt in seinem himmlischen Wirken zur Geltung (17).

(2) Die Heiligtumstheologie des Hebr nimmt die Urbild-Abbild-Relation aus frühjüdischen Kontexten auf, um die (aufgrund der Erhöhung Christi in den Himmel) gegenwärtige unüberbietbare eschatologische Heilsfülle auszusagen. Alle Sakralität, alle legitime Kultausübung ist nach dem Hebr seit der Erhöhung Christi im himmlischen Heiligtum konzentriert. Mit dem himmlischen Selbstopfer Christi ist das himmlische Heiligtum gereinigt und der himmlische Kult eingeweiht.

(3) Die Profanität und Fremdlingschaft der Adressaten auf Erden ist die Kehrseite ihrer exklusiven Zuordnung zum himmlischen Heiligtum, ihrer Teilnahme am himmlischen Kult. Die Teilnahme am himmlischen Kult will auf Erden im Gehorsam bewährt sein. So ist die irdische Existenz der Adressaten sowenig wie diejenige Christi bloßes Durchgangsstadium. Nur im irdischen Gehorsam wird der Zutritt zum himmlischen Kult gewonnen, wie bei Christus, so bei den Seinen (17).

Der exklusiven Zuordnung zum himmlischen Heiligtum entspricht die Abkehr von aller irdischen Sakralität, so dass die irdische Existenz als solche als profan gelten muss (21).

Christi irdischer Weg ist Selbsthingabe im gelebten Gehorsam. Christi hohepriesterliches Wirken (einmaliges Selbstopfer und fortwährende Fürbitte) vollzieht sich im Himmel. Alle Sakralität ist im himmlischen Kult konzentriert. Die irdische Sphäre wird desakralisiert (131).

Der Hebr deutet den irdischen Weg Jesu Christi als nicht-opferkultische Selbsthingabe im Gehorsam gegen Gott, seine Erhöhung als hohepriesterliche Amtseinsetzung, als Eintritt in das himmlische Allerheiligste und als himmlische Darbringung des hohepriesterlichen Selbstopfers . Sein himmlisches Wirken ist die Fürbitte, die das einmalige himmlische Selbstopfer fortwährend zur Geltung bringt. Dieses himmlische Selbstopfer Christi reinigt die Gewissen und das himmlische Heiligtum. So befähigt es die Adressaten zur Teilnahme am himmlischen Kult. Indem sie an diesem teilhaben, bleiben sie irdischem Kult fern (131).

 

2. “Durch Leiden vollendet“ (2,5-16)

 

Erniedrigung und Erhöhung Christi, des 'Menschen', und der Zugang zur Hohepriesterchristologie

Aufgrund des Weges Christi durch Leiden zur Herrlichkeit ist das Geschick des Menschen schlechthin gewandelt. Seine Erhöhung und Verherrlichung impliziert die der Seinen (133).

Die Zuwendung Christi gilt den Menschen, nicht den Engeln; denn jene sind es, denen er sich durch die Annahme von Fleisch und Blut (2,14) verbunden hat und die als “Kinder“ und “Brüder“ an seinem Sohnesverhältnis zu Gott Anteil gewinnen (2,10-13). Als “Sohn des Menschen“ (2,6), als Repräsentant des Menschengeschlechts, ist Christus über alle Engel erhöht, ist er der “Sohn Gottes“. Ihm, nicht den Engeln, ist die kommende Welt unterworfen (2,5) (142f).

Als “Mensch“ und “Sohn des Menschen“ ist Christus der Mensch schlechthin. Dem Menschen wird die Herrlichkeit und Herrscherstellung über alle Engel zuteil, die schon Adam zugedacht war und welche die Engel ihm neideten (143f).

Der Hebr deutet das Zitat aus Ps 8,5-7 in Hebr 2,6-8 so, dass er das Geschick Jesu Christi als Erfüllung der dem Menschen geltenden göttlichen Verheißung verstehen lehrt. Christi Erhöhung führt über seine Erniedrigung hinaus und verleiht ihr universale soteriologische Bedeutsamkeit (2,8f). Aus der Erhöhung des “Sohnes“ geht die ekklesia der “Brüder“ hervor, die (zu gleicher eschatologischer Herrlichkeit bestimmt wie er) schon jetzt mit ihm Gott preist (2,10-13). Weil Christus durch seinen Gehorsam unter den Bedingungen der conditio humana den “Todesmachthaber“ Satan überwunden hat, ist sein Todesleiden Heilsereignis (2,14) (144).

Die im Psalmzitat angesprochene Herrlichkeit und Ehre des Menschen ist diejenige Christi geworden. Das “für alle“ (2,9) nimmt das ta panta des Zitats und des Einwands (“Jetzt sehen wir noch nicht, dass ihm alles untertan ist“ 2,8) auf. In Christi Erniedrigung und Erhöhung liegt die Erfüllung der Aussage des Psalms für den Menschen schlechthin beschlossen (147f).

Die Bekränzung Christi mit Herrlichkeit und Ehre erfolgte um seines Erleidens des Todes willen (2,9). Die subjektive Qualität des Todesleidens wird angesprochen. Es geht um die mit dem Tod verbundene Erfahrung des Leidens, aus der Furcht und Anfechtung erwachsen. Die Erniedrigung ermöglicht die Erhöhung, diese folgt auf die Erniedrigung und führt darüber hinaus. Infolge seiner Erniedrigung ist er der Erhöhte, ist er mit “Herrlichkeit und Ruhm bekränzt“ (2,9) (148f).

Die Erhöhung hat zur Folge, dass die zurückliegende Leidenserfahrung nun eine “ für einen jeden“ geschehene wird. Damit bestätigt sich, dass die Herrlichkeit Christi nicht mit seinem Todesleiden den Höhepunkt erreichte, sondern über dieses hinausführt. Erst von der Verherrlichung her kann das Todesleiden Christi als heilvoll “für einen jeden“ gelten. Nicht das Todesleiden als solches ist Gnade Gottes, sondern durch Christi Erhöhung aus dem Tode kommt es gnadenhaft “für einen jeden“ zur Geltung. Gott hat aus dem Leiden des Einen das Heil der Vielen hervorgehen lassen, indem er ihn verherrlichte (149f).

Die Kulttheologie des Hebr soll zeigen, wie in der Erhöhung Christi seinem Leiden ewig-universale Heilsbedeutung zukommt. Damit sollen Zweifel und Mutlosigkeit bewältigt werden, die aus der irdisch-menschlichen gegenwärtig-vorfindlichen Schwäche, dem Leiden und der Versuchlichkeit der Adressaten entstehen (151).

Gott hat Christus durch Leiden hindurch “vollendet“ (2,10). Das Vollendet-Werden schließt die Verherrlichung Christi ein, bezeichnet aber darüber hinaus die dadurch erschlossene eschatologische Heilsbedeutung seines Weges für diejenigen, die Söhne in ihm sind. Deshalb ist das Leiden des Sohnes der Gottes Universalität angemessene Weg zu dessen Vollendung (2,10). Die Vollkommenheit bedeutet jene Herrlichkeit, die die Erfahrung der menschlichen Schwäche in sich aufgenommen hat und deshalb den Menschen zu helfen vermag. In dem Weg des einen “Sohnes“ liegt beschlossen, dass die “vielen Söhne“ einbezogen werden (152f).

Die Erhörung der Rettungsbitte (2,12), die der Psalm besingt, ist für den Hebr die Erhöhung Christi aus dem Tode (vgl. 5,7 nicht die Bewahrung vor dem Todesgeschick). Der Sohn tritt als der aus dem Tod gerettete Erhöhte vor die Ekklesia der Seinen wie die Psalmbeter vor die zur Dankopferfeier Versammelten. Die Gemeinde der “Brüder“ geht aus der eschatologischen Errettung des Sohnes und aus seiner Verkündigung hervor (155).

Nach dem Preis der Errettung des Sohnes (2,12) gilt es nun für die durch Gottes Rettungstat konstituierte, um Christus gescharte Gemeinde, in ihren Anfechtungen dasselbe Vertrauen zu bewähren, mit dem schon er um Erhörung betete. Im Durchstehen der Anfechtung im Vertrauen auf Gott erlangte der Sohn den Zutritt zum himmlischen Heiligtum und die priesterliche Funktion. Die Geschwister bzw. Kinder erhalten Anteil an beidem, indem sie ihm auf seinem Weg folgen. Mit “inmitten der Gemeinde will ich dich preisen“ (2,12b) muss der Gottesdienst im Heiligtum des himmlischen Jerusalem (12,23) gemeint sein, zu dem die durch Christus “Geheiligten“ (2,11) Zugang haben und in dem der Erhöhte gleichsam als Chorführer der Gemeinde von Menschen und Engeln (12,22) auftritt. Als die neukonstituierte Kultgemeinde des himmlischen Hohenpriesters sind die “Brüder“ dessen “geheiligt Werdende“ (156f).

Die Gemeinsamkeit von “dem Heiligenden“ und “den geheiligt Werdenden“ besteht darin, dass ihnen beiden von Gott Herrlichkeit zugedacht ist. Wie der Sohn, so sind auch sie “aus“ Gott als die, die sie nach seinem Heilsratschluss zu werden bestimmt sind. Das schließt beide zusammen als Sohn und die Söhne. Die Gemeinde der Geschwister entsteht aus dem Leiden und der Errettung des Sohnes. Von ihm belehrt und ihm folgend, wird sie derselben Herrlichkeit teilhaftig werden wie er (157f).

Hebr 2,14f umschreibt die conditio humana mit Fleisch und Blut, Tod und Furcht. Das Leben in der Sarx hat den Tod zur Folge. Dieser ruft Furcht hervor, die das Menschenleben überschattet und zur Sklaverei werden lässt. Aus geschwisterlicher Verbundenheit hat Christus diese conditio humana auf sich genommen. Sein Tod entmachtet den diabolos, der der Todesmachthaber ist und befreit die Menschen aus der Sklaverei. Nicht Sterblichkeit und Tod als solche, sondern die sich daraus ergebende Todesfurcht, ist das beherrschende Problem des menschlichen Daseins. Die Formulierungen: “Todesleiden“, “ Todeserfahrung“ (2,9) und “Todesfurcht“ benennen die mit Angst verbundene menschliche Erfahrung, die mit dem Tod verknüpft ist. Die leidvolle menschliche Erfahrung ist es, auf die es dem Verf. hier ankommt und in die Jesus mit der Annahme von “Fleisch und Blut“ eingetreten ist (158f).

Indem er den Tod erlitt und darin an Gott festhielt, hat Christus die menschliche Existenz in Fleisch und Blut, Todesfurcht und Angst durchlebt, dabei aber der Versuchung zum Ungehorsam widerstanden. Weil in der Überwindung der Todesfurcht durch den leidenden Christus die Überwindung des Todesmachthabers (2,14f) geschieht, ist sein Todesleiden Heilsereignis (160f).

Das Geschehen von Erniedrigung und Erhöhung Christi ist zur Begründung des “ alles ist ihm untergeordnet“ angeführt, weil darin Ereignis geworden ist, was Gott allen Menschen zugedacht hat. Christus nimmt sich der Nachkommen Abrahams an (2,16). Dass diese in das Geschick des einen 'Menschen' einbezogen werden, dafür sorgt der Erhöhte in seinem hohepriesterlichen Wirken, mit dem er den vielen Söhnen den Zugang zur himmlischen Herrlichkeit ermöglicht (161).

Der Hebr versteht von Ps 8,5-7 her Christus als den 'Menschen' schlechthin, der als der neue Adam den Todesmachthaber Satan durch seinen Leidensgehorsam im Tode entmachtet hat. Die Annahme von Fleisch und Blut durch den Sohn und sein Vertrauen und Gehorsam in der Anfechtung eröffnen den Zugang zu himmlischer Herrlichkeit. Christus wird um seiner Leidenserfahrung willen erhöht und damit ist der Weg zur himmlischen Herrlichkeit frei für die “vielen Söhne“. Aus der Überwindung des Versuchers geht die Erhöhung über alle Engel hervor und darin ist zugleich allen “Söhnen“ und damit dem Menschengeschlecht der Platz über allen Engeln bei Gott angewiesen (161f).

Die Erhöhung Christi fand um seines Todesleidens willen statt. Seine Erfahrung des Todesleidens wurde durch die Erhöhung “für einen jeden“ bedeutsam. Das Psalmwort über den Menschen “alles hast du unter seine Füße getan“ ist in der Erhöhung des erniedrigten Christus so erfüllt, dass darin die Erhöhung der “vielen Söhne“ impliziert ist. Die Hohepriesterchristologie des Hebr setzt die traditionelle christologische Anschauung von Erniedrigung und Erhöhung Christi voraus, wie sie in Phil 2,6-11 vorliegt, die ein “für unsere Sünden“ in Bezug auf das Leiden und Sterben Christi nicht zum Ausdruck bringt. Daran anknüpfend bietet der Hebr seine Kulttheologie auf, um zu erweisen, dass und warum im Weg Jesu Christi die Heilsfülle beschlossen liegt, der die conditio humana von Fleisch und Blut, Tod, Furcht und Anfechtung zu widersprechen scheint.

Nach 2,9f wurde in der Erhöhung und Verherrlichung Christi die universale Heilsbedeutung seines Todesleidens erschlossen. Die Hohepriesterchristologie will nichts anderes sein als die Entfaltung der Heilsbedeutsamkeit dessen, dass der erhöhte Christus gegenwärtig im himmlischen Heiligtum als Hoherpriester für uns eintritt (162).

Ertrag

Durch das Todesleiden hindurch erlangte Christus in seiner Erhöhung die Qualität des Heilsmittlers: in seiner Erhöhung ist den vielen “Brüdern“ gleiche Herrlichkeit verbürgt wie ihm selbst. So ist er durch Leiden “ vollendet“. Mit “Vollendung“ ist im Hebr die unüberbietbare, endzeitliche Heilsfülle angesprochen, die im Weg Jesu Christi erschlossen und den Seinen zugeeignet ist. Aus der Erhöhung Christi geht die Gemeinde der “ Söhne“,“Brüder“, “Geschwister“ hervor, die mit der himmlischen Ekklesia verbunden ist. Die Erhöhung erschließt die Heilsbedeutung des irdischen Weges Christi. Dieser war der Weg des in der Versuchung Gehorsamen: Christus ist der wahre 'Mensch', in dessen Weg der Fall Adams aufgehoben und in dessen Herrschaft dem Menschengeschlecht die ihm von Gott bestimmte Herrlichkeit gegeben ist. Die Herrlichkeit des Erhöhten, die Heilsbedeutung der Erhöhung (und durch sie die des irdischen Weges Christi) bietet der Hebr gegen die Anfechtung durch die vorfindlich-irdische Schwäche des Menschen auf (170).

 

3. Der Weg Jesu Christi: Gehorsam, Erhörung und Erhöhung

 

(1) Leidensgehorsam, Erhöhung und Fürbitte (5,5-10)
(2) Testament und Bund (9,15-17)
(3) Die Hingabe des Soma (10,1-18)
(4) “Der Weg seiner Sarx“ (10,19f.21f)
(5) Ertrag

 

Das Leiden und Sterben Christi wird soteriologisch interpretiert, dabei unterbleibt jede Deutung im Sinne opferkultischer Sühne. Der Gehorsam Christi wird als Erfüllung des Gotteswillens dem irdischen Opferkult entgegengestellt. Bringen die irdischen Hohenpriester (5,1-10) um des Gottesverhältnisses der Menschen willen Opfer dar, so steht dem Christi irdischer Weg in Leiden und Gehorsam gegenüber. Gerade dieser Weg ist es, der seine hohepriesterliche Investitur begründet und seinem hohepriesterlichen Wirken jene soteriologische Qualität verleiht, die den irdischen Hohenpriestern fehlt. In 9,15-17 wird die Heilsbedeutung des Todes Christi mit der juridischen Testaments-Metapher gedeutet. Christi Tod wird (wie in 2,14f) ohne sühnetheologische Deutung als zurückliegendes Heilsereignis verstanden, dessen Geschehen-Sein die Rechtsverbindlichkeit der Heilsverheißung verbürgt (171).

 

(1) Leidensgehorsam, Erhöhung und Fürbitte (5,5-10)

 

An die Stelle, die im irdischen Kult das Opfer innehatte, treten bei Christus wie bei den ihm zugehörigen Menschen Gottesfurcht, Gehorsam und Gebet. Diese werden als das Verhalten des irdischen Jesus hervorgehoben. Die Opferterminologie wird in 5,7 im übertragenen Sinn verwendet. Dabei wird der Leidensgehorsam Christi als Grund seiner Erhöhung aus dem Tode geschildert. Christi Hohepriestertum begann mit seiner Erhöhung. Die Leidenserfahrung geht in die Fürbitte des Erhöhten ein (172).

Gegenüberstellung von Opferkult und gelebtem Gehorsam (5,1-10): An die Stelle der Solidarität des selbst von Sünde betroffenen irdischen Hohenpriesters mit den sündigen Mitmenschen tritt bei dem sündlosen Jesus (4,15) die Solidarität des Mit-Leidens. Als Leidender flehte er um Rettung. Als Grund für die Erhöhung wird “Gottesfurcht“ angegeben. Damit will das Darbringen von Gebet und Flehen nicht als kultische Darbringung eines Opfers verstanden sein. Christus flehte als leidender Mensch um seine eigene Rettung (Mk14,36 parr). Er bedurfte für sich selbst keines Opfers. In 5,5 kommt es darauf an, die “ihm“ Gehorchenden (10,9) für ihr Leben in irdischer Schwachheit auf den Gehorsam des schwachen, irdischen Jesus zu verweisen, nicht auf einen irdischen Kultvollzug Christi. An die Stelle der Opferdarbringung zur Vergebung der eigenen Sünden treten beim Christus incarnatus sein Flehen um Rettung und seine in Gottesfurcht gelebte Existenz, diese werden zum Grund der Erhörung, d.h. der Rettung durch die Erhöhung aus dem Tode. So stehen Gebet und Flehen für Christi ganze Existenz in Schwachheit und Leiden. Mit “ darbringen“ wird seine Selbsthingabe zum Ausdruck gebracht (175).

In Hebr 5,7; 10,5-10 handelt es sich um eine unkultische Hingabe im leiblichen Gehorsam, die im Tod kulminiert, ohne dass dieser als kultische Opferdarbringung verstanden würde. Diese übertragene Verwendung von prosphora (10,10) bzw. prosphorein (5,7) ist wesentlich für die theologische Intention des Hebr, am Beispiel des irdischen Jesus gerade den Gehorsam des in irdischer Profanität gelebten Lebens als Zugang zur himmlischen Herrlichkeit zu erweisen. Unkultischer Gehorsam tritt an die Stelle des irdischen Opferkults (178).

Der aaronitische Hohepriester war dafür zuständig, für die Menschen Opfer darzubringen. Unter der Ordnung des melchisedekischen Hohenpriestertums wird das Verhalten der Menschen als Gehorsam gegenüber Christus beschrieben (“die ihm Gehorchenden“ 5,9), womit der in irdischer Profanität gelebte Gehorsam an die Stelle des irdischen Opferkults tritt. Damit folgen die Menschen Jesus, dessen irdisches Dasein seinerseits durch Leiden und Gehorsam charakterisiert wird (“er hat an dem, was er litt, den Gehorsam gelernt“ 5,8). Man gehorcht Christus, indem man wie er gehorcht. Den besonderen Akzent erhält das Verhältnis von Christus und den Seinen durch Gehorchen und Gehorsam (178).

Der “Sohn“ nahm die von der conditio humana bestimmte Existenz, das Leben im Fleisch, an (5,7f). Auf sein Flehen hin wurde er um seiner Gottesfurcht willen aus dem Tode erhöht. Irdischer Weg (Leiden und Gehorsam) und Erhöhung Christi gehören zusammen (s. 2,5-16). Der im Fleisch und Leiden bewährte Gehorsam, der bis in den Tod führte, wird zum Grund der Erhörung, der aus dem Tod rettenden Erhöhung (2,9). Durch Leiden vollendet, wird Christus “Urheber ewigen Heils“ (5,9). Jesu soteriologische Bedeutung wird als Folge der gehorsamen Selbsthingabe beschrieben – er litt, obwohl er der Sohn war, aber weil er zum Hohenpriester werden sollte (179).

Die Psalmzitate in 5,5f.10 als Erhöhungsaussagen: Zusammen mit Ps 2,7 zitiert der Hebr Ps 110,1 und Ps 110,4 als Gottesrede, mit der Christus in sein hohepriesterliches Amt eingesetzt wurde. Die Erhöhung ist hohepriesterliche Investitur. Um seines Gehorsams willen wurde der Erniedrigte aus dem Leiden erhöht (wie auch in Phil 2,6-11). Diese Tradition interpretiert der Hebr neu, indem er die Erhöhung als Einsetzung ins himmlische Hohepriesteramt deutet. Er schreibt damit dem Erhöhten die Qualität des Heilsmittlers zu. Diese besteht darin, dass er den Leidenden helfen kann, weil er selbst durchs Leiden hindurch erhöht wurde (180).

Interzession als Wirken des himmlischen Hohenpriesters: Kp. 7 erläutert die Überlegenheit des melchisedekischen Hohenpriesters über den aaronitischen Hohenpriester in 7,25 mit der Fähigkeit, als Erhöhter durch seine Fürbitte immerdar retten zu können, die durch ihn zu Gott nahen (“Urheber ewigen Heils“ 5,9). Der himmlische Interzessor vermittelt den Menschen die Gnade (4,16), die sie benötigen, um in Schwachheit (4,15) den Gehorsam zu bewähren (5,9). Hebr 5,7 zeigt Jesus als irdischen Beter um Rettung, weil darin seine himmlische Interzession vorbereitet ist. Er war selbst in der Situation, die jetzt die der Adressaten ist, die seiner Fürbitte bedürfen. Als schwachen, leidenden um Rettung aus dem Todesgeschick flehenden Menschen will Hebr 5,7 den irdischen Jesus schildern. Auch die Adressaten (ab 10,19) sollen ihre irdische Schwachheit im Gehorsam bestehen. Das kann auch ihnen Zugang zum Himmel werden – durch die Fürbitte des mitleidenden himmlischen Hohenpriesters. Christus hat im Leiden Gottesfurcht und Gehorsam bewährt. Gebet und Flehen meinen die ganze irdische Existenz. Deren Darbringung ist Selbsthingabe auf Erden, nicht priesterlicher Kultvollzug (180f).

 

(2) Testament und Bund (9,15-17)

 

Wie schon in 2,14f beschreibt der Hebr in 9,15-17 das profane Sterben Christi als Heilsereignis, ohne es opferkultisch bzw. sühnetheologisch zu deuten. Die Erfüllung des Willens Gottes im Leben und Sterben Christi verwirklicht den neuen Bund; er erschließt die Vergebung und verbürgt rechtsgültig das himmlische “Erbe“ (181f).

Verbindung von Bundes- und Testamentsthematik: 9,15 (“Mittler eines neuen Bundes“) nimmt die Bundesthematik auf und leitet mit der Rede vom Tod und vom Erbe zur Testamentsthematik über. 9,15 schildert den Tod Christi als Bedingung des Heilsempfangs, der als “erlangen des ewigen Erbes“ bezeichnet wird (182).

Der Testamentsgedanke begründet, warum aus dem Gestorben-Sein Christi das Empfangen des verheißenen “Erbes“ folgt. Der neue Bund hat sein Wesen darin, dass an die Stelle der Gott nicht wohlgefälligen Opfer des irdischen Kults die Selbsthingabe im gelebten Gehorsam tritt, der bei Jesus in den Tod führte. Damit ist der Gotteswille erfüllt und zugleich der neue Bund aufgerichtet (183).

Das Aufrichten des Bundes verdeutlicht 9,15-17 mit dem Inkraftsetzen des Testaments durch das Eintreten des Todesfalls. Da der Inhalt der Verheißung des neuen Bundes in der Vergebung besteht (8,12; 10,17), ist mit der Aufrichtung des neuen Bundes die unter dem ersten Bund angehäufte Sündenlast getilgt und so ist der Antritt der Erbschaft verbürgt. Die Vergebung erfolgt ohne sühnetheologische Begründung. Der Akzent liegt auf dem objektiven Geschehen-Sein des Todes Christi. Die Erfüllung der Bundesverheißung ist durch die Aufrichtung des neuen Bundes im Leidens- und Todesgehorsam Christi rechtsgültig – gleichsam testamentarisch – verbürgt (183f).

Der Akzent der Argumentation von 9,15-17 liegt darauf, die rechtliche Verbindlichkeit der mit Christi Sterben gegebenen Erfüllung der Verheißung herauszustellen – darum hier die juridische Argumentation. Auf das Sterben als irdisch-profanes Geschehen wird dies gegründet, weil der Inhalt des neuen Bundes (die Erfüllung des Gotteswillen jenseits irdischen Opferkultes) mit dem unkultischen irdischen Gehorsam Christi bis zum Tode (10,5-10) gegeben ist. Infolgedessen bewirkte der Tod Christi mit der Aufrichtung des neuen Bundes auch die Erfüllung der an diese geknüpften Verheißung der Sündenvergebung. Für die Adressaten, die den eschatologischen Eingang in die himmlische Welt erst vor sich haben, wird hier die irdische Seite dieses Weges herausgestellt, als Garantie dessen, dass auch ihnen der Zugang zum “Erbe“ der himmlischen Heimat – aus ihrer Schwachheit heraus – gleichsam rechtlich verbürgt ist (184).

 

(3) Die Hingabe des Soma (10,1-18)

 

Der Hebr versteht das Sterben Christi als den Höhepunkt seines leiblichen Gehorsams, der als unkultische Selbsthingabe an Gott die Erfüllung des Gotteswillens ist und so dem irdischen Opferkult gegenübersteht, der dem Willen Gottes nicht entspricht (185).

An die Stelle des ineffizienten irdischen Kults tritt ein andersartiges Geschehen (10,1-4). Das den irdischen Kult begründende mosaische Kultgesetz (10,1) hat nur einen Schatten der künftigen Güter, nicht aber die “Gestalt der Dinge“ selbst. Diese Inferiorität hat soteriologische Ineffizienz zur Folge (“Deshalb kann es die, die opfern, nicht für immer vollkommen machen... Denn es ist unmöglich, durch das Blut von Stieren und Böcken Sünden wegzunehmen“ (10,4) (185).

Leiblicher Gehorsam statt Opferkult (10,8-10): Der Hebr gibt mit dem Psalmzitat (40,7-9) seiner Kritik am irdischen Opferkult Ausdruck. Dieser entspricht weder Gottes Willen, noch wird er wohlgefällig von Gott angenommen. Der Hebr legt das Psalmzitat dem in die Welt eintretenden Christus in den Mund: Gott, so weiß Christus, hat weder Schlachtopfer noch Brandopfer gewollt. Indem Christus in die Welt eintritt, nimmt er das von Gott bereitete Soma an. Der Hebr sieht im Soma die Möglichkeit, den Willen Gottes aktiv auszuführen. So tritt das Soma und damit das Tun des Willens Gottes an die Stelle von Schlacht- und Brandopfern (192).

Der Verf. des Hebr legt dem in die Welt eintretenden Christus das Psalmzitat in den Mund (10,5), d.h. es ist auf sein Leben in der Welt im menschlichen Soma zu beziehen. Christi Absicht, den Willen Gottes zu tun (10,7.9), bezieht sich auf seinen Eintritt in die Welt, auf seine somatische Existenz. Die innerweltliche somatische Existenz dient insgesamt der Erfüllung des Gotteswillens und gerade die gehorsame im Tode kulminierende Existenz ist als “Darbringung“ des Soma seine Selbsthingabe. Dies ist die wahre, unkultische “Darbringung“, die Gott auf Erden vollzogen haben will (193).

Wenn im neuen Bund der Wille Gottes in die Herzen geschrieben ist (Jer 31,33f), dann geht es nicht mehr um irdischen Opferkult, sondern um das Tun des Gotteswillens. So ist die Verheißung bei Jeremia erfüllt und zugleich aller irdischer Opferkult durch die wahre “Darbringung“ in der Erfüllung des Gotteswillens ersetzt. Das geschah in Christi gehorsamer Selbsthingabe bis zum Tode, mit der er den Willen Gottes erfüllte, wodurch der neue Bund Wirklichkeit geworden ist (196).

Eröffnung des Zugangs zur sakralen Sphäre (10,10.14): Der durch das Todesleiden Christi hindurch erschlossene Zugang zur himmlischen Herrlichkeit kommt auch den Seinen zugute. Dass die Seinen in seinen Weg eingeschlossen sind, sagt Hebr 2,11 mit den Bezeichnungen: “der heiligt und die geheiligt werden“ aus. Die Verschränkung der Zuordnung zum himmlisch-sakralen Bereich mit dem “Hinausgehen“ in den Bereich irdischer Profanität ist im Weg Christi vorgebildet (13,12f). Der Zugang zur himmlischen Herrlichkeit wird erschlossen durch den irdischen Gehorsam Christi. Mit der Erfüllung des Gotteswillens in der Selbsthingabe Christi ist der neue Bund erschlossen, der dann im Akt der himmlischen Kulteinweihung in Geltung gesetzt wird (198f).

Die Selbsthingabe (“Darbringung“ des Leibes) Christi (10,10) ist es, wodurch die Heiligung bewerkstelligt wird. Wie die Jünger Joh 17,14-16 an der Heiligung und Sendung Jesu Anteil gewinnen, so sind auch nach Hebr 10,10 wir durch Christi Selbsthingabe geheiligt, ebenso wie nach Hebr 2,9f die “vielen Brüder“ in die Verherrlichung Christi hineingenommen sind (200).

Irdisches Leiden und himmlisches Opfer Christi sind soteriologisch suffizient (10,11-14). Das “Sitzen zur Rechten“ (2,8.10; 10,12f) ist ebenso aufgegriffen wie das “Vollkommen-Machen“ (2,10; 10,14). 10,11-14 stellt heraus, dass ein fortgesetzter Opferkult aufgrund des Wirkens Christi nicht mehr erforderlich ist. Dafür wird im Anschluss (10,15-17) das Zeugnis des Heiligen Geistes im Jeremia-Zitat in Anspruch genommen. Es geht um das Ende irdischen Opferkultes aufgrund der soteriologischen Suffizienz des Heilswerks Christi (200f).

 

(4) “Der Weg seiner Sarx“ (10,19f.21f)

 

Der “Weg seiner Sarx“, d.h. der durch Christi irdisches Leben und Sterben gebahnte Weg des irdischen Gehorsams, ist der nun für uns eröffnete Weg ins Allerheiligste. Der Zugang zum himmlischen Heiligtum wird im irdischen Gehorsam gewonnen, nicht im irdischen Opferkult (203).

Der Weg seiner Sarx“ bezeichnet die irdische Daseinsweise, die Christus mit der Inkarnation an- und auf sich nahm (2,14; 5,7). Den Zugang zum himmlischen Allerheiligsten hat Christus für uns neu eingerichtet als einen noch nicht dagewesenen und lebendigen Weg, den Weg seines leiblichen Gehorsams in der irdischen Existenz (206).

Mit der Sarx Christi war sein irdisches Dasein angesprochen. Die Rede von seinem Blut bezieht sich auf die durch sein Blut bewirkte Reinigung des himmlischen Heiligtums und der Gewissen der Adressaten (9,13f.22f; 12,24) (207).

Der Hebr sagt nicht, dass es gelte Christus nachzufolgen. Er fasst das Verhältnis der Seinen zu Christus in die Abfolge des Gehorsams gegen Christus nach seiner Erhöhung (“Als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden“ 5,9). Den durch Christus eröffneten Weg beschreitet man, indem man, gleich ihm, irdisch im Gehorsam lebt (209).

 

(5) Ertrag

 

Das irdische Geschehen von Leiden und Sterben Christi wird im Hebr nicht opferkultisch bzw. sühnetheologisch gedeutet. Der irdische Weg Jesu Christi ist die gehorsame Erfüllung des Willens Gottes im Leben und Leiden und erreicht seinen Höhepunkt in der “Darbringung“ des Leibes Christi, d.h. in seiner Selbsthingabe, die er auf Erden vollzog. Diese tritt auf Erden an die Stelle des irdischen Opferkults. Damit ist die in der ersten Heilssetzung (diatheke) begründete irdische Kultordnung obsolet. Der Hebr versteht das irdische Leiden und Sterben Jesu als Grund seiner Erhöhung. Diese ist seine Einsetzung in sein himmlisches Amt, Beginn seines Hohepriestertums. Als himmlischer Hoherpriester bringt er seine Erfahrung der conditio humana fürbittend für die Seinen zur Geltung. In seinem Weg durch Schwachheit und Leiden ist der angefochtenen Gemeinde der eigene Weg zu himmlischer Herrlichkeit vorgezeichnet (211).