(4) Zur Frage der Wiederkunft Christi

H.Graß (1988)

Im Urchristentum hat die Erwartung der alsbaldigen Wiederkunft Christi eine bedeutende Rolle gespielt (1Kor 16,22; Apok 22,20 Maranatha). Wenn Jesus in den Evangelien der Menschensohn genannt wird, dann ist damit gesagt, dass man ihn mit dem eschatologischen Menschensohn identifizierte, dessen baldiges Kommen man erwartete. In 1Thess 4,13ff hofft Paulus, die Parusie des Herrn noch zu erleben und mit den Brüdern, die noch nicht entschlafen sind, dem vom Himmel kommenden Herrn entgegen gerückt zu werden, freilich nicht unverwandelt (1Kor 15,51f) (56).

Die Christologie und Soteriologie des Urchristentums sind nicht einseitig auf den Kommenden gerichtet gewesen, sondern haben sich frühzeitig dem Gekommenen und dem Gegenwärtigen zugewandt. Mag der Ursprung dieser Christologie in der Erfahrung liegen, Gott hat den hingerichteten Jesus von Nazareth nicht im Tod gelassen, sondern sich zu ihm bekannt, also in dem 'er lebt', so entfaltet sich aus diesem 'er lebt' nicht nur der Erhöhungsglaube, sondern auch der Glaube an seine lebendige Gegenwart, wie auch in diesem Glauben die Erinnerung an sein Erdenleben lebendig blieb. Und dann wandte man sich dem 'Leben Jesu' zu, verfasste Evangelien. Der Kyriosglaube der hellenistischen Gemeinden und bei Paulus ist vor allem auf die Verherrlichung des im Geist gegenwärtigen Herrn gerichtet. Man hat vom Kyrioskult gesprochen. Der Hebr verbindet im Hohenpriestertum Christi den Opfergedanken mit dem Erhöhungsgedanken und fügt der am Kreuz orientierten Soteriologie den Gedanken der Intercessio des Erhöhten, des himmlischen Hohenpriesters, hinzu (56).

Der urchristliche Glaube war in erster Linie Glaube an Erfüllung, an das, was mit dem Kommen Christi, in seinem Kreuzestod, aber auch in seinen Worten und seinem Wirken bereits geschehen ist und was in seiner Gegenwart im Geist in seiner Gemeinde, also durch den Kyrios, bereits geschieht. Schon frühzeitig taucht in den Briefen der Inkarnationsgedanke auf und gibt dem Gekommensein sein besonderes Gewicht. Bei Johannes beherrscht das Gekommensein Christi das Evangelium, während der Gedanke an die Wiederkunft verschwunden ist (abgesehen von Hinzufügungen einer späteren Redaktion). An ihre Stelle ist der Hingang Jesu zum Vater und das Wohnungmachen für die Seinen getreten, die er zu sich nehmen will (Joh 12,32;  14,2f;  16,16;  17,24). Im Christushymnus (Phil 2,5ff) mündet der Weg Christi, ohne Erwähnung der Auferweckung, in der Erhöhung und der Anbetung des Erhöhten durch die ganze Schöpfung, ohne die Wiederkunft zu erwähnen. In Phil 1,23 bekundet Paulus das Verlangen, abzuscheiden und bei Christus zu sein, ohne die Hoffnung auszusprechen, die Parusie Christi noch zu erleben (aber 3,20f). Im Hebr ist der Heimgang in die himmlische Stadt (nicht die Wiederkunft) das eigentliche eschatologische Anliegen (13,14) (57).

Wenn man im Urchristentum die Erfüllung bereits im Gekommenen sah, die Soteria bereits in dem, was er vollbracht hatte und was er gegenwärtig vollbringt als der erhöhte Kyrios, dann musste das notwendig zur Gewichtsverlagerung in der Frömmigkeit führen. Die Soteria ist alsbald vor allem an den Gekommenen und Gegenwärtigen gebunden. Man erfährt sie gegenwärtig im Heiligen Geist. Man vergegenwärtigt sich die Soteria im Inkarnationsgeschehen, aber auch in Jesu irdischem Wirken, seinen Worten und Taten, man sieht sie in der Intercessio des himmlischen Hohenpriesters. Es hat eine Enteschatologisierung stattgefunden. Es hat auch mit dem Ausbleiben der Parusie eine Veränderung der eschatologischen Vorstellungen stattgefunden bis dahin, dass der Hingang Christi zum Vater und die Heimholung der Seinen das eschatologische Bedürfnis befriedigt oder man das eschatologische Enddrama in eine ferne Zukunft verschiebt. Diese Verschiebungen in der Eschatologie und Soteriologie haben bewirkt, dass die urchristliche Gemeinde zu einer Gemeinde der soteriologischen Erfüllung geworden ist. Der Glaube an den Gekommenen und Gegenwärtigen, der Lobpreis und Dank für die bereits geschenkte Gnade, die aus dem Glauben an die geschehene Liebe Gottes erwachsende eigene Verpflichtung zur Liebe hat den Vorrang bekommen vor der Hoffnung, vor dem 'noch nicht' (57f).

Christus kommt in jedem wahrhaftigen Akt des Glaubens zu uns und in jedem wahrhaftigen Akt der Liebe. „Dein Reich komme“: Wie geschieht das, dass es auch zu uns komme? Luther: 'Wenn der himmlische Vater uns seinen Heiligen Geist gibt, dass wir seinem heiligen Wort durch seine Gnade glauben und fromm leben, hier zeitlich und dort ewiglich'. Auch in der 3. Bitte ist bei dem Reich an das gegenwärtige Reich, das jetzt zu uns kommen will, gedacht. In der 7. Bitte: „Erlöse uns von dem Übel“, ist nicht die Rede von der Enderlösung im Jüngsten Gericht, sondern dass er uns 'zuletzt, wenn unser Stündlein kommt, ein seliges Ende beschere und mit Gnaden von diesem Jammertal zu sich nehme in den Himmel'. Luther kann den eschatologischen Ausblick als seliges Ende und Aufnahme in den Himmel verstehen, ohne der Wiederkunft Christi am Ende der Tage und als Ende der Tage zu gedenken. 'Lieber Vater, wir bitten, gib uns erstlich dein Wort, dass das Evangelium rechtschaffen durch die Welt gepredigt werde, in uns wirke und lebe, dass also Dein Reich unter uns gehe durch das Wort und die Kraft des Heiligen Geistes..., dass wir ewig leben in voller Gerechtigkeit und Seligkeit' (60f).

Wiederkunft Christi als Ende der Geschichte? Der Parusieglaube war im NT nicht allbeherrschend. Bei Lukas ist die Wiederkunft Christi ans Ende der Tage, nach Ablauf einer längeren Heilsgeschichte, gerückt. Für ihn gilt: Das Joh-Ev und den Hebr: Nicht Christus kommt wieder, sondern die Gläubigen kehren heim in seine himmlische Herrlichkeit. Die Vorstellung von der Wiederkunft Christi alsbald oder am Ende der Tage ist an ein Weltbild gebunden, das nicht mehr das unsere ist. Sie kann in dieser Form nicht aufrecht erhalten werden. Der Glaube muss heute Evolutionen von Millionen von Jahren mit Gottes Schöpfertätigkeit zusammendenken (61f).

Christus hört nicht auf, beim Vater zu sein, auch wenn die Menschheitsgeschichte aufgehört hat. Es ist uns Menschen nicht verwehrt, mit ihm beim Vater zu sein. Hier ist anzuknüpfen an die Nebenlinie in der Eschatologie des NTs, bei Johannes und im Hebräerbrief, die Heimkehr in das himmlische Reich verheißt. Auch in der Glaubensgeschichte der Kirche hat dieser Gedanke des Heimgangs in das himmlische Reich eine große Rolle gespielt, dieser Gedanke ist hier zur Hauptlinie geworden. Die Vorstellung einer himmlischen Gemeinde der Vollendeten und Seligen ist leichter nachzuvollziehen als die einer allgemeinen Totenauferweckung am Ende der Tage. Statt eines Ausharrens der Toten in den Gräbern, aus denen sie am Jüngsten Tag erweckt werden, werden die Verstorbenen unmittelbar zu Christus heimgeführt. Der Gedanke des Endgerichts mit Christus als dem Weltenrichter ist dann zu ersetzen durch den Gedanken eines individuellen Gerichts, dem jeder im Tod entgegensieht. Einer Glaubensweise, die wie die evangelische das 'Allein aus Gnaden' vertritt, liegt es nahe, das Gericht nicht nach den Werken, sondern nach Gottes großer Barmherzigkeit geschehen zu lassen. Der Glaube verlässt sich auf Gottes unverdiente Gnade (63f).

Lassen wir uns genügen an der Hoffnung auf eine Heimstätte in Gottes und Christi überirdischem Reich (65).

W. Kreck: Die biblische Ausdrucksweise, nach der die Heilsgeschichte von einem zeitlichen Anfang des Menschengeschlechts herkommt und auf ein endzeitliches Ziel hin fortschreitet, ist keine angemessene Vorstellung. Denn die Geschichte mit Gott, wo es um Hingabe und Selbstbehauptung, um Schuld und Vergebung, um Tod und Leben, um Lüge und Wahrheit geht, ist allgegenwärtig und wird von jedem durchlebt. So wie Urstand und Fall nicht als geschichtliche Ereignisse am Anfang der Menschheit gedacht werden können, sondern Ausdruck lebendiger Gewissenserfahrung und darum überzeitliche und allgegenwärtige Tatbestände sind, so auch das Ende. Die Weltgeschichte tendiert nicht auf zeitliche Vollendung, sondern will sich in jedem Geschlecht vollenden. Die Parusie ist eine universale, gemeinsame und ‘gleichzeitige’ Erfahrung aller, obwohl wir nacheinander als einzelne sterben. “Alle Senkrechten, die wir auf der Zeitlinie errichten um auf die Ewigkeit, die Parusie, die Vollendung zu stoßen, treffen sich im Überzeitlichen in einem Punkt. Was sich uns in ein Nacheinander menschlicher Tode, des Endes von Geschlechtern, Völkern, Zeiträumen zerlegt, das ist, von dort aus gesehen, der gleiche Akt und das eine, ‘gleichzeitige’ Erlebnis der Aufhebung der Geschichte, des Eintritts der Geschichte in die Ewigkeit”. Von Parusie kann man nicht mehr als einer sinnlichen Erscheinung für die sichtbare Welt reden (40-42).

Die Offenbarung Christi in Herrlichkeit am Ende der Geschichte käme nur der letzten Generation zugute, nicht aber allen vorigen.

Der Jüngste Tag ist kein geschichtlicher Tag! Das Wesen und der Gehalt der Parusie - überführende Offenbarung der Herrlichkeit Christi - machen sie als geschichtliches Ereignis unmöglich. Nirgends kann die Geschichte der Ort einer unmittelbaren, überführenden Gegenwart des Göttlichen sein, nirgends Stätte des Schauens der doxa. Das gilt auch von der letzten Epoche der Geschichte.

E. Haenchen: Der Schlusssatz Mt 28,20: "Und siehe ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt", zeigt, dass von einer Naherwartung des Endes keine Rede mehr ist: praktisch ist die Eschatologie ausgeschieden. Jesus ist stets gegenwärtig und damit ist, wenn auch in anderer Form, das gegenwärtig geworden, was man zuvor als Ergebnis eines eschatologischen Dramas erhofft hatte. Jesus braucht nicht mehr zu kommen, weil er schon da ist (550)!