C. Die theologische Problematik des Sühnetodes Jesu

 

1. Jesu Wirken war auf die Gegenwart gerichtet
Anhang: Bei dem Gedanken stellvertretender Sühne handelt es sich um post eventa angestellte Reflexionen

2. Der historische Jesus hat seinen Tod nicht als Sühnegeschehen gedeutet
Anhang a: Durch das Opfer (Jesu Christi) erlöst?
Anhang b: Jes 53,7: Keine Stellvertretung im Erleiden der Strafe, sondern Verzicht auf Vergeltung

3. Der Gott Jesu braucht kein Sühnopfer
4. "Beim Herrn ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle" (Ps 130,7)

 

1. Jesu Wirken war auf die Gegenwart gerichtet

 

(1) Sein Wirken war nicht abhängig von seinem zukünftigen Tod
(2) Die frühe Urgemeinde hat die Inhalte ihrer Interpretation aus ihrem jüdischen Vorstellungsbereich genommen
(3) Bekommt der Weg Jesu seinen Sinn erst durch das Kreuz?
(4) Können frühere Antworten von uns einfach übernommen werden?

 

(1) Sein Wirken war nicht abhängig von seinem zukünftigen Tod

 

W. Marxsen (1961/62): Das Kreuz als Heilsereignis wird bei den Synoptikern nur an zwei Stellen ausgesagt: im Lytronwort Mk 10,45 b und in dem Abendmahlswort Mk 14,24 par. Wenn die Zeugen das Wirken Jesu so verstanden hätten, dass es auf den Tod als Heilsereignis hin ausgerichtet war, dann hätte man in dem breiten Strom der Überlieferung mehr Spuren davon entdecken müssen. Dazu kommt, dass die beiden Stellen (Abendmahlswort, Lytronwort) von der Forschung heute weithin als nachösterliche Interpretationen verstanden werden. Dieser vereinzelte Gedanke steht im Widerspruch zu der übrigen Jesustradition (208).

Die Zeugen sehen Jesu Wirken anders. Wenn Jesus Dämonen austreibt, wenn er Kranke heilt, wenn er durch seinen Ruf Menschen in den Glauben hineinstellt, wenn er an seinem Tisch Zöllnern und Sündern die endzeitliche Mahlgemeinschaft gewährt, wenn er sagt, dass der kommende Menschensohn richten wird entsprechend dem jetzigen Verhalten der Menschen zu ihm, dann nimmt er damit die Zukunft vorweg. Er nimmt sie insofern vorweg, als sie jetzt schon, in seiner Gegenwart, bei der Begegnung mit ihm entschieden wird. Durch sein Tun und Reden, in seinem Wirken, stellt Jesus die Menschen seiner Umgebung unmittelbar vor Gott. Jetzt werden die Sünden vergeben, jetzt geschieht das Eschaton. Die Vollmacht ist von den Zeugen so unmittelbar erfahren worden, dass sie in ihm den eschatologischen Boten erfahren, der jetzt die Armen selig preist. Alles ist auf das Jetzt gestellt, auf die Gegenwart Jesu, nicht aber abhängig gemacht von seinem zukünftigen Tod, der dann erst das Heil Wirklichkeit werden ließe (208f).

So spielt das Kreuz als Heilsereignis in diesem ganz breiten Strom der Überlieferung überhaupt keine Rolle. Dass man dieses Geschehen später weiter verkündigt, hängt mit Ostern zusammen. Dieses: er lebt! sagt aus, dass die Urgemeinde, die Jesu Wirken als eschatologischen Kairos erfahren hat, dieses Wirken im Jesuskerygma weiter anbieten kann. Aus dem Einmal ist das Ein-für-allemal geworden, aber so, dass dieses Einmal erkennbar bleibt und (durch Ostern) nun ein-für-allemal verkündbar geworden ist. Hätte Jesus seinen Tod als Heilsereignis verstanden, würde sein auf die Gegenwart gerichtetes Wirken unverständlich. Die Zeugen haben Jesu Wirken nicht so verstanden, dass sein Tod heilsnotwendig sei. Die Zeugen haben Jesus als den erfahren, der durch sein Wort und sein Tun die Menschen mit Gott in Ordnung bringt, d.h. die Sünde wegnimmt (209).

W. Marxsen (1968): Hat Jesus auf seine Umgebung den Eindruck gemacht, dass er seinen Tod als Heilsereignis verstand und dass er dementsprechend sein Leben auf diesen Tod als Heilsereignis ausrichtete? Wer so auftritt wie Jesus, muss mit Zusammenstößen und dann auch mit äußersten Konsequenzen rechnen. Selbst wenn der Tod als die äußerste Konsequenz aus dem Wirken Jesu zu verstehen ist, dann ist damit noch nicht gesagt, dass das eine notwendige Konsequenz ist, die dem Wirken erst den eigentlichen Sinn gibt, dann ist damit dieser Tod noch nicht als Heilsereignis verstanden (163).

Die Leidensankündigungen sagen nicht Jesu Tod als Heilsereignis aus, sondern zeichnen Jesu Weg als Weg unter dem 'dei' Gottes, als einen gott-gewirkten Weg, den der Menschensohn geht. Hier liegt eine Aussage über die Spannung von Hoheit und Niedrigkeit vor, ähnlich wie beim 'Kreuzesweg der Nachfolger', den z.B. Paulus geht. Aber als Heilsereignis kommt das Kreuz hier nicht in den Blick. Auch die Passionsgeschichte lässt sich nicht so interpretieren, dass sie das Kreuz als Heilsereignis aussagt (163f).

Wenn Jesus Dämonen austreibt, wenn er Kranke heilt, wenn er durch seinen Ruf Menschen in den Glauben hineinstellt, wenn er an seinem Tisch Zöllnern und Sündern die endzeitliche Mahlgemeinschaft gewährt, wenn er sagt, dass der kommende Menschensohn richten wird entsprechend dem jetzigen Verhalten der Menschen zu ihm, dann nimmt er damit die Zukunft vorweg. Er nimmt sie insofern vorweg, als sie jetzt schon, in seiner Gegenwart, bei der Begegnung mit ihm entschieden wird. Durch sein Tun und Reden, in seinem Wirken, stellt Jesus die Menschen in seiner Umgebung unmittelbar vor Gott. Jetzt geschieht das Eschaton. Die Vollmacht Jesu ist von den Zeugen so unmittelbar erfahren worden, dass sie in ihm den eschatologischen Boten erfahren, der jetzt die Armen selig preist. Alles ist auf das Jetzt gestellt, auf die Gegenwart Jesu, ist aber nicht abhängig gemacht von seinem zukünftigen Tod, der dann erst das Heil Wirklichkeit werden ließe (164).

So spielt das Kreuz in diesem breiten Strom der Überlieferung keine Rolle. Dass man dieses Geschehen später weiter verkündigt, hängt mit Ostern zusammen. Dieses: “er lebt“! sagt aus, dass die Urgemeinde dieses Wirken im Jesus-Kerygma weiter anbieten kann. So kann der Historiker mit großer Sicherheit urteilen, dass Jesus seinen Tod nicht als Heilsereignis verstanden hat. Hätte er das getan, würde sein auf die Gegenwart gerichtetes Wirken unverständlich (165).

Die Interpretation des Kreuzes, so wie die Urgemeinde sie vornimmt, lässt sich nicht auf Jesu eigene Intention zurückführen. Die Zeugen haben Jesu Wirken nicht so verstanden, dass sein Tod heilsnotwendig sei. Die Zeugen haben Jesus als den erfahren, der durch sein Wort und sein Tun die Menschen vor Gott stellt, die Menschen mit Gott in Ordnung bringt, d.h. die Sünde wegnimmt. Das wird nun ausgedrückt mit Hilfe jüdischer Vorstellungen vom Sühnopfer und vom stellvertretenden Opfer. Die Vorstellung charakterisiert einen Tod als Opfer, um positiv auszusagen, dass durch dieses Opfer Versöhnung geschieht, dass dadurch Sünde weggenommen wird. Diese Vorstellung ist vorgegeben und bekannt (165).

Die Vorstellung wird auf das Kreuz übertragen. Damit wird von diesem einen Punkt im Leben Jesu und damit von Jesus dasselbe ausgesagt, was das Jesus-Kerygma der synoptischen Tradition von seinem gesamten Wirken aussagt. Der Opfergedanke ist hier nicht der entscheidende, denn er ist mit der Vorstellung gegeben. Das Vergleichsmoment, das die Übertragung der Vorstellung ermöglicht, ist das Moment der geschehenden Versöhnung (165).

Das urchristliche Kerygma, das den Tod Jesu als Heilsereignis aussagt, lässt sich historisch am Kreuz auf Golgatha nicht verifizieren, hat aber dennoch Anhalt an Jesus selbst, an seinem Wirken. Denn das Kerygma sagt das aus, was Jesus von Nazareth gebracht hat: Versöhnung mit Gott (166).

Das Christuskerygma sagt von einem Punkt des Lebens Jesu dasselbe aus, was das Jesus-Kerygma von seinem gesamten Wirken sagt. Das Christus-Kerygma sagt etwas vom Kreuz Jesu aus, was historisch nicht verifizierbar ist: die Heilsbedeutung seines Todes. Das Jesus-Kerygma sagt das nie von Jesu Tod aus (2 Ausn.). Das Christus-Kerygma ist am Jesus-Kerygma zu prüfen, weil nur das Jesus-Kerygma das Dass des Christus-Kerygmas legitimieren kann (167).

 

Durch das Sehen des Auferstandenen erfahren die Zeugen: Der Gekreuzigte lebt.

Was Jesus gebracht hatte, wird (nun durch das Kerygma) weitergebracht. Im Jesus-Kerygma erscheint Ostern lediglich im Dass der Verkündbarkeit der Jesustradition. Ostern wird aber nicht expliziert. Im Kerygma treibt der Auferstandene seine Sache weiter. Nach Ostern entsteht das Christus-Kerygma. In diesem Kerygma wird (von Ostern her) das Jesus-Kerygma so aufgearbeitet, dass sein Inhalt zunächst am Kreuz, später vom Gekommensein, später in der Präexistenz ausgesagt wird (168).

Das Jesus-Kerygma gibt dem Christus-Kerygma seinen Inhalt. Hier soll die fortdauernde Gültigkeit dessen, was Jesus gebracht hat, unterstrichen werden. Die Qualifikation ist Ausdruck der Verkündbarkeit der Jesustradition, ist damit Explikation der Ostererfahrung. Der Inhalt des Jesus-Kerygmas wird (unter Aufnahme traditioneller Vorstellungen) gleichsam zu einem Summarium, das nun an einem Punkt des Lebens Jesu lokalisiert wird. Damit wird jetzt personal ausgesagt, was die Zeugen im Vollzug des Wirkens Jesu erfahren haben (168).

Das, was die Zeugen mit dem irdischen Jesus, mit seinem Reden und Tun erfahren haben, was dann durch Ostern als verkündbar erfahren worden ist, das wird (nach Ostern) vom Kreuz ausgesagt (in zeitgenössischen Vorstellungen). Es wird aber nicht ausgesagt, was am (historischen) Kreuz passiert ist. Ostern ist der eine wirkliche Feiertag. Weihnachten, Epiphanias, Karfreitag stehen nebeneinander als Versuche, das, was Jesus gebracht hat, an je verschiedenen Punkten auszusagen (169).

Die Prüfung des Kerygmas hilft, auf die Aussagerichtungen zu achten, die im Jesus-Kerygma und im Christus-Kerygma entgegenlaufen und die für die sachgemäße Verwendung der Kerygmen von entscheidender Bedeutung sind (170).

W. Marxsen (1976): Der schimpfliche Verbrechertod Jesu am römischen Galgen kam für seine Anhänger überraschend und führte sie in Verzweiflung und Resignation. Kurze Zeit später hat sich bei denselben Menschen eine totale Wandlung vollzogen (84).

Ganz früh begegnen Aussagen über das Kreuz, die dem Sinnlosen einen Sinn gaben, den man dem Geschehen auf Golgatha nicht ablesen konnte. Es geht um die Worte 'für uns'. Jesu Tod wurde ausgesagt als Sühnopfer (Röm 3,25) oder als stellvertretendes Opfer (2Kor 5,14). Mit Hilfe vorgegebener, in der damaligen Umwelt bekannter juridischer und kultischer Vorstellungen wurde der rätselhafte, schmachvolle Verbrechertod Jesu als Heilsereignis ausgesagt. Das Kreuz wurde jetzt gegen den Augenschein als Sieg verkündet (85).

Die Urgemeinde hat Jesu Kreuz interpretiert. Ohne jede Interpretation wäre das Kreuz als bloßes historisches Ereignis nichts-sagend. Können wir mit den Inhalten der Interpretation noch etwas anfangen? Was ist das für ein Gott, der eine so grausame Veranstaltung wie die Hinrichtung eines Unschuldigen (seines Sohnes) benötigt, um Versöhnung zwischen sich und den Menschen (seinen Geschöpfen) eintreten lassen zu können (86)?

 

(2) Die frühe Urgemeinde hat die Inhalte ihrer Interpretation aus ihrem jüdischen Vorstellungsbereich genommen

 

Man hat sich bemüht, Jesu eigenes Verständnis von seinem Tod als in Übereinstimmung mit der urgemeindlichen Interpretation des Kreuzes aufzuzeigen. Man weist in diesem Zusammenhang vor allem auf die Leidensankündigungen hin (Mk 8,31ff; 9,30ff; 10,32ff). Hier ist die Rede davon, dass der Menschensohn viel leiden muss, verworfen werden muss von den Ältesten, Hohenpriestern und Schriftgelehrten, getötet werden muss und nach drei Tagen auferstehen wird. Diese Leidensankündigungen wirken auf das Verständnis des ganzen Evangeliums ein. Man sieht Jesus in Auseinandersetzungen mit Gegnern, anfänglichen Verfolgungen und versteht nicht den letzten Abschnitt seines Weges als Passionsweg, sondern sein ganzes Leben wird als solcher bezeichnet. Der Christus-Hymnus (Phil 2,5ff) wird als Zusammenfassung des Weges Jesu verstanden: “Wenngleich ursprünglich in göttlicher Gestalt, entäußerte er sich selbst, nahm Knechtsgestalt an, wurde gehorsam, ja gehorsam bis zum Tode am Kreuz“. Ntl Forschung ist heute nahezu einhellig der Meinung, dass die Evangelisten das Leben Jesu in der Rückschau zeichnen, d.h. dass das Wissen um den Ausgang die Darstellung bestimmte (88).

Handelt es sich bei den Leidensankündigungen um vaticinia ex eventu, d.h. um Vorhersagen, die erst nach Eintritt des Ereignisses entstanden sind? Trifft das zu, dann wäre aus dem Wissen der Urgemeinde um den Weg Jesu im Nachhinein ein Vorauswissen Jesu um seinen Weg geworden. Im Text ist die Rede davon, dass der Menschensohn leiden 'muss'. Dieses 'muss' drückt aus, dass es sich um den Willen Gottes handelt. Es ist nicht davon die Rede, dass das Kreuz, das Jesus bevorsteht, ein Heilsereignis ist, das Jesus 'für uns' auf sich nimmt, sondern es ist von einem Weg die Rede, den man 'Heilsweg' nennen kann, wenn man ihn unter dem 'Muss' Gottes versteht (89).

 

(3) Bekommt der Weg Jesu seinen Sinn erst durch das Kreuz?

 

An Jesu Kreuz war nicht abzulesen, dass es ein Heilsereignis war. In der Fülle der Traditionen vom Reden und Wirken Jesu spielt sein Tod nur äußerst selten eine Rolle. Da diese Traditionen erst nach Karfreitag zusammengestellt wurden, als man sich mit dem Tod Jesu auseinandersetzen musste, hat diese Feststellung ein erhebliches Gewicht. Da es sich ursprünglich um Einzeltraditionen handelt, erkennt man, dass es überhaupt problematisch ist, einen Weg Jesu nachzeichnen zu wollen. Die Einzeltraditionen haben sozusagen punktuellen Charakter. Jedes bildet in sich eine abgeschlossene Einheit. Jede Überlieferung für sich sagt das Ganze aus. Das Ganze wird in Variationen ausgesagt (91).

Der Rahmen, in den die Einzeltraditionen gefügt wurden, erweckt den Eindruck, dass es sich um einen Weg Jesu gehandelt hat. Der ist jedoch literarisch und historisch sekundär. Von dorther erweisen sich die Leidensankündigungen, die Jesu Weg thematisieren, als sekundär. Jesu Tod erscheint nicht als besonders herausgehobenes (Heils-)Ereignis, sondern als eine Station, der andere vorangehen (Mißhandlung, Schmähung, Übergabe an die Hohenpriester, Ältesten, Schriftgelehrten usw.), der eine weitere Station folgt (Auferstehung nach drei Tagen) (91f).

Im gesamten Überlieferungsmaterial gibt es nur zwei Traditionen, die eine Ausnahme bilden (Mk 10,45 und Mk 14,24), deren nachträgliches Entstehen leicht zu erklären ist. Daraus darf geschlossen werden: der engste Kreis um Jesus hat zu seinen Lebzeiten Jesu Wirken nicht so verstanden, dass Jesus seinen Tod wollte. Nirgendwo wird erkennbar, dass Jesus sein Wirken auf seinen Tod hin ausgerichtet hätte, dass sein Wirken erst mit seinem Tod wirklich zum Ziel käme. Seine Jünger haben ihn jedenfalls nicht so verstanden (92).

Da Worte über eine Heilsbedeutung des Todes Jesu aus der Zeit seines Lebens fehlen, war der eigene Tod für Jesus offenbar kein 'Thema', das ihm mitzuteilen wichtig war. So muss daher ausgeschlossen werden, dass (im Verständnis seiner engsten Umgebung) Jesus seinen Tod als Heilsereignis gewollt hat, ebenso, dass er ihn als notwendige Konsequenz seines Wirkens verstand. Jesus wurde erlebt als einer, der seinen Tod bewusst als mögliche Konsequenz seines Wirkens riskierte (92f).

Ein Martyrium war Jesu Tod nicht. Solche 'heldischen' Züge finden sich nicht in den Jesus-Traditionen. Jesus nahm in seinem Wirken ein Risiko bis zur letzten Konsequenz auf sich. Dass diese eintrat, machte ihn zum Märtyrer. Dadurch wird aber nicht sein Tod qualifiziert, sondern sein Wirken. Dieses Wirken hätte keine geringere Qualität gehabt, wenn es nicht zum Märtyrertod geführt hätte. Das Problematische an der Interpretation des Kreuzes als Heilsereignis bleibt die Isolierung des Heils auf eben dieses Ereignis. Wenn Gott auf Golgatha die Welt mit sich versöhnt hat, dann verliert das Wirken Jesu an Heilscharakter (93).

 

(4) Können frühere Antworten von uns einfach übernommen werden?

 

Im Zentrum von Verkündigung und Wirken Jesu stand die Aussage der jetzt einbrechenden Gottesherrschaft (Mk 1,15). Im Umkreis Jesu erwartete man (in apokalyptischen Vorstellungen) die Ablösung des gegenwärtigen (bösen) Äons durch einen neuen Äon, den Gott als sein Reich heraufführen würde. Inzwischen bereitete man sich durch Gesetzeserfüllung darauf vor, im Gericht bei der Äonenwende bestehen zu können (94f).

Diese vorgegebene Vorstellung durchkreuzt Jesus insofern, als er sagt: Es ist keine Zeit mehr. Die Gottesherrschaft ist jetzt im Einbrechen. Weil die Gottesherrschaft jetzt einbricht, ist sofortige Umkehr die einzig mögliche Konsequenz. Glauben heißt sich einlassen auf die als Frohbotschaft angesagte Gottesherrschaft. Gottesherrschaft ist ein Geschehen, das sich dort ereignet, wo Gottes guter Wille geschieht. Sich darauf einlassen, heißt Gottes guten, aber nicht den eigenen Willen tun. Gottes Willen tun, heißt, Gott im eigenen Leben zum Sieg kommen lassen. Nicht den eigenen Willen tun, sondern zugunsten des Willens Gottes, den man an sich und durch sich geschehen lässt, auf den eigenen Willen verzichten.

Jesus geht es um das Angebot des mit der Gottesherrschaft einbrechenden Heils für alle Menschen. Die Armen werden selig gepriesen. Die Leidtragenden sollen getröstet und die Hungernden satt werden. Jesus setzt sich für die Verfolgten ein und geht den Verlorenen nach. Er wendet sich gegen die, die die Kleinen unterdrücken. Da die Herrschenden das gerade auch mit dem Gesetz und mit kultischen Vorschriften tun, übt er Kritik an Gesetz und Kultus. Er kann das Gesetz verschärfen (schon wer zürnt, nicht erst wer tötet, ist des Gerichts schuldig). Er kann es aber auch erleichtern und fast aufheben (Nächstenliebe geht vor Sabbatvorschriften) (95).

Man kann aus der Botschaft Jesu eine Lehre machen, aus der Lehre ein Programm. Dann kann man versuchen, dieses Programm weltweit durchzusetzen. Das ist nicht das für Jesus Spezifische. In den Traditionen ist viel von der Verkündigung die Rede. Daneben gibt es Traditionen, die Jesus als Wirkenden darstellen: Er setzt sich mit Sündern an einen Tisch; er bricht um des Wohles von Menschen willen den Sabbat; er teilt Speise aus; er dient zu Tisch; er treibt Dämonen aus usw... Alle Einzeltraditionen wollen das, was die frühen Zeugen von Jesus empfangen haben, weitersagen. Das können sie unter Aufnahme seiner Verkündigung; das können sie unter Aufnahme seines Tuns. Die Verkündigung interpretiert das Tun, das Tun interpretiert die Verkündigung (95f).

Wenn Jesus die einbrechende Gottesherrschaft ansagt, dann sagt er an, dass sie in seinem Tun einbricht. Wenn Jesus sich den Kleinen und Bedrängten zuwendet, wenn er Dämonen austreibt, dann verkündigt er: In diesem meinem Tun kommt die Gottesherrschaft zu euch. Man kann Jesu Botschaft nicht von seinem Tun lösen (und zu einer Lehre machen). Man versteht aber auch sein Tun, sein Eintreten für die Bedrückten, nur richtig, wenn man es zusammen mit seiner Botschaft versteht, nicht aber als bloßes Modell eines Verhaltens, das nachzuahmen wäre. Nicht um Humanität geht es Jesus, sondern um Einbruch der Gottesherrschaft in diese Welt. Wo man diesen Einbruch an sich und durch sich geschehen lässt, da kommt dann das heraus, was wir Humanität nennen. Wer die Gottesherrschaft kommen lässt (“Trachtet zuerst nach der Gottesherrschaft und nach ihrer Gerechtigkeit...“ Mt 5,33), für den ist alles andere nur Konsequenz (96f).

Gott will jetzt, in diesem Augenblick seine Herrschaft als Heil unter den Menschen verwirklichen. Das ist die Sache Jesu. Diese Sache ist aber nur da richtig verstanden, wo man verstanden hat, dass der Weg Gottes zu den Menschen über Menschen geht, die die Sache Jesu selbst leben. Für die Zeugen war klar: Die Gottesherrschaft kommt durch den Menschen Jesus zu uns; sie kommt nur durch ihn, darum ist auch nur an ihm abzulesen, wie die Gottesherrschaft kommt: so dass er sich für sie darauf eingelassen hat. Wenn man später erwartet, dass auch jetzt die Gottesherrschaft einbricht, heißt das für jeden, dem daran liegt, dass sie einbricht: Sie bricht nur ein, wenn er selbst sich darauf einlässt. Wem es um die Sache Jesu geht, der ist zuallererst selbst gefragt (97).

Jesus lässt sich dadurch ganz auf die Gottesherrschaft ein, dass er fragt, wie Gott dem anderen begegnen will. Gottes Vater-Willen als Heil verstehen und tun heißt, dem Nächsten Gottes Heil bringen. So kommt durch den Menschen Gottes Heil zum Nächsten. Aber es bleibt nur dann Gottes Heil, wenn der Mensch, der es bringt, ganz von sich selbst absieht. Jesus hat sich die Frage verboten: Verdient der andere, dass ich ihm Liebe bringe? Wie Gottes Heil bei mir einbrechen will, ohne dass ich Vorbedingungen zu erfüllen habe, so will es auch durch mich ohne Vorbedingungen, die der andere erst zu leisten hätte, zu ihm kommen. Weil Gottes Liebe zu den Menschen Liebe zu Sündern, also Feindesliebe ist, ist die spezifische Form der Liebe Jesu nicht einfach Nächstenliebe, sondern Feindesliebe. Wer sie übt, riskiert ausgenutzt zu werden, denn wer Feindesliebe übt, legt alle eigenen Waffen weg. Gottes Konkret-Werden der Herrschaft durch mich besiegt die eigene Bequemlichkeit, das Pochen auf (begründetes) eigenes Recht. Wie der andere ist, wer der andere ist und wie er sich verhält, ist für Gottes unbegrenzten Liebeswillen gleichgültig. Immer geht es um das Heil des anderen. Immer hängt sein Heil davon ab, ob ich mich auf die Gottesherrschaft einlasse (98).

Diese Selbstentäußerung kann man keinem Menschen zumuten, der nicht davon überzeugt ist, dass die einbrechende Gottesherrschaft gerade das in diesem konkreten Augenblick von ihm fordert, dass sie ihn zu solchem Tun mitreißt. Ohne Bezug zur Gottesherrschaft einfach als ethische Norm, muss solches Tun als dumm bezeichnet werden. Wer das tut, riskiert, dass die Gesellschaft ihn einen Trottel nennt. Die Familie hält ihn für verrückt, wie es Jesus geschehen ist. Nach der Diffamierung folgt die Isolierung. Dieser Mensch setzt sich über die Normen hinweg, die das Gemeinschaftsleben regeln, an die man sich halten muss, wenn das Miteinander klappen soll. Da behauptet Jesus, Gottes Willen zu tun und bricht den Sabbat. Der Mann lehrt nicht nur gefährlich, er tut auch, was er lehrt und stiftet andere (im Namen Gottes) dazu an. Den Mann muss man beseitigen. Was für die Gesellschaft zur Selbsterhaltung nötig war, hatte sie erreicht (99).

Jesus ist nicht den Niedrigkeitsweg gegangen mit dem Martyrium als Ziel. Er hat weder Leiden noch Tod gewollt. Durch jedes einzelne Reden und durch jedes einzelne Tun, durch sein ganzes Verhalten wollte er die Gottesherrschaft bringen. Er ließ sich auf die einbrechende Gottesherrschaft ein. Weil er das tat, war er nicht tragbar, denn mit Jesu Gott wollten die Sünder und wollte die Gesellschaft nichts zu tun haben (99).

Die Gottesherrschaft kann in dieser Welt nur der wirklich leben, der als äußerste Konsequenz den Tod riskiert. Und nur wo der Tod ernsthaft als Risiko einkalkuliert wird, kann die Gottesherrschaft bedingungslos gelebt werden. Die Jünger erkannten, dass Jesu Tod in Wahrheit keine Niederlage war, sondern dass hier die Hoheit der Gottesherrschaft bis zur letzten Konsequenz gelebt worden war. Er war 'für uns' da. Er hat uns mit Gott in Ordnung gebracht. Er tat das immer während seines Lebens. Gott-entfremdete Menschen hat er mit Gott versöhnt, indem er ihnen (ohne Vorbedingung) die Gottesherrschaft zulebte. Wie konsequent er das tat, zeigt sein Kreuz. Jesu Weg war kein Weg zum Kreuz, sondern es war ein Weg am Rande des Kreuzes, weil jedes einzelne Wirken das Risiko des Scheiterns in sich barg. Das Bekenntnis zum Auferstandenen drückt aus, dass der irdische Jesus in unbegrenzter Souveränität die Hoheit der Gottesherrschaft lebte. Die Konsequenz der Hoheit wird am 'Scheitern' deutlich (100).

 

Anhang: Bei dem Gedanken stellvertretender Sühne handelt es sich um post eventa angestellte Reflexionen

 

P. Fiedler (1982)

Ist das Trinken des ‘Blutes’ für Juden zumutbar?

Esset das Fleisch nicht mit seinem Blut, in dem sein Leben ist” (1Mose 9,4)! (3Mose 17,10-14; 5Mose 12,16.23-25;15,23; Wsh 12,5; Hes 39,17ff; Offb 17,6)

Das Meiden von Blut wurde selbst Heidenchristen auferlegt: Apg 15,20.29; 21,25.

Der Einwand mit dem jüdischen Horror vor Blutgenuß war so lange gültig, als es Judenchristen gab (200).

Bezugnahme auf Jes 53?: 1 Ptr 2, 21-25 ausgenommen, geht es nirgends um den Gedanken der stellvertretenden Sühne, folglich ist auch eine Rückführung dieser Interpretation auf Jesus ausgeschlossen. Der Gedanke der stellvertretenden Sühne und der Rückgriff auf die Gottesknechtslieder haben erst relativ spät Einfluss auf ntl Texte bekommen (201).

Die Vorstellung des stellvertretenden Sühnetodes (nur auf Israel bezogen) findet sich erst im hellenistischen Judentum in der Mitte des 1. Jh.s n. Chr. Von den theologischen Differenzen zwischen den beiden ‘Judentümern’, den ‘Hebräern’ und den ‘Hellenisten’, zeugt die Umdeutung von Jes 53 in der aramäischen Paraphrase, während die aus dem hellenistischen Judentum stammende LXX (Septuaginta) den Gedanken der stellvertretenden Sühne weitergegeben hat. Solche Differenzen sind auch noch in der Urkirche wirksam (Apg 6,1) (203).

Wir können davon ausgehen, dass die Sühnevorstellung z.Zt. Jesu und der Urkirche erst und nur im hellenistischen Judentum vorhanden war, wo sie zur Sinndeutung Jesu Kreuzestodes herangezogen werden konnte; dagegen war sie im aramäisch-sprechenden Judentum, d.h. im theologischen Umfeld des irdischen Jesus und seiner Jünger, nicht präsent (204).

Bei der Behauptung, Jesus habe sein Sterben als heilsnotwendig erachtet, läge es nahe, dass er sich den (jüdischen und römischen) Behörden gestellt hätte. Statt dessen wurde er von einem seiner engsten Vertrauten verraten. Es drängt sich die Vermutung auf, dass sich Jesus am Ölberg aufhielt, um sich verborgen zu halten. Die zum Paschafest angereisten Pilgerscharen kamen nicht alle innerhalb der Stadtmauern unter, so dass man auch den Westhang des Ölbergs zum Stadtgebiet erklärt hatte. Hier war es relativ leicht, unterzutauchen (204).

Jesu Basileia-Botschaft lässt sich mit der Erwartung eines heilsmittlerischen Todes nicht vereinbaren. Jesus hat vielmehr bis zuletzt an der von ihm verkündigten Heilsbotschaft festgehalten. Die Interpretamente in den Abendmahlsüberlieferungen -”(Neuer) Bund”, stellvertretende Sühne - setzen die Ostererfahrung voraus (205).

Die Erwartung, das Heil werde ‘durch Jesu Tod’ (als Mittel) geschenkt werden, hätte einen massiven Rückschritt hinter das der Hebräischen Bibel vertraute Wissen um das souveräne heilschaffende Handeln Gottes bedeutet, dessen Vergebung auf keinen Tod, auch nicht auf den des ‘Re-Präsentanten’ seiner Basileia, angewiesen ist. Solange der Gott Jesu kein anderer ist als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, hat man für das Verständnis, das Jesus (und seine Jünger) dem ihm drohenden Tod entgegenbringen konnte(n), die Tatsache zu würdigen, dass diesem Gott die (Selbst-) Preisgabe menschlichen Lebens in den Tod unzumutbar ist. Hier heiligt kein noch so edler Zweck das Mittel. (In der sog. ‘Opferung Isaaks’ hat Gott den Tod des Kindes gerade verhindert).

Die Tatsache, dass das NT soteriologische Entwürfe bewahrt, die nicht auf Jesu Heilstod abheben, unterstreicht die über den Karfreitag hinaus bestehenden Vorbehalte gegen ein heilsmittlerisches Todesverständnis. Den Grund für derartige Vorbehalte bietet letztlich das biblische Gottesbild (211).

Der Lösungsvorschlag, der die Differenz zwischen Jesu Basileia-Botschaft und jeder Deutung seines Todes als Heilsereignis ernst nimmt, geht allein von Mk 14,25 aus. Nur so kann die Verschiedenheit soteriologischer Konzeptionen im NT als legitim angesehen werden, darunter eben auch solche, die Jesu Tod keine Heilsbedeutung zusprechen, wie Phil 2,6-11, die Logienquelle oder Lk/Apg (213).

Als historischen Kern bewahrt Mk 14,25 Jesu persönliche feste Zuversicht, an der kommenden Gottesherrschaft teilzunehmen, wie immer sein weiterer Lebensweg verlaufen werde - und sei es in die Dunkelheit des Todes hinein. So hat Jesus an Gott festgehalten (214f).

Bei dem Gedanken stellvertretender Sühne handelt es sich um post eventa angestellte Reflexionen, in denen es darum ging, für Ereignisse eine Sinngebung von Gott her zu finden, die gerade gläubigen Israeliten zu schaffen machen mußten. In eben dieser Situation standen die Jünger Jesu, die nach Ostern seine Passion verkündeten. Die Erfahrung des Auferweckten, der somit trotz seines schrecklichen Todes von Gott endgültig bestätigt worden war, gab ihnen die Möglichkeit und das Recht, nach Gottes Absichten gerade mit diesem Tod zu fragen. So bildete man einerseits Bekenntnisformeln zum Tode Jesu “für uns (ere Sünden)”, andererseits ließ man Jesus selbst den Heilssinn seines Sterbens (in unterschiedlichen Ausformungen) aussprechen; dafür bot das letzte Beisammensein mit seinen Jüngern den besten Anlass (Fi 215)