4. JAHWEBUND und GEMEINDE JESU

Das Zentralthema des Matthäusevangeliums

"Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft" (5Mose 6,5) Dies ist das größte und erste Gebot. Das zweite ist ihm gleich(wertig): "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (3Mose 19,18). In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten (Mt 22,37; Mk 12,30f).

Mt 23 - ein situationsbedingter Text

U.Luz (Bd III): Mt 23 ist Verrat an Jesu Verkündigung von Gottes unverdienter und grenzenloser Liebe, die vor allem Israel galt (399).

Die Wehrede ist das Ergebnis der Verarbeitung eines Konflikts durch die in diesem Konflikt unterliegende Gruppe. Diese Verarbeitung hat sie weit von Jesus entfernt. Aber sie hat in einer schwierigen Übergangssituation der judenchristlichen Gemeinde des Matthäus das Überleben und die Neuorientierung erleichtert. Mt 23 ist kanonisiert worden. Damit wurde der Text, der für eine gebeutelte und leidende judenchristliche Gemeinde geschrieben worden war, zum Besitz von Menschen, die weder geborene Juden noch leidend waren. Dadurch verlor er ein Stück seiner Menschlichkeit und wurde zum Anlass zu schlimmer Sünde. Matthäus selbst kann dafür nicht verantwortlich gemacht werden. Mt 23 gehört zu jenen Teilen des Kanons, die in besonderem Maß menschlich sind. Damit gehört Mt 23 zu jenen Teilen des Kanons, die Christen und Kirchen auch an ihre eigene Menschlichkeit erinnern und sie daran hindern kann, als vermeintliche Besitzer ewiger Wahrheiten selbstgerecht und überheblich zu werden (401).

Jesu Konfliktgeschichte in Israel

U. Luz (Bd IV): In dieser Konfliktgeschichte verarbeitet Matthäus den eigenen Schmerz über die Trennung von der ‚Mutter‘ Israel. Es kommt zu harten, weder historisch noch theologisch von Jesu Botschaft der Feindesliebe her zu rechtfertigenden negativen Pauschalurteilen über Pharisäer und Schriftgelehrte (Kp 23) und zu raffiniert-böwilligen historischen Fiktionen (27,24f.62ff; 28,11ff). Sie sind nur aus der damaligen, ganz besonderen historischen Situation und aus der Situation eines Nachentscheidungskonflikts verstehbar (466).

Der Konflikt war unausweichlich, denn für Matthäus und seine Gemeinde ist die Autorität des Menschensohns Jesus so überragend und seine Geschichte in Israel derart grundlegen, dass nur die Gestalt und die Botschaft Jesu die Grundlage Israels sein können. Jesus hat für sich und seine Worte letzte Autorität beansprucht (Q 6,47ff = Mt 7,24ff; Q 12,8f = Mt 10,32f) und wahrscheinlich sich selbst für den kommenden Menschensohn-Weltrichter gehalten. Er hat seiner eigenen Radikalisierung der Mosetora eine kaum überbietbare Autorität zugesprochen und sein eigenes Wirken in einen Zusammenhang mit der Ankunft des Gottesreichs gebracht (Q 11,20ff; vgl Lk 10,18). Die negative Reaktion großer Teile Israels musste von daher fast zwangsläufig eine heftige Gegenreaktion der Jesusbewegung auslösen (Q 10,13ff = Mt 11,20ff). Dass der Evangelist das Nein der großen Mehrheit Israels zu Jesus, das sich nach dem Jüdischen Krieg abzeichnete, als Katastrophe erfuhr und entsprechend reagierte, ist von Jesus her gleichsam ‚vorprogrammiert‘ (467).

Das MtEv ist religionsgeschichtlich gesehen ein wichtiger Text, der dokumentiert, wie die jüdische Jesusbewegung, ohne es selbst zu wollen und gegen die Absicht Jesu (10,5f), zu eigenständigen, vom Judentum losgelösten Religion und ein Teil der heidenchristlichen Kirche wird. In der Situation der Trennung von der Mehrheit Israels betont der mt Jesus den jüdischen Charakter seines ‚Evangeliums vom Reich‘ (5,17ff; 9,13; 12,7; 2240). Matthäus hebt durch die Erfüllungszitate die Kontinuität zwischen Jesus und der Bibel Israels heraus. Er tut dies polemisch gegen die Mehrheit des damaligen Israel, die den Anspruch Jesu ablehnte (467).

Zur Bedeutung der Jesusgeschichte des Matthäus heute

Die neue Grundgeschichte: Matthäus stellt in seinem Evangelium Jesus ins Judentum hinein, als Erfüller von Torah und Propheten und als Teil und Höhepunkt der Geschichte Israels. Der Evangelist hat das polemisch akzentuiert, um den Anspruch der Jesusgemeinden auf das Erbe Israels zu betonen. Auch wir sollten Jesus als Juden neu sehen lernen, um unsere eigenen Christusbilder hinterfragen zu können. Matthäus erzählt als Grundgeschichte für seine christliche Gemeinde die Geschichte eines Juden. Gerade als Geschichte eines Juden wird sie in der Perspektive des Matthäus zur Grundgeschichte des Chistentums (469f).

Vielfarbigkeit Jesu: Welchen Beitrag für die ‚Einheit‘ der Kirche kann das MtEv leisten? Einen Beitrag zu einer theologisch normierten und kirchenamtlich geregelten Einheit der Kirche kann die Jesusgeschichte des Matthäus nicht leisten. Zu offen und zu vielfältig deutbar ist sie. Aber als Grundbuch für gemeinsame Erfahrungen und Wegstücke mit Christus hat das MtEv immer wieder Menschen aus verschiedenen Konfessionen zusammengeführt und wurde zur Basis für etwas, was U. Luz ‚Gemeinschaft‘ der Kirche nennt (471).

Erfahrungen mit dem Immanuel: Die Jesusgeschichte des Matthäus leitet uns dazu an, eigene Erfahrungen mit dem „Immanuel“ Jesus zu machen. „Gott ist mit uns“ heißt, dass auch in unserem Leben und in unseren Kirchen etwas geschieht! Die Jesusgeschichte des Matthäus kann deutlich machen, dass Heil mit Heilung und Erfahrung, Verstehen mit Praxis, Bekenntnis mit Leiden, Glaube mit Vertrauen und vor allem mit Gebet zu tun haben. Verstehen ist mehr als Begriffenhaben, wer Jesus ist und was er will, ebenso wie die Erfahrung der lebendigen Gegenwart Gottes mehr ist als das Wissen, dass Jesus der „Immanuel“ ist. In der mt Jesusgeschichte geht es um Erfahrungen, nicht um gelernte Sätze. Die ‚inklusive‘ Jesusgeschichte verlangt eine ganzheitliche Hermeneutik, in der Glaube und Leben, Theologie und Praxis zusammenkommen (471).

Die Jesusgeschichte des Matthäus muss für uns eine Aufforderung sein, unser Verhältnis zum Judentum neu zu bedenken. Die mt Jesusgemeinde war eine bedrängte, jüdische Minorität, die von seiten der Mehrheit Israels Ablehnung, vielleicht sogar Verfolgung erfahren hat. Sie wurde in der schwierigen Situation der Konsolidierung Israels nach der Katastrophe des Jahres 70 an den Rand Israels gedrängt bzw. aus Israel herausgedrängt. Wie Matthäus haben wir die Grundgeschichte Jesu mit unseren eigenen Erfahrungen zu verbinden. Weil die Jesusgeschichte des Matthäus zur kanonischen Geschichte geworden ist und ihre historische Kontextualität abgestreift hat, kommen wir an diesem Punkt ohne einen Widerspruch zur Jesusgeschichte des Matthäus nicht aus (472).