(4) Paulus – der Lehrer Israels

Zu den apologetischen Paulusreden in der Apostelgeschichte

(1968): Kp 1-8: Lukas hat die entscheidende Wende in der Geschichte Israels beschrieben: das Aufkommen eines erneuerten Israels aus bussfertigen, gesetzesfrommen und jesusgläubigen Juden. Die Tätigkeit der 12 Apostel unter den Juden hat dazu geführt, dass sich halb Jerusalem bekehrt hat (Massenbekehrungen). Das Heil gehört dem erneuerten Israel, während die verstockten Juden von Volk, Heil und Geschichte ausgeschlossen sind (170).

Kp 9-15: Als Resultat der Erneuerung und Wiederherstellung Israels erhalten die Völker, die Heiden, in Übereinstimmung mit den Verheißungen Gottes, Anteil am Heil des Gottesvolkes. Die Mission unter den Heiden ist instituiert und die damit verbundenen innerkirchlichen Probleme sind gelöst. Stand und Stellung der Heiden in dem erneuerten Israel sind geklärt. Aufgrund einer besonderen Berufung zum Diaspora- und Heidenmissionar hat Paulus in der kleinasiatischen Diaspora Mission getrieben und als Folge davon ist ein „Volk aus Heiden“ mit Israel 'assoziiert' worden (170).

Kp 16-21: Lukas hat die Tätigkeit des Paulus unter den Juden der griechischen Diaspora geschildert, derzufolge mehrere Gemeinden aus bussfertigen Diasporajuden entstanden sind, an die sich auch Heiden anschließen. Die Mission unter den Juden geht ihrer Vollendung entgegen, nur Rom steht noch aus (28,17ff). Wie in Kleinasien so wird auch in Griechenland die Mission unter Juden und Heiden fast ausschließlich auf Paulus zurückgeführt. Paulus steht vor dem Abschluss seines Wirkens. Er hat sich von den Gemeinden, die er gegründet hat, vertreten durch die Epheser, verabschiedet und ihnen sein Testament hinterlassen (20,17ff). Nach Lukas ist Paulus jetzt eine im Weltjudentum bekannte Gestalt. Gerüchte über seine Lehre und seine Verkündigung sind zu den Juden in Jerusalem gelangt (21,20ff). Dies führt zu Unruhen unter den Zehntausenden christlich-jüdischer Gesetzeseiferer in Jerusalem. Die Probleme werden durch Pauli Demonstration seiner Gesetzestreue gelöst (21,20ff) (171).

Kp 21,27-28,31: Der Prozess gegen Paulus: Die Aufmerksamkeit ist auf Paulus und die Juden konzentriert. Nach 28,17ff besteht die literarische Funktion der Prozessschilderung darin, den Apostel nach Rom zu führen, nicht zum Kaiser, sondern zu den römischen Juden, wo die endgültige Auseinandersetzung mit dem verstockten Teil des Judentums stattfindet. Der Prozess verläuft im Sande und die Römer verschwinden von der Scene. Der lang ausgezogene Prozess macht es möglich, vier Paulusreden unterzubringen, wodurch Lukas seine Schilderung des Apostels vervollständigen kann. Auf diese Weise kann er u.a. das Damaskusgeschehen zweimal bringen (Kp. 22 und 26). Lukas Verständnis der Kirche und seine früher in der Apg gegebene Schilderung des Apostels zwingen ihn zu einer so breit angelegten Verteidigung des Paulus (171f).

Die Darstellungen in Kp. 22 und 26

a. Lebensbeschreibung des Paulus als orthodoxer Jude, seine Erziehung und Ausbildung in Jerusalem und sein Pharisäismus (22,3; 26,4f).

b. Paulus als Verfolger der christlichen Gemeinde (22,4f; 26,9-11). Paulus führt leitende jüdische Persönlichkeiten als Zeugen an (22,5; 26,5).

c. Das Damaskusgeschehen (22,5-16; 26,12-18).

d. Der Missionsauftrag des Paulus, der in den beiden Darstellungen (22,17-21; 26,16b-18) sehr verschieden formuliert ist. Hieran schließt sich in Kp 26,19ff eine Darstellung der Missionstätigkeit des Paulus an (173f).

Paulus ist immer noch Pharisäer (23,6); als ein gläubiger Sohn seines Volkes dient er dem Gott seiner Väter und glaubt das Gesetz und die Propheten (24,14-16). Sein ganzes Leben bis zu seiner Festnahme im Tempel ist ein Erweis jüdisch-orthodoxer Gesetzesfrömmigkeit (24,17ff). Nach der Art, wie Lukas sein Material interpretiert, gewinnen drei Momente in den Reden entscheidende Bedeutung:

a. Paulus war und ist gesetzestreuer Jude und Pharisäer (22,3; 23,1.3.5f; 24,14; 26,4f).

b. Er glaubt alles, was in dem Gesetz und den Propheten geschrieben ist, und er lehrt nur, was die Schrift sagt; nichts in seiner Verkündigung und seiner Lehre ist unjüdisch (24,14f; 26,22f).

c. Er wird wegen seiner Auferstehungsverkündigung angeklagt, wobei zu beachten ist, dass die Auferstehung Gottes Verheißung an das Volk und die Hoffnung des pharisäischen Israels ausdrückt (23,6; 24,21; 26,6-8). Der Auferstehungsglaube bedeutet Treue gegenüber Schrift, Gesetz und Volk (24,14ff; 26,22f) (174f).

Die beunruhigenden Gerüchte, die die Gemeinde erreicht haben, sind durch jüdische Anklagen verursacht (21,21). Mehrere Male faßt Lukas die gegen Paulus gerichteten Anklagen in kurzen Formeln zusammen. Im Gegensatz zu den Reden, in denen Lukas von bereits geformtem Material Gebrauch macht, gehen die Zusammenfassungen auf ihn selbst zurück:

a. 21,21: Von jüdischer Seite wird gemeldet, dass Paulus die Juden der Diaspora den Abfall von Mose lehrt, dass sie ihre Kinder nicht beschneiden sollen und dass sie nicht nach den Sitten der Väter (dem Gesetz) zu leben brauchen.

b. 21,28: Paulus lehrt überall gegen Volk, Gesetz und Tempel.

c. 28,17: In einer Unschuldserklärung des Paulus behauptet er, dass er nichts gegen die Sitten der Väter (Gesetz) und das Volk getan hat.

Hinzu kommt eine weitere Unschuldserklärung des Paulus: „Ich habe mich weder am Gesetz der Juden noch am Tempel noch am Kaiser versündigt“ (25,8). Tertullus behauptet in seiner Anklage (24,5), Paulus ruft eine Spaltung unter den Juden in der ganze Welt hervor und profaniert den Tempel (Aufruhr im Tempel 21,28b). Claudias Lysias schreibt, dass es sich um Streitigkeiten in Verbindung mit „ihrem (der Juden) Gesetz“ (23,29; vgl. auch 25,19) handelt (175f).

Mit diesen Anklagesummarien und Unschuldserklärungen hebt Lukas hervor wie er die Gesamtdarstellung verstanden wissen will. Es geht darum, was Paulus die Juden überall in der Diaspora gelehrt haben soll (21,21.28; vgl. 24,5). Es geht um Paulus als den Lehrer Israels. Nach den Anklagen und den Gerüchten ist Paulus ein Irrlehrer in Israel. Nicht das ist die Hauptsache, was Paulus die Heiden lehrt, oder dass er ihr Verkündiger ist, sondern sie besteht in dem, was er die Juden lehrt und dass gerade er als der Lehrer Israels auftritt (176f).

Die Verkündigung vor Juden „von Jerusalem aus“ ist die Hauptsache in Kp. 26. Die Heidenmission bildet nur einen Anhang zu der Mission unter den Juden. In den Anklagen läuft nichts darauf hinaus, dass Paulus sich der seditio, des politischen Aufruhrs schuldig gemacht habe (23,26ff). Festus erklärt gegenüber Agrippa (25,17-21.26f), er sei außerstande dem Kaiser die Anklagen gegen Paulus verständlich zu machen. Das beruht auf dem Fehlen einer seditio-Anklage, statt dessen handelt es sich um innerjüdische Streitigkeiten, von denen er nichts versteht. Die Scene mit Agrippa macht deutlich (26,3), dass es um eine Angelegenheit geht, die nur ein Jude verstehen kann, nämlich um eine Auseinandersetzung innerhalb des Gottesvolkes. Damit ist klar, dass die Anschuldigung des Tertullus, Paulus sei der Anstifter der 'stasis' (24,5), für Lukas nicht Aufruhr, sondern Spaltung, Schisma oder Streit innerhalb des Weltjudentums bedeutet (178f).

Die Anklagen, die sich auf die Lehrtätigkeit des Paulus unter den Juden der Diaspora beziehen, laufen darauf hinaus, dass er gegen Volk, Gesetz und Tempel lehrt (21,28). 28,17: Paulus hat nichts gegen das Volk oder die Gebräuche der Väter, also das Gesetz, getan. Das Gesetz ist das Kennzeichen des Gottesvolkes. Die drei Zusammenfassungen der jüdischen Anklagen (21,21.28 und 28,17) zeigen, worum es geht: Die Juden zu lehren, nicht die Beschneidung vorzunehmen, noch in der Erfüllung des Gesetzes zu leben, ist Abfall von Mose. Mose ist nicht der Morallehrer der Menschheit, sondern der Lehrer Israels. Paulus wird der Apostasie angeklagt, er hat sich des Abfalls vom Gesetz schuldig gemacht und gehört daher nicht mehr dem Gottesvolk an. Die Juden erklären, dass Paulus außerhalb des Judentums steht und ein Irrlehrer im Volk ist. Dass hiermit für Lukas die Existenzberechtigung der Kirche und mit ihr das Heil der Heiden auf dem Spiel steht, bildet den Hintergrund für seine Paulusverehrung in Kp. 22ff (180f).

In den beiden Unschuldserklärungen (25,8 und 28,17) gibt Lukas eine Antwort auf die Anklagen: Paulus hat nichts gegen das Volk oder das Gesetz getan. Die Anklagen sind unbegründet, weil Paulus ein gesetzesfrommer und schrifttreuer Pharisäer ist, der auch der Hoffnung Israels, der Auferstehung, treu ist. Lukas referiert mehrmals, dass Paulus ein geborener Jude, in Jerusalem erzogen, und bei Gamaliel zum Schriftgelehrten ausgebildet ist. Er ist ein gesetzesstrenger Pharisäer und ein Verfolger der christlichen Gemeinde (22,3-5; 26,4f.9-11) (181).

Paulus ist auch jetzt, nach seiner Damaskus Offenbarung, Pharisäer und gesetzestreu (23,6; 24,14-16). 24,17-21 erzählt: Paulus war nach Jerusalem gekommen, um die vornehmste alle Gerechtigkeitspflichten des Gesetzes, das Almosengeben zu erfüllen, die seinem Volk gelten (24,17). Während der Ausführung einer vom Gesetz auferlegten Pflicht, dem Opfer im Tempel, wird er festgenommen (24,18). Er, den man angeklagt hatte, gegen den Tempel zu lehren, war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten (24,11). Was Paulus als Pharisäer war, das ist er auch als Christ geblieben, nur, dass er jetzt kein Verfolger mehr ist. Wenn jemand zum Lehrer Israels geeignet ist, dann ist es Paulus. Als Pharisäer glaubt Paulus an die Auferstehung. Die Verheißung an die Väter und das Anliegen der Pharisäer sind nach 26,7 Angelegenheiten des gesamten Zwölf-Stämme-Volkes. Diese zu erreichen ist Sinn und Ziel jüdischen Gottesdienstes und Kultes. Die Sadduzäer, die nicht an die Auferstehung glauben, befinden sich außerhalb des Volkes und das Schisma, das man Paulus zu schaffen aklagt (24,5), ist bereits da. Der Glaube an die Auferstehung ist das Kennzeichen Israels. Lukas geht von der Schrift, den Väterverheißungen, dem Pharisäismus und dem Kultus des Volkes aus. Paulus glaubt alles, was das Gesetz und die Propheten gesagt haben (24,14). Was er verkündigt, geht an keinem Punkt über das hinaus, was Mose und die Propheten von dem Messias und der Zukunft des Volkes gesagt haben (26,22f). Lukas lässt Paulus mehrmals behaupten, dass er wegen des Auferstehungsglaubens gerichtet wird (23,6; 24,21; 26,6-8; 28,20). Nicht Paulus ist abgefallen, sondern die Leiter des Judentums. Paulus, nicht seine Ankläger, hat das Recht an Stelle des Volkes zu sprechen und Israel zu vertreten. Mit der Kenntnis des Gesetzes und seinem Bekenntnis zu dem Messias ist Paulus der eigentliche Pharisäer und der wahre Jude, dem es zusteht als Israels Lehrer aufzutreten, so wie er in den Synagogenszenen (13-19) und schließlich in Rom (28,17) geschildert wird (182f).

Die Funktion der Damaskusszenen (22 und 26): Lukas hat das Aufkommen eines erneuerten Israels, bestehend aus bussfertigen und gesetzesfrommen Juden herausgearbeitet. Sie besitzen das Kennzeichen des Gottesvolkes, die Beschneidung und sie leben nach dem Gesetz Israels. An diesem erneuerten Israel erfüllen sich die Heilsweissagungen und durch dieses erneuerte Volk erlangen die Heiden Anteil an dem Heil Gottes. Paulus ist keiner der Zwölf, kein Apostel. Neben den zwölf Leitern des erneuerten Israels ist Paulus ein von Gott besonders erwählter und berufener Missionar in der Diaspora und unter den Heiden. Für Lukas geht der überwiegende Teil der christlichen Gemeinden auf die Wirksamkeit des Paulus zurück. Er rechnet im ganzen mit einer Pauluskirche. Nicht ohne Grund lässt er Tertullus Paulus beschuldigen, er sei ein Führer der Partei der Nazoräer (24,5). Dadurch gelten die gegen Paulus gerichteten Anklagen der ganzen 'Partei', der ganzen Kirche. Auch sie wird von der Apostasie, des Abfalls von dem auserwählten Volk, betroffen. Von der lukanischen Ekklesiologie her gesehen, geht es um die Existenzberechtigung der Kirche und indirekt um die Heidenmission (185f).

Der Damaskusbericht soll darstellen, wie die Sonderstellung des Paulus in der Kirche, neben den Zwölf, auf einem besonderen Auftrag des Gottes der Väter beruht (22,14f). Nicht die Heidenmission, sondern die persönliche Stellung des Paulus soll verteidigt und begründet werden. Wenn der größte Teil der christlichen Gemeinden auf einen jüdischen Apostaten zurückgeht, dann ist die Kirche nicht das erneuerte Israel und dann hat sie auch kein Recht, sich auf das Heil Israels zu berufen. Lukas will zeigen, dass die Zwölf und Paulus Israel repräsentieren, während die unbussfertigen Juden nicht länger ein Anrecht auf die Bezeichnung 'Israel' haben (186).

Zu dem Zeitpunkt, da der Brief an die Römer geschrieben wird, stellt Paulus fest, dass das Weltjudentum das Evangelium kennt (Röm 11,18ff). Die Epoche des Heilsgeschichte, in der man „die Fülle der Heiden“ einzusammeln beginnt, ist angebrochen (Röm 11,25). Die jüdischen Anklagen, die Lukas in seinen Prozesskapiteln referiert, spiegeln die Probleme seines eigenen Milieus wieder. Das besondere Interesse des Lukas ist es, das Christentum als das wahre Judentum darzustellen (187).

In diesem kirchlichen Milieu bilden die Judenchristen ein einflußreiches Element. Die Darstellung der Heidenchristen als Proselyten der Judenchristen (nicht Nachfolger) und Teilhaber am Heil Israels ist undenkbar, es sei denn, die christlichen Juden sind als das erneuerte Israel das Fundament der Kirche. Nur in einem judenchristlich geprägten Milieu bedarf es einer so ausführlichen Erklärung der Berechtigung der Heidenmission wie sie in den Kp. 10-15 vorliegt. Und erst in einem solchen Milieu in dem sich die Judenchristen ihrer Absonderung von der Synagoge bewusst sind, wird die Verbindung der Probleme Israel – Gesetz aktuell. Für Lukas und seine Umgebung stellt sich das Problem des Gesetzes auf eine ganz andere Weise dar als für Paulus. Abgesehen von dem Nachhall paulinischer Verkündigung in 8,38f (vgl. 15,10) deutet nichts darauf hin, dass Lukas die Auffassung, das Gesetz bewirke Sünde und Gottes Zorn, kennt oder gar teilt (188).

Es geht um ein ekklesiologisches Problem: in dem erneuerten Israel muss das Gesetz erfüllt und an den Sitten der Väter festgehalten werden. Wenn das, was die Gerüchte erzählten wahr ist, kann die Gemeinde Paulus nicht anerkennen. Auch diese Haltung zeugt von einem Milieu überwiegend judenchristlicher Prägung. Lukas will mit den apologetischen Reden eine Verteidigung für Paulus bieten. Er schreibt für christliche Leser, die wegen Paulus Angriffen ihrer jüdischen Umgebung ausgesetzt sind (189f).

                   

Anhang: Der unbekannte Paulus

(1980): Das meiste vom Leben und Werk des Paulus gehört zum unbekannten Paulus. Die Paulusbriefe sind Gelegenheitsschriften. Sie sind von einzelnen geschichtlichen Situationen bestimmt, sowohl im Leben der zugeschriebenen Gemeinde als auch im Leben des schreibenden Apostels (29).

Es liegt nahe anzunehmen, dass die scharfen Angriffe auf die Juden im 1Thess 2,14-16 im Galaterbrief ihre theologische Form und Schwere bekommen haben. Nach dem Galaterbrief sollte jede Rede von einer Verbindung zwischen Evangelium und dem alten Israel, zwischen Rechtfertigung und der fortwährenden Bedeutung der Beschneidung, zwischen den Nachkommen Abrahams und dem alten Gottesvolk, unmöglich sein. Dann aber kommt für Paulus die Kehre im Römerbrief: Paulus vermochte die Intention des Galaterbriefes im Römerbrief nicht weiterzuführen. Es geht um das Problem Röm 9-11, die drei Kapitel, zu denen wir bei Paulus keine Parallele finden, die aber z.T. aus seiner jüdischen Lebensführung erklärlich sind. Im Röm haben wir die meisten jüdischen Traditionsstücke. Dazu finden wir im Röm und im Gal eine ausgedehnte Exeges vom Alten Testament. Es ist auffällig, dass der jüdische Einfluss auf die Kirche in der dritten Generation am stärksten ist, dass die Bedeutung der Jerusalemer Gemeinde nach dem Konzil größer wird als vorher. Es scheint sich so zu entwickeln, dass das Judenchristentum, das numerisch gesehen abnimmt, theologisch ständig wächst. Paulus ist von einem starken Judenchristentum beeinflusst worden und ist auf Versöhnung eingestellt. Was er der Römergemeinde darlegt, ist weniger paulinisch als der Galaterbrief. Dieser Teil von Paulus (Röm 9-11) macht das lukanische Paulusbild verständlich (46f).

Paulus hat sich im Römerbrief mit seinem leidenschaftlichen Kampf für die Einheit der Kirche einer judenchristlichen Theologie genähert, insofern als er das Schicksal Israels positiv in seine Theologie einordnet. Die christologisch-ekklesiologisch stramme Konsequenz in der Rede von Israel, Gesetz und Kirche im Galaterbrief wird erheblich gemildert. Das Gesetz spielt im Römerbrief eine positive Rolle, obwohl es für Paulus klar ist, dass es kein Heil aus Gesetzeswerken gibt. Röm 11,25: das ganze Israel soll errettet werden. In der Rede von der Rettung des ungöttlichen Gottesvolkes finden wir eine bedingunglose Durchführung des Themas justificatio impii. Die Kirche aber lebt immer noch im Schatten des künftigen Gerichts nach den Werken. Der Römerbrief ergibt eine neue Seite im Wirken des Paulus, eine Erweiterung des 'älteren' Paulus. Für uns ist diese Kehre bei Paulus wichtig. Die steigende theologische Stoßkraft des Judenchristentums, die während des Wirkens des Paulus kommt, schlägt auf ihn selbst zurück. Es ist für Paulus entscheidend, Jerusalem zu zeigen, dass er nicht lehrt, Gott habe sein Volk verworfen. Das 'fleischliche' Israel soll eines Tages errettet werden (48).