Die himmlische Heimat im Hebräerbrief

Die mittelplatonische Umformung des Parusiegedankens im Hebräerbrief

Grundlegend für das Wirklichkeitsverständnis des Hebr ist die Diastase zwischen der Welt des wahren, unveränderlichen Seins und der wahrnehmbaren Welt des ununterbrochenen Werdens und Vergehens. Alles, was es gibt, gehört ganz der einen oder der anderen der beiden Welten an. Einzig der Mensch ist aufgrund seiner Konstitution aus Leib, Seele und Geist seinsmäßig ein Wanderer zwischen den Welten. Im Glauben begreift sich der Mensch als Fremder und Gast auf Erden. Die so geglaubte Wirklichkeit erweist sich im persönlichen Tod des Menschen als Wahrheit, wenn er die irdische Welt verlässt und in die Welt des Himmels hinübergeht. Da im Hebr die Verheißungsgüter jenseitige Realitäten sind, erlangt sie der Glaubende endgültig erst im Tod, dann aber durch den Übergang ins Jenseits unmittelbar (426).

Die sichtbare Welt ist ein Abbild der urbildlichen unsichtbaren Welt. Wie die beiden Welten so existieren auch die Stadt als Heimat des Menschen und das Heiligtum als Ort seiner Heiligung einerseits als himmlisches Urbild und andererseits als irdisches Abbild. Wie das irdische Heiligtum in zwei Räume aufgeteilt ist, so sind auch im idealen Heiligtum des Himmels das Allerheiligste und der Rest des Heiligtums zu unterscheiden (427).

Die Vermittlung zwischen der absoluten Transzendenz Gottes und den Menschen wird zum einen durch Engel als Vermittler zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Bereich vorgestellt. Zum anderen wird die Seele, vor allem der Geist des Menschen als nur lose mit der irdischen Wirklichkeit des Leibes verbunden gedacht, während ihre eigentliche Heimat im Bereich des Himmels liegt. Auch zu irdischen Lebzeiten kann der Mensch somit im Geist Anteil an der himmlischen Realität erhalten. Gott gilt als der Vater der Geister im Unterschied von den leiblichen Vätern der Menschen. Im Geist der wahren Einsicht in die wahren Gründungsverhältnisse der beiden Welten hat der Mensch seinen wahren Aufenthalt schon zu irdischen Lebzeiten im Himmel. Der Mittlerschaft der Engel entspricht ihre Mittelstellung zwischen Gott und den Menschen. Christus hingegen zeichnet sich durch seine Göttlichkeit aus (427).

Im Glauben konnten schon die Frommen des Alten Bundes ihre geistige Heimat im Himmel erblicken und umgekehrt ihre irdische Existenz als ein Weilen in der Fremde begreifen. Durch ihren individuellen Tod hindurch sind sie endgültig in die himmlische Heimat eingezogen. Das Allerheiligste des Himmels blieb ihnen jedoch solange verschlossen, bis Christus in seinem Opfertod und mit seinem eigenen Blut dort eingezogen ist (1,6; 9,11f). Denn der Eintritt ins Allerheiligste und der Zutritt zur unverhüllten Nähe Gottes ist Teil der größeren Verheißung, die erst mit Christi irdischem Erscheinen an die Menschen ergangen ist. Seither steht der Weg ins himmlische Allerheiligste allen Glaubenden offen. Wenn sie durch den Tod hindurch wie die Alten und Christus vor ihnen in die himmlische Heimat eingehen, gelangen sie im Gefolge Christi unmittelbar ins Allerheiligste. Der Zwischenzustand, in dem sich die Glaubenden des Alten Bundes nach ihrem Einzug in die himmlische Heimat durch den Tod und vor dem Betreten des dortigen Allerheiligsten befanden, beschreibt nach Christi Tod den Zustand der Glaubenden auf Erden. Im Geist, konkret im Gottesdienst der irdischen Gemeinde, stehen sie schon im himmlischen Heiligtum. Ins Allerheiligste ziehen sie aber wie Christus vor ihnen erst durch den Tod ein, dann aber unmittelbar, weil der Zugang seit Christus ein für allemal offensteht (427f).

Aus Anlass ihres Eintritts in das Allerheiligste des Himmels erscheint Christus den verstorbenen Glaubenden ein zweites Mal (9,27f). Die absehbare Zeit bis zur endgültigen Begegnung mit Christus (10,36-39) ist die Zeit der irdischen Ausdauer und Bewährung. Im persönlichen Tod des Glaubenden wird die sichtbare Welt für ihn ein letztes Mal und endgültig erschüttert, so dass er fortan in der ungeteilten Realität des unsichtbaren, unerschütterlichen Reiches lebt, dessen Bewohner er bis dahin nur im Geist des Glaubens war (12,25-29). Das weitere Schicksal der erschütterlichen Welt ist für den verstorbenen Glaubenden ohne Bedeutung. Hat er erst einmal die Grenze von der erschütterlichen zur unerschütterlichen Welt überschritten, so steht er im himmlischen Allerheiligsten vor dem Thron Gottes. Die nunmehr unverhüllte Begegnung mit Gott im Tod wird für den Glaubenden zum Tag des Gerichts (10,25), aus dem ihn einzig der Mittler Christus rettet. Im Allerheiligsten des Himmels ereignet sich die rettende Parusie Christi für die Glaubenden unmittelbar nach ihrem Tod, nicht auf Erden am Ende der Geschichte (428).