3.3 Die Texte der zweiten Gruppe stammen von einer anderen Hand

Die Texte der zweiten Reihe weichen in Inhalt und Tendenz von dem Jh 20,31 ausgesprochenen Zweck des Evangeliums ab.

Der Evangelist (= der ursprüngliche Autor = E) deutet den Kreuzestod Jesu nie als Tat der Liebe Jesu zu den Seinen oder als nachzuahmendes Beispiel, sondern nur als Tat der Liebe Jesu zum Vater (14,31), als Tat des Gehorsams Jesu gegenüber dem Vater, als Heilswerk, das nicht Beispiel der Nachahmung sein kann. Diese Theozentrik steht bei E im Dienst des Zwecks des Evangeliums, es soll die Gewolltheit des Kreuzestodes Jesu aufgezeigt und so jeder Einwand, der gegen die Messianität und die göttliche Sendung Jesu vom Kreuz her erhoben wird, widerlegt werden. In Jh 3,16 erscheint der Kreuzestod Jesu als Tat der Liebe des Vaters zur Welt, das stimmt mit dem Zweck des Evangeliums überein, denn Gott hat das getan, damit die Welt an Jesus glaube und so gerettet werde (67f).

Sowohl E als auch Herausgeber oder Redaktor (= R) des Evangeliums sprechen von der Verherrlichung Jesu. Bei E erfolgt die Verherrlichung Jesu ausschließlich durch den Vater, durch die Erfüllung des vom Vater erteilten Sendungsauftrags, also durch das Kreuz und die damit verbundene Rückkehr zum Vater. Bei R hingegen wird Jesus verherrlicht durch das Früchtebringen der Jünger (15,8), durch den Parakleten (16,14), durch die Jünger oder in den Jüngern (17,30). Nur bei R werden auch die Jünger verherrlicht (17,22), und zwar mit der Herrlichkeit, die Jesus vom Vater empfangen hat, damit sie eins seien. Die Verherrlichung Jesu durch den Vater spielt bei R keine Rolle mehr, sie gehört der Vergangenheit an. Die Herrlichkeitsaussagen stehen bei R nicht mehr im Dienst des Zwecks des Evangeliums (Verteidigung der Messianität Jesu trotz des Kreuzestodes), sondern ausschließlich im Dienst der Paränese (68).

Nach E soll der Welt und auch den Jüngern die Erkenntnis, dass Jesus von Gott gesandt ist, durch das Wirken Jesu zuteil werden, durch seine Worte (4,39ff;  5,47;  7,16f;  8,26ff;  14,9f) und durch die Zeichen bzw. die Werke (3,2;  4,53;  10,37f;  12,37;  14,11;  20,30f) und durch das Zeugnis des Täufers (1,7f;  1,15;  1,29-34). Das stimmt mit dem Zweck des Evangeliums überein. Bei R soll die Welt die Erkenntnis, dass Jesus von Gott gesandt ist, durch das Zeugnis des Parakleten erlangen (15,26), durch das Zeugnis der Jünger (15,27) und durch das Einssein der Gläubigen miteinander und mit Jesus (17,21.23). Bei R ist die Paränese an die Stelle der Soteriologie getreten. Denn es geht bei R in erster Linie um das Zeugnis der Gemeinde (durch ihr Leben), um ihr Einssein; die Erkenntnis Jesu durch die Welt scheint nur Motiv für das Einssein der Gläubigen miteinander zu sein. Es geht bei R nur darum, dass die Welt Jesus erkennt, nicht die Jünger. Die Jünger haben diese Erkenntnis schon, sie sind bereits Mittler dieser Erkenntnis. Es geht um eine andere Situation als bei E und daher um eine andere Akzentsetzung (70).

Der Ausdruck „viel Frucht bringen“ erscheint bei E (12,24) zur Bezeichnung der Wirkung des Heilstodes Jesu (im Bild des sterbenden Weizenkorns), als Apologie des Kreuzestodes Jesu, entsprechend dem Zweck des Evangeliums. Bei R ist das Früchtebringen in genau der Weise umgewandelt wie die Fußwaschung in Jh 13,12ff gegenüber 13,8ff. Das Heil hängt hier nicht vom Fruchtbringen Jesu ab, sondern vom eigenen Fruchtbringen, ist also wieder Paränese (70)!

E schreibt eine Verteidigungs- und Bekenntnisschrift für den gefährdeten Glauben an die Messianität Jesu. Er hat kein anderes Ziel, als den Glauben an Jesus als den Messias trotz aller Einwände als richtig und heilsnotwendig zu erweisen. Das einzige 'Werk', das in E verlangt wird, ist der Glaube an Jesus (Jh 6,28f): „Sie (die Juden) sagten zu ihm. Was sollen wir tun, damit wir wirken die Werke Gottes? Es antwortete Jesus und sagte ihnen: Das ist das Werk Gottes: ihr sollt glauben an den, den er (= Gott) gesandt hat“. Alle anderen Stellen des Evangeliums, die als Werk das Halten der Gebote verlangen, die von einer Bestätigung des Glaubens durch die Werke reden, stammen von R. „Damit ihr als Glaubende Leben habt in seinem Namen“ (20,31b) ist exklusiv vom Glauben an Jesus, von der Anerkennung Jesu als Messias zu verstehen. Bei R ist dieser Glaube selbstverständlich und wird überall vorausgesetzt. Es geht nicht mehr um den Glauben an Jesus als den Messias, sondern um die Liebe zu Jesus. Diese soll sich erweisen im Tun, im Leben nach dem Beispiel und den Geboten Jesu. So ist das Anliegen bei R die Bruderliebe, das Halten der Gebote (15,10), das Früchtebringen (15,1-8) die Bewährung der Gläubigen in einer feindlichen Welt, in die sie gesandt sind, das Zeugnisgeben in der Welt und das Einssein der Gläubigen als eine spezielle Art des Zeugnisgebens. Das Heil erlangt man bei E durch den Glauben an Jesus, bei R durch die Liebe zu Jesus, durch das Leben nach dem Vorbild Jesu. Diese Verschiedenheit in der Tendenz wird so zu erklären sein, dass zwischen der Abfassung des ursprünglichen Evangeliums und den Ergänzungen durch R eine gewisse Zeitspanne liegt, in der sich die Probleme verlagert haben (71f).

Der Verfasser von 1Jh schreibt in der gleichen Situation wie R. Man findet in 1Jh die gleiche Deutung des Kreuzestodes Jesu als Tat der Liebe zu den Seinen und als nachzuahmendes Beispiel wie bei R im Evangelium (1Jh 3,16). Was bei E reine Soteriologie ist, wird im 1Jh (wie bei R im Evangelium) ein Motiv der Paränese, ein Beispiel zur Nachahmung. In 1Jh 4,9-11 ist Jh 3,16 (= E) verwendet. Es spricht manches dafür, dass der Redaktor (Herausgeber) des vierten Evangeliums infolge von Missverständnissen und Entstellungen des ursprünglichen Evangeliums sich genötigt sah, das Evangelium zu ergänzen und 1Jh zu schreiben (72f).