3. Der Gott Jesu braucht kein Sühnopfer

 

J. Vollmer (1997)

 

Die Deutung des Todes Jesu muss Jesu Botschaft und Verhalten entsprechen. Jesus hat nicht einen unnahbar heiligen Gott verkündigt, der in seinem Volk nur gegenwärtig sein kann, wenn immer wieder (Lev 16) bzw. ein für allemal (Hebr) Sühne geleistet wird. Jesus hat Gott als den unendlich liebenden und unendlich gütigen Vater verkündet, der auch seine Feinde liebt und uns zumutet, seiner Feindesliebe zu entsprechen (Mt 5,43-48). Jesus hat die Vergebung und Liebe Gottes grundlos und bedingungslos ohne jeden Vorgriff und ohne jeden Verweis auf seinen Tod als Sühnetod, lange vor seinem Foltertod und der Deutung dieses Todes als Sühnetod zugesprochen und in seinen Mahlgemeinschaften und Heilungen zugeeignet. Er hat Gottes Liebe im hic et nunc für den Sünder in Anspruch genommen und sein Lebensopfer nicht als konstitutive Voraussetzung göttlicher Zuwendung verstanden. Der Irdische kündet das Reich Gottes an und dokumentiert in seiner Gemeinschaft mit Sündern die Vergebung Gottes. Jesus erlöst durch sein Leben und Handeln und nicht durch seinen Tod. Vielmehr ist unter das Versöhnungswerk Jesu Christi auch schon die Tatsache zu rechnen, dass er während seines irdischen Wirkens Menschen Sündenvergebung zugesprochen und diese Vergebung durch Praktizierung von (Tisch-)Gemeinschaft auch gelebt hat. Dabei wäre es eine abwegige Vorstellung, anzunehmen, diese Vergebung sei, weil sie vor dem Kreuzestod Jesu Christi geschehen ist – noch nicht voll gültig. Die Unmittelbarkeit seiner kindlichen Gottesbeziehung und seines abgrundtiefen Gottvertrauens ist mit der unnahbaren Heiligkeit eines, um uns seine Liebe zu erweisen, Sühne gewährenden und, um uns vor seinem Zorn zu retten, Sühne fordernden Gottes unvereinbar. Dass Gott in seiner Heiligkeit nicht mit der Sünde koexistieren kann, das gilt für das kultisch-priesterliche Denken, dass Gott als der gütige Vater mit dem Sünder koexistiert, dafür hat sich Jesus gerade gegen das kultisch-priesterliche Denken verbürgt (120).

Opferkult und Sühnedenken sind auch innerhalb der Traditionen des Ersten Testaments keineswegs unumstritten. Gott will keine Opfer (Am 5,21-25; Hos 6,6). Der neue Bund wird nach Jer 31,31-34 nicht mit blutigen Opfern verbunden, der neue Geist und das neue Herz werden ohne Sühnopfer vermittelt (Ez 36,26-28; Joel 3) (120f).

Der väterliche und mütterliche Gott Jesu vergibt grundlos und bedingungslos, ohne Blut, ohne Sühne und ohne Gewalt.... Gottes Liebe vermag zwischen Sünder und Sünde zu unterscheiden, Gottes Zorn und Heiligkeit nicht. Gottes Liebe vermag grundlos zu vergeben, Gottes Heiligkeit gebraucht Gewalt und fordert ein Sühnopfer...

Die Deutung des Todes Jesu als Sühnetod scheitert nicht zuletzt aber auch daran: dass erst durch das Widerfahrnis der Auferweckung Jesu die Heilsbedeutung seines Todes erschlossen wird: “Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist, dann... seid ihr noch in euren Sünden“ (1 Kor 15,17). Hier tut sich eine weitere Aporie der Deutung des Todes Jesu als Sühnetod auf, denn die Sühnewirkung seines Todes wird durch Jesu Auferweckung zunichte, weil der Auferweckte nicht stellvertretend für uns Sünder den ewigen Zorn Gottes im ewigen Gerichtstod auf sich nimmt.

Der Foltertod Jesu am Kreuz ist in der Perspektive von Jesu Bürgschaft für seinen Gott von Gott weder gewollt noch verfügt. Jesus hat bis in die letzte Konsequenz seines Kreuzestodes als ein Opfer der gottfeindlichen Mächte an Gottes Liebe festgehalten und sie so beglaubigt. Und Gott hat seinen Bürgen auferweckt und sich zu ihm bekannt. Sein Tod am Kreuz ist nicht die Ursache und Voraussetzung unserer Erlösung, sondern die Folge unserer Erlösung durch Gottes bedingungslose Liebe, die Jesus lange vor seinem Tod bezeugt und die in der Bezeugung durch ihn gerade zu seinem Tod geführt hat (121).

 

4. „Beim Herrn ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle“ (Ps 130,7)

 

(1) Die Heilsverkündigung Jesu 
(2) Soteriologische Ansätze im Neuen Testament

 

P. Fiedler

 

(1) Die Heilsverkündigung Jesu

 

(1991): Der irdische Jesus hat bei der Verkündigung der Gottesherrschaft unter seinen Landsleuten einen gewaltsamen Tod als unabdingbare Heilsvoraussetzung weder ausdrücklich noch auch nur einschlussweise in Betracht gezogen. Die Erlösungsvorstellung, die im Vaterunser oder in der Gleichniserzählung vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) erkennbar ist, steht ganz auf biblisch-jüdischem Boden: Gott ist es, der dem Menschen bedingungslos die Versöhnung schenkt und ihn so zur Umkehr einlädt, die sich in der Treue gegenüber dem in der Tora geoffenbarten Willen Gottes kundtut, den Jesus vollmächtig auslegt (187).

In Israel behielt der Glaube an eine Güte, die alle Untaten verzeihen kann, eindeutig die Oberhand (Ez 18,23; Hos 11,8f). Im frühjüdischen Schrifttum findet sich trotz aller Gerichtsdrohungen die breite Überzeugung von Gottes bedingungsloser Güte und Heilszuwendung (187).

Jesus hat den Tempelkult ebensowenig wie die biblischen Propheten grundsätzlich in Frage gestellt. Jesus und seine Jünger haben neben den Festen des jüdischen Kalenders auch den Versöhnungstag gefeiert (189).

Abendmahl und Sühnetod
Zwischen dem bedingungslosen Heilsangebot Gottes, das Jesus in seiner Reich-Gottes-Verkündigung gepredigt und gelebt hatte und der an sein Sühnesterben gebundenen Erlösung besteht ein Widerspruch (190).

Ohne die historisch nicht plausibel zu machende Tempelreinigung konnte und musste Jesus aufgrund der biblisch bezeugten Beispiele Micha, Jeremia und Urija (Jes 26) und in Anbetracht der römischen Besatzung darüber Klarheit besitzen: Sein Wort einer prophetischen Warnung vor der drohenden Tempelzerstörung (Mk 13,2) war geeignet, sadduzäische und römische Reaktionen hervorzurufen, einschließlich seiner gewaltsamen Beseitigung (190f).

Mk 14,25 besagt: Das Reich Gottes kommt trotz des Scheiterns seines Boten und Jesus selbst wird nicht im Tode bleiben, sondern am eschatologischen Mahl teilnehmen. Jesus hält an der Gültigkeit seiner Botschaft, seiner Sendung durch Gott fest, und dies trotz des drohenden Todes (191).

Für Jesus wie für Paulus (Röm 11,28f) war die fortbestehende Erwählung Israels Grundvoraussetzung der Verkündigungstätigkeit. Und wie für Paulus der Tempel zu den unwiderruflichen Heilsgaben Gottes an sein Volk gehört (Röm 9,4), so auch für Jesus. Deshalb konnte das von ihm verkündete Versöhnungsangebot Gottes nicht in grundsätzliche Konkurrenz zum Tempel treten. Jesus und seine Jünger standen – wie die judenchristliche Urgemeinde – in eindeutig positiver Beziehung zum Tempelkult (192f).

Jesus konnte nicht an die Notwendigkeit einer Sühne für Gesamt-Israel denken. Auf die Annahme, Jesus habe seinen Tod als Sühnetod gedeutet, muss grundsätzlich verzichtet werden. Denn nur so lassen sich die beiden fundamentalen Einwände vermeiden, dass Jesus das in seiner bisherigen Reich-Gottes-Verkündigung eingeschlossene Heilsangebot Gottes für erledigt angesehen habe und dass Jesus sich mit seinem Ansatz auf die Vorstellung eines Gottes eingelassen habe, der zur Erreichung seiner Heilsabsichten den Tod eines Menschen, eben des Heilsmittlers, (ge)brauche. Hierdurch hätte sich Jesus außerhalb des Rahmens des biblisch-jüdischen Glaubens gestellt (193f).

Es bleibt keine andere Wahl, als Jesus im Festhalten an seiner Reich-Gottes-Botschaft und mit dem in Mk 14,25 ausgedrückten Gottvertrauen leben und sterben zu lassen (194).

Der Glaubensgehorsam Jesu
(1986): Jesus hat den Tod nicht gesucht. Damit er verhaftet werden konnte, musste ihn einer seiner engsten Vertrauten verraten. Die Gethsemane- und Kreuzesszenen der Evangelien sind keine historischen Berichte. Gott hat es Jesus nicht erspart, dass er eingegangen ist in die ganze Verlassenheit und Einsamkeit des Todes, dass er die Erfahrung der Sinnlosigkeit, die Nacht und in diesem Sinn die Hölle des Menschseins auf sich genommen hat (10).

Die Lehre von der Gottesanschauung Jesu muss so verstanden werden, dass sie die Leidenserfahrung Jesu, sein Ringen mit dem Willen des Vaters nicht verdrängt und verdeckt. Die durchhaltende Gottesgewissheit Jesu hat sich gerade in solchen menschlichen Erfahrungen immer wieder neu bewährt. Nur so ist Jesus „Urheber und Vollender des Glaubens“ (Hebr 12,2).

Leid ertragen im Glauben
Wenn Jesus uns als leidender Gerechter, als Märtyrer vor Augen geführt wird, dann ist er in eine große biblische Tradition hineingestellt. Er befindet sich inmitten einer „Wolke von Zeugen“ (Hebr 12,1)
. Ungezählte Juden vor und nach Jesus haben aus der Überzeugung, durch ihr Leiden den Namen Gottes zu heiligen, Kraft zum Ausharren, zum Festhalten an Gott geschöpft. In der Nachfolge Jesu haben unzählige Christen dieselbe Kraft erfahren (11).

 

(2) Soteriologische Ansätze im Neuen Testament

 

(1991): Der Kreuzestod Jesu – ein gottgewolltes Geschehen für Jesus allein
Die vormkn Passionsüberlieferung basiert auf Motiven vom leidenden Gerechten (Ps 22 u.a.) bzw. vom Märtyrer, den Gott ‚ausliefert’. Daneben wird Jesu Leiden im Lichte des Prophetengeschicks gesehen als schriftgemäß, als göttliches ‚Muss’. Damit wird versucht, von Ostern aus den Anstoß des Karfreitags durch eine Sinngebung zu bewältigen (195).

Das Osterkerygma ist die Voraussetzung der Weiterverkündigung der Basileiabotschaft Jesu durch seine Anhänger. Die Auferweckung Jesu besagt, dass die Heilsmittlerschaft Jesu trotz seines Todes besteht und dass die darin enthaltene Anstößigkeit von Gott durch die Auferweckung beseitigt wurde. „Wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist und in deinem Herzen glaubst, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet“ (Röm 10,9). Das Heil hängt dieser Glaubensformel zufolge am Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn. Es schließt den Glauben daran ein, dass Gott die Einsetzung in die Herrschaft durch die Überwindung des Todes ermöglicht hat.

Sie berichten, „wie ihr euch bekehrt habt zu Gott von den Abgöttern, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott und zu warten auf seinen Sohn vom Himmel, den er (Gott) auferweckt hat von den Toten, Jesus, der vor dem zukünftigen Zorn rettet“ (1Thess 1,9f).

In der von Matthäus und Lukas aufgenommenen Redequelle ‚Q’ wurde Jesu Tod nicht als Sühnesterben verstanden. Die hinter Q stehenden Anhänger Jesu haben seine Botschaft aktualisiert und mit christologischen Akzentsetzungen unter ihren Landsleuten weiter verkündigt. Sie hielten an der Gültigkeit dieser Botschaft trotz des Kreuzestodes fest (195).

Die Tatsache, dass die Anhänger Jesu dessen Verkündigung nach Ostern fortsetzten und Israel erneut das Heil zusprachen, hat als hinreichende Voraussetzung das Osterkerygma, aber nicht den Glauben an die Sühnekraft des Sterbens Jesu (196).

Der Glaube an die Heilsbedeutung des Todes Jesu
Zur Beantwortung der Frage, wo und wodurch der Glaube an die Heilswirkung des Sterbens Jesu entstanden ist, kommt nur das hellenistische Judenchristentum in Betracht, das es zwar bis zur Steinigung des Stephanus in Jerusalem gab (Apg 8,1), das aber von der Gemeinde der einheimischen, aramäischsprechenden Jesusanhänger theologisch deutlich zu unterscheiden ist. Die Vorstellung vom sühnenden Sterben ist allein im hellenistischen Diasporajudentum vorhanden (2Makk 7,37f; 4Makk 6,27-29; 17,20-22). Dies wird bestätigt durch die Aufnahme des Motivs der stellvertretenden Sühne von Jes 53 ausschließlich in der LXX im Unterschied zum Targum, wo alle Leidensaussagen dieses Textes umgebogen sind und stattdessen von der Fürbitte des Messias gesprochen wird (196).

Bei den Bekenntnissen zur Heilswirksamkeit des Todes Jesu ist das Problem zu bedenken, ob darin nicht ein qualitativer Rückschritt gegenüber dem Gottesbild der Basileia-Verkündigung Jesu und damit gegenüber dem Gottesbild des Tenach enthalten ist. Die Deutung des Todes der jüdischen Märtyrer (der Makkabäerzeit) als sühnewirksam für andere geschah im Rückblick als nachträglicher Versuch einer Sinngebung der Geschehnisse aus dem Gottesglauben, die zunächst als schwere Anstöße für eben diesen Glauben wirken mussten. Das Aufkommen des Auferstehungsglaubens sucht auf solche Anstöße zu antworten (197).

Die staurologische Soteriologie hat Anselm von Canterbury in seiner ‚Satisfaktionslehre’ entfaltet. Duns Scotus hat an der Satisfaktionslehre Kritik geübt. Er hat die Lehre von der unbedingten Notwendigkeit des Sühnetodes Christi als nicht haltbar erwiesen... Gott brauchte weder eine blutige satisfactio noch eine satisfactio überhaupt zu fordern. Ohne Verletzung der göttlichen Gerechtigkeit hätte die Erlösung aus reiner freier Gnade einfachhin erfolgen können (198).

Anselm und alle, die sich seitdem ihr Gottesbild und ihren Glauben von der Satisfaktionslehre prägen ließen, entwerten die gesamtbiblischen Zeugnisse für Gottes Heilshandeln aus reiner Barmherzigkeit zugunsten der einseitigen Fixierung auf die staurologische Soteriologie. Die Ausgrenzung des biblisch-jüdischen Glaubens verfestigt die Tendenz, dass christliche Soteriologie zur Ideologie verkommt (199 Anm. 58).

 

Literatur

Fiedler, Peter
1982, Probleme der Abendmahlsforschung, in: Archiv für Liturgiewissenschaft
1986, Jesu Leiden – uns zugute, in: rhs (Religionsunterricht an höheren Schulen), 8-12
1991, “Beim Herrn ist die Huld, bei ihm die Erlösung in Fülle“, in: Israel und Kirche heute

Jörn, Klaus-Peter
2006³ Notwendige Abschiede
2007, Abschied vom Sühnopfermahl

Küng, Hans
1991, Das Judentum

Laufen, Rudolf
2001, in: Rudolf Werth (Hg.), Das Kreuz Jesu

Marxsen, Willi
1961/62, Erwägungen zum Problem des verkündigten Kreuzes, in: NTS 8
1968, Der Exeget als Theologe
1976, Die Sache Jesu geht weiter

Merklein Helmut
1990, Der Sühnetod Jesu nach dem Zeugnis des NT, in: Versöhnung in der jüd. und christl. Liturgie

Nordhofen, Jacob
2008, Durch das Opfer (Jesu Christi) erlöst?

Reuß, Jörg-Dieter
1991, Jesus und der Sühnegedanke, in Forum-Heft Nr 23
1997, Christozentrische Pluralität, in: Deutsches Pfarrerblatt 6/97

Schenker, Adrian
2009, in: Versöhnt durch den Opfertod Christi? B. Acklin Zimmermann/Franz Annen (Hg)

Vögtle, Anton
1985, Offenbarungsgeschehen und Wirkungsgeschichte

Vollmer, Jochen
1997, Zur Deutung des Todes Jesu, in: DtPfrBl 97

Zager, Werner
1999, Jesus und die frühchristliche Verkündigung