4.4 „Und der Logos ward Fleisch“ (Jh 1,14a)

Die Betonung der Göttlichkeit Jesu in Verbindung mit der Behauptung seines wirklichen Menschseins ist ein charakteristisches Kennzeichen der antidoketistischen Christologie des Frühchristentums. Die doxa Jesu in 1,14 ist nicht die des Evangelisten. Nach dem Evangelisten liegt für den irdischen Jesus die doxa hinter ihm (in der Präexistenz) und vor ihm (Rückkehr in die doxa des Vaters). Beim Evangelisten bezeugt der Täufer (entsprechend der Tendenz des ursprünglichen Evs), dass Jesus das Licht, der Heilbringer ist. Beim antidoketistischen Redaktor bezeugt der Täufer, dass Jesus Mensch und Gott ist. Es geht ihm nicht (wie dem Evangelisten und der Vorlage) um die Unterordnung des Täufers unter Jesus, sondern um die Bezeugung des Menschseins und der Göttlichkeit Jesu. Ein anderes für die antidoketistische Christologie typisches Kennzeichen (1,14) ist die Berufung auf Augenzeugenschaft (19,35;  20,25.27). Die Augenzeugen kommen zu Wort in 1,14b (der fleischgewordene Logos „hat unter uns gewohnt“ = weilte unter uns als Mensch) und in 1,14c („wir haben seine doxa gesehen“) (190f).

In 1,14 ist die Aussage, dass der Logos voll Gnade und Wahrheit ist, unjhn. Nach dem Evangelisten ist Jesus nicht voll Wahrheit, sondern er ist die Wahrheit (14,6). Für den Evangelisten ist die doxa der Zustand des Präexistenten (12,41;  17,5) und des nach Vollendung seines Sendungsauftrags zum Vater Zurückgekehrten (17,5.24) (193).

Die Inkarnation in Jh 1,14 ist real zu verstehen, im Sinne des vollen Menschenseins Jesu, denn sie ist Antwort auf die doketistische Behauptung, dass Jesus keinen menschlichen Leib hatte, in Wahrheit nicht Mensch war. Die Inkarnation ist für den Evangelisten kein Thema, für den antidoketistischen Interpolator ist sie das wichtigste Thema. Für eine Erniedrigungstheologie des Evangelisten kann 1,14 nicht in Anspruch genommen werden, weil die Stelle nicht von ihm stammt. Dem antidoketistischen Redaktor geht es bei der Betonung des wirklichen Menschseins Jesu um die Zurückweisung der doketistischen Behauptung, dass Jesus kein Mensch war. Der vierte Evangelist war kein Doketist; es geht ihm nicht um die Bestreitung des Menschseins Jesu, sondern um den Erweis der Göttlichkeit Jesu (196f).