(3) Der Brief nach Rom (8,3; 9,5)

K.-J. Kuschel (1990)

Die Sendungsaussage Röm 8,3

Weil das Gesetz, ohnmächtig durch das Fleisch, nichts vermochte, sandte Gott seinen Sohn in der Gestalt des Fleisches, das unter der Macht der Sünde steht, zur Sühne für die Sünde, um an seinem Fleisch die Sünde zu verurteilen“. Hier geht es um eine Aktion Gottes zugunsten des Menschen angesichts der Unmöglichkeit und Unfähigkeit des Gesetzes. An beiden Orten (Röm 8,3 und Gal 4,4) steht die Vorstellung vom 'Loskauf' als Wirkung der Sendung des Sohnes an den Sündern, die unter der Herrschaft des Gesetzes stehen. Diese sündhafte Existenz kommt in Röm 8,3 dadurch radikaler zum Ausdruck, dass die Realität der Herrschaft des Gesetzes 'im Sündenfleisch' und die Sühnewirkung des Todes Christi mit 'für die Sünde' ausdrücklich genannt ist. Der Akzent dieser Stelle ist soteriologischer, nicht protologischer Natur (386f).

Ein Loblied auf Christus als Gott (Röm 9,5)?

Der Text kann so übersetzt werden: “...sie (die Isrealiten) haben die Väter und dem Fleisch nach entstammt ihnen der Christus, der über allem als Gott steht, er sei gepriesen in Ewigkeit. Amen“ (9,5). Damit wäre ein Lob auf Jesus Christus als Gott ausgesprochen. Der Text kann aber auch so übersetzt werden: “Ihnen gehören die Väter und von ihnen stammt auch Christus seiner leiblichen Herkunft her ab – Gott, der Herr über das All, sei hoch gepriesen in Ewigkeit. Amen“. Damit würde das Lob Gott alleine gelten (387).

Jesus Christus ist bei Paulus im Wesentlichen der erhöhte Herr, der durch Gott in seine göttliche Würde nach der Auferstehung eingesetzt wurde. Jesus Christus ist der erwartete Richter, dessen Ankunft, dessen 'Tag' Paulus erwartet. Christus ist der Sohn Gottes, dessen ganzes Leben als Sendung, Liebe und Hingabe 'für uns' verstanden werden darf und durch den Gott die neue Existenz des Menschen begründet. (In 1Kor 15,28 hatte Paulus die Unterordnung Christi unter Gott emphatisch herausgestellt) (388).

Es ist unwahrscheinlich, dass Paulus in dem unmittelbaren Kontext von 9,5, in dem er sein Christsein als Jude Juden gegenüber zu rechtfertigen beabsichtigt, von Christus als Gott gesprochen haben soll. Hier kommt alles auf die Segnung Israels an. Röm 9,5 dürfte als Lobpreis des Vaters wegen der Erwählung Israels zu verstehen sein (388).

Für Paulus ist Christus der 'Herr', ein vieldeutiger Begriff, den Paulus offenbar schon übernimmt und der in der palästinensischen und der frühen hellenistischen Gemeinde bereits eine Vorgeschichte hat. Vereinzelt werden auch andere Begriffe auf Jesus angewandt (z.B. Bild Gottes). Immer spiegelt sich in ihnen das Bestreben, die 'Verwandtschaft' Jesu mit Gott auszudrücken, ohne jedoch zu einer Identifikation zu gelangen. Für Paulus besteht das Problem, die Größen Gott, Christus, Geist aufeinander zu beziehen und doch ihren Eigencharakter nicht zu verwischen. Seit seinem Damaskus-Erlebnis konnte Paulus Gott, den Vater, nicht mehr ohne Jesus, den Sohn verstehen (389f).

                   

(4) Der Brief nach Kolossä (1,15-20)

K.-J. Kuschel (1990)

Warum man die Präexistenz Christi bekennen musste

Angesichts der kollossischen "Philosophie" (2,8.15ff) musste man die Präexistenz Christi bekennen, sollte Christus noch der Kyrios der Welt bleiben (424).

Die Spannung: Text und Situation

Wenn Gott mit seiner ganzen Fülle in Ihm (Christus) wohnen wollte, dann ist Gott kein rätselhaftes Geheimnis mehr, sondern hat sein Geheimnis in Christus offenbar gemacht (2,2) (425).

Wenn ER (Christus) vor aller Schöpfung ist und in ihm alles erschaffen wurde, dann finden Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten an Ihm ihr Maß und ihre Grenze: “Die Fürsten und Gewalten hat er entwaffnet und öffentlich zur Schau gestellt; durch Christus hat er über sie triumphiert“ (2,15).

Wenn ER (Christus) das Haupt des Leibes ist, dann ist damit für die christliche Gemeinde ein Raum der Freiheit geschaffen. Gott hat durch das Kreuz Christi ein für alle Mal “den Schuldschein, der gegen uns sprach, durchgestrichen und seine Forderungen, die uns anklagen, aufgehoben“ (2,14).

Wenn Gott durch Ihn (Christus) alles zu versöhnen beabsichtigt, dann ist der Christ zur neuen Versöhnung fähig, zur Verwirklichung eines in Christus geschaffenen neuen Menschen: “Jetzt aber sollt ihr alles ablegen: Zorn, Wut, Bosheit. Lästerungen und Zoten sollen nicht mehr über eure Lippen kommen. Belügt einander nicht; denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und seid zu einem neuen Menschen geworden“ (3,8-10).

Wenn Christus das Bild des unsichtbaren Schöpfergottes ist, dann ist eine Erneuerung des Menschen “nach dem Bilde seines Schöpfers“ möglich. Wo das geschieht, “gibt es nicht mehr Griechen oder Juden, Beschnittene oder Unbeschnittene, Fremde, Skythen, Sklaven oder Freie, sondern Christus ist alles in allen“ (3,10f).

Wo in Christus “Friede gestiftet“ ist, da ist Vergebung möglich, da hält das “Band der Liebe“ alles zusammen, da herrscht der Friede Christi in den Herzen der Menschen (3,13-15) (425).

Die Kontrastdynamik besteht zwischen Text und Situation: Hier der Kerker – dort der Kosmos; hier der Häftling – dort der Glaube an den Herrn über alle; hier die Gemeinde zwiespältiger, fehlbarer Menschen, wo “Unzucht, Schamlosigkeit, Leidenschaft, böse Begierden und Habsucht“ (3,5) herrschen – dort das Bekenntnis zu dem, in dem wir “die Erlösung, die Vergebung der Sünden“ haben (1,14). 'Paulus', der Gefangene, verkündet den gekreuzigten Nazarener als den Herrn des Alls, als den Mittler bei der Ur-Schöpfung. Er verkündet aus der Zelle heraus die ganz andere Freiheit Gottes. Aus der Perspektive des gefangenen Vogels entwirft er die Vision vom kosmischen Christus (426).

Der Hymnus 1,15-20
Schöpfungsmittlerschaft im Zeichen der Zeitenwende

Der Hymnus blickt aus der eschatologischen 'Nachzeitigkeit' gewissermaßen zurück. Die Erfahrung des erhöhten Herrn geht voraus: “Er (Gott) hat uns der Macht der Finsternis entrissen und aufgenommen in das Reich seines geliebten Sohnes. Durch ihn (Christus) haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden“ (1,13f) (426f).

In einer zweistrophigen Struktur (15-18a; 18b-20) werden zwei Gedanken herausgestellt: Der erhöhte Christus war auch vor aller Schöpfung und keine Schöpfung war ohne ihn! Und durch den erhöhten Herrn ist alles – auf Erden wie im Himmel – versöhnt. Schöpfung einerseits und Versöhnung in Christus andererseits sind im eschatologischen Gesamtkontext die beiden großen Themen des Liedes.

Von Weisheit ist im Brief ständig die Rede und durch Sätze wie: “in ihm (Christus) sind alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen“ (2,3) ist die christliche Konkurrenzsituation gegen ein weisheitsorientiertes Judentum deutlich gegeben. Erstmals wagt eine Schrift des NT mit dem protologisch-kosmologischen Anspruch der Weisheitstheologie zu konkurrieren und Christus Jesus als Gegenmacht auf 'gleicher Höhe' vorzustellen. Erstmals wird die Schöpfung ein eigenes Thema der Christologie im NT (427f).

Stets behält hier Gott selbst die Initiative, ist der Ewige selber handelndes Subjekt. Er wollte “durch ihn ...“. Für Aussagen über Christus ist das statische 'In', das instrumentelle 'Durch' oder das finale 'Auf ihn hin' typisch oder die passive Redeweise: 'durch ihn wurde alles …'. Christus bleibt in diesem Text ganz der Mittler der Schöpfungstätigkeit Gottes – so von Gott dem Schöpfer einerseits und so auch von den Menschen, den Geschöpfen, andererseits deutlich unterschieden (428).

Bild des unsichtbaren Gottes“ (1,15)

Aussagen über die präexistente Weisheit qualifizierten im Judentum Gott als den, der die Ordnung der Schöpfung geschaffen hat und sie garantiert. Der Ausdruck 'Bild Gottes' bezieht sich auf Christi offenbarende Funktion. Spekulative Fragen nach der Wesensidentität von Urbild und Abbild, Gott und Christus stellen sich nicht (429).

Im Licht der eschatologischen Auferweckung des 'geliebten Sohnes' sind Gott und sein Bild Christus immer schon als zusammengehörig zu denken. Von Gott kann man als Christ nicht mehr reden, ohne von Jesus Christus reden zu müssen und umgekehrt. Wer von Christus spricht, spricht zugleich von Gott selbst. Christus vertritt vor der sichtbaren Welt den unsichtbaren Gott und vor dem unsichtbaren Gott die sichtbare Welt. Vom postexistenten Christus her legitimieren sich Aussagen über den präexistenten (429)!

Wie die Präexistenz Christi konkret aussieht, beschreibt der Hymnus nicht. Menschen unterwerfen sich hier im Akt des Bekenntnisses dem Vorrang Christi vor aller Schöpfung. 'It was the activity of Christ in creation, not His pre-existence that Paul emphasized in his wisdom christology in the epistle to the Colossians' (W.D. Davis). 'Paulus' kommt alles darauf an, den Vorrang Christi vor allen Geschöpfen zu betonen (430).

Erstgeborener der Schöpfung“ (1,15)

Weil Gott am Ende in Christus so handelte, konnte er schon die ganze Schöpfung in ihm, durch ihn und auf ihn hin schaffen. In Christus entsprechen sich das Ende der Zeit und der Anfang der Zeit. Eschatologie ist auch hier das Interpretament der Protologie. Zum anderen ist “Erstgeborener der Schöpfung“ eine Aussage über den Rang Christi vor allem Geschaffenen. Christus gehört auf die Seite des Schöpfers. Er ist der, in dem der unzugängliche Gott als Schöpfer die Welt schafft und sich so dem zuwendet, der ihn nicht sehen könnte (432).

Das Ziel: Friedensstiftung

Die erste Strophe bekennt die Bedeutung Christi für die ganze Schöpfung. Die zweite Strophe betont den 'Grund' dieser Bedeutung: die eschatologische Totenerweckung: “Er ist der Ursprung, der Erstgeborene der Toten, so hat er in allem den Vorrang“ (1,18b). Spricht die erste Strophe von der Präexistenz, so die zweite von der Neuexistenz; redet die erste vom Mittler der Urschöpfung, so die zweite vom Mittler der Versöhnung. 'Paulus' sieht den Zusammenhang von Urzeit und Endzeit christologisch als Zusammenhang von Schöpfung und Versöhnung. Versöhnung wurde dadurch möglich, dass Christus “Frieden stiftete am Kreuz durch sein Blut“ (1,20). Christi Blut (analog atl Opfer) ist für 'Paulus' Blut, das “Frieden stiftet“. Es gibt keinen Zusammenhang von Schöpfung und Versöhnung am Kreuz vorbei, keine Aussage über den Kosmos ohne Hinweis auf die Leidensgeschichte des Gekreuzigten (432f).

Ein Lied wider die falschen Beherrscher der Welt

Die Präexistenz Christi musste hier so deutlich bekannt werden, weil dieses Lied ein Gegengesang sein will gegen falsche kosmische Mächte und Gewalten, die diese Welt beherrschen und weil es vom Glauben an eine neue Existenz des Menschen in Christus Zeugnis geben will, die diesen Mächten Widerstand zu leisten vermag (434).

Wenn Christen darauf vertrauen können, dass Christus Jesus das Ebenbild Gottes ist, dann dürfen sie auch darauf vertrauen, dass Gott nun selbst das Antlitz Jesu Christi trägt. Der Bilderlose wird so in einem Bild anschaulich, weil Gott selbst sich in diesem Bild hat erkennen lassen wollen. Die christologische Präexistenzaussage musste hier Thema werden, weil es um das 'richtige' Bild Gottes ging.

Die Schöpfung ist nicht kosmischen Schicksalsmächten und Weltelementen ausgeliefert, sondern ist von Versöhnung, Frieden, ja Liebe getragen, Weltversöhnung musste neu buchstabiert werden im Angesicht von Weltbedrohung und Lebensangst (434f).

Friede und Versöhnung sind nur möglich aufgrund der in Christus vollzogenen Entmachtung der falschen Elementarmächte, der Fürsten und Gewalten dieser Welt (435f).

In summa: Mit dem Glauben an die Präexistenz Christi verbindet sich keine spekulative Neugierde, sondern das verwegene Vertrauen von Christen: dass trotz aller Elementarmächte Gott niemand anders ist als der neuschaffende und befreiende Gott Jesu Christi, der Gott, der als Urgrund von Schöpfung und Erlösung das Antlitz eines konkreten Menschen trägt, dass trotz aller Katastrophenängste der Urgrund der Schöpfung vertrauenswürdig ist; dass trotz allem Streit um die Wahrheit die Urmacht der Versöhnung vor aller Schöpfung alle Entzweiung in der Schöpfung aufzuheben vermag, dass trotz aller politischen Repressionen die falschen Mächte und Gewalten der Erde, die falschen Götter – und Götzenbilder vom wahren Bild Gottes her entzaubert werden.

Der Hymnus ist ein Lied von Schöpfung und Erlösung. In diesem Text wird poetisch, nicht begrifflich geredet. Dieses Lied will gesungen, meditiert, erfahren, aber nicht abstrakt erklärt werden (436f).