3. Anhang: Ablösung des Christentums vom Judentum

A Warum die Christen nicht Juden geblieben sind

Der historische Prozess der Ablösung des Christentums vom Judentum
Die entscheidenden inneren Gründe

F. Hahn (1996)

Der historische Prozess der Ablösung des Christentums vom Judentum

Der Prozess der Ablösung hat sich in der Zeit zwischen den 30er und den 90er Jahren des 1. Jh. ergeben, um die Wende vom 1. und 2. Jh war die Trennung vollzogen. Die sog. Großkirche hat sich vom 2. Jh. an unabhängig vom Judentum weiterentwickelt (20).

a. Jesu Botschaft und Wirken: Jesus war Jude und seine Botschaft ist nur unter Rückbezug auf das Alte Testament und im Zusammenhang mit der frühjüdischen Tradition zu verstehen. Sein Grundanliegen war jüdisch und er wusste sich zu dem Gottesvolk Israel gesandt. Jesu Verkündigung war eine Weiterführung der Verheißungsbotschaft der Propheten Israels, verbunden mit dem Anspruch, dass mit ihm das verheißene Heil seinen Anfang nehme und dass die Nähe Gottes erfahren werden könne. Es ging nur indirekt um seine Person, vielmehr um Gottes eigenes Handeln und Wirken, das er proklamierte (20f).

Jesus wollte den ursprünglichen Willen Gottes gegenüber aller menschlichen Überlagerung aufdecken (Mk 7,6-13). Zu scharfen Auseinandersetzungen ist es dadurch gekommen, dass Jesus bisweilen den Wortlaut der Tora einer Kritik unterzogen hat, z.B. bei den Bestimmungen über die Ehescheidung in Dtn 24, die er als eine Konzession des Mose gegenüber Gottes wahren Willen ansah (Mk 10,2-9). Der eigentliche Grund zur Verurteilung Jesu ist dem Stichwort Blasphemie, Gotteslästerung zu entnehmen. Dieser Vorwurf (Mk 2,7; 14,64; Mt 9,3; 26,65; Lk 5,21; Joh 10,33) ist darin begründet, dass Jesus nach Auffassung seiner Gegner mit der Vergebung von Sünden in das Hoheitsrecht Gottes eingegriffen und dass er mit der provokativen Übertretung des Sabbats sich nach Num 25,27-36 eines todeswürdigen Vergehens schuldig gemacht hatte (vgl. Ex 31,12-17).

Jesu Botschaft und Wirken beruhte auf dem Tenach und war bei aller Eigenständigkeit durch und durch jüdisch. Nur so ist es zu verstehen, dass er neben einer Gruppe von Gegnern eine große Anzahl von Anhängern im jüdischen Volk gefunden hatte, die ihn als überzeugenden Exponenten ihrer eigenen Tradition und Religion anerkannten. Gleichwohl waren in der Haltung Jesu Elemente enthalten, die eine eigenständige Weiterentwicklung ermöglichten (22f).

b. Die Jünger und die neugewonnenen Anhänger waren Juden unter Juden

Jesu Botschaft wurde weiterverkündigt. Sie wurde von vielen angenommen. Sie war jetzt verbunden mit der Kunde von seiner Auferweckung, was als Legitimation seines Wirkens durch Gott angesehen worden ist. Damit rückte die Person Jesu stärker in den Mittelpunkt, aber nach wie vor ging es um Gottes Heils- und Rettungshandeln.

Die zu Jesu Lebzeiten entstandenen Auseinandersetzungen gingen weiter und wurden verschärft durch die immer deutlicher artikulierte Auffassung, dass Jesus der erwartete Heilbringer gewesen sei. War einerseits die Tatsache umstritten, dass Jesus seinen Jüngern die Vollmacht zur Sündenvergebung übertragen hatte und sie in gleicher Freiheit handelten, so war es andererseits ihre Verkündigung „im Namen Jesu“, die Anstoß erweckte, zumal es dabei um einen Gekreuzigten ging, der nach Dtn 21,23 unter dem Fluch stand.

Stephanus war Repräsentant der ‚Hellenisten‘, der aus der Diaspora stammenden Juden bzw. Judenchristen. Er hat in einer konsequenteren Weise als die ‚Hebräer‘ (die palästinensischen Judenchristen) Jesu Kritik an Tora und Kult aufgegriffen und in diesem Sinn das Evangelium verkündigt. Der damit provozierte Angriff auf die Gültigkeit der Tora wurde seitens der jüdischen Oberinstanz mit einem Prozess beantwortet, der mit der Steinigung des Stephanus (Apg 6f) endete. Damit war es erstmals zu einem grundsätzlichen Konflikt zwischen Juden und Jesusanhängern gekommen. Noch ging es hier um eine innerjüdische Auseinandersetzung (23).

c. Die Stephanusgruppe wurde aus Jerusalem vertrieben: Es muss eine relativ große Gruppe gewesen sein, denn sie zerstreuten sich und trieben Mission in Samarien, im phönizischen Küstenland, auf der Insel Zypern und im westlichen, dem hellenisierten Syrien. Die syrische Großstadt Antiochia wurde das neue Zentrum dieser Hellenisten (Apg 8,4; 11,19f). Es handelte sich um eine griechisch sprechende judenchristliche Gemeinde, um ein hellenistisches Judenchristentum der Frühzeit. Hier ging es anfangs um die Verkündigung des Evangeliums unter denen, die zum Gottesvolk Israel gehörten. Die Zugehörigkeit zum Judentum wurde nicht aufgegeben. Gleichwohl haben sich diese Judenchristen bei allem Zusammengehörigkeitsbewusstsein mit der jüdischen Synagoge doch als eigenständige Gemeinschaft abgehoben, denn hier kam die Bezeichnung ‚Christianoi‘ (Christen) auf und damit wurde der Unterschied zu den ‚Joudainoi‘ (Juden) erstmals begrifflich zum Ausdruck gebracht (Apg 11,26) (24).

Der Grund für diese Verselbstständigung lag darin, dass in Antiochia bald das Evangelium nicht nur unter Juden, sondern auch unter Heiden verkündigt worden ist. Die Zahl der Heidenchristen in Antiochia nahm spürbar zu, so dass sich, da sie Vollmitglieder der christlichen Gemeinde waren, ein nicht unerheblicher Strukturwandel vollzog. Hinzu kam, dass Barnabas, der Leiter der christlichen Gemeinde von Antiochia, nach einigen Jahren Paulus in das syrische Antiochia holte. Es war Paulus, der mit aller Entschiedenheit die Unmittelbarkeit des Zugangs zu dem im Evangelium verkündigten Heil vertrat und daher auch die Freiheit der Heidenchristen von der Tora forderte. Diese gesetzesfreie Mission hat sehr bald zu innerchristlichen Auseinandersetzungen zwischen Jerusalem und Antiochia geführt. Barnabas und Paulus sind zu dem sog. Apostelkonvent nach Jerusalem gezogen, um dort mit dem Herrenbruder Jakobus und den Aposteln Petrus und Johannes eine Grundsatzentscheidung zu treffen. Es wurde beschlossen (Gal 2), dass für Judenchristen die Bindung an das Gesetz bestehen bleibt, dass aber für Heidenchristen keine Verpflichtung auf die Tora erfolgen soll. Die antiochenische Missionspraxis wurde somit anerkannt (24f).

War dies ein erheblicher Schritt zur beginnenden Ablösung vom Judentum, so blieb die Rückbindung an die Geschichte des Volkes Israel und an die Heilige Schrift Israels erhalten. Freiheit von Beschneidung und Tora hieß nicht Preisgabe der jüdischen Tradition. Die christlichen Gemeinden standen noch weitgehend in Verbindung zum jüdischen Synagogenverband. Paulus hat bei seinen Missionsreisen mit der Verkündigung in den Synagogen begonnen. Die Zusammengehörigkeit mit der jüdischen Glaubensgemeinschaft war für ihn unaufgebbar. Auf der anderen Seite zeigten die Berichte der Apg über die Mission des Paulus in Kleinasien, in Mazedonien und in Griechenland, dass es sehr häufig zu Auseinandersetzungen in den Synagogengemeinden über seine Predigt kam, dass er deswegen auch Synagogenstrafen und Verfolgung auf sich nehmen musste (2Kor 11,24f). Das führte dann meist zu einer von der Synagoge unabhängigen Mission. Paulus hat in Korinth (Apg 18,1-17) zuerst in der Synagoge gepredigt, wurde aber vertrieben, hat danach in dem der Synagoge benachbarten Haus des Gottesfürchtigen Titius Justus seine Verkündigung fortgesetzt und dort eine überwiegend heidenchristliche Gemeinde gesammelt. Schließlich wurde er von strenggläubigen Juden vor dem Statthalter Gallio angeklagt, der ihn aber freisprach (25).

Die Situation in der Mitte des 1. Jhs.: Auf der einen Seite gibt es eine zunehmende Tendenz zur Verselbstständigung der christlichen Gemeinden. Das hängt schon damit zusammen, dass man seit den Tagen der Urgemeinde neben der Synagoge und dem Synagogengottesdient eigene Versammlungsorte hatte, in denen das Herrenmahl gefeiert wurde, so dass sich das gottesdienstliche Zentrum mehr und mehr verlagerte. Hinzu kam die Aufnahme unbeschnittener Heiden in die christlichen Gemeinden, was zu einer Absonderung von dem Judentum führen musste. Viele Synagogenmitglieder schlossen sich der christlichen Gemeinschaft an, besonders die zahlreichen Gottesfürchtigen, die in der Synagoge nicht integriert waren, solange sie sich nicht beschneiden ließen (25f).

d. Die Katastrophe des Jahres 70: Für Juden wie Christen war mit der Zerstörung Jerusalems der gemeinsame Ausgangspunkt verloren. Die judenchristliche Gemeinde hatte die Stadt schon im Jahr 68 verlassen und sich in Pella im Ostjordanland angesiedelt. Für das Judentum war es vor allem die Zerstörung des Tempels und das Aufhören des Opferkultes, was einen tiefen Einschnitt im Bewusstsein und Leben der Gemeinschaft verursachte (26).

Die christlichen Gemeinden im Mittelmeerraum hatten sich bereits vorher von dem Judenchristentum Jerusalems gelöst. In dem Verlust der Jerusalemer Muttergemeinde sah man eine Erfüllung des Tempelwortes Jesu und damit ein Urteil über die ungläubigen Juden. Das besagt, dass die Katastrophe des Jahres 70 nun als Zeichen für die Trennung von Judentum und Christentum angesehen worden ist. Die definitive Loslösung vom Judentum wurde durch dieses Ereignis erheblich gefördert. Man war faktisch selbstständig geworden, existierte vielfach auch ganz unabhängig von der Synagoge (26).

Anders sah es im Judentum jener Zeit aus. Der äußere und weithin auch innere Zusammenbruch, der durch den verlorenen Jüdischen Krieg verursacht war, erforderte eine tiefgreifende Reform und Reorganisation. Es waren strenggläubige Pharisäer, die unter Führung Jochanan ben Zakkais von Jabne aus eine Erneuerung einleiteten. Diese bestand einerseits darin, dass die genuin jüdische Tradition bewahrt und weitergeführt werden sollte, gereinigt von aller hellenistischen und synkretistischen Überfremdung. Sie bestand einerseits darin, dass alle Gruppen, die zur inneren Auflösung des Judentums beigetragen hatten, ausgeschieden werden sollten. Das Reformwerk nahm in den 80er und 90er Jahren Gestalt an und setzte sich durch. Mit ihm konnte auch der Verlust Jerusalems und des Tempels verkraftet werden, weil entsprechende Formen des Ritus an die Stelle des Kultes traten. Das jüdische Bewusstsein hat durch die Ausbildung von Mischna und Talmud seine bleibenden Konturen erhalten (26f).

Für die Christen hat diese Reform erhebliche Konsequenzen gehabt, sie waren ausgegliedert. Die Einführung der ‚birkat ha-minim‘ in das Achtzehnbittengebet hat dieser Tatsache im Synagogengottesdienst Ausdruck verliehen. Das spiegelt sich im Neuen Testament darin, dass die Christen aus dem Synagogenverband ausgeschlossen waren (Joh 16,2) (27).

e. Bewusste und konsequente Trennung nach 70, die von den Vertretern des reorganisierten Judentums auch innerhalb des Gottesdienstes vollzogen wurde. Fortan hat es das Judentum und das Christentum nur noch als je eigene Religionsgemeinschaften gegeben, was für die Christen zur Folge hatte, dass sie nicht mehr mit den Juden als Vertreter einer ‚religio licita‘ einer anerkannten Religion angesehen wurden, sondern nun hin und wieder staatlichen Verfolgungen ausgesetzt waren (27).

                   

Die entscheidenden inneren Gründe, durch die es bei der vorhandenen Verwurzelung des Christentums im und der anfänglichen Bindung an das Judentum zu einer Verselbstständigung gekommen ist.

a. Die Auffassung von der Verwirklichung des verheißenen Heils: Dass das von den Propheten verheißene Heil in der Gegenwart bereits anbricht, ist Grundthema der christlichen Verkündigung geblieben. Dass es eine Gegenwart des Heils im Sinn der Vorwegverwirklichung endzeitlichen Heils gibt, ist gemeinsame christliche Auffassung. Das bedeutet, dass endzeitliches Heil sich in der noch bestehenden Welt verwirklicht, ohne dass schon die verheißene Erneuerung allen Lebens und der gesamten Welt sichtbar wird. Es geht um eine anfängliche, weithin noch verborgene Realisierung des Heils. Das Jesus Exorzismen durchgeführt und Menschen aus ihrer Besessenheit befreit hat, wurde nicht bestritten, wohl aber wurde ihm vorgeworfen, dass er dies in der Macht Beelzebuls, des Obersten der Teufel, tue, während es für ihn selbst ein Hinweis auf den Anbruch der Herrschaft Gottes war (Mk 3,22-27parr, Lk 11,20) (28).

Dass Jesus gekreuzigt wurde und sein Kreuz Offenbarung des Heils der Rettung der Menschen sein soll, gehört in denselben Sachzusammenhang. Paulus hat in seinen Briefen immer wieder darauf hingewiesen, dass gerade in der Niedrigkeit und im Verborgenen Gottes Heilszuwendung erfahren wird. Seine theologia crucis ist Ausdruck der Gewissheit, dass die verheißene endzeitliche Heilsverwirklichung mitten in unserem Leben und in unserem Leiden sich vollzieht. Die Frage nach einer schon gegenwärtigen Heilsverwirklichung wird von Christen und Juden unterschiedlich beantwortet, so sehr wir im Blick auf die Heilsvollendung im Sinne der prophetischen Verheißung miteinander verbunden blieben (28f).

b. Die Stellung der Tora: Jesus hatte stärker als alle jüdische Tradition vor ihm das Doppelgebot der Liebe zum Ausgangspunkt gemacht und er hat auch Kritik an der Tora geübt, ohne ihre Gültigkeit insgesamt in Frage zu stellen. Unter Berufung darauf ist es im hellenistisch-judenchristlichen und im heidenchristlichen Bereich zu einem freien Umgang mit der Tora gekommen. Ist im Liebesgebot die ganze Tora zusammengefasst, so kann nach Überzeugung der christlichen Gemeinden auch vom Liebesgebot her ohne Bindung an Einzelvorschriften der Tora der Wille Gottes erfüllt werden. Es gilt, wie Paulus (Röm 12,2) sagt, selbst zu erkennen, was der Wille Gottes im Einzelfall ist, „das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene“. So kam es zu einer nur paränetischen Rezeption der Tora. Die Tora ist Anleitung und Hilfe zum rechten Handeln. Der Tora wurde eine unmittelbare Relevanz für das Heil abgesprochen. Die „Werke des Gesetzes“ können zum Heil nichts beitragen. Alles ist gegründet auf den Glauben, an das durch Christus verwirklichte Heil. Nur aus diesem Glauben heraus hat das Tun des Menschen eine heilsrelevante Funktion. Es ist „der Glaube, der durch die Liebe wirksam ist“ (Gal 5,6). Jüdische Tradition konnte diese Beurteilung der Tora nicht mitvollziehen. Daran wird deutlich, dass sich auch an dieser Stelle ein innerer Ablösungsprozess vollzog, der auf die Dauer nicht ohne Konsequenzen bleiben konnte (29f).

c. Die Einschätzung der Person Jesu: Es ist für Juden nicht schwer, in Jesus einen jüdischen Lehrer zu sehen oder sogar einen Propheten. Dagegen ist es für Juden kaum möglich, andere Hoheitsbezeichnungen Jesu, wie sie im Neuen Testament vorliegen, zu übernehmen. Was veranlasste die Jünger Jesu und die älteste christliche Gemeinde, mehr über ihren Meister auszusagen, als was mit Lehrer und Prophet zum Ausdruck kommt? Anfangs sind es ausschließlich Juden gewesen, die als Anhänger Jesu und der Evangeliumsbotschaft höhere Aussagen über Jesu Person gemacht haben. „Wer ist dieser“? Unter seinen Jüngern hat es schon vor Ostern Versuche gegeben, seine Aufgabe näher zu umschreiben, was aber vorläufig blieb, weil Jesu Leidensweg auf totales Unverständnis stieß (Mk 8,27-33 parr). Bei seinem Tod kam es daher zunächst auch zu einem Auseinanderfallen der Jüngerschar: „wir hofften doch, er sollte Israel erlösen“ sagen die Emmausjünger, die noch nichts von dem Neuanfang ahnen (Lk 24,21). Es war das Widerfahrnis des Ostertages, die Erkenntnis und Gewissheit, dass Jesus nicht im Tod geblieben, sondern von Gott auferweckt worden ist, die die Jünger wieder zusammenbrachte und alsbald zur Konstituierung einer Gemeinschaft mit vielen neuen Anhängern führte. Die Erwartung einer Auferweckung der Toten durch Gott war (abgesehen von den Sadduzäern) weitverbreitet unter den damaligen Juden (Dan 12,1f). Dass diese Auferweckung sich bereits im Vorgriff ereignet, war ein Novum und stieß nicht nur auf Anerkennung, sondern ebenso auf Ablehnung (30f).

Wo diese Erkenntnis akzeptiert wurde, da erschien Jesu Leben und Sterben in einem veränderten Licht. Die Frage: wer war/ ist er? konnte nur beantwortet werden unter Rückbezug auf die biblische Tradition. So waren es die Gestalten des Gottesknechtes, des messianischen Königs oder des Menschensohnes, die eine Rolle dabei spielten. Die biblisch vorgegebenen Traditionen verhalfen dazu, Jesu Person und Funktion zu verstehen, aber umgekehrt hat Jesu eigene Gestalt diesen Traditionen und Auffassungen ganz neue Konturen verliehen (31).

Es ging darum Jesu einzigartige Vollmacht, die er von Gott empfangen hatte und die ihn nach Meinung der Urgemeinde über alle bisherigen Lehrer und Propheten hinaushob, zu verdeutlichen. Vor allem lag der Urgemeinde daran, die Botschaft von der anbrechenden endzeitlichen Gottesherrschaft mit der Funktion Jesu in eine unauflösliche sachliche Verbindung zu bringen. Jesus wurde nicht nur als Zeuge der jetzt schon anbrechenden Gottesherrschaft verstanden, sondern als deren Bringer und Repräsentant. In diesem Sinn wurde von ihm als dem vollmächtigen Menschensohn gesprochen, der auf Erden wirkte, der litt, starb und auferweckt wurde und der am Jüngsten Tag in Vertretung Gottes Gericht halten wird. Ähnlich wurde von Jesus als Messias gesprochen, der auf Erden leiden musste und sein königliches Amt erst noch antreten wird, wenn die Vollendung des Heils gekommen ist. Oder er wurde als der leidende Gottesknecht verstanden, der durch seinen Tod stellvertretend Sühne für die Sünden der Menschen geleistet hat. Dass diese Botschaft unter den Juden auch Gegnerschaft hervorrief, kennzeichnet die Frühgeschichte des Christentums, so sehr diese Christologie unter jüdischen Voraussetzungen entwickelt worden war (31).

d. Die im Christentum sich vollziehende Transformation des Denkens: Im hellenistischen Bereich des frühen Christentums wurden andere Denkvoraussetzungen aufgegriffen. Auf diese Weise erfolgte eine nicht unerhebliche Transformation der Verkündigung und der christlichen Theologie. Hier wurden unter anderem auch göttliche Prädikate auf Jesus übertragen. Es wurden Denkvoraussetzungen übernommen, die aus dem hellenistischen Judentum stammten, das seinerseits hellenistisches Denken bereits integriert und der biblischen Überlieferung angeglichen hatte. Alles urchristliche Denken ist in der jüdischen Tradition verwurzelt, wenn nicht in der Tradition des palästinischen, so doch in der des hellenistischen Judentums (31f).

Hatte man im hellenistischen Judentum in der Weisheit Salomos oder in den Werken Philos, stärker mit göttlichen Zwischenwesen gerechnet, so bot dies eine Möglichkeit, auch christologische Aussagen in diesem Sinn zu konzipieren. Was im hellenistisch-jüdischen Bereich über die Funktion der Weisheit bei der Schöpfung und in der Geschichte ausgesagt wurde, das konnte auf Christus übertragen werden. Man wollte damit nichts anderes zum Ausdruck bringen als die Unmittelbarkeit Jesu zu Gott, seine unablässige Bindung an Gottes Willen, die Einheit seines Handelns mit dem Handeln Gottes des Vaters. Unter dieser Voraussetzung wurde von Jesus als dem Sohn Gottes gesprochen. Auch wenn das unter den Bedingungen hellenistisch-jüdischer Denktradition geschah, so ist doch die Entfernung zum genuin jüdischen Denken gewachsen und hat immer stärker zum Gegensatz zwischen Judentum und Christentum beigetragen. Das verstärkte sich dadurch, dass bei der Reorganisation des Judentums die Tradition der hellenistisch-jüdischen Gemeinden ausgeschieden wurde.

e. Warum Christen nicht Juden geblieben sind, ist aus der historischen Entwicklung ebenso zu entnehmen wie aus diesen Verschiedenheiten, die sich von Anfang an abgezeichnet haben und fortan maßgeblich geblieben sind (32f).