Zum Johannesevangelium

G. Richter

1. Präsentische und futurische Eschatologie im 4. Evangelium (JE)
1.1 Die drei großen Schichten im JE
1.2 Die Eschatologie der Grundschrift
1.3 Die Eschatologie des Evangelisten
1.4 Die Eschatologie des antidoketistischen Redaktors

2. Zum gemeindebildenden Element in den johanneischen (jhn) Schriften
2.1 Der prädestinierende Wille Gottes
2.2 Die jeweilige Christologie als Ursache der Entstehung der jhn Gemeinden und ihrer Spaltung

Taufe und Glaube an Jesus (→s. Text 12)

3. Die Deutung des Kreuzestodes Jesu in Jh 13 – 19
3.1 Durch die Lebenshingabe am Kreuz wirkt Jesus nach dem Willen des Vaters das Heil, der Kreuzestod erweist ihn als Messias und Heilbringer
3.2 Die Deutung des Kreuzestodes Jesu aus vorwiegend paränetischem Interesse
3.3 Die Texte der zweiten Gruppe stammen von einer anderen Hand

4. Ergänzungen
4.1 Mein Vater und euer Vater, mein Gott euer Gott (Jh 20,17)
4.2 Tradition und Redaktion in Jh 1,19-34
4.3 Blut und Wasser aus der durchbohrten Seite Jesu (Jh 19,34b)
4.4 „Und der Logos ward Fleisch“ (Jh 1,14a)
4.5 Zur sog. Semeia-Quelle (S) des Johannesevangelium
4.6 Die Fusswaschung (Jh 13,1-20)

Die Täuferbefragung als Frage nach der Messianität des Täufers (Jh 1,21) (→s. Text 12)

Zwei Deutungen der jhn Brotrede (Jh 6,31-58) (→s. Text 12)

Zum sog. Tauftext Jh 3,5 (→s. Text 12)

5. Anhang
5.1 Vergottung Jesu im Johannes-Evangelium?
5.2 Glauben an Jesus – ein Verstoß gegen das zweite Gebot?
5.3 Die john Christologie vor dem Anspruch des Hauptgebotes (Dtn 6,4f)
5.4 Die Offenbarung der Doxa

Literatur

1. Präsentische und futurische Eschatologie im 4. Evangelium (JE)
1.1 Die drei großen Schichten im JE
1.2 Die Eschatologie der Grundschrift
1.3 Die Eschatologie des Evangelisten
1.4 Die Eschatologie des antidoketistischen Redaktors

Das Nebeneinander verschiedener eschatologischer Anschauungen im JE ist der Niederschlag der christologischen Entwicklung und Auseinandersetzung innerhalb der jhn Gemeinden und somit weithin eine Korrektur der jeweils vorausgehenden Anschauung (347).

1.1 Die drei großen Schichten im Johannesevangelium

Das Nebeneinander verschiedener eschatologischer Anschauungen im JE ist der Niederschlag der christologischen Entwicklung und Auseinandersetzung innerhalb der jhn Gemeinden und somit weithin eine Korrektur der jeweils vorausgehenden Anschauung (347).

Die erste (= älteste) Schicht: die Grundschrift, bildet die Anschauung, dass Jesus der von Gott verheißene Messias ist, und zwar nicht der davidische Messias, sondern der Prophet-Messias, der Dtn 18,15ff verheißene Prophet wie Moses (Jh 1,29ff;  6,14;  7,31). Deshalb wirkt Jesus Zeichen (wie seinerzeit Moses) und andere messianische Taten, die als göttliche Bestätigung seiner Messianität zu verstehen sind. Jesus ist nicht göttlicher Herkunft, sondern (im Einklang mit Dtn 18,15ff) ein Mensch aus der Mitte seiner Volksgenossen, der Sohn Josefs von Nazareth (Jh 1,45f;  6,42), von Gott zum Messias erwählt. Das Judentum, aus dem dieses jhn Judenchristentum hervorging und mit dem es sich in der Verteidigung der Messianität Jesu auseinandersetzt, stellt eine besondere Strömung innerhalb des Judentums dar. Dieses jhn Judenchristentum schuf sich nach dem Ausschluss aus der Synagoge (Jh 9,22;  12,42) eine dem 'Evangelium' ähnliche Schrift, in der es seinen Gegnern (Judentum, Täufergemeinde) und sich selbst Rechenschaft gab über seinen Glauben an Jesus als den Prophet-Messias. Der Autor dieser Schrift hat aus der ihm zur Verfügung stehenden christlichen Tradition ihm geeignet scheinende Stoffe ausgesucht und sie im Sinn seiner Intention neu interpretiert. Diese Grundschrift ist das Evangelium des jhn Judenchristentums (355f).

Die nächste Schicht: die Sohn-Gottes-Christologie des Evangelisten: Jesus ist der vom Himmel herabgekommene präexistente Sohn Gottes, der vom Vater gesandte eschatologische Heilbringer. Wer an Jesu himmlische Herkunft und Gottessohnschaft glaubt, hat das Heil, wer nicht glaubt, ist vom Heil ausgeschlossen. Ist die Grundschrift (das Glaubenszeugnis des jhn Judenchristentums) entstanden als Folge der Abstoßung des Judenchristentums durch die Synagoge und die dadurch notwendig gewordene Konstituierung dieses Judenchristentums zu einer eigenständigen Gemeinschaft, so hat die Überarbeitung und Neuinterpretation der Grundschrift durch den Evangelisten darin ihren Grund, dass sich eine Gruppe innerhalb des jhn Judenchristentums wegen ihres Bekenntnisses zu Jesus als dem vom Himmel herabgekommenen Sohn Gottes von diesem Judenchristentum lossagte und sich als eine eigenständige, zur Muttergemeinde in christologischem Gegensatz stehende Gemeinschaft konstituierte. Dem Evangelisten geht es bei der Bearbeitung der Grundschrift darum, den neuen Glauben als den ursprünglichen darzustellen, der von Jesus selbst verkündet worden ist und der allein dem Willen Gottes entspricht. Zu diesem Zweck wird einerseits die ganze Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Judenchristentum in die Zeit Jesu zurückprojeziert, die Einwände des Judenchristentums gegen den neuen Glauben erscheinen im Mund der ungläubigen Juden z. Zt. Jesu. Die Begründung und Apologie des neuen Glaubens hingegen erscheint als Verkündigung Jesu selbst, der nur sagt, was Gott ihm aufgetragen hat. Andererseits wird des öfteren gesagt, dass die Jünger oder die Juden Jesus nicht verstanden haben und dass erst jetzt, nach der Rückkehr Jesu zum Vater und der Sendung des Parakleten, das richtige Verständnis der Worte und Taten Jesu möglich ist (Jh 8,27f;  12,16;  13,7;  14,20.26) (356f).

Weil der Evangelist alles Gewicht auf den Nachweis der himmlischen Herkunft und Gottessohnschaft Jesu legt, konnten die Doketisten an den Evangelisten anknüpfen, als sie aufgrund ihres gnostischen Dualismus das Menschsein und die Leiblichkeit Jesu bestritten und erklärten, er sei ein ausschließlich himmlisches Wesen gewesen. Es kam nicht zur Einfügung einer doketistischen Schicht in das JE, sondern nur zu antidoketistischen Einschüben (Jh 1,14a: „und der Logos ward Fleisch“), die die jüngste und letzte der drei großen christologischen Schichten in unserem JE bilden. Der Autor dieser Schicht: der antidoketistische Redaktor (von dem auch die Jh-Briefe stammen) betont nicht nur das Menschsein und die Leiblichkeit (das Fleisch) Jesu (Jh 1,14-18;  19,34f;  1Jh 4,2f;  5,6;  2Jh 7), sondern nimmt auch Stellung zu einer Anzahl anderer Fragen, die durch den gnostischen Dualismus der Doketisten und die daraus resultierende Anthropologie, Christologie und Ethik aktuell geworden waren (357f).

Von einer Einheit des jhn Christentums kann nicht die Rede sein weder im Glauben noch als menschliche Gemeinschaft, weil sie sich gegenseitig verketzert und verteufelt haben (Jh 8,42-38;  10,33) (zu verstehen von der zeitgeschichtlichen Auseinandersetzung des Evangelisten mit dem Judenchristentum der Grundschrift: 1Jh 2,18-23;  3,8ff;  4,1-6;  2Jh 7). Gemeinsam ist ihnen nur der Ursprung aus dem Judenchristentum der Grundschrift und die Ablehnung durch das Judentum (A 58). Das JE spiegelt als Produkt der jeweiligen Neuinterpretierung, Überbietung und Korrektur des alten Glaubens (des christologischen Bekenntnisses der vorhergehenden Schicht) die Disharmonie und Zerrissenheit der jhn Gemeinden wider. Sowohl der Evangelist als auch der antidoketistische Redaktor wollen jeweils das ganze Evangelium im Sinn ihrer Tendenz und ihrer spezifischen Christologie verstanden wissen. Deshalb setzt der Evangelist an die Spitze der Grundschrift den (von ihm erweiterten) Logoshymnus (1,1-13), der wie das Vorzeichen vor der Klammer die Wertigkeit des Ganzen bestimmt. Den gleichen Zweck verfolgt er mit der Erweiterung des Schlusssatzes der Grundschrift (20,31 „Diese Zeichen sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen“) durch die Aussage über die Gottessohnschaft Jesu und die Heilsnotwendigkeit des Glaubens an ihn als den Gottessohn. In derselben Weise setzt der antidoketistische Redaktor ein neues Vorzeichen und einen diesem Vorzeichen entsprechenden neuen Schlusspunkt, wenn er den Prolog des Evangelisten (1,1-13) durch die VV 14-18 (Fleischwerdung des Logos) erweitert und in 20,24-29 die Leiblichkeit des Auferstandenen durch Thomas bezeugen lässt (359).

1.2 Die Eschatologie der Grundschrift

Die Grundschrift spricht kaum ausdrücklich von der Eschatologie, es geht ihr ja ausschließlich um den Nachweis, dass Jesus der Messias, der von Moses verheißene Prophet-Messias ist. Aber wir können ihre Anschauung indirekt erfahren aus der Auseinandersetzung des Evangelisten mit dem hinter der Grundschrift stehenden Judenchristentum. Sehr oft sind es mit doppeltem Amen eingeleitete Worte im Mund Jesu, in denen der Evangelist die eschatologische Anschauung des Judenchristentums der Grundschrift mehr oder weniger wörtlich wiedergibt, freilich nur zu dem Zweck, um in der Person und Verkündigung Jesu als gegenwärtig und erfüllt aufzuzeigen, was das Judenchristentum erst von der eschatologischen Zukunft erwartete (360).

Die traditionelle futurische Eschatologie kommt zum Ausdruck in der Erwartung des Gottesreichs (der Gottesherrschaft) und in der Erwartung der Parusie Jesu als des Menschensohns mit den damit verbundenen Akten der allgemeinen Totenauferweckung und des letzten Gerichts. Voraussetzung für das Eingehen in das Gottesreich ist der Empfang der in der judenchristlichen Gemeinde geübten Taufe, die als Fortsetzung der von Jesus getätigten messianischen Taufe (Jh 3,22f;  4,1), der Taufe mit heiligem Geist (Jh 1,33), zu verstehen ist und das Bekenntnis zu Jesus als dem Messias beinhaltet. Das jhn Judenchristentum erwartet die Wiederkunft Jesu vom Himmel her (Parusie) als des Menschensohns (MSs), der die Toten erwecken und das letzte Gericht halten wird. Das geht aus Texten hervor, die als korrigierende Neuinterpretation des Glaubens des Judenchristentums verstanden werden müssen (361):

Jh 1,51: Amen, Amen, ich sage euch, ihr werdet sehen den Himmel geöffnet und die Engel Gottes hinaufsteigend und herabsteigend auf den (über dem) MS“. Nach G. Richter handelt es sich hier um eine Aussage über die Parusie Jesu als des MSs am Ende der Zeiten. Jh 5,25: Amen, Amen, ich sage euch: Es kommt die Stunde und jetzt ist sie (da), dass die Toten hören werden die Stimme des Gottessohnes (des MSs), und die sie hören werden, die werden leben“. In diesem Satz liegt der Wortlaut der futurisch-eschatologischen Erwartung des Judenchristentums vor, die der Evangelist durch seine Variierung und Zusätze als (im Gottessohn Jesus) gegenwärtig und erfüllt verkündet. Und wenn der Evangelist die bereits in der Gegenwart ausgeübte eschatologische Richterfunktion Jesu mit dem Satz begründet: „weil er der Menschensohn ist“ (5,27), dann liegt die Beweiskraft dieses Satzes in dem judenchristlichen Glauben, dass Jesus als der am Ende der Zeiten vom Himmel kommende MS der eschatologische Richter ist. Jh 11,24: Auf die Worte Jesu: „dein Bruder wird auferstehen“ (V 23) sagt Marta zu Jesus: „Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am letzten Tag“. Der Evangelist lässt dieses Bekenntnis nur deshalb von Marta aussprechen, um zu verkünden, dass die Erwartung jetzt – im Glauben an Jesus als den vom Himmel herabgekommenen Sohn Gottes – zur Erfüllung kommt (361f).

Jh 12,34: Der Evangelist lässt Jesus die Notwendigkeit des Erhöhtwerdens verkünden (12,32). Er lässt die Volksmenge verstehen, dass damit Jesu Kreuzestod (bzw. sein Weggang aus der Welt) gemeint ist. Die Volksmenge antwortet (V34): „Wir haben gehört aus dem Gesetz, dass der Christus bleibt in Ewigkeit, wie kannst du sagen, dass der MS erhöht werden muss? Wer ist dieser MS“? Der Satz ist (in Bezug auf den Kreuzestod Jesu) der geläufige Einwand des Judentums gegen die vom Judenchristentum der Grundschrift verkündetet Messianität Jesu. Der Evangelist verbindet diesen jüdischen Einwand mit dem Einwand des Judenchristentums gegen die bereits gegenwärtige MSfunktion Jesu (= gegen die Sohn-Gottes-Christologie) und stellt so das Judenchristentum auf eine Stufe mit dem ungläubigen Judentum. In der Antwort, die der Evangelist Jesus geben lässt (V35), wird auf die Frage des V34 nicht eingegangen, es wird nur wieder betont, dass sich in der Gegenwart (in der Entscheidung für oder gegen Jesu Gottessohnschaft) das Eschaton vollzieht, d.h.: die Parusie Jesu als des MSs, wie sie das Judenchristentum erwartet, findet jetzt statt. Wenn Jh 3,14-18 vom Evangelisten stammen sollte, wäre auch dieser Text auf dem Hintergrund des judenchristlichen Einwandes zu verstehen, dass der historische Jesus wegen seines Kreuzestodes nicht der vom Himmel herabgekommene MS sein kann, weil dieser MS nicht mehr stirbt, sondern in Ewigkeit bleibt (362f).

Die Gegenwart als Zeit des Heilsanbruches: Jesus (als der Prophet-Messias) ist die Erfüllung der Weissagungen des Moses und der Propheten (Jh 1,45). Er ist es, der mit heiligem Geist tauft (1,32f;  3,22ff;  4,1) (der Geist ist eschatologische Heilsgabe). Diese Tauftätigkeit Jesu wird in der judenchristlichen Gemeinde der Grundschrift fortgeführt (Jh 3,22ff), weil diese Taufe die unerlässliche Voraussetzung für das Eingehen in das Gottesreich ist (Jh 3,3ff). In den Zeichen, die Jesus als Ausweis seiner Messianität wirkt, wird die Herrlichkeit (doxa) Gottes offenbar (Jh 11,4.40) Das Schauen der doxa ist wiederum eine Verheißung für die eschatologische Heilszeit, wie in der Moses-Messias-Typologie der Grundschrift zum Ausdruck kommt, dass das Wirken Jesu und das Dasein der judenchristlichen Gemeinde Heilscharakter haben. Doch das alles ist nur der Anbruch des Heils. Die volle und endgültige Heilsverwirklichung erfolgt erst in der Zukunft, wenn Jesus wiederkommt als der MS (365).

1.3 Die Eschatologie des Evangelisten

Alles, was das Judenchristentum der Grundschrift von der eschatologischen Zukunft erwartet, geschieht nach der Darstellung des Evangelisten bereits in der Gegenwart. In der Person und Verkündigung Jesu (bzw. in der Verkündigung des Evangelisten und seiner Gemeinde(n) über Jesus als den vom Himmel herabgekommenen Sohn Gottes) ist das Eschaton mit allen seinen verschiedenen Einzelakten endgültig gegenwärtig (nicht erst im Anbruch) und im Verhalten der Menschen zu Jesus und seiner Botschaft (Glaube oder Unglaube) vollzieht sich jetzt schon definitiv die Vollendung des eschatologischen Heils oder Unheils. Es gibt keine eschatologische Zukunft mehr, sie ist 'jetzt' schon da. Die Verkündigung dieser präsentischen Eschatologie steht beim Evangelisten ganz im Dienst der Christologie. Er will nur zum Ausdruck bringen, wer Jesus ist (365).

Für den Evangelisten sind die Parusie Jesu (als des vom Himmel herabgekommenen MSs) und die eschatologischen Werke der Totenerweckung und des letzten Gerichts gegenwärtiges Geschehen. Im Kontext von 1,35-50 will der Evangelist alle bisherigen Aussagen der Grundschrift über Jesus korrigieren und überbieten. Jesus ist mehr als der Messias, er ist der MS, d.h.: er ist vom Himmel herabgekommen. Die größeren Dinge (1,50b), die die Jünger sehen werden, sind nach der Intention des Evangelisten nicht mehr die Zeichen und andere messianische Taten als Bestätigung der Messianität Jesu, sondern die eschatologischen Akte, die Jesus in seiner Funktion als der MS vollzieht. Dass der Evangelist in 1,51 nicht bloß an die Parusie denkt, sondern auch schon an die eschatologische Totenerweckung und das Gericht (wodurch sich Jesus als der MS ausweist), geht auch aus 5,20-22 hervor, wo diese beiden Akte „größere Werke“ (5,20b) genannt werden. Der Evangelist beteuert (1,51: „Amen, Amen“), dass nicht die Tradition des Judenchristentums der Grundschrift den wahren Sachverhalt wiedergibt, sondern dass allein die vom Evangelisten verkündete (Jesus in den Mund gelegte) Neuinterpretation der Intention Jesu entspricht, dass also die traditionelle Zukunftserwartung Gegenwart und Wirklichkeit geworden ist (365f).

Die präsentische Eschatologie des Evangelisten findet in Jh 5,24-27 ihren markantesten Ausdruck. Durch die drei Wörter: „und jetzt ist sie“ (V25), die der Evangelist in ein schon formuliertes Bekenntnis des grundschriftlichen Judenchristentums einfügt, verkündet er, dass jetzt schon die eschatologische Totenerweckung und das eschatologische Gericht stattfinden. Wer an Jesus als den vom Himmel herabgekommenen Sohn Gottes glaubt, hat jetzt schon das eschatologische Heilsgut des Lebens. Die Vollmacht Jesu, das Heilsgut des Lebens (das das Leben Gottes ist und Lebensgemeinschaft mit Gott bedeutet) verleihen zu können, hat ihren Grund in seiner Gottessohnschaft. Als der Sohn hat er das Leben des Vaters in sich (5,26). In gleicher Weise (als der Sohn des Vaters und im Auftrag des Vaters V30) übt er auch die Funktion des Richters aus, die nach der Tradition die (ebenfalls von Gott übertragene) Funktion des MSs ist (5,27). Mit dem „Amen, Amen“ (5,24 und 25) will der Evangelist aufs höchste beteuern, dass nicht die traditionelle Zukunfts-Eschatologie des Judenchristentum der Intention von Lehre und Werk sowie der Bedeutung der Person Jesu entspricht, sondern nur die vom Evangelisten verkündete präsentische Eschatologie (367).

In den VV 11,24-27 dürften Bekenntnisformeln des jhn Judenchristentums vorliegen, die der Evangelist durch die VV 25f und das in V27 eingefügte „Sohn Gottes“ im Sinn seiner spezifischen Christologie und Eschatologie korrigiert. Wenn der Evangelist hier Jesus sich als „die Auferstehung und das Leben“ bezeichnen lässt (V25), so heißt das, dass für die Glaubenden die (von Maria = vom jhn Judenchristentum) erwartete Auferstehung am Jüngsten Tag jetzt, in der Gegenwart Jesu (und in der Verkündigung über Jesus), sich vollzieht und dass die vom Eschaton erwartete Heilsgabe des ewigen Lebens ebenfalls jetzt schon zuteil wird, in unüberbietbarer Fülle. Der leibliche Tod ist ohne Bedeutung für den, der aufgrund des Glaubens an Jesus das Eschaton durchschritten hat und das ewige Leben erlangt hat (V25f). Hier wird wieder die Verbindung von Eschatologie und Christologie sichtbar. (Die Bezeichnung 'Auferstehung' für Jesus kommt beim Evangelisten sonst nicht mehr vor. Sie ist hier bedingt durch die Neuinterpretierung des traditionellen Bekenntnisses des jhn Judenchristentums A88). Das eschatologische Gericht (Jh 3,17f;  3,36;  8,12-29;  8,50f;  12,27-36;  12,44-50) vollzieht sich in der Gegenwart im Verhalten zur Person Jesu (und zur Verkündigung über Jesu Gottessohnschaft). 9,39: „Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die Nichtsehenden sehen und die Sehenden blind werden“. Der 'MS' in 9,35ff ist nicht zu verstehen als Wesensbezeichnung Jesu, sondern nur als Bezeichnung für die Funktion Jesu als des Richters, durch den jetzt das eschatologische Gericht sich an den Menschen vollzieht (9,40f). Der Evangelist spricht von der Gegenwertigkeit der Heilsvollendung. Das Heil ist definitives Heil, nicht eine Vorstufe des Heils, die postmortal eine Vollendung erfährt. Es geht darum Jesus als den vom Himmel herabgekommenen Sohn des Vaters und eschatologischen Heilbringer zu erweisen (368f).

Der unmittelbare Grund, warum der Evangelist die futurische Eschatologie des Judenchristentums der Grundschrift neu interpretiert und als erfüllt verkündet, ist in der Sohn-Gottes-Christologie zu sehen. Die präsentische Eschatologie (die Erfüllung der für die Zukunft erwarteten eschatologischen Vollendung in der Person und im Wort Jesu) ergibt sich als notwendige Konsequenz aus der Sohn-Gottes-Christologie des Evangelisten: die Bezeichnung Jesu als des eschatologischen MSs und die Verkündigung, dass Jesus der Sohn Gottes und als solcher der eschatologische Heilbringer ist (369).

Die Bezeichnung 'der MS' steht im Dienst der Sohn-Gottes-Christologie zum Erweis der himmlischen Herkunft Jesu. Jesus ist insofern des MS, als er vom Himmel herabgekommen ist, wie es das Judenchristentum der Grundschrift von Jesus als dem am Ende der Zeit zur Parusie kommenden MS erwartete. Der Evangelist musste zeigen, dass Jesus die vom eschatologischen MS erwarteten Funktionen (Totenerweckung, Gericht) auch tatsächlich ausgeübt hat (bzw. ausübt) durch sein in der Gegenwart verkündetes Wort. Darum lässt der Evangelist Jesus immer wieder versichern („Amen, Amen“), dass die vom zukünftigen Eschaton (mit dem Erscheinen des MSs) erwarteten Ereignisse jetzt schon stattfinden. Von diesem Beweisgang des Evangelisten her ergibt sich die Ausschließlichkeit der präsentischen Eschatologie des Evangelisten. Denn mit dem Erscheinen des MSs erfüllen sich alle für die Zukunft gehegten Erwartungen. In der konkreten Situation des Evangelisten würde die Verkündigung einer noch zukünftigen Eschatologie die Annulierung seiner Sohn-Gottes-Christologie bedeuten (369f).

Das eschatologische Heil besteht sowohl nach jüdischer als auch nach christlicher Anschauung in der dauernden und unverlierbaren Gemeinschaft mit Gott, im Anschauen Gottes, in der Teilhabe an Gottes unsterblichem Leben, im Sein in der Doxa oder im Licht Gottes. Die verschiedenen Heilsgestalten der jüdischen Eschatologie haben ebenso wie der Prophet-Messias des jhn Judenchristentums nur die Aufgabe, Israel (oder die Menschen) auf das Kommen der Gottesherrschaft vorzubereiten. Sie haben nicht das Heilsgut des Lebens in sich selbst. Auch als Gesandte Gottes sind sie nicht Träger des Heils, sondern nur Führer zum Heil. Beim Jesus des Evangelisten ist das anders, denn dieser Jesus ist Gottes Sohn. Als solcher hat er das Leben Gottes, seines Vaters, in sich: „Denn wie der Vater Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, Leben zu haben in sich“ (Jh 5,25;  6,35.40.48-51a). Der Evangelist begründet die jetzt stattfindende eschatologische Totenerweckung und Verleihung der Heilsgabe des ewigen (göttlichen) Lebens nur mit der Gottessohnschaft Jesu (A99). In der gläubigen Begegnung mit Jesus, im gläubigen Hören der Stimme Jesu als des Gottessohnes (5,25), erlangt der Mensch jetzt schon das Leben total, „für alle Ewigkeit“ (6,51a): „Denn das ist der Wille meines Vaters, dass jeder, der den Sohn sieht und an ihn glaubt, ewiges Leben habe“ (6,40). Somit wird mit der Heilsgabe des von Jesus gegebenen ewigen Lebens das Wirklichkeit, was der traditionelle Glaube erst nach dem Eschaton erwartet: die definitive Teilhabe am Leben Gottes. Das Eschaton ist deshalb in Jesus gegenwärtig, weil die Macht und die Gegenwart der Gottesherrlichkeit in diesem Erlöser versammelt sind. Der Evangelist polemisiert gegen die Prophet-Messias-Christologie des Judenchristentums der Grundschrift. Was die futurische Eschatologie betrifft, so stellt er sie als erfüllt hin, um auch auf diese Weise den Judenchristen zu sagen, dass Jesus wirklich vom Himmel herabgekommen und der Sohn Gottes ist. Nur eine ausschließlich präsentische Eschatologie kann ein Beweis dafür sein, dass Jesus wirklich die vom MS erwarteten eschatologischen Akte ausgeführt hat bzw. ausführt (370f).

Für den Evangelisten ist Jesus der Weg nach oben, die Begegnung mit ihm ist schon die Ankunft am Ziel des Weges. Auch aus Jh 11,25 geht hervor, dass es für den Evangelisten nach dem Tod des einzelnen Jüngers kein Plus an Heilsvollendung gibt (373).

1.4 Die Eschatologie des antidoketistischen Redaktors

Diese Eschatologie lässt sich durch zwei Merkmale charakterisieren: einerseits wird die bloß präsentische Eschatologie des Evangelisten ergänzt und insofern korrigiert, als auch noch (oder wieder) die futurisch-apokalyptische Eschatologie (mit Parusie usw.) nachdrücklich verkündet wird. Andererseits wird die Gegenwärtigkeit des Heils zwar beibehalten, aber insofern reininterpretiert und für die gegenwärtige Situation aktualisiert, als der Erweis des gegenwärtigen Heilsbesitzes nicht mehr bloß im Glauben an Jesu Gottessohnschaft gesehen wird, sondern auch im Glauben an das wahre Menschsein Jesu. Darüber hinaus erweist nicht mehr der Glaube allein die Tatsächlichkeit des Heilsbesitzes, sondern auch ein bestimmtes ethisches Handeln und ein bestimmtes 'kirchliches' Verhalten sind gefordert, vor allem: gute Werke (besonders Bruderliebe), die Sünde meiden, „bei uns bleiben“ (d.h. in der Gruppe, deren Sprecher der Redaktor ist, bleiben = bei deren christologischem Bekenntnis bleiben). In jenen jhn Gemeinden, die sich zur Sohn-Gottes-Christologie des Evangelisten bekannten, hatte sich unter dem Einfluss des gnostischen Dualismus eine neue Anschauung über Jesus gebildet. Sie hielten Jesus für ein ausschließlich himmlisches Wesen, seine irdische Erscheinung als Mensch sei nur Schein gewesen. Für den Evangelisten ist Jesus der Weg nach oben, die Begegnung mit ihm ist schon die Ankunft am Ziel des Weges. Auch aus Jh 11,25 geht hervor, dass es für den Evangelisten nach dem Tod des einzelnen Jüngers kein Plus an Heilsvollendung gibt (373).

Die futurisch-apokalyptische Eschatologie im jhn Schrifttum erscheint ebenso wie die 'Verkirchlichung' und Ethisierung der vom Evangelisten verkündeten präsentischen Eschatologie weithin unter dem Aspekt der antidoketistischen Abwehr. Jh 5,28f:Wundert euch nicht darüber: Es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern (sind), hören werden seine (= des MSs) Stimme, und es werden herauskommen die (,die) das Gute getan (haben,) zur Auferstehung (des) Lebens, die das Böse verübt (haben,) zur Auferstehung (des) Gerichts“. Nach Inhalt und Tendenz ist der Text nichts anderes als eine Neuinterpretierung von 5,25f im Sinn der futurischen Eschatologie mit ausgesprochen antidoketistischem Akzent. Der rein futurische Aspekt (der zugleich antidoketistisch ist) kommt darin zum Ausdruck, dass anstelle der „Toten“, die beim Evangelisten im geistigen Sinn verstanden sind, eindeutig von den Verstorbenen, die in den Gräbern sind, die Rede ist und von einem „Herauskommen“ (aus den Gräbern). Antidoketistisch ist auch das Gericht nach den Werken. Die Methode der Korrektur und Neuinterpretation ist die gleiche, die schon der Evangelist gegenüber den traditionellen Jesusworten des Judenchristentums der Grundschrift angewandt hat (374f).

Wie der ganze Abschnitt 6,51b-58 ist auch das stets nachklappende „und ich werde ihn auferwecken am letzten Tag“ in 6,39f.44 vom Redaktor eingefügt und als Niederschlag seiner Auseinandersetzung mit den Doketisten zu verstehen. Mit der Betonung der allgemeinen Totenerweckung am Jüngsten Tag wird damit immer auch die von den Doketisten bestrittene leibliche Auferweckung Jesu vorausgesetzt. Die Verkündigung des zukünftigen Gerichts hat der Redaktor auch am Schluss von 12,48 angehängt: „Wer mich verwirft und nicht annimmt meine Worte, hat seinen Richter: das Wort, das ich gesprochen habe, das wird ihn richten am letzten Tag“. Der Evangelist sprach von der Richtertätigkeit des Wortes Jesu im Präsens (3,18: „Wer an ihn, den Sohn Gottes, glaubt, wird nicht gerichtet: wer nicht glaubt, ist schon gerichtet“) (376).

In den Jh-Briefen erscheint die futurische Eschatologie vor allem 1Jh 2,28 (Erwartung der Parusie Jesu); 3,2f (Hoffnung auf die zukünftige Heilsvollendung); 4,17 (Zuversicht am Tag des Gerichts). Die Erwartung der Parusie und der zukünftigen Heilsvollendung geht auch aus 1Jh 2,18 und 4,3 (2Jh 7f) hervor, wo die Rede ist vom bereits gegenwärtigen Wirken des Antichristen (in den Verkündern der doketistischen Christologie), dessen Erscheinen unmittelbar vor der Parusie als bekannt vorausgesetzt ist. Die traditionelle Erwartung vom Ende der Welt klingt in 1Jh 2,17 an, die zukünftige Heilsvollendung in 2Jh 8 (376f).

An vielen anderen Stellen hat der antidoketistische Redaktor die vom Evangelisten verkündete präsentische Eschatologie und Gegenwärtigkeit des Heilsbesitzes für die konkrete Situation seines antidoketistischen Abwehrkampfs insofern umgedeutet und korrigiert, als er den Erweis der Tatsächlichkeit des von den Gegnern in Anspruch genommenen Heilsbesitzes an eine bestimmte Christologie, an bestimmte ethische Forderungen und an ein bestimmtes 'kirchliches' Verhalten bindet (377).

2. Zum gemeindebildenden Element in den johanneischen (jhn) Schriften
2.1 Der prädestinierende Wille Gottes
2.2 Die jeweilige Christologie als Ursache der Entstehung der jhn Gemeinden und ihrer Spaltung

2.1 Der prädestinierende Wille Gottes

Nach dem Evangelisten ist es letzten Endes Gott selber, der die an Jesus glaubende Gemeinde schafft. Denn dass Menschen an Jesus als den vom Himmel herabgekommenen Sohn Gottes glauben (glauben können), hat seinen Grund darin, dass sie „aus Gott geboren (gezeugt) sind“ (1,13), „aus Gott“ (8,47) oder „aus der Wahrheit“ (19,37) sind, dass sie „von oben“ oder „aus (dem) Geist geboren (gezeugt) sind“ (3,3.5.7f). Die Erfüllung dieser Voraussetzung wird von Gott allein gewirkt, sie wird dem Menschen geschenkt. So kann niemand zu Jesus kommen (= an ihn glauben), wenn er nicht vom Vater gezogen wird (6,44), wenn es ihm nicht vom Vater gegeben ist (6,65). Der Vater ist es, der Jesus die Menschen gibt (6,37ff;  10,29;  17,2;  18,9), der dem Hirten (Jesus) die Schafe gibt (10,14f.26f.29). Zu Jesus können nur diejenigen kommen, „die beim Vater gehört und gelernt haben“ (6,45). Die Juden (für den Evangelisten auch die Judenchristen der Grundschrift) können deshalb nicht an Jesus als den Sohn des Vaters glauben, weil sie „nicht aus Gott“ sind (8,47;  8,42ff). Um Jesus als den Sohn Gottes zu erkennen, muss man selber „Kind Gottes“ oder „von oben“ sein. Das ist nach dem Evangelisten ausschließlich Sache der Erwählung durch Gottes völlig freie Entscheidung (395f).

Die dualistisch-deterministischen Vorstellungen des Evangelisten stehen im Dienst seiner christologischen Verkündigung. Er will damit nur zum Ausdruck bringen, wer Jesus ist. Weil für den Evangelisten Jesus der vom Himmel herabgekommene Sohn Gottes ist, wird durch die Begegnung mit Jesus offenbar, zu welcher Kategorie von Menschen der einzelne gehört. Wer Jesus als den Sohn Gottes erkennt und an ihn glaubt, offenbart dadurch, dass er (wie Jesus selber) zur Sphäre Gottes gehört, „aus Gott“ ist. Sein Gezeugtsein von oben ist der Grund, warum er Jesus als den vom Vater gesandten Sohn erkennen kann. Wer hingegen Jesus nicht als den erkennt, als den ihn der Evangelist verkündet, offenbart dadurch, dass er „aus dem Teufel“ ist. Denn nicht an Jesus glauben, heißt für den Evangelisten Gott selber ablehnen, der Jesus gesandt hat (396f).

Für das Judenchristentum der Grundschrift ist Jesus ein Mensch (der Sohn Josefs aus Nazareth (1,45;  6,42), der von Gott zum Messias erwählt worden ist. Die vom Evangelisten behauptete himmlische Herkunft und Gottessohnschaft Jesu lehnt es ab, deshalb, weil es darin einen Verstoß gegen die in der Schrift (AT) verkündete Einzigartigkeit Gottes (den Monotheismus) sehen muss. Andererseits sieht dieses Judenchristentum in seinem Glauben an die Messianität Jesu ein Bekenntnis zu Gott und dessen Verheißungstreue, denn Gott hat ja Jesus zum Messias erwählt und ihn durch Zeichen und andere messianische Taten ausgewiesen (auch Apg 4,19f). Nicht an Jesu Messianität glauben heißt für dieses Judenchristentum Ungehorsam gegen Gott. Dieses Judenchristentum, das um Gottes willen einerseits die Göttlichkeit Jesu ablehnt, andererseits trotz Ausschluss aus der Synagoge an Jesu Messianität festhält, konnte kaum empfindlicher getroffen werden als mit dem Vorwurf, dass es sich gegen Gott selber stelle. Der Evangelist verkündet seine Christologie in Auseinandersetzung mit dem Judenchristentum der Grundschrift und zur Glaubensfestigung seiner Anhänger (397f).

Der sekundäre (antidoketistische) Redaktor, von dem auch die Jh-Briefe stammen, übernimmt vom Evangelisten die Vorstellung von dem Gezeugtsein aus Gott und damit die prädestinatorische Erwählung zum Heil, sodass auch für ihn Gott selber der grundlegende gemeindebildende Faktor ist. Aber während beim Evangelisten das Gezeugtsein aus Gott und als Folge davon das Prädestiniertsein zum Glauben an Jesus ausschließlich im Dienst seiner spezifischen Christologie stehen, ist der Verfasser im 1Jh fast ausschließlich an den praktischen Konsequenzen des von ihm vertretenen deterministischen Dualismus interessiert. Für den Redaktor ist nicht nur die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde (wie er sie versteht) der Erweis des Gezeugtseins aus Gott, sondern richtiger: das Bleiben in der Gemeinde, das Bleiben im Glauben und die Bewährung im Glauben durch einen entsprechenden Lebenswandel. Was beim Evangelisten zur Begründung seiner christologischen Verkündigung dient, verwendet der Redaktor zur Motivierung seiner Paränese. So begründet er die Verpflichtung zur Bruderliebe und zum Fruchtbringen mit der Auserwählung der Jünger (= der Gemeinde) (15,16f). Das Gehaßtwerden von der Welt deutet er als Erweis dafür, dass die Gemeinde nicht aus der Welt ist, wie auch Jesus selbst nicht aus der Welt war (15,18f;  17,16). Das Erfahren des Hasses der Welt gehört zur Nachfolge Jesu, zur Verbundenheit mit Jesus und zum Bleiben in ihm (15,20f). Im Abschiedsgebet wird das Halten der Worte Jesu und das Verbleiben in der Liebe Gottes immer wieder motiviert mit der Aussage, dass Gott selbst Jesus die Glaubenden gegeben hat und dass sie nicht aus der Welt sind (17,6ff). Auch in Jh 3,19-21 erscheint der für den Redaktor charakteristische praktisch orientierte Dualismus (398f).

Nach 1Jh erweist sich das Gezeugtsein eines Menschen aus Gott im Tun der Gerechtigkeit (2,29), im Nichttun der Sünde (3,9;  5,18), in der Bruderliebe (3,10f;  4,7f;  5,1-4). Wer die Sünde tut, ist „aus dem Teufel“ (3,8), „jeder, der nicht Gerechtigkeit tut, ist nicht aus Gott“ (3,10), ebenso der, der seinen Bruder nicht liebt (3,10). Die Herkunft oder das Gezeugtsein aus Gott offenbart sich auch im Bekenntnis zu Jesus als dem Christus und dem Sohn Gottes (5,1.4;  5,20), ebenso im Bekenntnis zum wahren Menschsein („Fleisch“) Jesu (4,1-6;  5,5ff;  2Jh 7). Die bleibende Gemeinschaft mit Gott, das Sein in Gott oder im Licht oder in der Wahrheit wird offenbar im Tun des Menschen: im Lebenswandel (1,6f), im Halten der Gebote (2,3-5), in der Bruderliebe (2,9-11;  3,17-19;  4,13-16), in der Distanzierung von der Welt und ihrer Lust, „die nicht aus dem Vater stammt“ (2,15f). Die wahre Zugehörigkeit zur Gemeinde (und damit die Herkunft von Gott) zeigt sich im Bleiben in der Gemeinde (2,19), im Bleiben in der Lehre über Jesus als den Sohn Gottes (2,22-24). Im 2Jh kommt die Prädestination zur Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde zum Ausdruck im Terminus „auserwählt“ (VV 1.13), nämlich durch Gott. Auch hier ist (wie in 1Jh) das Tun (das ethische Verhalten) und das Bleiben im Bekenntnis zu Jesus (wahrer Mensch V7; Sohn des Vaters V9) der Erweis dafür, dass man „in der Wahrheit“ ist (VV 1f.4-6.7-11). Auch im 3Jh erweist sich die Herkunft aus Gott im Tun (V11) (399).

2.2 Die jeweilige Christologie als Ursache der Entstehung der jhn Gemeinden und ihrer Spaltung

Für das Judenchristentum der Grundschrift war Jesus der von Gott verheißene Messias nicht davidischer Herkunft, sondern der Dtn 18,15ff verheißene Prophet wie Moses, also der Prophet-Messias (Jh 1,45;  7,31). Als Prophet-Messias war Jesus nicht göttlicher Herkunft, sondern ein Mensch aus der Mitte seiner Volksgenossen, der Sohn Josefs von Nazareth (1,45f;  6,42). Aus verschiedenen Gründen hatten die Pharisäer (die in der Zeit nach 70 als einzige noch existierende Partei die Führung des Volks in Händen hatten) beschlossen, „dass, wenn jemand ihn (= Jesus) als Christus (= Messias) bekenne, (er) aus der Synagoge ausgeschlossen werde“ (9,22;  12;42;  16,2). Ein Teil der Judenchristen blieb als „geheime Jünger“ im jüdischen Volksverband (9,22f;  12,42f;  19,38). Die anderen Judenchristen, die im Bekenntnis zu Jesus als dem Messias eine Forderung Gottes sahen, der sie sich nicht entziehen konnten (Jh 9,30-33;  12,43) waren genötigt, sich als eine von der Synagoge unabhängige neue Gemeinschaft zu organisieren, sich eine eigene Ordnung zu geben, sich als selbstständige Gemeinde zu konstituieren (401f).

Man darf annehmen, dass das Judenchristentum der Grundschrift sich eine Gemeindeverfassung nach dem Vorbild der Synagoge (aus der es hervorgegangen ist) gegeben hat, dass die Führung in den Händen von Presbytern (Ältesten) lag. (Auch in anderen Gemeinden standen Presbyter an der Spitze: Apg 14,23;  20,17;  1Tim 5,17ff;  Tit 1,5;  Jak 5,14;  1Petr 5,1ff). Dieses Judenchristentum schuf sich eine Schrift ähnlich der Gattung 'Evangelium', die sich davon aber insofern unterscheidet, als die Verkündigung Jesu so gut wie nicht zu Wort kommt. Die Grundschrift, die erst nach der Trennung von der Synagoge geschrieben wurde (der Synagogenausschluss der Bekenner der Messianität Jesu ist vorausgesetzt: 9,22;  12,42), ist ausschließlich eine Apologie der Messianität Jesu gegenüber dem Judentum und der Täufergemeinde. Das jhn Judenchristentum gibt hier sich selbst und seinen Gegnern Rechenschaft über seinen Glauben, dass Jesus der von Gott erweckte Prophet-Messias ist, wie ihn Moses (Dtn 18,15ff) verheißen hat. Zu diesem Zweck hat der Autor der Grundschrift aus dem ihm zur Verfügung stehenden christlichen Traditionsgut – das von den Synoptikern unabhängig ist – seiner Intention (= Erweis der Messianität Jesu) entsprechende Stoffe ausgesucht und neu gedeutet, wobei in dieser Neuinterpretation auch die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem damaligen Judentum und der damaligen Täufergemeinde transparent wird (403f).

In dieser judenchristlichen Gemeinde(gruppe) der Grundschrift bildete sich im Lauf der Zeit ein Kreis, der eines Tages aus der Gemeinde ausschied und als eine eigene, selbstständige, vom Judenchristentum unabhängige und zu ihm in Gegensatz stehende Gemeinde zu existieren begann. Repräsentant dieses Kreises war der vierte Evangelist. Der Grund der Trennung ist wiederum die Anschauung über Jesus, die Christologie. Der Kreis um den Evangelisten sah in Jesus nicht mehr den Prophet-Messias wie das Judenchristentum der Grundschrift, sondern den vom Himmel herabgekommenen Sohn Gottes. Das Heil besteht für diese Gruppe nicht mehr im Glauben an Jesu Messianität, sondern an Jesu himmlische Herkunft und Göttlichkeit. Dieser Glaube ist für sie eine Forderung Gottes und der ausschließliche Heilsweg. Jeder Widerspruch gegen diesen Glauben ist Ungehorsam und Feindschaft gegen Gott und bedeutet Ausschluss vom Heil. Nach G. Richter scheint einiges dafür zu sprechen, dass sowohl die hohe Christologie des Evangelisten als auch die hohe 'Johannologie' der Täufergemeinde zustande gekommen sind durch Beeinflussung durch die Erlösungs- und Erlöserlehre jenes häretisch-gnostisierenden Judentums, aus dem die gnostische Taufsekte der Mandäer hervorgegangen ist (404f).

Die Reaktion des Judenchristentums der Grundschrift auf den 'neuen Glauben' war entschiedener Widerspruch. Die Einwände gegen die himmlische Herkunft und die Göttlichkeit Jesu, die der Evangelist durch die Juden aussprechen lässt, sind in Wirklichkeit die Einwände des Judenchristentums, das wie das Judentum an der menschlichen Herkunft des Messias (und damit auch Jesu) ebenso festhält wie an der Einzigartigkeit Gottes (am Monotheismus). Es scheint möglich, dass sich das Judenchristentum der Neuerer auf ähnliche Weise entledigte, wie es früher die Synagoge mit den Judenchristen getan hat: man schloss sie aus der Gemeinde aus und hielt keine Gemeinschaft mit ihnen, man drängte sie in die Isolierung. Die ungemein scharfe Reaktion des Evangelisten auf das ungläubige Verhalten des Judenchristentums gegenüber seiner christologischen Verkündigung (er stellt sie auf dieselbe Stufe mit den ungläubigen Juden, spricht ihnen das Heil ab und nennt sie Teufelskinder) könnte möglicherweise auch darin ihren Grund haben, dass das Judenchristentum die Bekenner des neuen Glaubens aus der Gemeinde ausgeschlossen hat (406).

War die Grundschrift das Glaubensdokument des jhn Judenchristentums, so machte der Evangelist daraus das Glaubenszeugnis seiner Gruppe. An die Spitze stellte er den Prolog, in dem die himmlische Herkunft Jesu verkündet wird (1,1-13), am Schluss des Buches fügte er 20,31b hinzu, so dass als Zweck der Schrift nun die Begründung und Festigung des Glaubens an Jesus als den Sohn Gottes erscheint. Dementsprechend ist auch alles übrige, was der Evangelist änderte und hinzufügte, Um- und Neudeutung der grundschriftlichen Darstellung – z.T. in ausführlichen Reden – mit dem Ziel, die himmlische Herkunft und Gottessohnschaft Jesu zu erweisen. Auch aus dem Täufer, der in der Grundschrift als Zeuge der Messianität Jesu fungiert, machte er einen Zeugen der himmlischen Herkunft und Göttlichkeit Jesu. Trotz der zahlenmäßigen Minderheit der christlichen Gruppe um den Evangelisten ist sie dennoch nicht in homogener Einheit beisammen geblieben. Man beschwor zwar die Einheit (Jh 17,11f.20-23), aber die Spaltung ging weiter. In Weiterführung der mit der Christologie des Evangelisten gegebenen Ansätze (Jesus ein himmlisches Wesen von göttlicher Herkunft) hatte sich unter dem Einfluss des gnostischen Dualismus eine neue Anschauung über Jesus (eine neue Christologie) gebildet, der Doketismus (407).

Die Reaktion gegen die doketistische Christologie blieb nicht aus und hat auch im jhn Schrifttum ihren Niederschlag gefunden. Der antidoketistische Redaktor ergänzte die zum Erweis der Göttlichkeit Jesu erstellte Schrift des Evangelisten durch antidoketistische Aussagen, die das wahre Menschsein und die wirkliche Leiblichkeit Jesu, aber auch andere, durch die Situation des Doketismus aktuell gewordene Themen zum Inhalt hatten, und schrieb in deutlicher Auseinandersetzung mit den Doketisten auch den 1Jh-Brief. Er verkündet unmissverständlich, dass Jesus als wahrer Mensch in diese Welt eingetreten ist (Jh 1,14;  1Jh 4,2f;  5,6;  2Jh 7), dass er als Mensch litt, starb, begraben und auferweckt wurde (19,34f.39f;  20,2.10.24-29), dass der Tod Jesu Heilsbedeutung hat (1Jh 1,7;  2,2), dass – hinsichtlich der Eucharistie – Jesu Fleisch und Blut wirklich heilsnotwendige Speise und Trank sind (6,51c-58), dass es eine Auferweckung der Toten am Jüngsten Tag gibt (5,28f;  6,39f.44.54), dass es für alle ein Gericht nach den Werken gibt (5,29;  1Jh 2,28;  4,17;  2Jh 8). In 1Jh wird auch die Berufung auf die Augenzeugen des Lebens Jesu (Jh 19,35) bzw. auf die christliche Tradition („was von Anfang an war“) (1Jh 1,1-3.5;  2,7.24-27;  3,1ff;  4,3) - gegen die „neue Lehre“ der Doketisten zu verstehen sein. Die Erkenntnis Jesu besteht in einem Leben nach seinem Vorbild, in der Bruderliebe. Aus der Klage in 1Jh 2,19: „von uns sind sie ausgegangen, aber sie waren nicht aus uns, wenn sie nämlich aus uns gewesen wären, wären sie bei uns geblieben“ - geht hervor, dass die Doketisten von sich aus die Gemeinde verlassen und eigene Gemeinschaften gebildet haben (409f).

Auch der antidoketistische jhn Flügel konnte die Einheit nicht bewahren. Dieses Mal war nicht eine neue Christologie die Ursache, sondern die Entstehung der neuen Gemeindeverfassung des monarchischen Episkopats (das autoritative Auftreten des Diotrephes: 3Jh), die den an der traditionellen patriarchalisch-pneumatischen Gemeindeordnung festhaltenden Teil in die Isolierung trieb (412).

3. Die Deutung des Kreuzestodes Jesu in Jh 13 – 19
3.1 Durch die Lebenshingabe am Kreuz wirkt Jesus nach dem Willen des Vaters das Heil, der Kreuzestod erweist ihn als Messias und Heilbringer
3.2 Die Deutung des Kreuzestodes Jesu aus vorwiegend paränetischem Interesse
3.3 Die Texte der zweiten Gruppe stammen von einer anderen Hand

3.1 Durch die Lebenshingabe am Kreuz wirkt Jesus nach dem Willen des Vaters das Heil, der Kreuzestod erweist ihn als Messias und Heilbringer

Der Kreuzestod gehört zum Sendungsauftrag, den Jesus, der Sohn, von Gott, dem Vater, erhalten hat: nach dem Willen des Vaters kann das Heil nur durch das Kreuz gewirkt werden. Jesus vollzieht diesen Auftrag des Vaters in Liebe und Gehorsam. Jh 13,3: Jesus weiß, dass der Vater ihm alles in die Hände gegeben hat. Damit ist die Macht und der Auftrag, das Heil der Menschen zu wirken, gemeint. Diesen Auftrag erfüllt Jesus in der Hingabe seines Lebens in den Kreuzestod (Jh 10,18). Dass Jh 13,3 nichts anderes meint als nur die Vollmacht und den Auftrag zum Wirken des Heils durch die Hingabe des Lebens in den Kreuzestod, geht auch aus der Stellung dieses Verses als Einleitung zur Fußwaschung hervor, in der die Heilsnotwendigkeit des Kreuzestodes zeichenhaft zum Ausdruck kommt. Jh 13,4-10: Der Sklavendienst der Fußwaschung als Sinnbild, als Zeichen der Hingabe Jesu in den ehrlosen Sklaventod am Kreuz: In V 8b wird gesagt, dass Jesus diesen Tod (dargestellt in der Fußwaschung) auf sich nehmen muss, weil es sonst kein Heil gäbe, weil sonst der vom Vater gegeben Auftrag nicht erfüllt wäre (58f).

Auch in Jh 14,2 wird gesagt, dass der Kreuzestod Jesu ein Hingehen zum Vater ist zum Heil der Jünger. Dieses Heil wird dahin konkretisiert, dass die Jünger mit Teilhaber an der Herrlichkeit im Himmel sein werden. In Jh 14.30 wird wieder gesagt, dass der Kreuzestod Jesu nichts anderes ist als der Auftrag vom Vater, den Jesus in Liebe und Gehorsam vollzieht. Jh 17,4: Das Werk ist der Kreuzestod. Die Vergangenheitsform ist Ausdruck dafür, dass das Geschehen mit absoluter Sicherheit eintreffen wird, so dass es als schon geschehen dargestellt werden kann. Jh 18,11: Jesus sieht im Kreuzestod (= Becher) den Auftrag des Vaters, dem er sich nicht entziehen will (vgl. 12,27). Jh 19,11: Jesus zu Pilatus: „Du hättest über mich keine Vollmacht, wenn es dir nicht gegeben wäre von oben“. D.h. der Kreuzestod ist vom Vater gewollt. Das gleiche kommt zum Ausdruck, wenn manche Szenen der Passion als Erfüllung der Schrift gesehen werden: 19,24 (Verlosung der Kleider Jesu); 19,28 (der Durst Jesu); 19,31-37 (keine Zerschlagung der Gebeine Jesu); 3,14 (der MS muss erhöht werden wie die Schlange in der Wüste); 11,50 = 18,14 ('Weissagung' des Kaiphas); auch 8,28;  12,32f;  18,32. Jh 19,28.30f: „Hierauf, als Jesus wusste, dass alles schon vollbracht war, damit die Schrift erfüllt werde, sagte er: mich dürstet (Ps 69,22). Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: es ist vollbracht; und das Haupt neigend, übergab er den Geist (dem Vater)“. Vollbracht ist das Werk, das der Vater ihm aufgetragen hat, nämlich die Lebenshingabe am Kreuz für das Heil der Menschen (60).

Die Hingabe Jesu in den Kreuzestod ist (als Vollendung des Auftrags des Vaters) Verherrlichung des Vaters. Aber auch für Jesus selbst bedeutet der Tod am Kreuz Verherrlichung, denn er kehrt über das Kreuz in die Herrlichkeit des Vaters zurück. Jh 13,31f: Durch den Weggang des Judas (um Jesus auszuliefern) wird der letzte und wichtigste Akt des Wirkens Jesu eingeleitet: die Lebenshingabe am Kreuz, durch die der vom Vater erhaltene Auftrag zur Vollendung gebracht wird. Durch dieses Tun Jesu wird der Vater verherrlicht, zugleich aber auch Jesus selber; s. auch Jh 17,1.4f;  12,16.23.28;  7,39 (60f).

Diese Deutungen und Begründungen über den Kreuzestod Jesu stimmen überein mit dem Jh 20,31 genannten Zweck des vierten Evangeliums: „Diese (Zeichen) sind aufgeschrieben worden, damit ihr glaubt, dass Jesus ist der Christus, der Sohn Gottes, und damit ihr glaubend (als Glaubende) Leben habt in seinem Namen“. Der Mann, der das vierte Evangelium geschrieben hat, wollte mit seiner Schrift eine Gemeinde im Glauben an Jesus als den Christus und den Sohn Gottes stärken. Dieser Glaube an die Messianität Jesu war vom Judentum her gefährdet. Der wichtigste Einwand gegen die Messianität Jesu was die Tatsache, dass Jesus gestorben ist, dass er sogar am Kreuz gestorben ist: „Wir haben gehört aus dem Gesetz, dass der Christus (= Messias) bleibt für immer, und wie sagst du:  der Menschensohn (MS) muss erhöht werden“ (12,34)? Der vierte Evangelist pariert diesen Einwand vor allem mit der Erklärung, dass der Kreuzestod Jesu von Gott gewollt und bestimmt ist. Das Kreuz gehört zum Sendungsauftrag, den Jesus vom Vater erhalten hat. Der Vater hat den Sohn in die Welt gesandt, damit der Sohn der Welt das Heil bringe. Dieses Heil wird dadurch bewirkt, dass der Sohn sein Leben am Kreuz hingibt. Ohne diese Hingabe in den Kreuzestod, wäre der Sendungsauftrag, den Jesus vom Vater erhalten hat, nicht erfüllt, ohne diesen Tod wäre das vom Vater aufgetragene Werk nicht „vollbracht“ (19,30) gewesen. Ohne den Kreuzestod wäre Jesus nicht der Messias, der Heilbringer. Darum ist die Passion und besonders der Kreuzestod die Erfüllung seiner messianischen Sendung, „seine Stunde“, auf die im vierten Evangelium das ganze Wirken Jesu von Anfang an ausgerichtet ist. Das Kreuz ist Höhepunkt, Krönung und Vollendung seines messianischen Wirkens. Gerade das Kreuz erweist, dass Jesus wirklich der Messias ist. Jesus selber hat das alles von Anfang an gewusst. Der Kreuzestod war für ihn der Wille des Vaters, den er in Gehorsam und Liebe ausführte. Durch diesen Tod wird der Vater verherrlicht (wegen des Gehorsams und der Liebe des Sohnes und wegen der durch das Kreuz gewirkten Erlösung). Aber auch für Jesus selbst bedeutet der Kreuzestod Verherrlichung, weil er über das Kreuz zum Vater zurückkehrt in die Herrlichkeit, die er von Anfang an hatte. Die Deutung des Kreuzestodes erfolgt in diesen Stellen aus theozentrischer Sicht: der Vater will es, der Vater hat es so bestimmt, der Vater hat den Sohn in die Welt gesandt und beauftragt, das Heil zu wirken durch den Tod am Kreuz. Der Sohn tut es, weil er dem Vater gehorsam ist, weil er den Vater liebt. Mit dieser Deutung des Kreuzestodes ist keine Paränese verbunden, es geht nur darum, den Glauben an Jesus als den Messias als richtig zu erweisen (61f).

3.2 Die Deutung des Kreuzestodes Jesu aus vorwiegend paränetischem Interesse

Die Lebenshingabe am Kreuz als Tat der Liebe Jesu zu den Seinen und als Beispiel zur Nachahmung:

Jh13,12-17: Die zweite Deutung der Fußwaschung; Hier ist nicht wie in der ersten Deutung von der Heilsnotwendigkeit dieser Hingabe die Rede, sondern das Tun Jesu wird ausschließlich als Beispiel der Liebe zu den Seinen verstanden, d.h. auch die Jünger sollen einander lieben bis zur Hingabe des Lebens (vgl. auch Jh 13,34f;  15,13;  1Jh 3,16). Das Neue an dem Gebot Jh 13,34f ist der Grad, das Maß der Liebe. Es ist die Liebe nach dem Beispiel Jesu, d.h. die Liebe bis zur Hingabe des Lebens (62f).

Der Hingang Jesu erfolgt zum Zweck der Weiterführung und Vollendung seiner Offenbarertätigkeit, sei es durch ihn selber als den wieder beim Vater weilenden Sohn, sei es durch den von ihm gesandten Parakleten. Jh 16,7: 'Gut' ist der Hingang Jesu hier wegen der Sendung des Parakleten, der das Offenbarerwirken Jesu weiterführt. Der Paraklet hat die Aufgabe, neue Offenbarung zu bringen (16,13-15). Jh 16,28: Jesus geht nicht deshalb zum Vater, weil er das Werk (die Offenbarung) vollendet hat, sondern um es erst von dorther, vom Vater her, zu vollenden: Er wird dann offen vom Vater Kunde geben (64).

Die Tendenz der ersten Reihe ist: damit ihr trotz des Kreuzestodes an Jesus als den Messias glaubt und so (als Glaubende) das Heil erlangt. Die Tendenz der zweiten Reihe aber ist: damit ihr nach dem Beispiel und nach dem Gebot Jesu handelt und so (durch euer Tun) das Heil erlangt. In der ersten Reihe hängt das Heil von dem ab, was Jesus tut (von seiner Hingabe in den Kreuzestod), in der zweiten Reihe jedoch von dem, was der Jünger tut (Nachahmung des Beispiels Jesu und Befolgung seiner Gebote). Zur Fußwaschung: in der ersten Deutung (ersten Reihe) hängt das Heil davon ab, dass Jesus die Fußwaschung (= Hingabe in den Kreuzestod) vollzieht (13,8b.10a). In der zweiten Deutung hängt das Heil davon ab, dass die Jünger das Beispiel Jesu (Hingabe des Lebens aus Liebe zu den Seinen) nachahmen: „Selig seid ihr, wenn ihr (es) tut“ (1,17). In den Aussagen der zweiten Reihe geht es nicht mehr um die Überwindung des Ärgernisses des Kreuzes, nicht mehr um Begründung und Apologie des Kreuzestodes Jesu, sondern um die Motivierung von Forderungen des christlichen Lebens unter dem Hinweis auf das Beispiel Jesu. Das Anliegen der Texte der zweiten Reihe ist die Einschärfung des Liebesgebotes und seine Begründung mit dem Beispiel Jesu, der aus Liebe zu den Seinen sogar das Leben hingegeben hat (65).

3.3 Die Texte der zweiten Gruppe stammen von einer anderen Hand

Die Texte der zweiten Reihe weichen in Inhalt und Tendenz von dem Jh 20,31 ausgesprochenen Zweck des Evangeliums ab.

Der Evangelist (= der ursprüngliche Autor = E) deutet den Kreuzestod Jesu nie als Tat der Liebe Jesu zu den Seinen oder als nachzuahmendes Beispiel, sondern nur als Tat der Liebe Jesu zum Vater (14,31), als Tat des Gehorsams Jesu gegenüber dem Vater, als Heilswerk, das nicht Beispiel der Nachahmung sein kann. Diese Theozentrik steht bei E im Dienst des Zwecks des Evangeliums, es soll die Gewolltheit des Kreuzestodes Jesu aufgezeigt und so jeder Einwand, der gegen die Messianität und die göttliche Sendung Jesu vom Kreuz her erhoben wird, widerlegt werden. In Jh 3,16 erscheint der Kreuzestod Jesu als Tat der Liebe des Vaters zur Welt, das stimmt mit dem Zweck des Evangeliums überein, denn Gott hat das getan, damit die Welt an Jesus glaube und so gerettet werde (67f).

Sowohl E als auch Herausgeber oder Redaktor (= R) des Evangeliums sprechen von der Verherrlichung Jesu. Bei E erfolgt die Verherrlichung Jesu ausschließlich durch den Vater, durch die Erfüllung des vom Vater erteilten Sendungsauftrags, also durch das Kreuz und die damit verbundene Rückkehr zum Vater. Bei R hingegen wird Jesus verherrlicht durch das Früchtebringen der Jünger (15,8), durch den Parakleten (16,14), durch die Jünger oder in den Jüngern (17,30). Nur bei R werden auch die Jünger verherrlicht (17,22), und zwar mit der Herrlichkeit, die Jesus vom Vater empfangen hat, damit sie eins seien. Die Verherrlichung Jesu durch den Vater spielt bei R keine Rolle mehr, sie gehört der Vergangenheit an. Die Herrlichkeitsaussagen stehen bei R nicht mehr im Dienst des Zwecks des Evangeliums (Verteidigung der Messianität Jesu trotz des Kreuzestodes), sondern ausschließlich im Dienst der Paränese (68).

Nach E soll der Welt und auch den Jüngern die Erkenntnis, dass Jesus von Gott gesandt ist, durch das Wirken Jesu zuteil werden, durch seine Worte (4,39ff;  5,47;  7,16f;  8,26ff;  14,9f) und durch die Zeichen bzw. die Werke (3,2;  4,53;  10,37f;  12,37;  14,11;  20,30f) und durch das Zeugnis des Täufers (1,7f;  1,15;  1,29-34). Das stimmt mit dem Zweck des Evangeliums überein. Bei R soll die Welt die Erkenntnis, dass Jesus von Gott gesandt ist, durch das Zeugnis des Parakleten erlangen (15,26), durch das Zeugnis der Jünger (15,27) und durch das Einssein der Gläubigen miteinander und mit Jesus (17,21.23). Bei R ist die Paränese an die Stelle der Soteriologie getreten. Denn es geht bei R in erster Linie um das Zeugnis der Gemeinde (durch ihr Leben), um ihr Einssein; die Erkenntnis Jesu durch die Welt scheint nur Motiv für das Einssein der Gläubigen miteinander zu sein. Es geht bei R nur darum, dass die Welt Jesus erkennt, nicht die Jünger. Die Jünger haben diese Erkenntnis schon, sie sind bereits Mittler dieser Erkenntnis. Es geht um eine andere Situation als bei E und daher um eine andere Akzentsetzung (70).

Der Ausdruck „viel Frucht bringen“ erscheint bei E (12,24) zur Bezeichnung der Wirkung des Heilstodes Jesu (im Bild des sterbenden Weizenkorns), als Apologie des Kreuzestodes Jesu, entsprechend dem Zweck des Evangeliums. Bei R ist das Früchtebringen in genau der Weise umgewandelt wie die Fußwaschung in Jh 13,12ff gegenüber 13,8ff. Das Heil hängt hier nicht vom Fruchtbringen Jesu ab, sondern vom eigenen Fruchtbringen, ist also wieder Paränese (70)!

E schreibt eine Verteidigungs- und Bekenntnisschrift für den gefährdeten Glauben an die Messianität Jesu. Er hat kein anderes Ziel, als den Glauben an Jesus als den Messias trotz aller Einwände als richtig und heilsnotwendig zu erweisen. Das einzige 'Werk', das in E verlangt wird, ist der Glaube an Jesus (Jh 6,28f): „Sie (die Juden) sagten zu ihm. Was sollen wir tun, damit wir wirken die Werke Gottes? Es antwortete Jesus und sagte ihnen: Das ist das Werk Gottes: ihr sollt glauben an den, den er (= Gott) gesandt hat“. Alle anderen Stellen des Evangeliums, die als Werk das Halten der Gebote verlangen, die von einer Bestätigung des Glaubens durch die Werke reden, stammen von R. „Damit ihr als Glaubende Leben habt in seinem Namen“ (20,31b) ist exklusiv vom Glauben an Jesus, von der Anerkennung Jesu als Messias zu verstehen. Bei R ist dieser Glaube selbstverständlich und wird überall vorausgesetzt. Es geht nicht mehr um den Glauben an Jesus als den Messias, sondern um die Liebe zu Jesus. Diese soll sich erweisen im Tun, im Leben nach dem Beispiel und den Geboten Jesu. So ist das Anliegen bei R die Bruderliebe, das Halten der Gebote (15,10), das Früchtebringen (15,1-8) die Bewährung der Gläubigen in einer feindlichen Welt, in die sie gesandt sind, das Zeugnisgeben in der Welt und das Einssein der Gläubigen als eine spezielle Art des Zeugnisgebens. Das Heil erlangt man bei E durch den Glauben an Jesus, bei R durch die Liebe zu Jesus, durch das Leben nach dem Vorbild Jesu. Diese Verschiedenheit in der Tendenz wird so zu erklären sein, dass zwischen der Abfassung des ursprünglichen Evangeliums und den Ergänzungen durch R eine gewisse Zeitspanne liegt, in der sich die Probleme verlagert haben (71f).

Der Verfasser von 1Jh schreibt in der gleichen Situation wie R. Man findet in 1Jh die gleiche Deutung des Kreuzestodes Jesu als Tat der Liebe zu den Seinen und als nachzuahmendes Beispiel wie bei R im Evangelium (1Jh 3,16). Was bei E reine Soteriologie ist, wird im 1Jh (wie bei R im Evangelium) ein Motiv der Paränese, ein Beispiel zur Nachahmung. In 1Jh 4,9-11 ist Jh 3,16 (= E) verwendet. Es spricht manches dafür, dass der Redaktor (Herausgeber) des vierten Evangeliums infolge von Missverständnissen und Entstellungen des ursprünglichen Evangeliums sich genötigt sah, das Evangelium zu ergänzen und 1Jh zu schreiben (72f).

4. Ergänzungen
4.1 Mein Vater und euer Vater, mein Gott euer Gott (Jh 20,17)
4.2 Tradition und Redaktion in Jh 1,19-34
4.3 Blut und Wasser aus der durchbohrten Seite Jesu (Jh 19,34b)
4.4 „Und der Logos ward Fleisch“ (Jh 1,14a)
4.5 Zur sog. Semeia-Quelle (S) des Johannesevangelium
4.6 Die Fusswaschung (Jh 13,1-20)

4.1 Mein Vater und euer Vater, mein Gott und euer Gott (Jh 20,17)

(„Ich steige auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“)

Die Christologie der Grundschrift ist typisch judenchristlich. Jesus ist der im AT verheißene und im Judentum erwartete Messias (1,45;  1,29ff;  6,14;  7,31). Die auf Jesus übertragenen mess. Vorstellungen entsprechen den mess. Erwartungen einer bestimmten Gruppe innerhalb des damaligen Judentums (und Judenchristentums): Jesus ist ein prophetischer Messias, er ist der von Moses (Dtn 18,15.18) verheißene Prophet. Darum wirkt Jesus nach der Grundschrift Zeichen und beweist dadurch, dass er der von Gott gesandte (prophetische) Messias ist, wie auch Moses seinerzeit durch Zeichen und Wunder vor Israel und den Ägyptern seine göttliche Sendung erwiesen hat. Jesus wird als der eschatologische Prophet wie Moses mit Zügen des zeitgenössischen Mosesbildes gezeichnet (Himmelfahrt des Moses als Typos für den Aufstieg Jesu zum Vater). Jesus ist trotz seiner Messianität nur Mensch (der Sohn Josephs und Marias). Sohn Gottes (1,49) ist er nur im übertragenen Sinn (als der aus dem jüdischen Volk von Gott erwählte Messias). Die Anschauung, dass der Messias nur Mensch ist, steht im Einklang mit Dtn 18,15.18, wonach Gott den eschatologischen Propheten wie Moses „aus deiner (= Israels) Mitte, aus deinen Stammesbrüdern“ erwecken wird. Der Evangelist lehnt die Christologie der Grundschrift sowie ihre Begründung durch die Zeichen und andere mess. Taten Jesu ab. Für ihn ist Jesus der vom Himmel herabgekommene Sohn Gottes im spezifischen Sinn (267f).

Beim Evangelisten ist die Vaterschaft Gottes nur Jesus allein vorbehalten, sie ist die Kehrseite der Aussage, dass Jesus der präexistente Sohn Gottes ist. Die Exklusivität und Einzigartigkeit, die die Gottesbezeichnung „Vater“ für die Christologie des Evangelisten hat, schließt ein nebenander von „mein Vater und euer Vater“ aus. „Mein Gott“ im Munde Jesu ist mit der Christologie des Evangelisten nicht vereinbar. Der Evangelist spricht von einem „Hinaufsteigen des Menschensohnes in den Himmel“ (3,13;  6,62), aber nicht von einem Hinaufsteigen Jesu zum Vater. Die für den Evangelisten charakteristische Terminologie hinsichtlich der Rückkehr Jesu zum Vater heißt „hingehen“. Für den Evangelisten ist alles, was zwischen dem Verrat durch Judas (13,31) und der Ankunft Jesu beim Vater liegt, ein einziges Geschehen, der eine Akt des Hingehens Jesu zum Vater (14,12.28). Die Worte Jesu in Kap.14 sind Ausdruck seiner himmlischen Herkunft, es handelt sich um die Rückkehr zum Ausgangspunkt (269f).

Zugehörigkeit von 20,17 zur Grundschrift: Der Messias ist nur ein Mensch, aber aufgrund seiner Funktion, seines Erwähltseins zum Messias durch Gott, ist er aus den übrigen Menschen herausgehoben. Das Anliegen der Grundschrift ist der Erweis der Messianität Jesu. Für den Autor der Grundschrift wird die Messianität Jesu schon in dessen Erdenleben evident. Das Aufsteigen Jesu zum Vater ist für den Autor der Grundschrift das mess. Gegenstück zur typologisch verstandenen Aufnahme des Moses in den Himmel, so dass Jesus auch durch ein postmortales Ereignis als der Messias (= als der Prophet wie Moses) erwiesen ist (271f).

In Jh 20,17 liegt eine ältere christologische Tradition zugrunde, die der Autor der Grundschrift im Sinn der Moses-Messias-Typologie neu interpretierte. In gleicher Weise hat er auch das aus der Tradition übernommene Speisungswunder (Jh 6,1ff) neu interpretiert (als Erfüllung der für die mess. Zeit erwarteten Wiederholung der Mannaspende), um so Jesus als den prophetischen Messias zu erweisen. Für die Neuinterpretation einer älteren Tradition dürfte auch sprechen, dass in der zur Grundschrift gehörenden Ostergeschichte (20,1.11-18) von der Auferweckung Jesu nicht die Rede ist. (Die VV 2-10 sind vom antidoketistischen Redaktor eingeschoben worden. Auch 20,19-29 gehört nicht zur Grundschrift). Der Autor der Grundschrift berichtet keine Erscheinungen des Auferstandenen, sondern lässt auf 20,18 gleich 20,30 folgen. Wenn in 20,30 von vielen anderen Zeichen Jesu die Rede ist, dann dürften darunter nicht nur die Wunder, die ausdrücklich „Zeichen“ genannt werden, verstanden sein, sondern neben anderen mess. Taten (12,12ff;  18,6) wohl auch der Aufstieg Jesu in den Himmel, weil er (als Erfüllung eines Typos) ebenso wie die ausdrücklichen „Zeichen“ genannten Taten beweist, dass Jesus der Messias ist (20,31a) (273f).

Die Brüder Jesu: In der Grundschrift erscheinen die leiblichen Brüder Jesu in einem Sinn, der (wie 20,17) ein positives Verhältnis zwischen Jesus und seinen Brüder voraussetzt. In 7,2ff liegt ein Traditionsstück der Gemeinde der Grundschrift zugrunde, das der Evangelist umformte zu einer Kritik an den Brüdern Jesu und damit zugleich zu einer Kritik an dem hinter der Grundschrift stehenden Judenchristentum und dessen Christologie (275). Das verhältnismäßig häufige Vorkommen der leiblichen Brüder Jesu in der Tradition des hinter der Grundschrift stehenden Judenchristentums steht im Einklang mit der Tatsache, dass die Brüder Jesu (besonders Jakobus) im Judenchristentum eine führende Rolle spielten und sich in der Tradition des Judenchristentums großer Wertschätzung erfreuten (276f).

Wenn V 18 („Maria von Magdala geht und verkündet den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen...“) vom Autor der Grundschrift stammt, handelt es sich nicht um eine Identifizierung der Brüder Jesu mit den Jüngern, sondern um eine Ersetzung. Diese Ersetzung ist nicht als Kritik zu verstehen, sondern sie ist bedingt durch das Konzept der Grundschrift, wonach die Jünger Zeugen der Zeichen und der übrigen mess. Taten Jesu sind. Dehalbs sind die Jünger schon am Anfang der Zeichen als Zeugen genannt (2,2.11), deshalb fliehen sie nicht bei der Gefangennahme Jesu (18,8f), deshalb ist von ihnen auch am Schluss die Rede: „...Zeichen vor den Augen der Jünger“ (20,30). In 20,17 sind sie keine Augenzeugen, aber die Instanz, der die Magdalenerin diese letzte mess. Tat Jesu zu verkünden hat (278).

Zu der in der Grundschrift verwendeten Tradition: Man wird damit rechnen müssen, dass sich die der Grundschrift zugrunde liegende Tradition mit der in 20,17 kulminierenden Geschichte einen Ausdruck ihres Glaubens geschaffen hat, wonach Jesus nach seinem Tod in den Himmel hinaufgestiegen ist, um dort zum Messias eingesetzt zu werden und den Platz zur Rechten Gottes einzunehmen. Diese mess. Deutung der Erhöhung Jesu bzw. des Ostergeschehens gehört traditionsgeschichtlich in die Nähe der gleichen Frühstufe der christologischen Reflexion wie z.B. die Einsetzung Jesu zum Sohn Gottes seit seiner Auferstehung von den Toten in der vorpaulinischen Tradition Röm 1,4 (wobei „Sohn Gottes“ hier nur als Messiasbezeichnung verstanden werden kann) oder wie einige der Apg zugrunde liegende Traditionen, z.B. die Erhöhung Jesu „zum Kyrios und Christus“ nach seiner Auferstehung (2,36) oder die Deutung der Auferweckung Jesu als Zeugung des Sohnes nach Ps 2,7 (= Einsetzung zum Messias) in 13,33. Gegenüber diesen Traditionen stellt die von der Grundschrift verwendete Tradition insofern ein fortgeschrittenes Stadium dar, als sie das traditionelle Kerygma von der Erhöhung Jesu durch eine konstruierte Begebenheit zu historisieren sucht. Es wird versucht, den Glauben an die Erhöhung Jesu durch ein entsprechendes Wort Jesu zu fundieren. Von einer sichtbaren vor Augenzeugen sich vollziehenden Himmelfahrt weiß die Grundschrift noch nichts. Das blieb der weiteren Entwicklung und Ausmalung der Oster- und Erhöhungstradition vorbehalten, die auch den Zeitraum zwischen Auferweckung und Aufnahme in den Himmel ausdehnte und mit weiteren Erscheinungen und Reden des Auferstandenen ausfüllte (279f).

Für ein traditionsgeschichtlich verhältnismäßig frühes Stadium der Christologie in der von der Grundschrift verwendeten Tradition spricht auch die Beobachtung, dass der Geschichte in 20,11ff alle Züge der Göttlichkeit Jesu fehlen. Die Bezeichnung 'Kyrios' für Jesus in 20,13 ist nicht als Gottesbezeichnung zu verstehen, denn in V 15 wird der Gärtner ebenfalls mit 'Kyrie' angeredet. Auch die Aktivität Jesu (er wird nicht aufgenommen, sondern steigt selbst hinauf) ist kein Hinweis auf göttliche Souveränität, denn auch in der Grundschrift wirkt Jesus die Zeichen und andere mess. Taten aus eigener Initiative. Auch wird durch die Terminologie in 20,17 die Göttlichkeit Jesu widerlegt (280).

4.2 Tradition und Redaktion in Jh 1,19-34

Aus der Analyse ergibt sich, dass schon der Autor der Grundschrift ein christliches Traditionsstück über den Täufer verwendet hat. Die Täufergemeinde hat wohl den Anspruch der christlichen Gemeinde bestritten, dass Jesus der vom Täufer angekündigte Geisttäufer sei und somit die christliche Taufe die eschatologische Gabe des Geistes verleihe. Die christliche Gemeinde lässt die Richtigkeit ihres Anspruchs durch den Täufer selbst beweisen, indem sie die christliche Tradition von der Herabkunft des Geistes auf Jesus unmittelbar nach der Taufe weiterentfaltet und neu interpretiert: Die Herabkunft (und das Bleiben) des Geistes auf Jesus ist das dem Johannes von Gott gegebene Zeichen, an dem er Jesus als den von Gott bestimmten Geisttäufer erkennt. Die für die Täufergemeinde kompromittierende 'Beweiskraft' dieser vorgrundschriftlichen Neuinterpretation besteht darin, dass sie vom Täufer selbst ausgesprochen wird und mit einer totalen Entleerung der Heilsbedeutung der Johannestaufe verbunden ist. Denn nach des Täufers eigenen Worten hatte seine Taufe nur den Zweck, dass Jesus als der von Gott erwählte Geisttäufer offenbar werde. Damit ist der Sinn der Johannestaufe erfüllt (308f).

Die vorgrundschriftliche Darstellung lässt den Täufer über Jesus sagen: Jesus tauft (3,22.26), „und alle kommen zu ihm“ (3,26), weil seine Taufe die Taufe mit heiligem Geist ist, die allein 'Reinigung' (3,25) von den Sünden bewirkt (310).

Die Grundschrift erweitert die tendenziöse vorgrundschriftliche Darstellung, als Johannes jetzt alle mess. Bezeichnungen, die ihm in den Täuferkreisen beigelegt worden sind, persönlich zurückweist (1,20f.25b): Er ist „nicht der Christus, nicht Elias und nicht der Prophet“. Darüber hinaus bezeugt Johannes, dass Jesus der von Gott erwählte Messias ist. Die Darstellung der Grundschrift ist ganz auf das Thema der Messianität (Widerlegung der Messianität des Täufers und Erweis der Messianität Jesu) ausgerichtet. Das Motiv der Sündenvergebung wird eingeführt und an den Kreuzestod Jesu gebunden, der damit als Sühnetod (= Moses-Messias-Typologie) gedeutet wird. Es geht dabei nicht nur um Apologie des Kreuzestodes Jesu, sondern auch um Polemik gegen die Johannestaufe, der die Wirkung der Sündenvergebung (= Versöhnung mit Gott) abgesprochen wird. Das geht daraus hervor, dass nach der Darstellung der Grundschrift Johannes bloß deshalb zu taufen gekommen ist, damit er Jesus als den angekündigten „Kommenden“ erkenne und vor ganz Israel offenbar mache, wobei „der Kommende“ („dieser ist es“ wie in der Proklamation 1,34) mit Jesus als dem „Lamm Gottes, das wegnimmt die Sünde der Welt“ identifiziert wird (311f).

Der Anteil des Evangelisten am Täuferzeugnis in 1,19-34 ist nur 1,30c („denn er war eher als ich“). Der eigentliche Vorrang Jesu vor dem Täufer besteht nicht in seiner Messianität, sondern in seiner Präexistenz. Der Täufer wird damit zum Zeugen der himmlischen Herkunft Jesu. Der 'Kommende' den er verkündet hat (1,27), ist jetzt Jesus als der präexistente Gottessohn. Der Evangelist hat bereits in 1,7b den Täufer als Zeugen für Jesus als das vom Himmel herabkommende Licht eingeführt und so vor die grundschriftliche Täuferdarstellung ein neuinterpretierendes Vorzeichen gesetzt. Den Höhepunkt erreicht das Täuferzeugnis des Evangelisten in 3,31-36. Hier führt der Evangelist seine eigene Darstellung des Täufers als Zeugen für die himmlische Herkunft und Gottessohnschaft Jesu zu Ende (313f).

Exkurs: Die Wendung Auferweckung am Jüngsten Tag  in 6,39f.44 ist sekundär: In Jh 5,24-27 (einer Stelle, die mit Sicherheit vom Evangelisten stammt, weil sie in Terminologie, Inhalt und Tendenz mit 20,31 genau übereinstimmt) ist die eschatologische Totenerweckung ein bereits gegenwärtiges Tun Jesu. Sie geschieht dadurch, dass man an Jesus glaubt und so – durch den Glauben an ihn – das Heilsgut „Leben“ erhält. Diese Übertragung des für die Endzeit erwarteten Aktes in die Gegenwart sowie die Umdeutung der leiblichen Totenerweckung auf die Vermittlung des Heilgutes „Leben“ durch den Glauben an Jesus ist für den Evangelisten von eminent christologischer Bedeutung: es wird dadurch offenbar, dass Jesus der eschatologische Totenerwecker und Richter ist. Der Evangelist will damit zeigen, dass alles, was für die Endzeit erwartet wird, in Jesu Wort und Werk die Erfüllung gefunden hat, auch die eschatologische Totenerweckung und das eschatologische Gericht, so dass man auf dieses Geschehen nicht mehr zu warten braucht (Jh 11,24-26) und der Einwand der ausgebliebenen Parusie sowie der ausgebliebenen Totenerweckung nicht gegen die Messianität Jesu ausgespielt werden kann. Wenn also in 5,28f die Totenerweckung und das Gericht wieder in die zukünftige Eschatologie verwiesen wird, steht das im Widerspruch zur Christologie und zur Tendenz des ursprünglichen Evs und kann nur als Einschub von einer späteren Hand beurteilt werden. Für den sekundären Charakter von 5,28f spricht auch, dass das Kriterium nicht mehr der Glaube ist, sondern die guten und bösen Werke. Darüber hinaus bilden die beiden Verse eine Parallele und Variierung zu den VV 25-27, und sie unterbrechen den Zusammenhang zwischen V 27 und V 30. Die gleiche Gegenwärtigsetzung des eschatologischen Geschehens der Totenerweckung mit dem Tun Jesu liegt auch Jh 11,24-27.40-42 vor. Die zukünftige Eschatologie hat im ursprünglichen Ev keinen Platz, weil sie zur Christologie des Evangelisten im Widerspruch steht. Sie ist auch in 6,39f.44 erst nachträglich von einer anderen Hand interpoliert worden. Für 6,39f kommt noch hinzu, dass der Gegensatz zu 'nichts verlorengehen lassen' (V 39) nicht die Auferweckung am Jüngsten Tag ist, sondern das Bewahren, das ewige Leben (V 40), das für den Evangelisten immer ein bereits gegenwärtiges Heilsgut ist. Im zweiten Teil der Rede 6,54 erscheint die Auferweckung als Folge des Genusses der Eucharistie. Da einerseits die futurische Eschatologie auch in anderen sekundären Stellen des Evs vorhanden ist (auch in 1Jh) und andererseits auch noch andere Aspekte der eucharistischen Rede 6,51b-58 in die VV 31 – 51a eingeschoben ist, wird man dem Autor der VV 6,51b-58 auch die Interpolation der Auferweckung am Jüngsten Tag in 6,39f.44 zuschreiben müssen (106f).

4.3 Blut und Wasser aus der durchbohrten Seite Jesu (Jh 19,34b)

Blut und Wasser erweisen Jesus als wahren Menschen mit einem wirklichen Leib und widerlegen die Behauptung der Doketen, dass er nur zum Schein ein Mensch gewesen sei und nur einen Scheinleib gehabt habe (136).

Das Zeugnis des Augenzeugen in V 35 ist ein Zeugnis über das wahre Menschsein Jesu und die wirkliche Leiblichkeit Jesu. Die Betonung der Augenzeugenschaft, des Sehens (= der sinnlichen Wahrnehmung der Leiblichkeit Jesu), ist ein Charakteristikum auch anderer antidoketistischer Stellen im Ev (1,14;  20,25-27.29 und in 1Jh 1,1-3). Ebenso wie das Sehen und das Zeugnis hat auch der Glaube (V 35) das wahre Menschsein und die wirkliche Leiblichkeit Jesu zum Inhalt. Dieser Glaubensinhalt von Jh 19,35 stimmt nicht mit dem 20,31 ausgesprochenem Zweck des Evs überein, wo es um den Glauben an die Messianität (= das Christussein) und die Gottessohnschaft Jesu geht. Dieser Glaubensinhalt von Jh 19,35 steht zu Stellen wie 6,41ff;  10,30-33;  5,18;  19,7 im Widerspruch, denn an diesen Stellen wird das Menschsein Jesu als unbestrittene Tatsache vorausgesetzt. Gerade das Menschsein Jesu ist es dort, warum die jüdischen Gegner nicht glauben wollen, dass er der Sohn Gottes ist! Die antidoketistischen Stellen im vierten Ev sind erst später, in einer gegenüber dem ursprünglichen Ev veränderten Situation, in das vierte Ev eingefügt worden (140f).

1Jh 5,6-8: Die drei Zeugen für das wahre Menschsein Jesu Christi sind der Geist und die beiden für das Menschsein entscheidenden (durch Jh 19,34b als wirklich vorhanden bezeugten) Elemente Blut und Wasser. Die drei bezeugen das wahre Menschsein und die wirkliche Leiblichkeit Jesu. Weder Jh 19,34 noch 1Jh 5,6-8 haben mit den Sakramenten etwas zu tun (142).

4.4 „Und der Logos ward Fleisch“ (Jh 1,14a)

Die Betonung der Göttlichkeit Jesu in Verbindung mit der Behauptung seines wirklichen Menschseins ist ein charakteristisches Kennzeichen der antidoketistischen Christologie des Frühchristentums. Die doxa Jesu in 1,14 ist nicht die des Evangelisten. Nach dem Evangelisten liegt für den irdischen Jesus die doxa hinter ihm (in der Präexistenz) und vor ihm (Rückkehr in die doxa des Vaters). Beim Evangelisten bezeugt der Täufer (entsprechend der Tendenz des ursprünglichen Evs), dass Jesus das Licht, der Heilbringer ist. Beim antidoketistischen Redaktor bezeugt der Täufer, dass Jesus Mensch und Gott ist. Es geht ihm nicht (wie dem Evangelisten und der Vorlage) um die Unterordnung des Täufers unter Jesus, sondern um die Bezeugung des Menschseins und der Göttlichkeit Jesu. Ein anderes für die antidoketistische Christologie typisches Kennzeichen (1,14) ist die Berufung auf Augenzeugenschaft (19,35;  20,25.27). Die Augenzeugen kommen zu Wort in 1,14b (der fleischgewordene Logos „hat unter uns gewohnt“ = weilte unter uns als Mensch) und in 1,14c („wir haben seine doxa gesehen“) (190f).

In 1,14 ist die Aussage, dass der Logos voll Gnade und Wahrheit ist, unjhn. Nach dem Evangelisten ist Jesus nicht voll Wahrheit, sondern er ist die Wahrheit (14,6). Für den Evangelisten ist die doxa der Zustand des Präexistenten (12,41;  17,5) und des nach Vollendung seines Sendungsauftrags zum Vater Zurückgekehrten (17,5.24) (193).

Die Inkarnation in Jh 1,14 ist real zu verstehen, im Sinne des vollen Menschenseins Jesu, denn sie ist Antwort auf die doketistische Behauptung, dass Jesus keinen menschlichen Leib hatte, in Wahrheit nicht Mensch war. Die Inkarnation ist für den Evangelisten kein Thema, für den antidoketistischen Interpolator ist sie das wichtigste Thema. Für eine Erniedrigungstheologie des Evangelisten kann 1,14 nicht in Anspruch genommen werden, weil die Stelle nicht von ihm stammt. Dem antidoketistischen Redaktor geht es bei der Betonung des wirklichen Menschseins Jesu um die Zurückweisung der doketistischen Behauptung, dass Jesus kein Mensch war. Der vierte Evangelist war kein Doketist; es geht ihm nicht um die Bestreitung des Menschseins Jesu, sondern um den Erweis der Göttlichkeit Jesu (196f).

4.5 Zur sog. Semeia-Quelle (S) des Johannesevangeliums

Zur Charakteristik von S: Die Wunder sind auf Jesus allein ausgerichtet und haben in ihrer Einzigartigkeit und Unüberbietbarkeit nur das eine Thema, dass Jesus der Messias ist. Niemals werden die Wunder „Machttaten“ (so die Synoptiker) genannt, sondern immer nur „Zeichen“. Der religionsgeschichtliche Hintergrund für die Darstellung Jesu als Wundertäter ist nicht in der hellenistischen Vorstellung vom 'göttlichen Menschen' zu sehen, sondern im zeitgenössischen Judentum und seinen mess. Erwartungen. Der Evangelist sieht in S eine Art Glaubensurkunde einer judenchristlichen Gemeinde, mit der er sich kritisch auseinandersetzt. Das Messiasbild in S ist nicht der davidische Messias (von dem man keine Wunder erwartete und dessen Züge in S völlig fehlen), sondern der Messias als der eschatologische Prophet, von dem man erwartete, dass er sich durch „Zeichen“ legitimiert (282f).

Die Redaktion von S durch den Evangelisten: Für S sind die semeia Wunder besonderer Art, die außer Jesus niemand vollbracht hat (Jh 3,2;  7,31;  12,18), es sind die dem Messias-Propheten allein zukommenden und ihn legitimierenden göttlichen Ausweise, also „Zeichen“. S erzählt keine Dämonenaustreibungen und Aussätzigenheilungen Jesu, weil diese Wunder auch von anderen Leuten vollbracht worden sind und weil sie keine für die mess. Zeit typischen Wunder (= „Zeichen“) sind. Dieser Umstand beweist, dass S Jesus nur als den Messias darstellen will und nicht als theios aner, für den Exorzismen charakteristisch sind (284).

Während die Zeichen in S Offenbarungen und göttliche Bestätigung der Messianität Jesu sind, verlieren sie beim Evangelisten ihren mess. Charakter. Sie werden bewusst entmessianisiert: In 2,4 bestreitet der Evangelist den Herrlichkeitscharakter des Weinwunders und der Zeichen überhaupt, ähnlich in 11,4d. Die Fernheilung (4,46ff) ist Anlass zur Kritik des Glaubensverständnisses von S (Glaube aufgrund der Zeichen). Einen tieferen Sinn misst der Evangelist diesen Zeichen nicht bei, sie dienen ihm bloß dazu um Aussagen, die für die Zeichenchristologie von S fundamental sind, zu kritisieren und zu entwerten. Demontage des mess. Charakters der Zeichen von S ab Kap.5: Die Zeichen werden durch angefügte Reden Jesu umgedeutet, spiritualisiert. Sie sind Taten (Werke), die des offenbarenden Wortes bedürfen, die auf Jesu himmlische Herkunft und göttliche Sendung, auf seine Einheit mit dem Vater und seine Heilsbedeutung als Licht und Leben hinweisen. Darüber hinaus meidet der Evangelist den Ausdruck semeion und spricht dafür von den „Werken“ Jesu, deren christologische Funktion darin besteht, die Göttlichkeit Jesu und seine Einheit mit dem Vater zu beweisen (5,36;  10,25ff.37f;  14,10f). S versteht unter den „größeren“ Dingen die Zeichen, der Evangelist aber überbietet oder ersetzt sie durch die eschatologischen Funktionen Jesu (Totenerweckung und Gericht 1,51;  5,20ff) als die „(noch) größeren Werke“ (5,20) (284f).

In S sind die Zeichen Offenbarungen der doxa Jesu als des Messias, die in der von Gott verliehenen Wundermacht besteht, so dass die Zeichen auch Offenbarungen der doxa Gottes sind (11,4.40). Im Gegensatz zu S haben beim Evangelisten die Zeichen mit der doxa Jesu nichts zu tun: die doxa Jesu ist an das Geschehen „seiner Stunde“ gebunden, d.h. an die Rückkehr in das Sein beim Vater über das Kreuz. Der Evangelist spricht nur von der doxa des präexistenten und des zum Vater zurückgekehrten Jesus (285f).

In S gehören zum Erweis der Messianität Jesu nicht nur die Zeichen als Offenbarung der doxa Jesu, sondern auch das gegenüber den Synoptikern glorifizierte Verhalten Jesu: z.B. bei der Tempelreinigung, beim Einzug in Jerusalem oder bei der Gefangenahme. Dieses majestätische Jesusbild ist die Antwort von S auf den jüdischen Einwand, dass Jesus nicht der Messias sein kann, weil er 'ohne Ehre' und 'ohne doxa' aufgetreten sei, während nach jüdischer Erwartung der Messias sich in Herrlichkeit offenbaren muss. Trotz aller Glorifizierung zeichnet S keinen göttlichen Jesus, sondern bleibt auf dem Boden der jüdischen Dogmatik, wonach der Messias 'ein Mensch von Menschen' ist. Für S ist Jesus „der Sohn Josephs“ und stammt nicht „von oben“, sondern aus Nazareth (1,46). Das hinter S stehende Judenchristentum lehnt die vom Evangelisten verkündete himmlische Herkunft und Gottessohnschaft Jesu ab (6,41f.60ff). Dass der Evangelist die Ablehnung seiner christologischen Verkündigung durch das hinter S stehende Judenchristentum den Juden z. Zt. Jesu in den Mund legt, ist die schon im AT übliche Weise der Polemik und Apologetik. Dass der Evangelist trotz der negativen Bewertung der Zeichen den Begriff semeion nicht eliminiert hat, erklärt sich daraus, dass er den 'neuen' Christusglauben nicht verkünden konnte ohne Kritik am bisherigen Glauben des hinter S stehenden Judenchristentums und an den Zeichen, auf denen der 'alte' Glaube gründete (286f).

Die Grundschrift war die Vorlage des Evangelisten: bei der Grundschrift handelt es sich nicht um ein Evangelium, denn es fehlt außer dem Begriff 'Evangelium' auch die Lehre Jesu (keine Gleichnisse, keine Reich-Gottes-Predigt), sondern um eine apologetische Schrift zur Verteidigung und zum Beweis der Messianität Jesu. Wenn es eine S-Quelle, die nur Zeichen enthielt, gegeben hat (wofür außer der Zählung 2,11;  4,54 vor allem 20,30f zu sprechen scheint), wird sie schon vom Autor der Grundschrift verwendet worden und von ihm redaktionell bearbeitet worden sein (287)

4.6 Die Fusswaschung (Jh 13,1-20)

Zwei voneinander unabhängige Deutungen der Fußwaschung

Nach Jh 13,6ff ist die Fußwaschung ein Zeichen, das wie jedes andere Zeichen im Jh-Ev eine christologische und heilgeschichtliche Bedeutung hat. Nach 13,12ff ist sie ein Beispiel demütigen Dienens. Nach der ersten Deutung kann der zeichenhafte Charakter der Fußwaschung erst „später“ (13,7) erkannt werden (= nach Ostern), wie auch die anderen Zeichen Jesu erst nach seiner Verherrlichung, nach der Sendung des Parakleten in ihrer christologisch-soteriologischen Bedeutung erkannt werden können. Die zweite Deutung erfolgt unmittelbar nach der Handlung. Die Frage Jesu in 13,12 („versteht ihr, was ich euch getan habe“) berücksichtigt nicht das Wort Jesu in 13,7 („Was ich tue, verstehst du jetzt nicht, wirst es aber später begreifen“). Die beiden Deutungen widersprechen sich in mancher Hinsicht. Nach der ersten Deutung wird durch die Fußwaschung die Hingabe Jesu in den Kreuzestod zeichenhaft dargestellt, sein Heilshandeln, das einmalig ist und als solches von niemandem nachgeahmt werden kann. Nach der zweiten Deutung wird den Jüngern durch die Fußwaschung ein Beispiel gegeben, das sie nachahmen sollen. In der ersten Deutung erfolgt die Heilszusicherung („Ihr seid rein“ 13,10) aufgrund des Heilshandelns Jesu, das durch die Fußwaschung zeichenhaft dargestellt ist. In der zweiten Deutung erfolgt die Heilszusicherung („selig seid ihr, wenn ihr das tut“ 13,17) aufgrund des eigenen Tuns der Jünger, das in der Nachahmung des Beispiels Jesu besteht (51).

Der Mann, der die zweite Deutung der Fußwaschung hinzukomponiert hat, deutet die unter dem Zeichen der Fußwaschung dargestellte Selbsthingabe Jesu in den Kreuzestod nicht als heilsnotwendiges Handeln, sondern als Ausdruck der Liebe Jesu zu den Seinen, als Beispiel, das die Jünger nachahmen sollen. Den neuen Sinn bekommen die VV 12ff durch den V 1. Er ist gleichsam das Vorzeichen, das den Inhalt der zweiten Deutung neu bestimmt. Denn hier wird gesagt, dass Jesus aus Liebe zu den Seinen den Kreuzestod auf sich nahm (dargestellt im Zeichen der Fußwaschung) (55).

Die christologisch-soteriologische Deutung der Fußwaschung als die allein mit dem Zweck des Evangeliums übereinstimmende

Das vierte Evangelium ist geschrieben worden, um eine christliche Gemeinde im Glauben an Jesus als den Messias und Sohn Gottes zu stärken. Zu diesem Zweck wählt der Evangelist aus der ihm vorliegenden Tradition solche Stücke aus, die ihm geeignet erscheinen, die Einwände, die zu seiner Zeit gegen die Messianität Jesu gemacht wurden, zu widerlegen und so den Glauben an Jesus als den Messias als richtig zu erweisen. Der wichtigste Einwand gegen die Messianität Jesu ist, dass Jesus am Kreuz gestorben ist. Der vierte Evangelist pariert diesen Einwand u.a. dadurch, dass er den Kreuzestod Jesu als die Vollendung des ihm vom Vater gegebenen Auftrags darstellt (12,27f;  17,1.4;  18,11;  19,30). Der Kreuzestod Jesu gehört zum Heilsplan des Vaters, ohne diesen Tod gäbe es kein Heil, ohne diesen Tod wäre Jesus nicht der Messias. Darum ist die Passion und insbesondere der Kreuzestod die Stunde der Erfüllung seiner mess. Sendung, „seine Stunde“. Darum weist der Evangelist von Anfang an immer wieder auf diese Stunde (2,4;  7,30,  8,20,  12,23.27) und auf die Notwendigkeit des Kreuzestodes und dessen Heilsbedeutung hin (1,29.36;  2.18-22;  3,14-17,35). Gott hat alles, was für das Heil der Menschen notwendig ist, in Jesu Hand gegeben, ebenso 13,3 und 17,1f, wo die Ausübung dieser Vollmacht mit dem Gekommensein der „Stunde“ und seiner Verherrlichung begründet wird (6,51c;  8,21.28;  10,11.15.17f;  11,50-52;  12,23-36). Jesus selbst hat genau gewusst, dass der Kreuzestod zu dem Werk gehört, das ihm der Vater zu vollbringen aufgetragen hat. Er ging im Gehorsam gegen den Willen des Vaters und aus Liebe zu den Seinen diesem Tod entgegen (42).

Alle diese Momente sind am Eingang der jhn Passionsgeschichte in der Szene der Fußwaschung dem Leser vor Augen gestellt. Die Fußwaschung ist für den Evangelisten ein Zeichen (semeion) und hat wie jedes andere Zeichen im vierten Ev eine verborgene heilsgeschichtliche und christologische Bedeutung, die erst nach Ostern, unter dem Beistand des Parakleten, erkannt werden kann (13,7b): Der schmählich, entehrende Tod am Kreuz ist von Jesus im Sklavendienst der Fußwaschung im voraus dargestellt worden. Der Dialog zwischen Petrus und Jesus (13,7f) dient dazu, den gläubigen Lesern den verborgenen zeichenhaften Charakter der Fußwaschung zu erschließen. Durch das Unverständnis des Petrus ist Jesus genötigt, sein Tun näher zu erklären. Petrus erkennt nicht, dass die Fußwaschung für Jesus eine zeichenhafte Handlung ist, er betrachtet sie als ein rein profanes Geschehen, als Sklavenarbeit, die mit der Stellung Jesu unvereinbar ist. Petrus hat nicht erkannt, dass die Fußwaschung Zeichen des Heilshandelns Jesu ist, er spricht aus Unkenntnis, als Unwissender. Nicht das Tun oder Verhalten des Petrus steht im Mittelpunkt, sondern das Tun Jesu. Es geht nicht darum, ob sich Petrus die Fußwaschung gefallen lassen muss oder nicht, sondern ob sich Jesus diesem Sklavendienst unterziehen muss oder nicht: ob Jesus den Kreuzestod auf sich nehmen muss oder ob er ihn umgehen kann. Die Antwort Jesu heißt: die Fußwaschung muss ich vollziehen, d.h. der Kreuzestod ist notwendig, sonst gibt es kein Heil (43f).

13,10: Der Gebadete ist ganz rein: Das durch die Fußwaschung zeichenhaft dargestellte Heilsgeschehen ist das Bad, das jede weitre (religiöse) Waschung oder Reinigung überflüssig macht. Der Kreuzestod Jesu bewirkt völlige Reinheit, die durch nichts ergänzt, durch nichts übertroffen werden kann. Im jhn Schrifttum, einschließlich der Offb, ist mit den Begriffen 'waschen' und 'reinigen' nie die Vorstellung von der christlichen Taufe verbunden (die Taufe wird vielmehr als Geburt von oben 3,3 bezeichnet), sonder fast ausschließlich die Reinigung von den Sünden durch das Blut (=Kreuzestod) Jesu (1Jh 1,7;  3,5;  4,10; Offb 7,14;  22,14;  Tit 2,14; Hebr 1,3;  9,14;  10,22). Die christologisch-soteriologische Deutung wird schon durch die Einleitungsverse 13,1-3 nahegelegt. Sie setzen die Fußwaschung in enge Beziehung zum Tod Jesu. Dem Inhalt nach sind diese Verse christologische Aussagen im Sinn des Zwecks des Evs, zum Erweis der Messianität Jesu trotz der gegnerischen Einwände. Der Evangelist spricht nie vom 'Kreuz' oder 'Leiden', sondern wie 13,1 vom Hingang zum Vater, vom Hingehen (7,33;  8,14.21f;  16,5.10.17) oder vom Verherrlichtwerden (7,39;  12,16.23;  13,31f;  17,1.5) oder vom Erhöhtwerden (3,14;  8,28;  12,32.34). In 13,2 wird gesagt, dass die Fußwaschung (=der durch sie zeichenhaft dargestellte Kreuzestod) der höchste Liebesbeweis Jesu gegenüber den Seinen ist. Am meisten scheint 13,3 auf den christlogisch-soteriologischen Gehalt der Vv 6,-10 hinzuweisen. Jesus weiß, dass der Vater alles in seine Hände gelegt hat. Damit ist im vierten Ev die Macht und der Auftrag gemeint, das Heil der Menschen zu wirken. Diesen Auftrag erfüllt er in der Hingabe seines Lebens in den Kreuzestod. „Diesen Auftrag habe ich von meinem Vater empfangen“ (10,18). 13,3 (wissend, „dass er von Gott ausgegangen ist und zu Gott hingeht“) drückt den göttlichen Ursprung seiner Sendung aus (45-48).

5. Anhang
5.1 Vergottung Jesu im Johannes-Evangelium?
5.2 Glauben an Jesus – ein Verstoß gegen das zweite Gebot?
5.3 Die john Christologie vor dem Anspruch des Hauptgebotes (Dtn 6,4f)
5.4 Die Offenbarung der Doxa

5.1 Vergottung Jesu im Johannesevangelium?

K.-J. Kuschel

a. Am Anfang: Jesus – Messias der Juden

Die Passage 1,35-51 schildert die Sammlung der ersten Jünger (Andreas, Simon Petrus, Philippus, Nathanael), die in Jesus (und nicht mehr in Johannes dem Täufer) den erwarteten Messias gefunden hatten: “Wir haben den gefunden, über den Mose und die Propheten geschrieben haben: Jesus aus Nazareth, den Sohn Josefs“ (1,45). Jesus ist nicht göttlicher Herkunft, sondern ganz im Einklang mit Dtn 18,15ff ein Mensch aus der Mitte seiner Volksgenossen, der Sohn Josefs von Nazareth, von Gott zum Messias erwählt (475f).

Unmittelbar auf das judenchristliche Bekenntnis des Nathanael: “Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel“, antwortet ihm Jesus: “Du wirst noch Größeres sehen“ (1,50). Was kann es Größeres geben als den Messias, den Sohn Gottes, den König von Israel? Für die john Gemeinde muss es zur Gewissheit geworden sein: Jesus ist nicht nur ein Messias nach landläufiger Vorstellung, nicht irgendein Gottessohn oder König Israels, sondern er ist der Messias, der Gottessohn und der König Israels, weil er der von Gott gesandte Sohn ist, weil er schon immer bei Gott, seinem Vater war (477).

b. Spiegelfiguren: der Täufer und Nikodemus

Beide Figuren verkörpern Glaubensbewegungen innerhalb des Judentums seiner Zeit, mit denen die Jesusbewegung in Konkurrenz stand. Die john Gemeinde musste sich gegenüber der Täuferbewegung offensichtlich behaupten. Die Täuferbewegung war eine messianische Bewegung, die Jesus deshalb ablehnte, weil sie ihren Helden Johannes für den Messias oder wenigstens für den letzten Boten Gottes gehalten haben wird (477f).

Der Evangelist tut zu Beginn alles, den Täufer selbst zum Vorläufer Jesu zu machen, ja, ihn zum Zeugen für Jesus einzugemeinden. Auch der Täufer ist ein Gesandter Gottes (1,6); aber nur Jesus ist der eigentliche Messias, der gesandte Sohn. Auch der Täufer verspricht die Reinigung von den Sünden, aber nur Jesus ist das 'Lamm', das die Sünden selbst hinwegnimmt. Auch der Täufer predigt Gottes Wort, aber nur Jesus ist Gottes Wort. Der Täufer gibt Zeugnis für das Licht, aber Jesus ist das Licht. Wie hätte die john Gemeinde die unvergleichliche Überlegenheit ihres Jesus stärker unter Beweis stellen können als dadurch, dass sie dem Hauptkonkurrenten die Sätze in den Mund legte: “Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ (3,30)! Was kann stärker dem eigenen Wahrheitsanspruch zugute kommen als die Erkenntnis des früheren Rivalen: Es ist Jesus, der “von oben“, der “aus dem Himmel kommt“ und der deshalb über allem steht (3,2). Es ist Jesus, der gewesen ist, noch bevor Johannes war. Es ist Jesus, der allein Gott “gesehen“ und “am Herzen des Vaters“ geruht hat (1,18). Das Täuferzeugnis ist dem Evangelisten so wichtig, dass er es auf kürzestem Raum zweimal bringt (1,15.30): “Nach mir kommt ein Mann, der mir voraus ist, weil er vor mir war“! Johannes der Täufer wird für die john Gemeinde zur ersten innerjüdischen Legitimationsfigur für den spezifischen Selbstanspruch Jesu: Gesandte Gottes gibt es viele. Nur einer ist der wahre Gesandte, der Sohn “aus dem Himmel“, der als einziger Gott “gesehen“ hat. Die Präexistenz beim Vater als Voraussetzung der Sendung macht das spezifische Profil dieses Jesus aus (478f).

Die zweite entscheidende Spiegelfigur des john Christus stammt aus der Gruppe der Pharisäer: Nikodemus war “ein führender Mann unter den Juden“. Zu Jesus kommt nicht irgendeiner, sondern einer der führenden “Lehrer Israels“ (3,10) – und zwar nachts! Schon ab Kp 4 sind die eigentlichen Gegner des john Christus die Pharisäer. Sie sind es, die mit dem feindseligen Kollektivstereotyp 'die Juden' im John-Ev bezeichnet werden (479).

Gleich zu Anfang des Joh-Ev kommt mit Nikodemus ein 'guter' Pharisäer zu Jesus, der später gegen die feindseligen Vertreter dieser Gruppe abgegrenzt werden kann. Schlüsselthema ist “der Geist“, die Geistgeburt, die Wiedergeburt aus dem Geist.

Schlüsselthema ist das Hinabsteigen Jesu aus dem Himmel. Ziel dieses Hinabsteigens ist die Liebe Gottes und die Rettung des Menschen. Das Herabsteigen aus dem Himmel ist identisch mit der liebenden Hingabe von Gottes Sohn.

Der Pharisäer Nikodemus wird für die john Gemeinde zur zweiten innerjüdischen Legitimationsfigur für den spezifischen Selbstanspruch Jesu: Hingabe gibt es vielerlei auf der Welt. Aber nur eine Hingabe bringt die Rettung: die Hingabe des himmlischen Sohnes an die Welt. An der Figur des Nikodemus demonstriert der Evangelist, welche Chancen innerjüdisch bestanden hätten, hätte man Jesus als den wahren Sohn Gottes begriffen: “Du bist ein Lehrer Israels und verstehst das nicht“ (3,10) (479f)?

In 7,50 taucht Nikodemus noch einmal auf, damit beschäftigt, die Erregung der jüdischen Priesterhierarchie (Hoherpriester) und des frommen Laienestablishments (Pharisäer) über Jesu ungeheuren Anspruch in vernünftigen Bahnen zu halten.

c. Blasphemie: Der Ausschluss aus der Synagoge

Die nächste große Auseinandersetzung mit 'den Juden' in Kp 5 hat bereits eine lebensbedrohende Dimension. Nach einer Sabbatheilung hatte der john Jesus 'den Juden' erklärt: “Mein Vater ist noch immer am Werk und auch ich bin am Werk“ (5,17). “Darum waren die Juden noch mehr darauf aus, ihn zu töten, weil er nicht nur den Sabbat brach, sondern auch Gott seinen Vater nannte und sich damit Gott gleichstellte“ (5,18).

Wir wissen nicht, wie die john Gemeinde zu ihrer Präexistenzchristologie gelangte. Die Folgen waren schwerwiegend, ja lebensbedrohend. Denn die jüdische Synagoge hatte offensichtlich die judenchristliche Gemeinde des Johannes aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen und zwar vermutlich unter dem Vorwurf der Blasphemie. Joh 5,18 zeigt, dass das jüdische Establishment nicht bereit war, einen Anspruch zu tolerieren, der Jesus in irgendeiner Weise Gott gleichstellte (480f).

Im Licht ihres neuen Christusverständnisses hatte die john Gemeinde offenbar alle bisher bekannten Glaubensbekenntnisse gesprengt. Neben dem Täuferzeugnis (1,15.30) gibt es vier weitere Texte im Joh-Ev, in denen der Evangelist Jesus selber unzweideutig auf seine eigene vorzeitige Existenz 'beim Vater' anspielen lässt: “Ich sage, was ich beim Vater gesehen habe“ (8,38) und “noch ehe Abraham wurde, bin ich“ (8,58). “Was werdet ihr sagen, wenn ihr den Menschensohn hinaufsteigen seht, dorthin, wo er vorher war“ (6,62)? “Vater, verherrliche du mich jetzt bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, bevor die Welt war“ (17,5).

Dieser so formulierte Anspruch des john Christus musste in traditionellen jüdischen Ohren wie Blasphemie geklungen haben: “Wir steinigen dich nicht wegen eines guten Werkes, sondern wegen Gotteslästerung, denn du bist nur ein Mensch und machst dich selbst zu Gott“ (10,33). Hier verkündeten Judenchristen (!) offenbar einen zweiten Gott neben dem einen Gott und verletzten so das in jedem Gottesdienst eingeschärfte Grundprinzip jüdischer Glaubensidentität: “Höre, Israel, der Herr unser Gott, der Herr, ist einer“ (Dtn 6,4) (481).

Nach der Katastrophe des Jahres 70 (Tempelzerstörung und Verwüstung Jerusalems) hatte sich der Pharisäismus in der Stadt Jabne (bei Jaffa) als jüdische Orthodoxie neu zu etablieren versucht. Die Tempelhierarchie war funktionslos geworden, die sadduzäische Oberschicht zerstreut, die Zeloten in einem aussichtslosen Todeskampf mit den Römern verwickelt. Als geschlossene Gruppe übriggeblieben waren die Pharisäer, die offenbar nun als eine Art 'normatives Judentum' andere jüdische Gruppen 'auszuschalten' versuchten. Jabne war zum neuen Zentrum des Judentums geworden und das pharisäische Rabbinat hatte streng darauf zu achten begonnen, dass niemand von der vorgezeichneten Linie abwich. Nur in diesem Rahmen ist der Text der 'Ketzterverfluchung' zu verstehen, der in dieser Zeit entstand und als 12. Benediktion in das 'Achtzehn-Gebet' eingefügt wurde – in das jüdische Gebet, das dreimal täglich gesprochen wurde und Bestandteil der Liturgie war. Es lautet: “Den Abtrünnigen sei keine Hoffnung und die überhebliche Herrschaft rotte schnell aus in unseren Tagen. Die Nazarener und die Minim (Häretiker) mögen plötzlich zugrunde gehen. Sie mögen ausgewischt werden aus dem Buch des Lebens und mit den Gerechten nicht hineingeschrieben werden“. Hier tauchen die Nazarener, die Jesusgläubigen auf als Verfluchte, als Ketzer. Im Joh-Ev steht dieser Ausschluss als ständige Bedrohung für die potentiellen Anhänger Jesu im Hintergrund (9,22; 12,42) (482).

Der Ausschluss aus der Synagoge um 80 ist nicht bloß als rein religiöse Maßnahme zu verstehen. Eine Brandmarkung als Ketzer und ein Ausschluss aus der Glaubensgemeinschaft hatte vor allem soziale und ökonomische Folgen, die das ganze Leben der Beteiligten veränderten: Alte Bindungen wurden total zerschnitten, jeder persönliche und geschäftliche Verkehr unterbunden und jede Hilfe ausgeschlossen. Die Eltern des blindgeborenen Mannes können nicht zugeben, dass Jesus der wundertätige Heiler war, “weil sie sich vor den Juden fürchteten“ (9,22). Führende Männer Israels wagen nicht, ihren Glauben an Jesus offen zu bekennen, “um nicht aus der Synagoge ausgestoßen zu werden“ (12,42). Nikodemus kam nachts zu Jesus und Josef von Arimathea blieb nur ein “heimlicher Jünger Jesu aus Furcht vor den Juden“ (19,38) (483).

d. Spannungen unter den Anhängern Jesu

Die john Gemeinde fühlte sich nicht nur von 'den Juden' bedroht und verfolgt, sondern sie glaubte sich auch von 'der Welt' abgelehnt und gehasst. Die Wirkungen der john Präexistenzchristologie dürften in einzigartiger Weise polarisierend gewesen sein. Im heftigsten Streitgespräch mit 'den Juden' (Kp 8) wird in konfrontativen Schemata geredet: Ich von oben, ihr von unten, Wahrheit und Freiheit hier – Sünde und Sklaverei dort; Gott zum Vater hier – den Teufel zum Vater dort. Jesu Erscheinen ist das Gericht über die Welt (9,39; 12,31). Die Welt wird von “Söhnen der Finsternis“ bewohnt und hasst diejenigen, die nicht “von dieser Welt“ sind (17,14). Jesus selbst weigert sich, für 'die Welt' zu beten (17,9). Er hat 'die Welt' besiegt' (16,33) und den satanischen Fürsten aus dieser Welt hinausgetrieben (12,31; 14,30) (483).

In der Konfrontation mit den Juden geht es um den messianischen Anspruch Jesu, um die Konkurrenz zweier messianischer Glaubensverständnisse. In der Konfrontation Jesu mit 'der Welt' geht es um Glauben und Unglauben schlechthin. Eine Präexistenzchristologie, die mit einem konkreten Menschen einen solch hohen Anspruch verbindet, wirkt in äußerstem Maße exklusiv. Sie ist polarisierend, spaltend. Immer wenn der Evangelist das Verhältnis des Gesandten zur Welt beschreiben will, dann geht es um Licht oder Finsternis, Wahrheit oder Lüge, Leben oder Tod, Oben oder Unten, Freiheit oder Knechtschaft (483f).

Ein solch konfrontativer Dualismus konnte nicht ohne Auswirkungen bis in die Anhängerschaft Jesu selber bleiben. Bei Johannes gibt es nicht nur zahlreiche heimliche Christen, Krypto-Gläubige, sondern auch zahlreiche ehemalige Anhänger Jesu, auch inadäquate Jünger. Der Preis, den die john Gemeinde für ihre Präexistenzchristologie zahlte, war extrem hoch: Nicht nur den Ausschluss aus der Synagoge nahm sie in Kauf, nicht nur den Hass 'der Welt', sondern auch eine Trennung von ehemaligen judenchristlichen Anhängern und Spannungen zu anderen christlichen Gruppen (484).

Hatten nicht “viele seiner Jünger“ die Brotrede in der Synagoge von Kafarnaum (“Ich bin das lebendige Brot“) “unerträglich“ (6,60) gefunden? Und hatte Jesus diese seine murrenden und Anstoß nehmenden Jünger an gleicher Stelle nicht noch dadurch zusätzlich abgeschreckt, dass er das paradoxe Brot-Wort mit der nicht weniger paradoxen Präexistenz- und Postexistenzaussage gleichsam noch übertrumpfte: “Daran nehmt ihr Anstoß? Was werdet ihr sagen, wenn ihr den Menschensohn hinaufsteigen seht, dorthin, wo er vorher war“ (6,61)? Auch Jesu nächste Verwandte, “seine Brüder“, glaubten nicht an ihn (7,3-5). Sind die Kontrahenten in den großen Streitgesprächen mit 'den Juden' in Kp 8 nicht ausdrücklich “Juden, die an ihn glaubten“ (8,31), die dann durch das “noch ehe Abraham wurde, bin ich“ zur gewaltsamen Reaktion gleichsam gezwungen werden (“Da hoben sie Steine auf...“ 8,58) (484)?

In diesen Passagen dürften sich die Erinnerungen an judenchristliche Anhänger Jesu aufbewahrt haben, die weder zur Synagoge zurückgingen noch in der john Gemeinde aufgingen. Die weder bereit waren, Jesus als Messias der Juden zu verwerfen, noch die hohe Christologie mitzumachen. Solch doktrinäre Meinungsverschiedenheiten, die zur Trennung von der john Gemeinde führten, sind von solchen Verlusten zu unterscheiden, die durch Verfolgungen bedingt waren: “Die Stunde wird kommen und sie ist schon da, da ihr zerstreut werdet, ein jeder an seinen Ort. Und ihr werdet mich verlassen“ (16,32). Es geht um die selbstverschuldeten Abschiede von Jesus, aufgrund eines – in den Augen der Judenchristen – unerträglichen Anspruchs (485).

Nach der Trennung von “vielen Jüngern“ bleiben “die Zwölf“ übrig. Dem Simon Petrus legt Johannes das Bekenntnis in den Mund: “Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes“ (6,69). Wie ist es zu erklären, dass in einem Moment, der für Jesu Leben den Ernstfall bedeutete (ab Kp 13) plötzlich nicht Petrus, sondern der Lieblingsjünger der wichtigste Anhänger Jesu wird? Wie ist es zu erklären, dass die john Gemeinde nun ihren eigenen Helden klar von Petrus abgrenzt? Nur dieser Jünger hatte “an Jesu Brust“ beim letzten Mahl (13,23-26) gelegen. Nur er hatte dem Petrus (!) Zugang zum Palast des Hohenpriesters verschafft (18,15f). Er war am Ostermorgen der erste Zeuge an Jesu Grab gewesen. Er war der einzige, der angesichts des leeren Grabes gleich 'richtig' glaubte (20,8) und er war es, der nach der Auferstehung den wiedererschienenen, erhöhten Herrn sofort erkannt hatte (21,7). Nirgendwo wird der Kontrast zwischen der Leitfigur der john Gemeinde und dem Repräsentanten der apostolischen Kirche, Petrus, deutlicher als unter dem Kreuz, dort steht der Jünger, “den Jesus lieb hatte“ (19,26), während Petrus in der entscheidenden Stunde zu den Verrätern gehört. Durch die Kontrastierung ihres Helden mit dem berühmtesten Mitglied des Zwölferkreises setzt sich die john Gemeinde von den apostolischen Kirchen ab, die Petrus und die Zwölf verehren (485f).

Auch am Ende seines irdischen Wirkens muss Jesus resigniert feststellen: “Schon so lange bin ich bei euch und du kennst mich nicht, Philippus“ (14,9)? Selbst im Zwölferkreis ist Jesu göttliche Herkunft offenkundig nicht verstanden worden. Jesu Präexistenz war den Aposteln fremd. Denn was der Lieblingsjünger sofort angesichts des leeren Grabes verstand (“er sah und glaubte“), muss dem Zwölferkreis erst durch eine Erscheinung des Auferstandenen nach Ostern glaubhaft gemacht werden. Das Bekenntnis des Thomas “mein Herr und mein Gott“ (20,28) ist nachgereicht und der Ungläubigkeit abgerungen (486).

Ein Bewusstsein von der göttlichen Abstammung Jesu hatte sich offensichtlich selbst im engsten Jüngerkreis nur zögernd durchzusetzen vermocht. Beide, die apostolischen und die john Christen sagen, Jesus ist der Sohn Gottes. Die john Christen sind freilich zu einem Verständnis gelangt, das bedeutet: Jesus ist schon immer an der Seite des Vaters (1,18), nicht zu dieser Welt gehörig (17,14), sondern zur himmlischen Welt dort oben (3,13.31). Vom Mt-Ev haben wir Kenntnis von Christen des späten 1.Jh.s, die Jesus aufgrund von Empfängnis ohne menschlichen Vater als Sohn Gottes anerkannten. In deren Christologie wird kein Hinweis auf Präexistenz gemacht. Sie kennen einen Jesus als König, Herrn und Retter vom Moment seiner Geburt in Bethlehem an, aber nicht einen Jesus, der sagt: “Bevor Abraham war, bin ich“ (486f).

e. Jesu Herrlichkeit in aller Niedrigkeit

Bei all dem, was zwischen 'den Juden' und dem john Jesus umstritten war, seine Menschlichkeit war es nie. Jesu glanzlose Herkunft und sein schmähliches Ende werden nicht verschwiegen, obwohl die Gemeinde im missionarischen Disput dadurch in die Defensive geraten musste. Jesus ist unzweideutig der Sohn Josefs und Marias. Er hat nicht studiert. Er war vor seinem öffentlichen Auftritt nicht apokalyptisch im Irgendwo verborgen, sondern stammt aus Galiläa. Er war kein Davide, was den Glauben an seine Messianität erschwert. Er wurde aus dem engsten Jüngerkreis schmählich verraten. Signale der menschlichen Niedrigkeit gibt es genug (488f).

Die Erkenntnis der Herrlichkeit trotz und in aller Niedrigkeit ist das Sinnziel der john Christologie. Der Blick des Glaubens richtet sich nicht auf das Kreuz, sondern auf die eigentliche Erhöhung, Jesu Heimkehr in den Himmel (489).

Der Gottessohn ist im Joh-Ev kein anderer als Jesus von Nazareth, der Verherrlichte ist der Fleischgewordene und Gekreuzigte. Inkarnation und Kreuz sind Zeichen der Hingabe und Liebe Gottes für die Menschen. Das ist die Paradoxie, dass die doxa nirgends anders zu sehen ist als in der sarx (490).

f. Der Prolog: Menschwerdung des Logos

Der Verfasser benutzt ein älteres jüdisches Logos-Lied, das vom präexistenten Logos wie von der Weisheit zu sprechen scheint und so in den Strom des hellenistisch-jüdischen Weisheitsmythos hineingehört. Gut jüdisch war in diesem Lied von nichts anderem als von Gott selbst in seiner Offenbarung (Logos) und seiner Schöpfung (alles ist durch ihn geworden) die Rede. Auch der christliche Prologautor ändert daran nichts. Am Anfang (1,1-9) ist nur vom Logos asarkos die Rede. Erst 1,14 macht unmissverständlich christlich klar: “Das Wort ist Fleisch geworden“ und identifiziert so den Logos asarkos mit einem konkreten Menschen, dessen Name erst in 1,17 fällt: Jesus Christus (492).

In diesem jüdischen Logos-Lied werden zwei Urerfahrungen des Menschen zum Ausdruck gebracht: (1) Die Welt ist ein Produkt der Weisheit Gottes und diese Weisheit ist in Gestalt der Tora von Gott zu den Menschen gesandt worden. (2) Die Menschen haben die göttliche Weisheit abgelehnt, die Zerstörung des Tempels war die Folge. Auch Jesus, der Gesandte Gottes, war abgelehnt, ja gekreuzigt worden. Jesu Schicksal war wie das Schicksal der Weisheit, wie das Geschick des Logos selbst. Jesus ist die Weisheit Gottes in menschlicher Gestalt. Die Offenbarungs- und Schöpfungsaussagen bereiten die christliche Inkarnationsaussage vor. Der Logos des Prologs wird Jesus. Jesus ist der fleischgewordene Logos, aber nicht der Logos als solcher. Von einer Präexistenz des Menschen Jesus kann hier keine Rede sein. Dem Joh-Ev geht es nicht um ein spekulatives Verhältnis von Theos und Logos. Sein christologischer Schwerpunkt liegt bei der Menschwerdung des Logos (492f).

g. Der Gesandte – kein präexistentes Himmelswesen

Johannes dürfte ein Stück entmythologisiert haben, indem er nur den Logos, nicht aber den Sohn als Schöpfungsmittler tätig sein ließ. Die Schöpfungsmittlerschaft ist eine Bekenntnisaussage. Die frühen Gebete, Hymnen und ähnliche Formulierungen des NT sprechen häufig vom präexistenten Christus (494).

Das Grundthema john Christologie ist nicht die Präexistenz für sich, sondern die Sendung des Sohnes Gottes durch Gott zum Heil der Menschen. Nicht der überweltlich präexistente Zustand Christi interessiert, sondern die Initiative Gottes im Akt der Sendung dieses Sohnes. Nicht die Protologie als Raum von Spekulation und Mythologie ist wichtig, sondern die Soteriologie als Bewegungsdynamik Gottes zugunsten der Befreiung hier auf Erden. Es geht bei Johannes nicht um die Epiphanie eines Gottwesens, sondern um die Inkarnation des Wortes Gottes selbst. Nicht um die mirakulöse Gestaltwerdung eines göttlichen Wesens geht es, sondern um das Offenbarwerden Gottes in einem geschichtlichen Menschen, nicht um den apokalyptisch-visionär ausgemalten Weg des Abstiegs und Aufstiegs, sondern um die Beschreibung dessen, was einzig wirklich beschrieben werden kann: es geht um den geschichtlichen Offenbarungsweg des Inkarnierten, dessen Ende das Kreuz, die äußerste Niedrigkeitsform ist, die aber zugleich die irdisch höchstmögliche Erhöhungsform bei Johannes bedeutet. Weder die Präexistenz wird geschildert (keine Himmelsgespräche des Sohnes mit dem Vater vor seiner Inkarnation), noch der Vorgang der Inkarnation (es gibt keine Jungfrauengeburt). Geschildert wird nur, was sich nach der Inkarnation ereignet, das Auftreten Jesu in der Welt. Präexistenz und Inkarnation bilden die Folie dieser Schilderung: sie bezeichnen das unanschauliche Woher (495).

Johannes hat ebensowenig wie Paulus eine isolierte Präexistenzchristologie, sondern eine Sendungs- und Offenbarungschristologie, in der die Präexistenzaussage die Funktion hat, die Herkunft des Offenbarers Jesus aus Gott und die Einheit Jesu mit Gott zu unterstreichen. Der Wunsch, die Heilsmacht des christlichen Erlösers zu begründen, führt zu einer stärkeren Hervorhebung seiner Präexistenz, so dass nun sein Weg deutlicher 'oben' beginnt und sich dorthin wieder zurückwendet. Die Präexistenzaussagen haben dem Offenbarungsgedanken gegenüber eine dienende Funktion. Die Präexistenz Christi ist im Joh-Ev um der Sendung und Offenbarung willen wichtig, nicht umgekehrt (495f).

h. Das Problem des Erzählers Johannes

Johannes erzählt zwei Generationen nach Jesu Tod die Geschichte Jesu. Die Autorität Jesu selber soll für den neuen Glauben des Evangelisten in Anspruch genommen werden: Zu diesem Zweck wird die Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Judenchristentum in die Zeit Jesu zurückprojiziert. Die Einwände des Judenchristentums gegen den neuen Glauben erscheinen im Munde der ungläubigen Juden z.Zt. Jesu, die Begründung und Apologie des neuen Glaubens hingegen erscheint als Verkündigung Jesu selbst, der sagt, was Gott ihm aufgetragen hat. Der Ursprung der johanneischen Christologie ist nicht die Präexistenz, sondern die Ostererfahrung des pneumatischen Christus präsens (497f).

Das Joh-Ev zeigt, in welche Probleme man als Erzähler gerät, wenn man mit dem Problem der paradoxen Gleichzeitigkeit konfrontiert wird: Der, von dem hier erzählt werden soll, ist ganz menschlich und doch mehr als menschlich; ist wie ein Mensch begrenzt und doch wie Gott vorauswissend; ist geschichtlich Opfer und doch metageschichtlich wie ein Sieger; ist ganz irdische Niedrigkeit und doch auch ganz göttliche Hoheit (499f).

i. Jesus gleich Gott?

Johannes schildert nicht objektiv, sondern - im Lichte des Christus präsens, im “Geist der Wahrheit“ (16,13) - sein und seiner Gemeinde Bekenntnis zu diesem Jesus. Seine Grundüberzeugung ist, dass Jesus und kein anderer der Offenbarer Gottes ist. Von einer Selbstvergottung Jesu kann vom Text her keine Rede sein. Jesus hat sich nicht als 'Gott' verkündet. Er ist nach Ostern 'im Geist' von der Gemeinde als Wort Gottes in Person verstanden worden. Dieser Anspruch der john Gemeinde muss genügt haben, um von der traditionellen jüdischen Umwelt als Blasphemie empfunden zu werden. Rückprojiziert erscheint er jetzt als moralischer Vorwurf an die Adresse Jesu selber. Johannes berichtet von dem Vorwurf, dass traditionelle jüdische Kreise die john Christologie als blasphemisch empfunden haben (500).

Die Jünger Jesu behaupten nicht, Jesus sei Gott, auch sie haben ihren Helden nicht vergottet. Nirgendwo erscheint der john Christus als zweiter Gott neben Gott. Der Gott (ho theos) ist auch im Joh-Ev ganz selbstverständlich der Vater. Der Sohn ist sein Gesandter, sein Offenbarer: “der Vater ist größer als ich“ (14,28). In diesem Sinne muss auch das Thomas-Bekenntnis “Mein Herr und mein Gott“ (20,28) verstanden werden, das sich auf den Auferstandenen bezieht und die Geistsendung (20,22) voraussetzt. Sachlich bedeutet dies eine Bestätigung dessen, was im Prolog eingeleitet und was auch 1Joh 5,20 abschließend zum Ausdruck bringt, dass Gott in der Gestalt Jesu sichtbar geworden ist, dass Jesus transparent ist für den Vater als seinen Offenbarer. Die Durchgängigkeit solch niedriger christologischer Aussagen bei Johannes zeigt, dass die john Gemeinde aus Jesus keinen Gott-Rivalen gemacht hat (500f).

W. Thüsing: Die Begründung “denn der Vater ist größer als ich“ muss in dem Sinn interpretiert werden, in dem das Verhältnis von Vater und Sohn sonst im Evangelium dargestellt ist: Der Vater ist dem Sohn gegenüber immer der Gebende, derjenige, der die Initiative hat, der den Auftrag erteilt. Der Sohn hört und empfängt immer vom Vater, er erfüllt den Willen des Vaters, er führt das aus, was der Vater begonnen hat, aber nicht umgekehrt. Auch sonst im NT drückt 'größer sein' ein Verhältnis der Über- und Unterordnung aus (W. Thüsing 210).

5.2 Glauben an Jesus – ein Verstoß gegen das zweite Gebot?

T. Kriener

a. Einleitung

Die polemischen Passagen im Joh-Ev sind untrennbar mit seiner Christologie verbunden. Weil Jesus “der Weg, die Wahrheit und das Leben“ genannt wird und weil “niemand zum Vater kommt denn durch mich“ (14,6) – darum kommt es zur Auseinandersetzung mit denen, die diesen Anspruch bestreiten (2).

Das Joh-Ev hat wie keine andere Schrift des ntl Kanons (den Röm ausgenommen) die christliche Dogmenbildung und Frömmigkeitsgeschichte beeinflusst. Weder das trinitarische noch das christologische Dogma der Alten Kirche sind vorstellbar ohne die gedankliche Grundlage der john Präexistenz- und Identitätsaussagen (2).

Einerseits schlagen sich im Joh-Ev die Spuren eines realen Konfliktes zwischen der john Gemeinde und dem sich konsolidierenden rabbinischen Judentum nieder. Dieser Konflikt hatte für die jüdisch-geborenen Christen zur Folge, dass sie sich gegen ihren Willen und entgegen ihrem Selbstverständnis außerhalb der Synagoge wiederfanden. Die john Polemik gegen 'die Juden' ist zu verstehen als Reaktion auf diese Ausgrenzung. Diejenigen, die sich zur Synagoge halten und im Sinne des entstehenden normativen Judentums als Juden gelten, werden im Joh-Ev als “Söhne des Teufels“ geschmäht (4).

Andererseits erweist sich der Konflikt als der Ausdruck einer großen Nähe der john Gemeinde zum entstehenden normativen Judentum. Es handelt sich um einen jüdisch-judenchristlichen Konflikt. Die Schärfe der Polemik beruht darauf, dass das Joh-Ev sich an eine Leserschaft wendet, die sich zu einem erheblichen Teil dem Konfliktgegner noch eng verbunden weiß. Diese Verbundenheit scheint so eng gewesen zu sein, dass sich für nicht wenige Mitglieder der john Gemeinde die Frage stellen konnte, ob die Verbundenheit mit der Synagoge nicht schwerer wiege als die Verbundenheit mit dem von ihnen als Herrn bekannten Messias Jesus, so dass sie von diesem Herrn und seiner Gemeinde abzufallen vermochten, um die Verbindung zu den anderen Juden wiederherzustellen. Demgegenüber war es das Anliegen des Evangelisten, unsicher Gewordene zum Bleiben beim Herrn Jesus zu bewegen (4).

Das Joh-Ev unternimmt den Versuch, die Alternative von Jesusbekenntnis und Treue zu den Ursprüngen der judenchristlichen Gemeindeglieder als Scheinalternative zu erweisen, indem es das Bekenntnis zu Jesus als Bekenntnis zum Glauben Israels an den einen Gott ausweist. Das Joh-Ev hat sich in diesem Bemühen mit jüdischen Argumenten auseinanderzusetzen, die es evident machen sollten, dass Jesus nicht der Messias oder eine andere Heilsgestalt der jüdischen Enderwartung sein kann. Solche Argumente können ein Motiv für die Rückwendung zum Synagogenverband abgegeben haben – neben der primären Motivation, die aus der Situation sozialer Bedrängnis entstand, die sich mit dem Abgeschnittensein von allen sozialen Bezügen, auch dem Verlust der Schutzfunktion der religio licita gegenüber den römischen Behörden einstellte. Vor allem aber treffen solche Argumente den Nerv jedes judenchristlichen Bekenntnisses zu Jesus, insofern sie nun nicht mehr die Rückwendung von der Gemeinde der Jesusbekenner zum Judentum als Abfall, sondern das Bekenntnis zu Jesus als Abfall vom jüdischen Bekenntnis erscheinen lassen. Eine solche Argumentation konnte den Abtrünnigen das Verlassen der Gemeinde erleichtern, indem sie ihnen ermöglichte, ihre Entscheidung als Aufgabe einer vorübergehenden Verwirrung zu verstehen, die sich nun durch Einsicht in die Wahrheit geklärt hatte (5).

Die Überlebensfähigkeit der Gemeinde wird sich an ihrer Fähigkeit entschieden haben, ihren Gliedern Lebensperspektiven eröffnen zu können, die die Nachteile des Ausschlusses aus dem Sozialverband des jüdischen Volkes aufwiegen konnten. Jedenfalls ist es für den Verfasser des Joh-Ev, der selber jüdischer Herkunft war, äußerst wichtig gewesen, die Übereinstimmung seines Evangeliums mit dem überlieferten Bekenntnis behaupten zu können (5f).

b. Das Problem: johanneische Christologie und jüdischer Monotheismus

Mein Herr und mein Gott“ (20,28)! Wie Juden auf das so formulierte Bekenntnis der Gemeinde zu Jesus reagiert haben, zeigt 10,33: “Es antworteten ihm (Jesus) die Juden: Wegen eines guten Werkes steinigen wir dich nicht, sondern wegen Blasphemie und weil du, der du ein Mensch bist, dich selbst zu Gott machst“. Während der Vorwurf der Blasphemie in allen Evangelien erhoben wird, wird der Vorwurf, sich als Mensch Gott gleich zu machen, nur im Joh-Ev erhoben (8).

Form- und traditionsgeschichtliche Überlegungen machen es wahrscheinlich, dass das Messiasbekenntnis Jesu vor dem Synhedrin als Gemeindebekenntnis nachträglich in die Passionsgeschichte eingefügt wurde, d.h. dass der Blasphemie-Vorwurf in der Darstellung der Synoptiker vom Prozess Jesu keinen historischen Hintergrund in den Vorgängen um Jesu Hinrichtung hat. Der Vorwurf der Blasphemie spielt im Joh-Ev außer in 10,33 keine Rolle, während der Vorwurf, dass Jesus sich selbst Gott gleich mache, noch einmal in 5,18 vorkommt. Das deutet darauf hin, dass der Vorwurf des Sich-zu-Gott-Machens für das Joh-Ev den Blasphemie-Vorwurf konkretisiert. Die john Gemeinde sah sich von seiten ihrer jüdischen Gegner dem Vorwurf ausgesetzt, in ihrem Bekenntnis Jesus “Gott gleich zu setzen“ (8f).

In den jüdischen Texten der vorrabbinischen Epoche findet sich keine antichristologische Polemik, weil die Ausbildung der Christologie bis hin zur Identifikation Jesus mit Gott zeitlich zusammenfällt mit dem Verschwinden der nicht rabbinischen jüdischen Strömungen nach dem jüdischen Krieg 66-70 n.Chr. (11).

Auf die entschiedene Ablehnung der Rabbinen stoßen vor allem zwei christologische Aussagen: die über die göttliche Natur Jesu (Zweinaturenlehre), denn Gott ist kein Mensch und die über die Offenbarung Gottes in Jesus (Trinitätslehre), denn Gott ist einzig. Er hat keinen Vorfahren, keinen Nachfolger und keinen Nachkommen. Wer in solchen Termini über Gott redet, verlässt die Basis der jüdischen Treue und Einzigkeit des Gottes Israels (24).

Die Erhebung eines Menschen zu einem weiteren Gott stellt für jüdisches Verständnis die absolute Gegenposition zur eigenen zentralen Grundüberzeugung von der Einheit und Einzigkeit Gottes dar (24).

Das Joh-Ev hat nicht nur die christologische Lehrbildung entscheidend befruchtet, sondern es ist auch der entscheidende Anstoß für die rabbinische antichristologische Polemik gewesen (25).

c. Joh 9-10: Auseinandersetzung mit dem Vorwurf des Götzendienstes

Aufgrund des Entschlusses 'der Juden', die gläubig gewordenen Juden aus der Synagogengemeinschaft auszuschließen – wäre für einen Gläubiggewordenen konsequenterweise der nächste Schritt, zum 'Jünger Jesu' zu werden, der bereit ist, sein Judesein aufzugeben. Ist er dazu nicht bereit, dann geht das nicht anders, als dass er sich dem Beschluss 'der Juden' unterwirft und vom 'Glauben' wieder abfällt. Dieses Dilemma, das nach Sicht des Evangelisten auf einem Beschluss 'der Juden' beruht, wird in 8,30-59 theologisch gedeutet (Anm. 239).

Jüdische Mitglieder der john Gemeinde, die immer noch meinen, ihre Zugehörigkeit zu beiden Gruppen ließe sich miteinander vereinbaren, geraten durch den christologischen Anspruch Jesu in ein unlösbares Dilemma. “Wenn ihr in meinem Wort bleibt“ (8,31) würde ankündigen, dass es Juden angesichts dieser Worte schwerfallen wird, zu bleiben (119, Anm.239).

Über die Gründe dafür, dass dieses Dilemma nicht auflöslich ist, gibt Kap. 9 Auskunft. Der Evangelist meint nicht, dass die Christologie der Gemeinde das Dilemma verursacht, sondern der Ausschluss der gläubig gewordenen Juden durch die Rabbinen. Der Unvereinbarkeitsbeschluss besteht für den Evangelisten nur in einer Richtung: Zum Glauben-Gekommensein ist nicht unvereinbar mit Judesein! (Anm. 239).

Im gesamten Kp 8 geht es um die Vaterschaft. 'Die Juden' sagen: “Wir sind nicht unehelich geboren; wir haben einen Vater: Gott“ (8,41) (119).

Der Polytheismus 'der Juden' besteht nach dem Vorwurf des john Jesus darin, dass sie “des Teufels sind“ (8,44), weil sie “die Begier eures Vaters tun“ wollen. Das ist identisch damit, dass sie das zu tun versuchen, “was Abraham nicht tat“ (8,40): Jesus töten, d.h. nichts anderes, als den Repräsentanten Gottes aus dem Weg schaffen, womit Gott entmachtet und der Andere, der Diabolos, ermächtigt wird. Der Vorwurf lautet, dass 'die Juden' in ihrem Verhalten Jesus gegenüber einen praktischen Dualismus an den Tag legen, mit dem sie ihren theoretischen Monotheismus desavouieren (120).

Was für die Jesus-Bekenner “den Vater fürchten“ (8,49) ist, ist in den Augen 'der Juden' 'samaritanisch' und 'dämonisch' (8,48). Stein des Anstoßes ist der Vollmachtsanspruch des john Jesus, Leben zu spenden (8,51). 'Die Juden' vergleichen den Menschen Jesus mit dem Menschen Abraham, sprechen ihm also diese Fähigkeit als eine Gott vorbehaltene ab und verstehen seinen Anspruch darum als Überheblichkeit: “Zu was machst du dich selbst“ (8,53)? - als blasphemischen Anspruch. Der john Jesus widerspricht dem Vorwurf der Selbsterhöhung. Sein Anspruch dient nicht der eigenen Ehre (8,50.54), sondern besteht in der Funktion, die ihm vom 'Vater' (8,54) übertragen wurde. Als der Beauftragte des Vaters war er schon, “bevor Abraham geboren wurde“ (8,58), nämlich wie im Prolog ausgeführt, das Wort Gottes, das von Anbeginn bei Gott war, durch das Gott alles Leben geschaffen hat. Zur Debatte steht: Entweder begegnet in Jesus Gott selber, und wer sich zu Jesus nicht bekennt, zeigt, dass er Gott verkennt, oder Jesus ist ein dämonischer Scharlatan, und die sich zu ihm als Täter von Gottestaten bekennen, verehren einen Abgott (120f).

Der Gegensatz ist nicht überbrückbar und gipfelt in dem Versuch der Lynchjustiz (8,59).

(1) Joh 9: Wie ein Jude zum Jesus-Bekenner wird und was er dafür in Kauf nehmen muss. Eine paradigmatische Geschichte

(1) “Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. (2) Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist“? Es geht um mehr als diese konkrete Krankenheilung; es geht um die Frage des Götzendienstes, mithin um die Treue zum Gott der Väter.

(3) “Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm“. Die Frage nach der Sünde beantwortet Jesus negativ, weil die Blindheit gegenüber Gott nur durch Gott selbst aufgehoben werden kann. Diese Gottestat wird sich jetzt ereignen (122f).

(4) “Wir müssen die Werke dessen, der mich gesandt hat, wirken, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“. Jesus tut diese Werke Gottes.

(5) “Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt“. Nur wenn Jesus da ist, können diese Werke getan werden. Verlässt er die Welt, ist auch das Licht wieder aus der Welt. Bevor er in die Welt kam, war kein Licht in der Welt. Solange Jesus nicht in der Welt war, konnte der Blindgeborene nicht sehen. Ohne die Erleuchtung durch Jesus ist die Welt – einschließlich der Juden – blind für Gott (123).

(6) “Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder“. Die Ingredienzien der Verkündigung von Jesus, die zur Gotteserkenntnis führt und durch die die Gemeinde gesammelt und konstituiert wird, sind die Traditionen der jüdischen Väter und Mütter im Glauben an den einen Gott (123f).

(8) “Die Nachbarn und die, die ihn früher als Bettler gesehen hatten, sprachen: Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte“? Die Heilung wird zweimal erzählt: für das 'einfache Volk' und anschließend für die jüdischen Autoritäten (124).

(9) “Einige sprachen: Er ist's; andere: Nein, aber er ist ihm ähnlich. Er selbst aber sprach: Ich bin's“. Für die Feststellung der Identität reicht gegenüber den Nachbarn die Aussage des Befragten (125).

(10) “Da fragten sie ihn: Wie sind deine Augen aufgetan worden? (11) Er antwortete: Der Mensch, der Jesus heißt, machte einen Brei und strich ihn auf meine Augen und sprach: Geh zum Teich Siloah und wasche dich! Ich ging hin und wusch mich und wurde sehend. (12) Da fragten sie ihn: Wo ist er? Er antwortete: ich weiß es nicht. (13) Da führten sie ihn, der vorher blind gewesen war, zu den Pharisäern“. Die Pharisäer sind im Joh-Ev 'die Repräsentanten des Judentums', die als Behörde dargestellt werden und obrigkeitliche Funktionen ausüben.

(14) “Es war aber Sabbat an dem Tag, als Jesus den Brei machte und seine Augen öffnete“. So interessiert sie an dem Wundertäter sein mögen: Die Übertretung der Sabbathalacha erfordert zumindest eine amtliche Klärung. D.h. in erster Linie hat nicht die Christologie zwischen john Gemeinde und Judentum trennend gewirkt, sondern trennend wirkt vor allem, dass die Gemeinde sich in einer lebenspraktischen Frage, in einem der die Juden unterscheidenden Merkmal anders verhält. Das entfremdet sie auch den einfachen Leuten, die der Botschaft von dem gekommenen Erlöser gegenüber aufgeschlossen sind (125).

(15) “Da fragten ihn auch die Pharisäer, wie er sehend geworden wäre. Er aber sprach zu ihnen: Einen Brei legte er mir auf die Augen, und ich wusch mich und bin sehend. (16) Da sprachen einige der Pharisäer: Dieser Mensch ist nicht von Gott, weil er den Sabbat nicht hält. Andere aber sprachen: Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun? Und es entstand Zwietracht unter ihnen“. Das ist das Dilemma, in dem die Verkündigung der john Gemeinde sich befindet: Ihre Botschaft von dem Gesandten, der die Taten Gottes getan hat, stößt bei Juden auf den Einwand, dass jemand, der seine Nachfolger zum Übertreten der Halacha anhält, mit Gott, der den Sabbat angeordnet hat, nichts zu tun haben kann. Andererseits ist dieses Zeichen, die Heilung eines Blinden als ein exklusiv göttliches Werk nicht einem Sünder zuzuschreiben (126).

(17) “Da sprachen sie wieder zu dem Blinden: Was sagst du von ihm, dass er deine Augen aufgetan hat? Er aber sprach: Er ist ein Prophet“. Die 'Behörde' befragt den Sehendgewordenen nach seinem Bekenntnis. Der Zusammenhang von Prophetenbekenntnis, Halachaübertretung und Wunder erinnert an Dtn 13,1-6. Dort wird vor einem Propheten gewarnt, der Wunder tut und in diesem Zusammenhang dazu auffordert, anderen Göttern zu folgen. Das ist eine von Gott selbst gestellte Probe, “ob ihr ihn von ganzem Herzen und von ganzer Seele liebt. Dem Herrn, eurem Gott, sollt ihr folgen und seine Gebote sollt ihr halten... Jener Prophet aber soll getötet werden, denn er hat gegen den Herrn, deinen Gott, Abfall gepredigt, um dich abzubringen von dem Weg, den zu wandeln der Herr, dein Gott, dir geboten hat“. Das Bekenntnis zu Jesus als Prophet löst also keineswegs die Fragen, sondern wirft neue auf. Das Verhör wird dadurch nicht beendet, sondern das Misstrauen der Pharisäer erst recht geweckt. Vor allem ist die Frage nach der Vereinbarkeit von Bekenntnis zu Jesus und zweitem Gebot weiter akut (126f).

(18) “Nun glaubten die Juden nicht von ihm, dass er blind gewesen und sehend geworden war, bis sie die Eltern dessen riefen, der sehend geworden war. (19) Und sie fragten und sprachen: Ist das euer Sohn, von dem ihr sagt, er sei blind geboren? Wieso ist er nun sehend“? Wie konnte es dazu kommen, dass Kinder von jüdischen Eltern behaupteten, in ihrem Bekenntnis zu Jesus überhaupt erst zur Erkenntnis des Gottes Israels gekommen zu sein (127)?

(20) “Seine Eltern antworteten ihnen und sprachen: Wir wissen, dass dieser unser Sohn ist und dass er blind geboren ist und wer ihm seine Augen aufgetan hat, wissen wir auch nicht. (21) Aber wieso er nun sehend ist, wissen wir nicht. Fragt ihn, er ist alt genug; lasst ihn für sich selbst reden“. Das Dilemma, wie das Phänomen der Christen zu beurteilen sei, die einen als Täter der Taten Gottes bekennen, ohne die Halacha Gottes zu halten, bleibt bestehen. In der Aussage der Eltern spiegelt sich, auf welches Unverständnis und welche Hilflosigkeit es bei den Familien traf, wenn eine/r sich der christlichen Gemeinde anschloss. Und es zeigt sich, dass das Bekenntnis zu Jesus die Entfremdung von der Familie mit sich bringt (128).

(22) “Das sagten seine Eltern, denn sie fürchteten sich vor den Juden. Denn die Juden hatten sich schon geeinigt: wenn jemand ihn als den Christus bekenne, der solle aus der Synagoge ausgestoßen werden“. In diesem Vers manifestiert sich deutlich die gegenwärtige Erfahrung der john Gemeinde: eine Atmosphäre der Angst vor jüdischen Behörden, weil das Bekenntnis zu Jesus als Messias den Ausschluss aus der jüdischen Gemeinschaft zur Folgen hat (128).

(23) “Darum sprachen seine Eltern: Er ist alt genug, fragt ihn selbst. (24) Da riefen sie noch einmal den Menschen, der blind gewesen war und sprachen zu ihm: Gib Gott die Ehre! Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist“. Für das Verständnis der jüdischen Kontrahenten der john Gemeinde gehört zum Bekenntnis zu Gott die Distanzierung von Jesus, der sündigt bzw. zum Sündigen anhält – abzulesen an der Verletzung der Sabbat-Halacha durch die christliche Gemeinde.

Im Joh-Ev wird verschiedentlich unterstrichen, dass Jesus für sich keine Ehre gesucht habe (5,41; 7,18; 8,50.54), sondern einzig die Ehre dessen, der ihn gesandt hat (7,18; 17,5.22.24). Umgekehrt wird 'den Juden' vorgeworfen, dass sie voneinander Ehre annehmen (5,44), bzw. 'den Oberen', dass sie die Ehre bei den Menschen mehr lieben als die Ehre bei Gott (12,43). Die jüdische 'Behörde' verdächtigt die Jesus-Anhänger, Gott nicht zu verehren. Das Joh-Ev wirft 'den Juden' dasselbe vor (128f).

(25) “Er antwortete: Ist er ein Sünder? Das weiß ich nicht. Eins aber weiß ich: dass ich blind war und nun bin ich sehend“. Relevant ist allein, dass durch Jesus Gotteserkenntnis ermöglicht und erlangt wird. Relativiert ist demgegenüber die Herkunft aus dem Judentum oder die Verpflichtung auf die rabbinische Halacha. Z.B. können Samariter ebenso Gotteserkenntnis erlangen, ohne dass sie zu halachisch zweifelsfreien Juden konvertieren müssen (129).

(26) “Da fragten sie ihn: Was hat er mit dir getan? Wie hat er deine Augen aufgetan? (27) Er antwortete ihnen: Ich habe es euch schon gesagt, und ihr habt's nicht gehört! Was wollt ihr's abermals hören? Wollt auch ihr seine Jünger werden“? Gottestat und Sabbatübertretung passen nicht zusammen. Der Konflikt und die eingetretene Entfremdung waren längst so weit fortgeschritten, dass eine Hoffnung auf Überzeugen der jüdischen Seite aussichtslos erschien.

(28) “Da schmähten sie ihn und sprachen: Du bist sein Jünger; wir aber sind Moses Jünger“. Die Schmähung besteht in der Bezeichnung als Jünger Jesu. Einzig an dieser Stelle im Joh-Ev wird Mose als Alternative zu Jesus benannt. Für die jüdischen Autoritäten existiert demnach eine Alternative von Jesus-Anhängern und Mose-Gefolgschaft. Wer dem einen gehorsam ist, setzt sich in Gegensatz zum anderen. Diese Auffassung wird daher kommen, dass die christliche Gemeinde in ihrer Gesamtheit als Gemeinschaft von Juden, Samaritern und Heiden die Tora nicht gehalten hat. Von daher sind Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft und Zugehörigkeit zur Gemeinschaft Jesu Christi unvereinbar (129f).

Der john Jesus behaftet seine Diskussionsgegner bei Mose (5,45; 7,19.22f). Das Auftreten Jesu stellt keine Konkurrenz zu Mose dar. Vielmehr steht es im Einklang mit dem, was Mose und die Propheten geschrieben haben (1,45) (Anm. 264).

(29) “Wir wissen, dass Gott mit Mose geredet hat. Woher aber dieser ist, wissen wir nicht. (30) Der Mensch antwortete und sprach zu ihnen. Das ist verwunderlich, dass ihr nicht wisst, woher er ist, und er hat meine Augen aufgetan“. Die Gottestat erweist den Täter als Gottes 'Genossen'. Eigentlich sollte, wer Jünger des Mose ist, das erkennen können. Dass 'die Juden' das nicht tun, ist verwunderlich.

(31) “Wir wissen, dass Gott die Sünder nicht erhört, sondern den der gottesfürchtig ist und seinen Willen tut, den erhört er“. Dieses Wissen ist dem Sehendgewordenen, 'den Juden' der christlichen Gemeinde und der jüdischen Gemeinschaft gemeinsam, weil es in beider Bibel steht: (Gott an das sündige Israel): “Auch wenn ihr viele Gebete macht, höre ich nicht. Eure Hände sind voll Blut. Wascht euch! Reinigt euch! Entfernt das Böse von euch“ (Jes 1,15f). “Hätte ich in meinem Herzen Unrecht ersehen, hätte mein Herr nicht gehört. Doch Gott hat gehört, er hat auf die Stimme meines Gebetes geachtet“ (Ps 66,18f)! “Er tut den Willen derer, die ihn fürchten. Er hört ihr Schreien und hilft ihnen“ (Ps145,19). “Das Gebet der Gerechten erhört er“ (Spr 15,29).

(32) “Von Anbeginn der Welt an hat man nicht gehört, dass jemand einem Blindgeborenen die Augen aufgetan habe. (33) Wäre dieser nicht von Gott, er könnte nichts tun. (34) Sie antworteten und sprachen zu ihm: Du bist ganz in Sünden geboren und lehrst uns? Uns sie stießen ihn hinaus“. Das Verhalten 'der Juden' wird als reine Willkür hingestellt. Das Argument mit dem aus der Schrift Bekannten ist schlagend. 'Die Juden' halten dem Argument nicht stand und weisen darauf hin, dass der Betreffende blind, also ganz in Sünden geboren wurde, dass er daher in Sachen Sünde und Nichterhörung von Sündern gar nichts zu sagen habe (130f).

Der Hinauswurf ist der praktische Vollzug des in 9,22 erwähnten Beschlusses, die Christusbekenner aus der Synagoge auszuschließen.

(35) “Es kam vor Jesus, dass sie ihn ausgestoßen hatten. Und als er ihn fand, fragte er: Glaubst du an den Menschensohn“? Die Initiative geht von Jesus aus, der die Betreffenden aufsucht und um ihr Bekenntnis nachsucht (131).

(36) “Er antwortete und sprach: Herr, wer ist's, dass ich an ihn glaube. (37) Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen und der mit dir redet, der ist's. (38) Er aber sprach: Herr, ich glaube und betete ihn an. (39) Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit die, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden“. Sehen und Blindheit sind Gerichtsfolgen. Gotteserkenntnis und Blindheit für Gott beruhen nicht auf der Entscheidung der Menschen, sondern sind Folge des Gerichtshandelns Gottes in Jesus (131f).

(40) “Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm waren und fragten ihn: Sind wir denn auch blind? (41) Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde. Weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde“. Die Sünde, die mit Blindheit verurteilt wird, ist die Behauptung, sehend zu sein, ohne an Jesus zu glauben. Solches 'Sehendsein' wird darum mit Blindheit gestraft.

In diesem letzten Abschnitt von Kap. 9 werden Blindheit und Sehenkönnen metaphorisch verwendet: Das 'Natürliche', der Zustand 'von Geburt an', ist Blindheit für Gott. 'Die Juden' sind gerade darin sündig, dass sie von sich behaupten, nicht blind zu sein, also Gott zu erkennen. Sehfähigkeit, Gotteserkenntnis, kann aber nur Jesus selbst, der bevollmächtigte Täter der Taten Gottes, verleihen. Ob jemand 'blind oder sehend' ist, erweist sich daran, ob er oder sie an Jesus als den Propheten, Menschensohn, d.h. den bevollmächtigten Gesandten Gottes, glaubt (132f).

Die Polemik des Joh-Ev gegen 'die Juden' ist ebenso grundsätzlich wie die gegen die “Teufelskinder“ (8,44). Der Konflikt wird als gegenseitige Exkommunikation erlebt: Die einen werden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, worauf die anderen mit der Bestreitung der Gottesgemeinschaft antworten (133).

(2) Joh 10: Das Misslingen eines letzten Erklärungsversuchs

(1) “Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und Räuber“. Die 'Hirtenrede' setzt die Polemik gegen die Pharisäer als die führende Gruppe des zeitgenössischen Judentums fort.

(2) “Der aber, der zur Tür hineingeht, der ist der Hirte der Schafe. (3) Dem macht der Türhüter auf und die Schafe hören seine Stimme. Und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie hinaus. (4) Und wenn er alle seine Schafe hinausgelassen hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm nach, denn sie kennen seine Stimme. (5) Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen vor ihm, denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht“. Diese Bildrede (10,6) ist ganz auf den Gegensatz zwischen Hirte und Fremdem ausgerichtet. Es geht um Besitzverhältnisse und ihre Auswirkungen: Dem Besitzer, der das Vertrauen seiner Herde hat, weil sie ihn aus dem täglichen Kontakt kennt, steht der Fremde gegenüber, der bei den Schafen Angst auslöst.

(6) “Dieses Gleichnis sagte Jesus zu ihnen. Sie verstanden aber nicht, was er ihnen damit sagte. (7) Da sprach Jesus wieder: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen“. Indem Jesus sich mit der Tür identifiziert, wird seine Rolle zunächst noch von der des Hirten unterschieden. Wenn das Joh-Ev Jesus als Tür bezeichnet, weist es ihm somit zunächst die Funktion zu, Zugang Gottes zu seiner Herde Israel zu sein (134f).

(8) “Alle, die vor mir gekommen sind, die sind Diebe und Räuber. Aber die Schafe haben ihnen nicht gehorcht“. Der Hirte hat sich bisher noch nicht blicken lassen, sondern die, die zu Israel gekommen sind, sind Diebe, weil sie nicht die Tür benutzen (10,1).

(9) “Ich bin die Tür. Wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden und wird ein- und ausgehen und Weide finden“. Das Thema ist jetzt die Tür in ihrer Schutzfunktion für die Schafe: Schafe, die die Tür finden und in die Hürde gelangen, sind vor Raubtieren sicher.

(10) “Ein Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen. Ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben. (11) Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe“. Jetzt identifiziert sich der john Jesus mit dem Hirten. Jesu Kreuzestod wird interpretiert als die Konsequenz seines Einsatzes für das Leben der ihm Anvertrauten (135f).

(12) “Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen, verlässt die Schafe und flieht - und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie -, (13) denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. (14) Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich“. Die Formulierung erinnert an Ez 34,30f, wo Israel den Herrn als seinen Gott (er)kennen wird und Gott die Isrealiten als “meine Schafe, die Schafe meiner Weide“ bezeichnet.

(15) “wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe“. Die Intimität des Verhältnisses zwischen ihm und seinem Vater, entspricht also seiner Sendung, ist auftragsgemäß. Dazu gehört die Bereitschaft, das Leben für die Seinen zu geben. Der Kreuzestod ist auftragsgemäß.

(16) “Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall. Auch sie muss ich herführen und sie werden meine Stimme hören und es wird eine Herde und ein Hirte werden“. Damit wird auf die Samariter und Heiden in der john Gemeinde angespielt und darauf, dass sich aus den Mittgliedern verschiedener Herkunft eine neue soziale Einheit bildet durch den einen 'Hirten' Jesus (136f).

(17) “Darum liebt mich mein Vater, weil ich mein Leben lasse, dass ich's wieder nehme. (18) Niemand nimmt es von mir, sondern ich selber lasse es. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wieder zu nehmen. Dies Gebot habe ich empfangen von meinem Vater“. Der Kreuzestod Jesu ereignet sich in vollem Willen Jesu. Ihm wird nicht etwa das Leben genommen, sondern er kann es geben und wieder an sich nehmen. Die Macht dazu hat er, weil er in absoluter Willenseinheit mit dem Vater agiert.

(19) “Da entstand abermals (9,16) Zwietracht unter den Juden wegen dieser Worte. (20) Viele unter ihnen sprachen: Er hat einen bösen Geist und ist von Sinnen. Was hört ihr ihm zu? (21) Andere sprachen: Das sind nicht Worte eines Besessenen. Kann denn ein böser Geist die Augen der Blinden auftun“? Das Gotteswerk des Augenöffnens ist keinem Dämon zuzutrauen. Das Dilemma ist offensichtlich. Wenn sie konsequent wären, müssten 'die Juden' / 'die Pharisäer' ebenso “an den Menschensohn glauben“, wie der Sehendgewordene (9,38). Was sie davon abhält, ist wiederum, dass ein Mensch göttliche Qualitäten für sich in Anspruch nimmt.

(22) “Es war damals das Fest der Tempelweihe (Chanukka) in Jerusalem und es war Winter (23) und Jesus ging im Tempel in der Halle Salomos umher. (24) Da umringten ihn die Juden und sprachen zu ihm: Wie lange hältst du uns im Ungewissen? Bist du der Christus, so sage es frei heraus“. In Kap. 7 wurden drei Argument zur Frage, woran der Messias zu erkennen sei, erwogen: (a) Vom Messias weiß niemand, woher er kommt, von Jesus weiß man es (7,27). (b) Die Zeichen, die den Messias ausweisen (7,31), (c) die Herkunft des Messias aus Bethlehem, Jesus dagegen kommt aus Galiläa (7,41f). Jesus gibt in diesen Erörterungen keine Auskunft, ob er der Messias ist (137f).

Der Messias wird “in Ewigkeit bleiben“ (12,34), ist die Überzeugung. Wie verträgt sich das mit Jesu Ansage seiner 'Erhöhung', d.h. seinem Aus-der Welt-Gehen (12,32)?

Anhänger Jesu bezeichnen ihn als Messias (1,41; 11,27). Das Bekenntnis zu Jesus als Messias ist Ziel des Joh-Ev (20,31). Es gilt als Kennzeichen der Mitglieder der Gemeinde, das den Ausschluss aus der Synagogengemeinschaft nach sich zieht (9,22).

Jesus bekennt sich nur ein einziges Mal dazu, der “Messias, genannt Christus“ (4,25) zu sein, nämlich gegenüber der samaritanischen Frau. Er greift damit eine spezifisch samaritische Erwartung auf (138).

(25) “Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt und ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich tue in meines Vaters Namen, die zeugen von mir“. Gemeint ist 5,36, wo Jesus in seiner Apologie der Heilung des Lahmen am Sabbat 'den Juden' gegenüber eine ähnliche Formulierung gebraucht: “Die Werke nämlich, die mir der Vater gegeben hat, damit ich sie vollende, diese Werke, die ich tue, bezeugen über mich, dass der Vater mich gesandt hat“. Ein solches Werk ist auch die Blindenheilung. Entscheidendender für die Bedeutung, die das Joh-Ev Jesus zuschreibt, als die Frage der Messianität ist, ob und wie er in Einklang mit “dem Vater“ agiert (139).

(26) “Aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen. (27) Meine Schafe hören meine Stimme und ich kenne sie und sie folgen mir“. Das greift zurück auf 10,3f: Der Hirte ruft die Schafe, die zu seiner Herde gehören. Sie kommen auf seinen Zuruf hin zu ihm gelaufen. Die Schafe, die anderen Schäfern gehören, folgen ihm natürlich nicht. Es gibt also die einen, die dazugehören und es gibt andere, die nicht dazugehören und nicht mitgenommen werden können, weil sie auf einen anderen Hirten 'gepolt' sind (139f).

(28) “Und ich gebe ihnen das ewige Leben und sie werden nimmermehr umkommen. Und niemand wird sie aus meiner Hand reißen“. Auch diese Formulierung wiederholt bereits früher Gesagtes: “...wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben...“ (5,24). “Das ist aber der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat“ (6,39) (140).

(29) “Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen“. Die Aussagen über die Machtfülle Jesu werden sofort zurückgebunden an Gott: In seiner Machtfülle ist die Macht Jesu begründet. Ohne oder gar gegen ihn, der größer ist als alle, wäre Jesus völlig unbedeutend (141).

(30) “Ich und der Vater sind eins“. Im Licht der vorangegangenen Sätze ist dies keine Aussage über die Würde Jesu, sondern eine Aussage über die vollständige Abhängigkeit seiner Würde von Gott.

(31) “Da hoben die Juden abermals Steine auf, um ihn zu steinigen. (32) Jesus sprach zu ihnen: Viele gute Werke habe ich euch erzeigt vom Vater; um welches dieser Werke willen wollt ihr mich steinigen“? Die Argumentation des john Jesus bezieht sich immer wieder auf die Werke, die er tut – ist also funktional orientiert. Damit soll die auf die Wesensidentität zielende Kritik der antichristologischen Argumentation der Rabbinen unterlaufen werden (141f).

(33) “Die Juden antworteten ihm und sprachen: Um eines guten Werkes willen steinigen wir dich nicht, sondern um der Gotteslästerung willen, denn du bist ein Mensch und machst dich selbst zu Gott“. Als konkreter Sachverhalt, der den Vorwurf der Blasphemie begründet, wird hier genannt, dass ein Mensch sich selbst zu Gott macht. Dies ist im synoptischen Material vorgebildet in dem Vorwurf, Jesus maße sich die Vollmacht zur Sündenvergebung an, die allein Gott zusteht. Derselbe Vorwurf wird Jesus bereits in 5,18 gemacht in Verbindung damit, dass Jesus Gott seinen Vater genannt hatte. Hier erfolgt die Beschuldigung der Blasphemie auf die Behauptung der Einheit Jesu mit Gott hin (10,30). Das Skandalöse liegt darin, dass Jesus “sich selbst gottgleich macht“ (142f).

(34) “Jesus antwortete ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz (Ps 82,6): Ich habe gesagt: Ihr seid Götter“? Das Joh-Ev zieht zur Verteidigung gegen den Vorwurf, die eigene Christologie sei Blasphemie, diesen Psalmvers heran, weil die Bedeutung des john Jesus auf derselben Ebene mit der Bedeutung Israels gesucht wird. Die Kategorien für das Verstehen werden in positiver Anknüpfung an Aussagen der Schrift und jüdisches Selbstverständnis gewonnen und nicht in der Entgegensetzung (143f).

(35) “Wenn er die Götter nennt, zu denen das Wort Gottes geschah - und die Schrift kann doch nicht gebrochen werden -, (36) wie sagt ihr denn zu dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: Du lästerst Gott -, weil ich sage: Ich bin Gottes Sohn“? Der Vergleichspunkt ist das Wort, das an die einen ergeht – die darum 'Götter' genannt werden -, und das Jesus in Person ist – weshalb nicht sein kann, dass es Gotteslästerung ist, wenn er 'Gott' genannt wird. Aber gilt das auch, wenn er sich selbst “Gottes Sohn“ nennt?

(37) “Tue ich nicht die Werke meines Vaters, so glaubt mir nicht“. Das Kriterium zur Beurteilung von Jesus, an dem sich entscheidet, ob er 'glaubwürdig' ist, ob also an ihn geglaubt werden kann und soll, ist sein Tun: Wenn er nicht die “Werke des Vaters“ tut, verbietet sich der Glaube an ihn. Ob Jesus geglaubt werden kann, ob also ein christologisches Bekenntnis zulässig ist, entscheidet sich daran, ob in Jesu Wirken Gottes Werke deutlich werden, ob das christologische Bekenntnis die theologische Erkenntnis befördert. Christologie, die nicht im Dienst der Erkenntnis des Vaters Jesu, der der Gott Israels ist, steht, verdient keinen Glauben (145).

Bei den Werken des Vaters ist zunächst an die Wundertaten Jesu zu denken. So lautet die Überschrift über der Heilung des Blinden (9,3f). Mit diesem Begriff wurde auch das Wunder an dem Lahmen (5,20.36) bezeichnet. Die Wunder stehen repräsentativ für das Werk Gottes (3,1; 4,34; 14,10ff; 17,4). Die Wunder Jesu im Joh-Ev sind Taten der Restitution der Schöpfung. “Die Werke“, die der Vater dem Sohn gegeben hat, sie zu vollenden (5,36), bestehen in der Vollendung oder Zurechtbringung der Schöpfung, wie sie einzig dem Logos, dem Schöpfungsmittler, übertragen werden kann.

(38) “tue ich sie aber, so glaubt doch den Werken, wenn ihr mir nicht glauben wollt, damit ihr erkennt und wisst, dass der Vater in mir ist und ich in ihm“. Damit wird die Klimax der christologischen Argumentation gegenüber der Kritik durch die Repräsentanten der jüdisch-rabbinischen Lehre im Zusammenhang der Kap. 9-10 wie überhaupt des gesamten Evangeliums erreicht (145).

Bemerkenswert ist die Bereitschaft, die Christologie, zugunsten der göttlichen 'Ökonomie' zurücktreten zu lassen. Die Erwartung ist, dass die Christologie angesichts der göttlichen Ökonomie bestätigt werden wird. Sie ist dieser völlig untergeordnet (146).

(39) “Da suchten sie abermals, ihn zu ergreifen. Aber er entging ihren Händen. (40) Dann ging er wieder fort auf die andere Seite des Jordans an den Ort, wo Johannes zuvor getauft hatte und blieb dort. (41) Und viele kamen zu ihm und sprachen: Johannes hat keine Zeichen getan, aber alles, was Johannes von diesem gesagt hat (1,15-18.26f.29-34) das ist wahr. (42) Und es glaubten dort viele an ihn“. Damit hat der Appell Jesu (10,37f) doch noch Frucht gezeitigt.

(3) Thesen zur johanneischen Christologie in Apologie gegen den Vorwurf des Götzendienstes

Das Joh-Ev sieht Jesus in der Rolle des auf die Erde gesandten Wortes Gottes. Zurückgreifend auf Vorstellungen über die Weisheit wird das Wort Gottes als Schöpfungsmittler gedacht. Es wird personifiziert. Es wurde Mensch: Jesus von Nazareth.

Indem der Prolog (1,1-18) das Joh-Ev einleitet, sollen alle Aussagen über das Verhältnis zwischen Gott und Jesus unter diesem Aspekt verstanden werden. Der Sohn ist so ununterscheidbar vom Vater, vom Sender, wie der Redende von seinem Wort (146).

Die john Christologie überschritt für jüdische Ohren die kritische Grenze erst damit, dass in ihr Jesus immer wieder für sich selbst in Anspruch nimmt, Sohn und Gesandter Gottes zu sein. (In den synoptischen Evangelien wird Jesus von anderen als Messias bekannt oder gesalbt) (147).

In der Situation, in der das sich etablierende rabbinische Judentum sich um der Integrität des jüdischen Volkes willen von 'heterodoxen' Gruppen und Strömungen trennte, konnte gegen die Christen der Vorwurf erhoben werden, gegen das 2. Gebot, das Verbot der Verehrung von Geschaffenem, zu handeln.

Die Offenheit gegenüber den Samaritern erfolgte aus dem christologischen Bekenntnis. Die mit der der Rabbiner nicht übereinstimmende Sabbat-Halacha ist auf die Praxis Jesu selber zurückzuführen. Insofern traf die rabbinische Polemik präzise den Punkt, der dafür verantwortlich war, dass Judenchristen nicht in das rabbinische Konzept von Judentum integrierbar waren.

Unter dem sozialen Druck des Ausschlusses aus der jüdischen Gemeinschaft waren die jüdisch geborenen Gemeindemitglieder beeindruckbar durch solche Polemik.

Um die Schwankenden zum 'Bleiben' zu bewegen, greift das Joh-Ev im 9. Kap. den Vorwurf des Götzendienstes auf und kehrt ihn um: Durch Jesus wird der für Gott blinde Mensch zur Erkenntnis Gottes erst befähigt (147).

Damit geht eine Präzisierung der christologischen Funktion Jesu einher: Jesus beansprucht keinerlei Ehrung oder gar Verehrung für sich, vielmehr ist sein gesamtes Reden und Tun nichts anderes als ein einziger Verweis auf Gott – wie es dem Verhältnis des Wortes zu demjenigen, der es redet, entspricht. Vertrauen auf Jesus ist nichts anderes als Vertrauen auf Gott und keineswegs Abfall vom wahren Glauben (148).

Das Joh-Ev wirft seinerseits dem rabbinischen Judentum vor, den wahren Glauben zu verkennen, 'blind' zu sein, also Götzendienst zu begehen.

d. Das Joh-Ev zwischen Christen und Juden

Die antijüdische Polemik des Joh-Ev beschränkt sich nicht auf bestimmte Stellen. Der Vorwurf der Teufelskindschaft (8,44) ist nur für unsere Ohren die anstößigste Formulierung des Vorwurfs der völligen Gottlosigkeit, die sich z.B. im Vorwurf der Blindheit (9,39ff) ebenso ausspricht. 'Den Juden' wird im Joh-Ev durchgehend die Gotteserkenntnis abgesprochen. Die theologische Delegitimierung des zeitgenössischen Judentums ist im Joh-Ev so grundsätzlich wie in keiner anderen Schrift des NT (149).

Das Joh-Ev reklamiert die biblischen Schriften als Bestätigung seines Zeugnisses. Es beharrt darauf, dass es sich bei Jesus um die Offenbarung des Gottes Israels handelt, wie er in der Bibel und der jüdischen Tradition bekannt wird.

Die Delegitimierung erfolgte aufgrund der Nähe zwischen john Gemeinde und frühen rabbinischem Judentum. Beide benutzen denselben Bestand an Schriften und teilen im Wesentlichen die Interpretation dieser Schriften. Beide behaupten von sich, mit ihrem Bekenntnis und ihrem Verhalten den einzigen, wahren Gott zu ehren und ihm zu dienen (150).

Der Zusammenhalt der Juden untereinander erforderte nach der Zerstörung des Tempels als der verbindenden Institution eine stärkere Kongruenz als zuvor. Deshalb war kein Platz mehr für Gruppierungen, die in einer für das Judentum so zentral kennzeichnenden Frage wie dem Sabbat eine eigenständige Praxis weiterführten.

Der Mangel der john Gruppen an 'Kompatibilität' wird vertieft durch die Gemeinschaft mit Samaritern. Soziologisch verläuft die Entwicklung von christlichen Gruppierungen und an der rabbinischen Halacha orientiertem Judentum in diametral entgegengesetzte Richtungen: Hier das Zusammenkommen von Juden und außerhalb des Judentums stehenden Gruppen, dort der Zusammenschluss im Zeichen der Vereinheitlichung zur Wahrung des unterscheidend Jüdischen.

Der Konflikt wird ausgetragen in der Frage der Christologie als der gruppenbildenden Kernüberzeugung, die für die abweichende Lebenspraxis ursächlich ist. Das beschränkt sich keineswegs auf das Problem, ob Jesus unerlaubterweise Göttlichkeit zugesprochen wird, sondern spielt sich bereits auf dem Feld der Frage nach seiner Messianität ab. Das entscheidende Kriterium jedoch für die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft ist die Orthopraxie, nicht die Orthodoxie (150f).

In der Christologie bekommt der jüdisch-christliche Gegensatz eine grundsätzliche Wendung. Entsprechend der speziellen Form der john Christologie, nämlich ihrer Betonung der Einheit von Vater und Sohn, von Entsender und Gesandtem, des Redenden mit seinem Wort, spitzt sich die Auseinandersetzung zu auf die Frage der Zulässigkeit der Identifikation des Menschen Jesus mit Gott (151).

Personen oder Gruppen gegenüber, die Jesus nahe stehen, wird die exklusive Orientierung auf Jesus, verbunden mit der Androhung von (göttlichem) Gericht im Falle der Nichtanerkennung der exklusiven Bedeutung Jesu, hervorgehoben. Die Funktion solcher Passagen ist es, unsicher Gewordene 'bei der Stange' zu halten. Ihnen wird die zentrale Bedeutung Jesu für die christliche Existenz eingeschärft und die Konsequenzen für den Fall eines Abfallens drastisch vor Augen gestellt (152).

Im Gegenüber zu 'den Juden' schlägt das Joh-Ev dagegen ganz andere Töne an. Es hebt hervor, dass Jesus nicht an sich Bedeutung hat, sondern einzig als Überbringer des Willens Gottes. Auch auf diese Weise wird Jesu Bedeutung unterstrichen, aber eben in apologetischer Absicht. Daher wird nicht seine exklusive Bedeutung in den Vordergrund gestellt, sondern seine Zuordnung zu und Unterordnung unter Gott.

Die john Christologie ist in einem funktionalen Sinne 'subordinatianisch', d.h. der john Jesus ordnet sich als Person, in seiner Sendung und in der Ehre, die ihm entgegengebracht werden soll, dem einen Ziel ein und unter: dass Gott die Ehre gegeben werde.

Ohne Rückbindung an das 2. Gebot läuft die Christologie Gefahr, zum Ditheismus zu mutieren. Das Zeugnis Israels von dem einen Gott ist eine für die Kirche bleibende Anfrage an die Integrität ihres hinsichtlich der Einheit (Gottes) gleichlautenden Bekenntnisses. Es ist damit Krisis einer jeden Christologie, die nicht eindeutig von der Voraussetzung der klaren Unterordnung des Sohnes Gottes unter Gott selbst entworfen und so zugleich funktional orientiert ist (152f).

Die Wahrheit ist nicht das Joh-Ev und keine Auslegung dieses Evangeliums, sondern nach Joh 14,6 Jesus allein – in seiner Funktion als Wort des einen und wahren Gottes Israels: “Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich“.

5.3 Die johanneische Christologie vor dem Anspruch des Hauptgebotes (Dtn 6,4f)

a. T. Söding

(1) Der Vorwurf der Gotteslästerung

Die Sabbatheilung des Gelähmten am Teich von Betesda wird zur Provokation: “Darum trachteten die Juden noch viel mehr danach, ihn zu töten, weil er nicht allein den Sabbat brach, sondern auch sagte, Gott sei sein Vater und machte sich selbst Gott gleich“ (5,18) (177).

Jesus beantwortet die Fragen nach seiner Messianität (10,24) mit dem Hinweis auf seine 'Werke' und folgert aus seinen Werken seine Einheit mit dem Vater (10,30). “Die Juden antworteten ihm und sprachen: Um eines guten Werkes willen steinigen wir dich nicht, sondern um der Gotteslästerung willen, denn du bist ein Mensch und machst dich selbst zu Gott“ (10,33). In der Passionsgeschichte lässt Johannes die Juden (die Hohenpriester) sagen: “Wir haben ein Gesetz und nach diesem Gesetz muss er sterben, weil er sich selbst zum Sohn Gottes gemacht hat“ (19,7) (178).

Die Vorhaltung, Jesus lästere Gott, weil er sich mit ihm auf eine Stufe stelle, steht inmitten einer Vielzahl von Einwänden. Nach der Tempelaustreibung wird ihm vorgehalten: “Welches Zeichen gibst du uns, dass du solches tun darfst“ (2,18)? Nach dem ersten 'Ich bin' (8,12) wird er gefragt: “Wer bist du“ (8,25)? Einerseits lesen die Gegner aus Jesu Worten und Taten einen ungeheuren Anspruch heraus, so dass sich die Frage nach seiner Messianität stellt (9,13-34). Andererseits ist ihres Erachtens die menschliche Geschichte Jesu ein schlagendes Argument gegen sein Auftreten: Er beansprucht, Gottes Sohn zu sein, ist aber der Sohn Josephs (6,42; 7,27; 8,19). Er beansprucht, der Messias zu sein, der in Bethlehem geboren sein muss, kommt aber aus Nazareth (7,41f.52). Die Diskrepanz zwischen Sein und Schein lässt einige seinen Größenwahn auf dämonische Besessenheit zurückführen (8,48f.52; 10,20). Das Synhedrion befürchtet eine politische Verführung des Volkes, der man zuvorkommen müsse (11,46-54) (179).

Im Zuge der Offenbarung Gottes als Vater wird aufgedeckt, dass die Menschen, auch die Kinder Israels, die Finsternis mehr lieben als das Licht (3,19), damit hervorscheinen kann, wessen “Taten in Gott vollbracht sind“ (3,21). Jesus provoziert den Widerspruch gegen seine Person und Verkündigung, weil auf diese Weise sichtbar wird, was auf dem Spiel steht und dass Jesus tatsächlich gekommen ist, “damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (10,10) (180).

Was der Evangelist auf die Situation Jesu zurückprojiziert, ist ein Bild gegenwärtiger Vorhaltungen: “Du bist ein Mensch und machst dich selbst zu Gott“ (10,33), d.h. auf das Christusbekenntnis bezogen: 'Er ist nur ein Mensch, ihr aber macht ihn zu Gott' (183).

(2) Die johanneische Antwort Jesu

Johannes ist herausgefordert, auf den jüdischen Vorwurf der Blasphemie zu antworten. Dem Evangelisten ist es weder erlaubt, die Theologie zu relativieren und das monotheistische Bekenntnis zu tangieren, noch die Christologie herabzuschrauben und damit das Christusbekenntnis zu dämpfen. Vorgegeben ist ihm sowohl das Zeugnis Israels von dem einen Gott als auch das urchristliche Zeugnis von dem einen Kyrios als dem einen Sohn des Vaters (3,16.18) (184).

An wichtigen Stellen sind Theozentrik und Christozentrik gemeinsam herausgestellt: “Euer Herz verzage nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich“ (14,1)! Der Glaube an Gott und der Glaube an Jesus Christus stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern bedingen einander: Gott handelt, wie Jesus es offenbart, “damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat“ (5,23). Gott allein die Ehre zu geben, ist das bekannte Gebot. In gleicher Weise gilt, weil Gott es will, Christus zu ehren, der offenbart, worin Gottes Wille besteht (184f).

Die Einzigkeit Gottes des Vaters

Der Anspruch des Hauptgebotes verpflichtet Christen nicht weniger als Juden. Die Einzigkeit Gottes ist d a s Kriterium der Christologie (185).

Der eine Gott als Vater Jesu Christi

Das Joh-Ev ist ein herausragendes Zeugnis ntl Theologie. Jesus selbst setzt sich mit Macht und Hingabe dafür ein, dass seine Jünger Gott 'erkennen' (14,7; 17,3; 8,19.55), Gott 'glauben' (14,1; 5,24) und Gott 'lieben' (5,42) (187).

Den einen Gott zu lieben im Sinne des Hauptgebotes umschließt nach Johannes um Gottes willen die Liebe zu Jesus. Von ihr handelt die Abschiedsrede (14,15-28), weil durch sie die Gottesliebe neu geprägt wird. Der Glaube an Gott führt um Gottes willen zum Glauben an Jesus, zu dem alle Welt geführt werden muss, weil er das Heil des ewigen Lebens vermittelt (20,30f). “Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht, der ihn gesandt hat“ (5,23). “Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat“ (12,44f). Der Glaube an Jesus zielt auf den Glauben an Gott, der Glaube an Gott umfasst den Glauben an Jesus (188).

(1) Christologie lässt sich nur treiben, wenn sie das Hauptgebot bejaht und die Einzigkeit Gottes nicht nur nicht in Frage stellt, sondern deutlicher hervorleuchten lässt.

(2) Gott ist der Eine und Einzige als Vater Jesu. Die Vaterschaft Gottes ist der Inbegriff seiner Einzigkeit. Gott will als Vater Jesu geliebt, erkannt und verehrt werden. Die Verkündigung Gottes setzt die Christologie voraus – in dem Sinne, dass Gott als der zur Sprache kommen muss, als den ihn Jesus verkündet, weil Gott der ist, als der er sich durch die Inkarnation, das Wirken, die Passion und die Auferstehung Jesu offenbart (188f).

Jesus Christus – Gottes Sohn

Auf der einen Seite steigert Johannes die christologischen Hoheitstitel bis zu der Aussage, dass Jesus Christus 'Gott' ist. Es beginnt mit dem Prädikat theos für den präexistenten Logos (1,1c). Das uranfängliche 'Wort' ist kein anderer als der präexistente Gottessohn. Er ist weder 'göttlicher Art' noch 'gottgleich'. So wenig der Logos der Gott und Vater Jesu ist, so sehr hat der Logos an seiner Gottheit teil. Er ist auf den Vater ausgerichtet und bleibt als solcher zu Gott gehörig. Er ist in allem von ihm bestimmt. Das Prädikatsnomen theos bringt beides zum Ausdruck: Die Unterscheidung zwischen Gott und dem Logos und die Partizipation des Logos am Gottsein Gottes. Der Logos ist monogenes (1,14), der eine Sohn (3,16.18) des einen Gottes und insofern theos, eins mit dem Vater (191f).

Thomas bekennt: “Mein Herr und mein Gott“ (20,28). Jesus ist für ihn und für jeden Jünger 'mein Herr' als der auferstandene Herr der Gemeinde, der die Seinen bevollmächtigt und sendet. Er ist 'mein Gott' als derjenige, der ihm und jedem Christenmenschen das Leben Gottes selbst vermittelt (5,21.26), weil er schon 'am Anfang' war und deshalb auch 'bis zum Ende' (13,1) die Liebe Gottes schenkt (192f).

Auf der anderen Seite ist der Logos “Fleisch geworden“ (1,14), ein Mensch, der sich bis zum Tod den Bedingungen geschichtlichen Daseins unterwirft: “Ecce homo“ (19,5). Der Mensch Jesus bleibt der inkarnierte Gottessohn, der Auferstandene bleibt der Gekreuzigte, der noch die Wundmale trägt (20,20.25.27; 19,37) (193f).

Beides, Jesu Partizipation am Gottsein und seine Anteilnahme am Menschsein der Menschen, bringt Johannes im Hoheitstitel Gottessohn zusammen. 'Sohn' ist Jesus als derjenige, der von Gott gesandt worden ist, um ihn als den Richter und Retter zu offenbaren (3,17) und der als Gesandter in vollkommener Weise an Gottes Vollmacht, ja an Gottes Leben teilhat (5,20f), so dass der Sohn seinerseits Richter und Retter ist (3,17). Er ist Spender des ewigen Lebens (5,21f; 11,27), das den Glauben an ihn voraussetzt (6,40), und Befreier von der Sünde, die Unglaube ist (8,36). Die Gottessohnschaft Jesu verbindet sich mit seiner Präexistenz (1,1-18), die ihn als Einzigen zum eschatologischen Offenbarer des Vaters macht (1,18) und mit seiner Menschwerdung (1,14), die es ihm erlaubt, den Menschen in der Welt Kunde von Gott zu bringen (1,18) (194f).

Als Sohn Gottes steht Jesus in dauernder, heilswirksamer Verbindung mit dem Vater. Dass er ihn fortwährend 'sieht' (5,19-23), so wie schon als Präexistenter (1,18), begründet die Autorität und Effektivität seines Wirkens. So wie er von Gott, dem Vater, geheiligt (10,36), gesandt (10,36 u.ö.), bevollmächtigt (3,35; 13,3), bezeugt (5,32.37; 8,18f) und verherrlicht (8,54) wird, so offenbart (1,18) und verherrlicht (14,13) Jesus seinerseits den Vater, zu dem er mit seinem Tod am Kreuz zurückkehrt (13,1) und an den er sich fürbittend wendet, um den Seinen den Parakleten zukommen zu lassen (14,15). Als Sohn bezeugt Jesus: “Der Vater ist größer als ich“ (14,28c). Er ist größer, weil er der Vater ist und weil er das Ziel des Weges ist, den der Sohn geht (14,28ab) und selbst ist (14,6). Als Sohn kann Jesus “nichts von sich aus tun“. Deshalb tut er alles “in gleicher Weise“, was der Vater tut (5,19). Deshalb kann er ihn nicht nur nachahmen, sondern an seinem Tun teilnehmen (195).

Getragen ist diese umfassende Anteilgabe und Anteilnahme von der Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn. Weil er der Sohn ist, wird Jesus von Gott geliebt (3,35; 5,20; 10,17; 15,9; 17,23f.26). Weil er der Vater ist, wird Gott von Jesus geliebt (14,31). Von der Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist alles Heilshandeln bestimmt. Einerseits handelt Gott als er selbst durch, in und mit Jesus, weil er ihn liebt. Andererseits ist Jesus radikal auf den 'immer größeren Gott' ausgerichtet, weil er ihn liebt (195f).

Als 'Sohn' ist Jesus einerseits derjenige, dem Gott alles gibt (3,35; 5,26), andererseits selbst derjenige, den Gott als Inbegriff seiner Liebe der Welt gibt, damit die Glaubenden gerettet werden (3,16). Der, der selbst ganz Gottes Gabe ist, ist für die Menschen der Geber ewigen Lebens. Der, der selbst alles von Gott empfangen hat, wird von den 'Seinen' als Grund ihres Lebens empfangen (1,13). Als 'Sohn' ist er einerseits ganz zu Gott gehörig, andererseits ist er vom Vater radikal unterschieden. Einerseits ist er leibhaftig Gottes Gegenwart unter den Menschen (2,13-22), andererseits ist er der Wegbereiter der Menschen zu Gott (14,6) (195f).

Der von Ewigkeit her Gottes Sohn ist, ist Mensch geworden, um die Größe und Liebe des Vaters mitten in der Welt zu bezeugen. Er gibt Gott dadurch die Ehre, dass er sich als Offenbarer des Vaters zur Sprache bringt. Das Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu ist immer zuerst ein Bekenntnis zu Gott, dem Vater (3,16). Nur unter der Voraussetzung, dass die Einzigkeit Gottes feststeht, kann Jesus der 'Retter der Welt' (4,42) sein (196).

(3) “Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30)

Johannes will dem Anspruch des Hauptgebotes dadurch gerecht werden, dass er Jesus als den menschgewordenen Gottessohn vorstellt und er will dem Anspruch des Christusbekenntnisses gerecht werden, indem er Gott als den Vater Jesu zur Sprache bringt. Wie eng beides zusammengehört, macht der christologisch-theologische Kernsatz 10,30 deutlich. Die Differenz zwischen Vater und Sohn ist die Voraussetzung der Einheit, von der die Rede ist. Es ist die Einheit des 'Wir' (14,23), in der der Vater 'größer' bleibt und der Sohn vom Vater geheiligt wird. Es ist eine Einheit des Wirkens, insofern es um die Rettung der Schafe geht, für die Jesus sein Leben hingibt (10,17), weil ihn der Vater der Welt 'gegeben hat'. Es ist eine Einheit des Wesens, insofern es die Liebe des Vaters zu seinem Sohn und des Sohnes zum Vater ist, die beide vereint und zum Heil der Welt wirken lässt. Wenn Jesus 'eins' mit dem Vater ist, handelt er nicht anstelle des Vaters, sondern “im Namen meines Vaters“ (10,25) und “aus dem Vater“ (10,32). Niemand kann einen Erwählten aus dessen Hand entreißen (10,29). Der Sohn empfängt alles aus der Hand des Vaters (3,35; 5,26). Weil Gott eins ist mit seinem Sohn, 'heiligt' und 'sendet' er ihn (10,36), so dass Jesus in der Vollmacht 'Gott wirken' kann. Die Einheit besteht darin, dass Jesus den Vater erkennt und der Vater Jesus erkennt (10,15) (erkennen = lieben). Jesus weiß als Einziger, wer Gott ist, und liebt ihn über alles. Gott weiß als Einziger, wer Jesus ist und liebt ihn über alles (197f).

Glaubt den Werken, damit ihr erkennt und wisst, dass der Vater in mir ist und ich im Vater bin“ (10,38). Die Metaphorik des wechselseitigen 'in' verweist auf die relationale Einheit zwischen Vater und Sohn und erklärt ihre soteriologische Effektivität. Der Vater ist so sehr 'in' Jesus, dass Jesus ganz 'aus dem Vater' wirken kann (10,32) und dass Gott sieht, wer Jesus anschaut (14,9). Jesus ist so sehr 'in' Gott, dass Gott alles, die ganze Schöpfung und die volle Erlösung 'durch' ihn wirkt (1,3.17) und sich selbst offenbart, wenn Jesus spricht und handelt. Wie Gott rückhaltlos im Sohn gegenwärtig ist, so gehört der Sohn vollkommen in das Geheimnis Gottes hinein. Dass Jesus ganz 'in' Gott ist, folgt daraus, dass er immer schon Gottes Sohn ist, wie Gott immer schon der Vater Jesu ist (198f).

Das Hauptgebot fordert nicht eine Relativierung sondern eine theozentrische Radikalisierung der Christologie (199).

b. U. Schnelle

Das Verhältnis zwischen Gott Vater und dem Sohn Jesus Christus

(1,1a) “Im Anfang war das Wort (b) und das Wort war bei Gott (c) und von gottgleichem Wesen war das Wort. (2) Dieses war im Anfang bei Gott“.

Der Logos weilt von Anfang an bei Gott, beide sind gleichursprünglich und Gott ist nicht ohne sein Wort zu denken. Sein Wort ist Leben schaffendes Schöpfungswort. In 1,1c kommt dem Logos das Prädikat theos zu. Weder ist der Logos einfach mit Gott identisch, noch gibt es neben dem höchsten Gott einen zweiten Gott, sondern der Logos ist vom Wesen Gottes. Allein dem einen Gott gebührt das Prädikat ho theos. Sehr überlegt steht in 1,1c das Prädikatsnomen theos, um so gleichermaßen das göttliche Wesen des Logos und seine Unterschiedenheit vom höchsten Gott auszudrücken. Der Logos hat Teil an der Gottheit des Vaters. Der Vers 1,1c enthält die Spitzenaussage über das Sein und Wesen des Logos, er ist an Würde und Bedeutung nicht zu übertreffen. Das Wort ist schon im Anfang kein anderes als Jesus Christus. Die Relationierung zielt auf eine ursprüngliche und umfassende Partizipation des Logos an dem einen Gott, der Ursprung und Grund allen Seins ist. Das Wort ist göttlichen Ursprungs, es verweilt bei Gott und beginnt von dort sein Wirken (372f).

Betonte der Vers 1,1 die Gleichursprünglichkeit des Logos mit Gott hinsichtlich seines vorweltlichen Seins, so wird in 1,18 die einzigartige Beziehung Jesu zum Vater in ihrer geschichtlichen Dimension entfaltet. Jesus ist der Exeget Gottes, er allein vermag wirklich Kunde vom Vater zu bringen. Mit der Inkarnation ging auch die einmalige und unmittelbare Gotteserfahrung Jesu in die Geschichte ein und ist nun für die Menschen als Offenbarung des Gottessohnes vernehmbar. Dadurch werden die Aussagen des Prologs auf die folgende Darstellung der Geschichte Jesu Christi appliziert: Was sich in den Taten, Reden und dem Leiden Jesu Christi vollzieht, entsprach von Anfang an dem Willen Gottes. Die Exklusivität des Christusgeschehens ist auf zweifache Weise gesichert: Allein Jesus Christus vermag Kunde von Gott zu geben und seine Offenbarung liegt im uranfänglichen Sein des Logos bei Gott begründet. Das typisch john Thema der ausschließlichen Gottesoffenbarung in Jesus Christus (5,37; 6,46; 16,28) sowie das monogenes und ekeinos lassen 1,18 als Bildung des Evangelisten erkennen. Johannes betont die Gottheit Jesu, die ihm von Anfang an zu eigen war. Mit “mein Herr und mein Gott“ (20,28) formuliert er das höchste Bekenntnis, das gegenüber Jesus Christus abgelegt wird (373f).

Der Offenbarer “ist von oben her“ (8,23), er kommt vom Himmel und ist über allen (3,31; 6,38). Über dem Inkarnierten ist der Himmel offen. Als auf- und absteigender Menschensohn ist er mit der himmlischen Welt verbunden. In ihm vereinen sich Himmel und Erde (1,51; 3,13). Der natürliche Mensch ist auf das 'Untere' ausgerichtet (8,23), er muss deshalb 'von neuem' d.h. 'von oben' geboren werden (3,3.5.7). Die john Relationierung zielt auf Partizipation, denn die Glaubenden sollen teilhaben am besonderen Verhältnis von Vater und Sohn (374f).

Die Einheit von Vater und Sohn wird in 5,17-30 in besonderer Weise entfaltet. Jesus Christus nimmt für sein Handeln nicht nur die Autorität Gottes in Anspruch, er handelt gottgleich und somit auch am Sabbat. Damit verletzt Jesus aus jüdischer Perspektive die Einzigartigkeit Gottes. Den Vorwurf des Ditheismus versucht Johannes mit dem Hinweis auf die Parallelität des Tuns von Vater und Sohn zu lösen (5,19.21.23.30). Das Tun des Sohnes hat seinen Ursprung im Willen des Vaters und kann somit nicht gegen den Vater gerichtet sein. Weil Jesu Sein ganz in Gott gründet und aus ihm hervorgeht, handelt er in voller Übereinstimmung mit dem Vater. Die Liebe des Vaters zum Sohn (5,20; 3,35; 10,17) ist Ausdruck der wesensmäßigen Verbundenheit zwischen ihnen. Deshalb zeigt der Vater dem Sohn auch alles, was er selbst tut (375).

Wie der Vater die Toten auferweckt und macht sie lebendig, so macht auch der Sohn lebendig, welche er will“ (5,21). “Denn der Vater richtet niemand, sondern hat alles Gericht dem Sohn übergeben“ (5,22). Als Herr über Leben und Tod, Heil und Gericht ist der menschgewordene Gottessohn Jesus Christus dem Vater gleich. Es gilt, den Sohn in gleicher Weise wie den Vater zu ehren (5,23). Im Hören des Wortes und im Glauben an den von Gott gesandten Sohn vollzieht sich der Schritt vom Tod zum Leben, ist das Heilsgut des ewigen Lebens bereits gegenwärtig. Der Glaubende kommt nicht ins Gericht, denn er hat schon teil an der in Jesus Christus erschienenen Lebensmacht Gottes (375f).

Die Einheit von Vater und Sohn vollzieht sich in 5,17-30 als Willens-, Handlungs- und Offenbarungseinheit in der Konzentration auf die Begegnung mit Jesus Christus, der in ungebrochener Kontinuität zum Vater und in direkter Abhängigkeit von ihm als Lebensspender agiert (376).

Ich und der Vater sind eins“ (10,30) bildet die Mitte des john Denkens. In Jesus wurde Gott Mensch und Gott begegnet nur im Menschen Jesus. Allein die Wesens-, Offenbarungs- und Wirkeinheit von Vater und Sohn (1,1; 17,20-22) begründet Jesu Stellung als 'guter Hirte'. Sein Wirken gründet umfassend in der Einheit mit dem Vater und nur aus dieser Einheit bezieht er seine einzigartige Würde. Die reziproke Immanenzaussage in 10,38: “...damit ihr erkennt, dass der Vater in mir ist und ich im Vater“ und in 14,10: “Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir“? bringt die john Konzeption prägnant zum Ausdruck. Weil Jesus aus der vom Vater gewollten Einheit lebt, offenbart sich in seinem Reden und Wirken der Vater selbst (376f).

Nach 17,5 soll der Vater den Sohn 'bei sich selbst' verherrlichen, d.h. ihn endgültig wieder aufnehmen in den göttlichen Bereich und in jene Herrlichkeit, die dem Sohn schon vor Grundlegung der Welt zu eigen war (17,24). Die Inkarnation wird von Johannes als Offenbarwerden der Doxa verstanden (2,11; 11,4.40). Die Bindung an den Vater erscheint als Grundlage des Heilswerks Jesu, das vor aller Zeit begann und in Ewigkeit bleiben wird. Der Evangelist bestimmt das Verhältnis zwischen Vater und Sohn einerseits und den Glaubenden andererseits als gegenseitige 'Inexistenz': Wie Christus in Gott ist und Gott in ihm, so sind die Glaubenden im Vater und im Sohn (377f).

In den 'Ich-bin-Worten' (6,35; 8,12; 10,7.11; 11,25; 14,6 ;15,1) verdichten sich in einzigartiger Weise Christologie und Soteriologie (378).

Wer den Sohn sieht, sieht den Vater (12,45;14,9). Wer den Sohn hört, hört den Vater (14,24). Wer an den Sohn glaubt, glaubt an den Vater (14,1) und wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht (5,23) (378f).

Die Unterordnung des Sohnes

Mein Vater... ist größer als alle“ (10,29). Der Vater hat Jesus gesandt (3,16;5,23f.30.37; 6,29.38f.44.57; 7,16.18f.33; 8,16.18.26.29.42; 10,36; 12,44f.49; 13,16.20; 14,24.26; 15,21.26; 16,5.6; 17,3.8.18.21.23.25; 20,21). Der Vater ist der 'alleinige' Gott (5,44). Er hat dem Sohn alle Macht gegeben, so dass dieser von sich aus nichts tun kann (5,19f; 6,37). Der Sohn verherrlicht den Vater (14,13b) und bezeugt ausdrücklich: “Der Vater ist größer als ich“ (14,28c). In 17,1ff betet Jesus zu seinem Vater, dem einen, wahren Gott. Durchgängig hebt Johannes das wahre Menschsein des präexistenten Gottessohnes hervor: er wurde 'Fleisch' (1,14), er unterwarf sich damit den Bedingungen des irdischen Daseins und lebte als Jude (4,9). Jesus feiert auf einer Hochzeit (2,1ff). Auf Wanderungen ist er müde und durstig (4,6f). Er liebt seinen Freund Lazarus (11,3) und weint über ihn. Er wird als Mensch bezeichnet (5,12; 8,40; 9,11; 11,50; 18,29). Er ist der Mensch schlechthin: “Seht, welch ein Mensch“ (19,5)! (379).

Nur der Vater ist der Gott! Er sendet und ermächtigt den Sohn, der allein aus der ihm verliehenen Vollmacht heraus handelt. Deshalb sagt der Auferstandene zu Maria Magdalena: “Ich steige auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“ (20,17). Die Wesenseinheit von Vater und Sohn realisiert sich als Willens- und Wirkeinheit. Die Verehrung des einen Gottes wird ausgeweitet auf seinen Sohn. So wie der Sohn auf den Vater ausgerichtet ist, so sollen sich die Menschen auf Jesus Christus ausrichten, “damit sie eins seien wie wir“ (17,11). Die Relationierung zielt auf Partizipation. Der Sohn kehrt zurück zum Vater (13,1) und nimmt die Glaubenden zu sich (14,3), so dass sie teilhaben an der besonderen Beziehung zwischen Vater und Sohn (379f).

5.4 Die Offenbarung der Doxa

a. R. Bultmann

Das Werk Jesu

Die Werke, die Jesus im Auftrag des Vaters tut (5,20.36; 9,4; 10,25.32.37; 14,12; 15,24), sind im Grunde nur ein einziges Werk: Wie es am Beginn seines Wirkens heißt: “Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen dessen, der mich gesandt hat und vollende sein Werk“ (4,34) und zum Schluss als Rückblick: “Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue“ (17,4) (405).

Bei Johannes ist die Menschwerdung Christi das entscheidende Heilsereignis. Bei Paulus ist sie dem Ereignis des Todes untergeordnet, bei Johannes dagegen ist der Tod Jesu dem Ereignis der Menschwerdung untergeordnet. Genauer gesehen bildet die Menschwerdung als das 'Kommen' des Gottessohnes mit dem Tod als seinem 'Gehen' eine Einheit. In dieser Einheit liegt aber nicht, wie bei Paulus, der Schwerpunkt auf dem Tod. Dieser hat bei Johannes keine ausgezeichnete Heilsbedeutung, sondern ist die Vollendung des Werkes, das mit der Menschwerdung beginnt, die letzte Bewährung des Gehorsams (14,31), unter dem das ganze Leben Jesu steht. Das “gehorsam bis zum Tod“ (Phil 2,8) ist von Johannes in der ganzen Breite seiner Darstellung entfaltet worden. Die Kreuzigung ist Jesu Erhöhung (3,14; 8,28; 12,32.34) und seine Verherrlichung (7,39; 12,16.23; 13,31f; 17,1.5). Der Weg Jesu zur Erhöhung geht natürlich durch den Tod (“wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt“ 12,24). Im Tod erfüllt sich der Sinn der Sendung Jesu (12,27: “deswegen bin ich in diese Stunde gekommen“). Aber der Tod ist nicht ein Ereignis, dem durch die ihm folgende Auferstehung der Charakter der Katastrophe genommen werden müsste, vielmehr ist er selbst als solcher schon die Erhöhung. D.h. der Tod Jesu ist unter den Offenbarungsgedanken gestellt: in ihm handelt Jesus selbst als der Offenbarer und ist nicht das leidende Objekt einer göttlichen Heilsveranstaltung. Vom Leiden Jesu redet Johannes nicht. In 14,31 heißt es nicht: “so muss es geschehen“ (Mt 26,54), sondern “so tue ich“. Die john Passionsgeschichte zeigt Jesus nicht als den Leidenden, sondern als den Handelnden, als den Sieger (406).

Die Deutung des Todes Jesu als Sühneopfer für die Sünden bestimmt die john Anschauung nicht. Wenn der Täufer auf Jesus hinweist (1,29), so wird Jesus damit als der bezeichnet, der die Sünde der Welt hinwegnimmt (fortschafft, wegträgt). “Er erschien, damit er die Sünde wegnehme“ (1Joh 3,5). Beim Bild vom Lamm ist an das Opfer zu denken. Aber nichts fordert, dass der Evangelist dieses Opfer nur im Tod und nicht, seiner Gesamtanschauung entsprechend, im gesamten Wirken Jesu gesehen hat. Der Satz 1Joh 1,7 (“das Blut Jesu... reinigt uns von aller Sünde“) steht unter dem Verdacht, redaktionelle Glosse zu sein. Er konkurriert mit 1Joh 1,9: “Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er (Gott) treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns von aller Ungerechtigkeit reinigt“. Ebenso sind die beiden Sätze 1Joh 2,2; 4,10, die Jesus “als Versöhnung für unsere Sünden“ bezeichnen wahrscheinlich redaktionelle Glossen (406f).

Vom Blut Jesu ist außer 1Joh 1,7 die Rede in Joh 6,53-56, d.h. in dem von der kirchlichen Redaktion eingefügten Abschnitt, in dem die vorangehende Rede, in der sich Jesus als das Brot des Lebens offenbart, auf das Sakrament des Herrenmahls umgedeutet wird, ferner in 19,34b, wo die kirchliche Redaktion dem Lanzenstich einen tieferen Sinn abgewinnt durch den Zusatz “und heraus kam sofort Blut und Wasser“. In 1Joh 5,6 (“Dieser ist der durch Wasser und Blut Gekommene, Jesus Christus“) bezeichnet das Wasser und das Blut nicht die Sakramente sondern den Anfangs- und Endpunkt seines Wirkens: seine Taufe und seinen Tod. Der doketischen Gnosis gegenüber soll die Realität des menschlichen Lebens des Erlösers festgestellt werden. Deshalb geht es weiter: “nicht nur im Wasser, sondern im Wasser und Blut“, d.h. der Erlöser hat sich nicht etwa nur in der Taufe mit dem Menschen Jesus verbunden und sich dann vor dem Tode wieder von ihm getrennt, sondern er hat auch den Tod erlitten. Von einer Heilsbedeutung des Todes bzw. des Blutes Jesu ist hier nicht die Rede (407).

Der Gedanke vom Tod Jesu als Sühneopfer spielt bei Johannes keine Rolle. Charakteristisch ist es, dass Johannes die Einsetzung des Herrenmahles nicht erzählt, dessen Liturgie in dem “für uns“ (bzw. “für die vielen“) den Sühnopfer-Gedanken enthält. Er hat sie durch das Abschiedsgebet Jesu ersetzt: “für sie heilige ich mich“ (17,19). Diese Worte bezeichnen Jesu Tod als Opfer. Aber der Tod ist wie sonst bei Johannes im Zusammenhang seines Lebens als die Vollendung seines Wirkens zu verstehen. Dass dieses als Ganzes ein Opfer ist, ist in der Charakteristik Jesu ausgesprochen als dessen, “den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat“ (10,36). “Dass er den einziggeborenen Sohn gab“ (3,16), meint nicht speziell die Hingabe in den Tod, sondern die Sendung Jesu. Auch ist nicht davon die Rede, dass das Opfer ein Sühnopfer für die Sünden ist. Von der Vergebung der Sünden wird weder in Joh 17 noch sonst in den Abschiedsreden gehandelt. Überhaupt ist von der Sündenvergebung im Evangelium nur in Joh 20,23 die Rede, wo die Vollmacht der Jünger, Sünden zu vergeben, auf ein Wort des Auferstandenen zurückgeführt wird: “Wem ihr die Sünden vergebt, denen sind sie vergeben, wem ihr die Sünden behaltet, denen sind sie behalten“. Wie hier auf die kirchliche Praxis Bezug genommen wird, so auch im 1Joh, der überhaupt mehr als das Evangelium die Gemeindeterminologie berücksichtigt. Hier wird zweimal von der Sündenvergebung geredet: sie wird von Gott dem geschenkt, der seine Sünden bekennt (1,9) und ihr Empfang charakterisiert die Gemeindeglieder “euch sind die Sünden vergeben wegen seines Namens“ (2,12). Im Evangelium aber wird die Befreiung von den Sünden durch das Wort Jesu bzw. durch die im Wort vermittelte Wahrheit verheißen: “Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaftig meine Jünger und ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“ (8,31f), freimachen von der Sünde: “Jeder der sündigt, ist der Sünde Knecht“ (8,34). Dem entspricht, dass derjenige 'rein' ist, der den Dienst Jesu an sich hat geschehen lassen: “Wer gewaschen ist, muss sich nicht waschen, nur die Füße“ (13.10). Dieser Dienst besteht darin, dass Jesus den Seinen den Namen des Vaters offenbart hat, dass er ihnen die Worte gebracht hat, die ihm der Vater gegeben hatte: “Ich habe den Menschen, die du mir gegeben hast aus der Welt, deinen Namen offenbart. Sie gehörten dir, du hast sie mir gegeben und sie haben dein Wort festgehalten“. “Die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben und sie haben sie angenommen und haben wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin und sie sind zum Glauben gekommen, dass du mich gesandt hast“ (17,6.8). So heißt es: “Ihr seid schon rein wegen des Wortes, das ich euch gesagt habe“ (15,3). So wird jenes “Ich heilige mich für sie“ (17,19a) verständlich, denn es geht weiter: “damit auch sie geheiligt sind in der Wahrheit“ (17,19b), wozu ausdrücklich die Erläuterung gefügt ist: “dein Wort ist die Wahrheit“ (17,17). Der Tod Jesu ist nicht ein besonderes Werk, sondern ist in Einheit mit dem ganzen Wirken Jesu als dessen Vollendung verstanden (407f).

Auferstehung und Parusie Jesu sind für Johannes identisch

Die Auferstehung Jesu kann kein Ereignis von besonderer Bedeutung sein, wenn der Tod Jesu am Kreuz schon die Erhöhung und Verherrlichung Jesu ist. Sie braucht nicht den Sieg des Todes zunichte zu machen, den dieser etwa in der Kreuzigung errungen hätte, denn das Kreuz ist selbst schon der Sieg über die Welt und ihren Herrscher gewesen. Die Stunde der Passion ist die Krisis der Welt, die den Sturz des “Herrschers dieser Welt“ bedeutet (12,31; 16,11). Als der Sieger, dem “der Herrscher dieser Welt“ nichts mehr anhaben kann (14,13: “Er hat keine Macht über mich“), schreitet Jesus in die Passion (16,33: “Ich habe die Welt besiegt“). Es ist nicht die Rede davon, dass erst die dem Tode folgende Auferstehung und Erhöhung ihn zum Herrn aller kosmischen und dämonischen Mächte macht (z.B. Phil 2,11; Eph 1,20f; 1Ptr 3,21f). Jesus hat seine lebenschaffende Kraft nicht erst durch die Auferstehung erhalten, sondern der Vater hat ihm von vornherein gegeben “Leben in sich zu haben“ (5,26). Als der, der die Auferstehung und das Leben ist, tritt er den Menschen entgegen (11,25; 14,6). Den Glaubenden ruft sein Wort schon jetzt ins Leben (5,24: “Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tod in das Leben hinübergegangen“ und 11,25f: “Ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben“. Daher findet sich in den john Jesusworten nicht wie bei den Synoptikern die Weissagung von seiner Auferstehung bzw. Auferweckung. Der Evangelist redet davon nur in einer Anmerkung 2,22: “Als er nun auferweckt worden war von den Toten, erinnerten sich seine Jünger...“. Das Auferstehen findet sich nur in einer redaktionellen Glosse 20,9: “Denn noch nicht kannten sie die Schrift, dass es nötig sei, dass er auferstehe“. Das Auferwecken findet sich im redaktionellen Nachtragskapitel 21,14: “Dieses Mal offenbarte sich Jesus schon zum dritten Mal den Jüngern, auferweckt von den Toten“. In den Johannesbriefen fehlen die Termini ganz (408f).

Wenn der ursprüngliche Schluss 20,30 im Anschluss an die Ostergeschichten sagt: “Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern“, so sind die Erscheinungen des Auferstandenen auch als Zeichen verstanden wie die Wunder Jesu. Sie veranschaulichen den Sieg Jesu über die Welt und die Erfüllung der Verheißung von 16,22: “Ihr habt jetzt zwar Kummer, ich aber werde euch wiedersehen und euer Herz wird sich freuen“ (vgl. 16,16). Sofern sie wirkliche Ereignisse sind, sind sie auch darin den Wundern als Ereignissen gleich, dass sie der Schwachheit der Menschen konzidiert werden. Thomas Wunsch, den Auferstandenen leibhaftig sehen und betasten zu dürfen, wird ihm erfüllt. Aber gleichzeitig wird er beschämt: “Weil du mich gesehen hast, bist du gläubig geworden. Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben“ (20,29). In diesem letzten Wort Jesu liegt die Kritik des Kleinglaubens und eine Warnung, die Ostergeschichten für mehr zu nehmen, als sie sein können. Sie sind Zeichen, Bilder, Bekenntnisse des Osterglaubens (409f).

Der Osterverheißung 16,16-24 mit dem “ich werde euch wiedersehen“ (16,22) geht parallel die andere 14,18: “Ich werde euch nicht verwaist zurücklassen, ich komme zu euch“, also die Verheißung seiner Parusie. Wenn es aber weitergeht: “Noch kurze Zeit und die Welt sieht mich nicht mehr, ihr aber seht mich, weil ich lebe und auch ihr werdet leben“ (“denn wie ich lebe, werdet auch ihr leben“) (14,19), so gleitet damit die Parusieverheißung in die Osterverheißung über. D.h. Auferstehung und Parusie Jesu sind für Johannes identisch. Wenn nun ferner mit diesen Verheißungen die Verheißung des Geistes (Parakleten) parallel geht (14,15-17), also die Pfingstverheißung, so sind für Johannes Ostern, Pfingsten und die Parusie nicht drei verschiedene Ereignisse, sondern ein und dasselbe. So geht die Oster- und die Parusie-Terminologie ständig durcheinander: vom Wiedersehen redet 14,19; 16,16.19.22, davon, dass er lebt 14,9 und von seiner Erscheinung vor den Jüngern 14,21f. Andererseits reden von seinem Kommen 14,3.18.23.28. Das für die eschatologische Erwartung so charakteristisch “an jenem Tag“ findet sich 14,20; 16,23.26 und “es kommt die Stunde“ 16,25. Dazwischen schiebt sich die Verheißung des Geistes 14,15-17; 16,7-11.13-15. Das eine Ereignis, das in alledem gemeint ist, ist kein äußeres Geschehen, sondern das innere: der Sieg, den Jesus gewinnt, indem sich aus der Überwindung des Anstoßes im Menschen der Glaube erhebt. Der Sieg über den “Herrscher dieser Welt“, den Jesus errungen hat, ist die Tatsache, dass es jetzt den Glauben gibt, der in ihm die Offenbarung Gottes sieht. Dem “ich habe die Welt besiegt“ (16,33) entspricht das Bekenntnis des Glaubenden: “dies ist der Sieg, der die Welt besiegt hat, unser Glaube. Wer ist der die Welt Besiegende, wenn nicht der Glaubende, dass Jesus ist der Sohn Gottes“ (1Joh 5,4f). Dass es sich um ein inneres Geschehen handelt, wird in dem kurzen Dialog zwischen Judas und Jesus festgestellt: “Herr, was bedeutet es, dass du dich uns offenbaren willst und nicht der Welt“? Jesus antwortet: “Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen“ (14,2). Das Gleiche gilt von der Sendung des Geistes, “dem Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und kennt. Ihr kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird“ (14,17). Die Parusie ist für Johannes nicht ein bevorstehendes dramatisch-kosmisches Ereignis, denn schon das Kommen Jesu ist die Krisis. Dementsprechend fehlen bei Johannes die synoptischen Parusieweissagungen vom Kommen des Menschensohnes in der Doxa seines Vaters, auf den Wolken des Himmels und dgl. (Mk 8,38; 13,26f usw.) (410f).

Die Sakramente

Bei Johannes spielen die Heilstatsachen im traditionellen Sinn keine Rolle. Das ganze Heilsgeschehen: Menschwerdung, Tod und Auferstehung Jesu, Pfingsten und die Parusie ist in das eine Geschehen verlegt: die Offenbarung der Wahrheit Gottes im irdischen Wirken des Menschen Jesus und die Überwindung des Anstoßes im Glauben. Dieser Tatsache entspricht es, dass auch die Sakramente keine Rolle spielen. Zwar setzt Johannes die Taufe als kirchlichen Brauch voraus, wenn er 3,22 berichtet, dass Jesus Jünger wirbt und tauft. Korrigierend wird 4,2 versichert, dass nicht er selbst getauft habe, sondern seine Jünger. In dem überlieferten Text von 3,5: “Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen“ ist 'das Wasser' eine Einfügung der kirchlichen Redaktion, denn im Folgenden ist nur noch von der Wiedergeburt aus dem Geist und nicht mehr von der Taufe die Rede. Dem Wort vom freien Wehen des Geistes (3,8) widerspricht es, dass der Geist an das Taufwasser gebunden sein soll. In der Fußwaschung findet man vielfach die Taufe dargestellt – zu Unrecht. Sie bildet vielmehr den Dienst Jesu überhaupt ab, der die Jünger rein macht. Sie sind nach 15,3 rein durch das Wort, das Jesus zu ihnen gesprochen hat. Die kirchliche Redaktion hat den Bericht vom Lanzenstich (19,34a) glossiert (19,34b.35) und in dem der Wunde entströmenden Blut und Wasser die Sakramente des Herrrenmahls und der Taufe abgebildet gesehen. Die Salbung, die die Gemeinde empfangen hat und die ihr Erkenntnis verleiht (“bleibt in euch und... belehrt euch über alles“ 1Joh 2,27), ist der Geist der Wahrheit, von dem das Gleiche gilt (14,17: “weil er bei euch bleibt und in euch sein wird“ und 14,26: “der wird euch alles lehren“, vgl. 16,13). Wie der Geist der Wahrheit (14,17.26; 16,13) die Kraft des in der Gemeinde wirkenden Wortes ist, so wird auch die Salbung (1Joh 2,27) das machterfüllte Wort sein (411f).

Das Herrenmahl ist wie in 19,34b, so in 6,51b-58 durch die kirchliche Redaktion eingebracht worden, denn das “Brot des Lebens“ der vorhergehenden Worte Jesu meint zweifellos nicht das sakramentale Mahl, sondern bezeichnet, wie das Lebenswasser und das Licht Jesus selbst als den, der das Leben bringt, indem er es ist (11,25; 14,6). Auch passt die in 6,51-58 enthaltene Vorstellung von der 'Arznei zur Unsterblichkeit' nicht zur Eschatologie des Johannes. Der Anstoß, den die Juden daran nehmen, dass Jesus sein Fleisch als Speise darbietet, ist ganz anderer Art als die john Skandala, die in dem eigentümlichen Dualismus des Johannes begründet sind, von dem hier nicht die Rede ist. Im Bericht vom letzten Mahl erzählt Johannes nichts von der Einsetzung des Herrenmahls, die er vielmehr durch das Abschiedsgebet Jesu ersetzt hat. Den 'neuen Bund', von dem die traditionellen Abendmahlsworte reden (1Kor 11,25), hat er durch das 'neue Gebot' ersetzt (13,34).

Johannes polemisiert nicht gegen die Sakramente, aber er steht ihnen kritisch gegenüber (412).

b. E. Stegemann und W. Stegemann: Jesus als König im Johannesevangelium

Das Stichwort “Königsherrschaft Gottes” bzw. “Reich Gottes”, das Hauptwort der Verkündigung Jesu nach den Synoptikern, fehlt im Joh-Ev fast völlig. Dennoch ist Jesus nach dem Joh-Ev ein König, der ein Reich hat: im Himmel. Diesen “himmlischen Bereich”, in den der göttliche Gesandte führt (14,3: 12,26; 17,24), meint denn auch “Reich Gottes” an den zwei einzigen Stellen, an denen dieses Stichwort bei Johannes vorkommt 18,36: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt" und 3,3.5: nur wer von neuem geboren ist, kann das Reich Gottes sehen; nur wer aus Wasser und Geist geboren ist, kann in das Reich Gottes kommen (41).

Der Königstitel in der john Passionsgeschichte (18,37)

Die Distanzierung von politisch-aufrührerischen Gegenkönigen geschieht durch Pilatus, der dreimal Jesu Unschuld beteuert. Johannes läßt die ‘Juden’ nicht nur bewusst falsches Zeugnis von Jesus geben, sie verleugnen vielmehr noch gleich mit ihm auch den Ewigen im Himmel: “Wir haben keinen König außer dem Kaiser” (19,15). Nach Johannes wird hier Gott als König verleugnet, der König aller Könige und Herr aller Herren. Jesus sagt: “Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege” (18,37). Dieser Anspruch, der in die Welt gekommene himmlische König zu sein, verbindet sich nicht mit Machtentfaltung, nicht mit dem Anspruch auf ein Königreich auf der Erde. Wenn das so wäre, dann würden seine Diener für ihn kämpfen. Er verbindet sich allein mit dem Zeugnis von der Wahrheit. Die göttliche Hoheit leuchtet, gleichsam immer wieder am Fleischgewordenen auf, wie der gesamte, die Souveränität Jesu herausstellende Duktus zeigt. Erinnert sei an die Situation, als die Kohorte Jesus gefangen nehmen will und auf sein “Ich bin’s” hin zu Boden fällt wie bei einer Epiphanie (43f).

Der Königstitel in der john Einzugsgeschichte (12,13).

Jesus wird akklamiert mit dem auch bei den Synoptikern zu findenden Hosianna-Ruf, zugespitzt mit dem Titel: “Der König Israels”! Bei Johannes fehlt der Bezug auf die davidische Königstradition (Mk 11,10 lautet: “Gesegnet ist die kommende Königsherrschaft unseres Vaters Davids”). Johannes vermeidet den davidischen Bezug, der die Vorstellung einer irdischen Basileia enthält. Im Joh-Ev fehlt jegliche Beziehung Jesu zur davidisch-messianischen Tradition, auch wird keine davidische Abstammung behauptet. Jesus wird mit der Akklamation als “König Israels” von Johannes gerade nicht als messianisch-davidischer König der Juden, d.h. als irdischer Königsprätendent und damit aus röm. Sicht als Aufrührer, sondern als Erscheinung des Königs Israels, also Gottes, gekennzeichnet. In Sach 9,9 (“Tochter Zion freue dich, denn dein König kommt zu dir”) ist das Erscheinen Gottes gemeint. In Zeph 3,15 (“Der Herr, der König Israels, ist bei dir, dass du dich vor keinem Unheil fürchten mußt”) meint den in der Mitte seines Volkes erscheinenden Gott Israels (45f).

Das Bekenntnis des Nathanael:

Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König Israels” (1,49).
Johannes schafft die Erstberufung des Petrus kurzerhand ab, und ebenso dessen überaus wichtige Rolle, Jesus zuerst als Christus er- und bekannt zu haben. Dem Leser wird die Messianität Jesu nebenbei von Andreas mitgeteilt: “Wir haben den Messias gefunden” (1,41). Später bekennt Petrus dann Jesus nicht als Christus sondern als “den Heiligen Gottes” (6,69), womit ausgedrückt wird, dass Jesus der Welt schlechthin als der Jenseitige gegenübersteht und zu Gott gehört. Hier scheint nach der Kennzeichnung Jesu als Sohn Gottes das Messiasbekenntnis sozusagen nach oben transformiert zu werden. Nathaneal bekennt Jesus als Gottessohn, als König Israels, weil er Jesu göttliche Fähigkeit des Allwissens erkannt hat. Auf das Bekenntnis des Nathanael stellt Jesus sich selbst als den Menschensohn dar, der nicht nur in ständiger Verbindung mit dem Himmel steht, sondern gleichsam die Himmelsleiter, der Weg zum Himmel bzw. die Verbindung mit ihm selbst ist 1,51: “Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf und herabfahren über dem Menschensohn” (vgl. 14,6: “Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich”) (46f).

Apokalyptische und weisheitliche Königstradition.

Jesus ist “König Israels” und dazu in die Welt gekommen, dass er Zeugnis für die Wahrheit ablege. Sein Königreich ist nicht von dieser Welt. Jesus beansprucht keine irdisch-politische Herrschaft als “König der Juden”, er lehnt es ab, zum (Gegen-)König (6,15) gemacht zu werden. Die john Eschatologie kennt keine Hoffnung auf die Königsherrschaft Gottes auf Erden. Johannes distanziert sich von jeglichem Anspruch irdisch-königlicher Herrschaft Jesu. Dagegen interpretiert er Jesu Königswürde positiv im Stile eines weisheitlichen Königtums.

Die apokalyptische Tradition rechnet mit einer zukünftigen Königsherrschaft Christi auf Erden, errichtet durch Gottes eigene Aktion, gegebenenfalls herbeigeführt durch Mittlergestalten - wie den Messias. Sie hofft auf ein gerechtes Friedensreich, das Ungerechtigkeit und Unterdrückung beseitigt. In der weisheitlichen Tradition geht es eher um die Gegenwart als um die Zukunft. Ihr Interesse ist darauf konzentriert, wie man hier und jetzt unter der Herrschaft Gottes leben kann. Es ist eine Art ethische Königsherrschaft, die der Weise als König repräsentiert (48f).

•     Apokalyptisch-revolutionäre Königstradition

Im NT steht die lkn Christologie dieser Tradition am nächsten. In der lkn Vorgeschichte (Lk 1-2) wird mit der Geburt Jesu die Errettung Israels aus der Hand seine Feinde (1,74), die Aufrichtung der Theokratie (1,75), die Umwälzung der bisherigen gesellschaftlichen Verhältnisse (1,52) und die Befreiung des Gottesvolkes bzw. Jerusalems (1,68; 2,38) verknüpft. Lukas stellt Jesus als den erwarteten endzeitlichen messianischen König dar, der der dynastischen Herrschaft des davidischen Königshauses ewige Dauer verleiht. Für Lukas ist Jesus der verheißene endzeitliche König Israels auf dem Throne Davids. Dass er diese Verheißung während seiner irdischen Wirksamkeit noch nicht endgültig realisiert, sondern in seiner Verkündigung an die Armen und seiner wundertätigen Praxis partiell vorweggenommen hat, hängt nach Lukas mit den heilsgeschichtlichen Plänen Gottes zusammen: Israel hat den Kairos seiner gnädigen Heimsuchung nicht erkannt - und zwar auch aufgrund göttlicher Vorherbestimmung (19,41ff). Dieser Anspruch auf die Königswürde Jesu wird von Lukas nicht aufgegeben, sondern gleichsam auf den Parusie-Christus verschoben. Der vom Himmel wiederkommende messianische König Jesus wird für Israel die Königsherrschaft aufrichten, auch wenn über den Zeitpunkt noch nichts gesagt werden kann (Apg 1,6f) (50).

•     Weisheitliche Königstradition

Johannes folgt in 18,36ff und 19,10f der weisheitlichen Königstradition, in der die Distanzierung von irdisch-politischer Königsherrschaft neben der Behauptung begegnet, allein der Weise sei König. Die weisheitliche Tradition setzt Gottes Königsherrschaft über das Universum voraus und versteht alle menschliche Herrschaft als von Gott gegeben! “Du hättest (Pilatus) keine Macht über mich, wenn sie dir von oben her nicht gegeben wäre” (19,11). Der john Jesus ist ein König, doch seine Herrschaft stammt nicht von diesem Kosmos, ihm stehen keine Diener zur Verfügung. Er ist gekommen, um von der Wahrheit zu zeugen. Der Zeugenbegriff meint Jesus als den himmlischen Zeugen, der davon in der Welt redet, was er beim himmlischen Vater gesehen und gehört hat (3,32; 8,26). Dieses Wissen offenbart er den Menschen als heilbringende Wahrheit (8,32). Zu diesem Wissen gehört nicht nur das Wissen um Jesus als den Offenbarer und Bringer des Lebens, sondern auch um seine authentische Interpretation der Tora als der göttlichen Weltordnung. Deren Befolgung eröffnet ewiges Leben. So werden jene Toten, die das Gute getan haben, zum Leben auferstehen (5,29). In diesem Sinne wird das Verlangen nach Weisheit, das im Halten der Gebote und darin der Sicherung der Unvergänglichkeit gipfelt, als Weg zur Königsherrschaft gedeutet (51f).

Während Johannes Jesus vom irdisch-politischen Königtum distanziert, gibt er ihm Züge eines weisheitlichen Königs. Im Sinne dieser Tradition ist Jesus wie Gott “König Israels” (Jes 24,23; 33,22; 41,21; 43,14f; 52,7). Seine Königsherrschaft ist irdische Repräsentanz des Königtums Gottes. Schon der Prolog macht auf Jesu Distanz zur Welt aufmerksam, in dem die Herkunft Jesu aus der Einheit mit dem Vater jenseits des Kosmos vorausgesetzt wird (53).

Historisch-soziale Hintergründe

Lukas und Johannes reflektieren die Erfahrung des Konfliktes mit dem Judentum. Israels katastrophales Schicksal im jüd.-röm. Krieg wird von Johannes weder bedauert noch als göttliches Gericht interpretiert. Lukas bedauert diese Katastrophe. Sie scheint Zweifel an der Messianität Jesu ausgelöst zu haben. Er versucht die Frage zu beantworten, warum Jesus als messianischer König noch nicht während seiner irdischen Wirksamkeit die Königsherrschaft für Israel aufgerichtet hat. Israels Schicksal ist für Lukas von eminenter Bedeutung für sein eigenes heilsgeschichtliches Konzept. Johannes wirft mit seiner Distanz zu aller politischen Herrschaft nicht nur das apokalyptische Hoffnungsmodell über Bord, für ihn spielt Israels nationales Schicksal keine Rolle mehr im Heilsplan Gottes. Zwar gilt: “Das Heil (der Messias) kommt von den Juden” (4,22), aber nicht im Sinne eines messianisch-apokalyptischen Modells. Denn der john Jesus ist als Messias und König Israels ein Zeuge für die Wahrheit, nicht der apokalyptische Protagonist einer “Königsherrschaft für Israel”. “Es kommt die Stunde - und sie ist jetzt da -, wenn die wahren Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit (4,23) anbeten”. Der Gegensatz von Samaria und Jerusalem ist dadurch hinfällig geworden (55f).

c. J. Becker: Die Sendung des Sohnes als Endgericht

Jesu Zuhörer stoßen sich daran, dass Jesus trotz des Anspruchs, die zentrale Heilsgestalt der Endzeit zu sein, von seiner Erhöhung zu Gott spricht (12,34ff). Muss nicht der Christus als endzeitlicher Heilsbringer für immer bei seinem Heilsvolk bleiben? Jesus beharrt auf seiner Rückkehr zum Vater, weil er dort – und nicht auf Erden – die Heilsgemeinde sammeln wird, denn er will von der Höhe her alle zu sich ziehen (12,32) (202).

Jesus betont immer wieder, er vollziehe jetzt das Endgericht. Diesem folgt traditionellerweise nur noch der Vollendungszustand, in dem der Endzeitherrscher für immer mit der Heilsgemeinde zusammen ist (1Thess 4,17; 5,10). Dass das Wirken des Gesandten und das Endgericht zusammenfallen, sagt nur der vierte Evangelist. Für ihn vollzieht der Gesandte die endzeitliche Scheidung zwischen Gut und Böse, also das Endgericht, in Gestalt seines Sendungsauftrages: “Um (das) Gericht (durchzuführen), bin ich in diese Welt gekommen“ (9,39). “Wer an ihn (den Gesandten) glaubt, wird nicht mehr gerichtet. Wer nicht glaubt, ist bereits gerichtet, weil er nicht zum Glauben an den Namen des einziggeborenen Sohnes Gottes gekommen ist“ (3,18). Der Sendungsauftrag des Sohnes besteht also darin, das Gericht zu vollziehen, freilich mit dem positiven Ziel zu retten. Gerettetwerden oder Verlorengehen hängen dabei am Glauben oder Unglauben. Der sich dann durchsetzende Trennungsprozess ist endgültig (202f).

Das aber ist das Gericht (, das sich jetzt mit der Sendung des Sohnes ereignet), dass das Licht in die Welt gekommen ist, aber die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse...“ (3,19-21). So scheidet das in die Welt gekommene Licht zwischen Gut und Böse. Darum gilt: Wer dem Sohn glaubt, hat ewiges Leben. Wer sich verweigert, sieht das Leben nicht, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm (3,36). Oder: Wer dem Wort der Selbstoffenbarung des Gesandten glaubt, kommt nicht ins Gericht. Er ist vom Tod zum Leben hinübergeschritten (5,24f; 12,31). Dieses Gericht als endzeitlicher Trennungsprozess ist sonst ausnahmslos der Zukunft vorbehalten (203).

Glaube oder Glaubensverweigerung, zum Licht kommen oder die Finsternis lieben geschehen weiterhin angesichts der Botschaft der Gemeinde (3,11-13.19-21). Der Trennungsprozess ist noch nicht zu Ende. Er wird beendet, indem der erhöhte Sohn vom Himmel aus zu sich zieht: “Wenn ich erhöht bin von der Erde, will ich sie alle zu mir ziehen“ (12,32). Die Glaubenden werden im Himmel die Herrlichkeit des Sohnes schauen (17,24). Dies ist der Vollendungszustand. Die, die sich der Offenbarung des Sohnes oder der Verkündigung der Gemeinde verweigern, werden unten in ihrem eigenen Unheil zugrunde gehen (3,36). Sie gelangen nicht zum ewigen Leben, das allein der Sohn ihnen geben könnte (204).

In der Regel werden im Frühjudentum mit der Besiegung der satanischen Macht die Endereignisse eingeleitet. Für den vierten Evangelisten findet dieser Akt mit der Rückkehr des Sohnes zum Vater statt. So kündigt der Gesandte angesichts seines bevorstehenden Todes an: “Jetzt ergeht das Gericht über diese Welt. Jetzt wird der Herrscher dieser Welt (aus seiner Machtstellung) herausgeworfen werden“ (12,31). Mit den Worten: “Es ist vollbracht“ (19,30) beschließt der john Christus sein Leben. Vollbracht hat er sein Werk der Sendung mit dem Ziel, Glaubenden Leben zu geben und mit dem Auftrag, die Herrschaft des Teufels zu beenden. Dabei besteht des Teufels Herrschaft im Verneinen des Lebens (8,44). Seine Herrschaft ist der Tod. Die Herrschaft des Teufels ist durch das Werk des Gesandten gebrochen. Deshalb ist der Weg frei, dass die Glaubenden von dem Erhöhten in die Höhe gezogen werden können (204).

Der Evangelist zeichnet die Zukunft der Glaubenden nicht mehr in der Sprache zukünftig-apokalyptischer Ereignisse, sondern benutzt diese Sprache, um die Sendung des Sohnes zu qualifizieren (205).

Zu diesem Konzept passt, dass die Glaubenden, die 'ewiges' Leben haben, durch den Parakleten bestimmt sind. Gott selbst ist Geist und Leben (4,24; 5,26). Der Geist macht lebendig (6,63) und mit der Gabe des Parakleten nimmt der Erhöhte selbst in den Gläubigen Wohnung (14,17f.22f), denn der Vater ist im Sohn, der Sohn in den Gläubigen und diese sind zugleich in ihm (14,21). Das ist eine präsentische Reinterpretation der Hoffnung, nach der am Ende der Tage Gott für immer bei den Menschen sein wird (Offb 21) und dass Gott seinen Geist auf alle ausgießen wird (Joel 3,1ff). Die vollkommene Gemeinschaft mit dem Erhöhten ist durch den Tod nicht zerstörbar (14,2f) (205).

Die Gerichtsrede in Joh 5,19-30

Der erste Teil (5,19-23): “Wahrlich, wahrlich ich sage euch...“ Üblicherweise sind die Machtübertragung und die Gerichtsvollmacht etwas, was Gott erst dem österlichen Christus gibt (1Kor 15,20ff; Phil 2,9; 3,20f; Röm 1,4). Für den Evangelisten vollzieht sich jetzt das Gericht, indem der gekommene Sohn Tote auferweckt und lebendig macht (5,21). Dabei deutet 5,21 noch an, dass auferwecken und lebendig machen eigentlich Gottes Aufgaben sind, übernimmt doch der Sohn diese Taten erst vom Vater. Für das Frühjudentum sowie für das Urchristentum ist Gott allein stärker als der Tod. Nur zögerlich erhält der auferstandene Christus ab und an solche Machtvollkommenheit Gottes (1Kor 15,26; Phil3,21). Der Evangelist beschreibt singulär im Urchristentum das irdische Wirken des Sohnes als “Tote auferwecken und lebendig machen“ (207f).

Der zweite Teil (5,24): “Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist vom Tod ins Leben hinübergeschritten“. Das Lebenspenden des Gesandten ist nicht Ankündigung für eine spätere Zeit, sondern ist gegenwärtiges Geschehen. Wer die Worte des Gesandten hört und aufgrund seiner Selbstoffenbarung zum Glauben kommt, hat im Augenblick der Botschaftsannahme sein Endgericht erlebt: Er ist vom Tod zum Leben hinübergeschritten. Darum kommt er nicht mehr ins Gericht (s.a. 11,25f.31f). Der Tod ist Kraft des Ziehens des Erhöhten Durchgang zum Leben. Eine ausstehende Parusie ist in diesem Gedankengang systemfremd. Durch den gekommenen Sohn geschieht in der Weltgeschichte das Gericht, das darin besteht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, jedoch das Verhalten der Menschen ihm gegenüber mehr zur Ablehnung als zur Zustimmung neigt (3,19-21). So setzt Jesus den endgerichtlichen Trennungsprozess in Gang 208).

Der dritte Teil (5,25-30): “Wahrlich, wahrlich ich sage euch...“ Ein drittes Mal setzt der Evangelist an, um den Gedanken zu festigen: “Es kommt die Stunde, in der die Toten die Stimme des Sohnes hören werden, und die, die sie hören, werden leben“ (5,25). Dieser Satz ist ein futurisch ausgerichtetes Trostwort. Er sichert als apokalyptische Prophetie der Gemeinde zu, dass die in Christus Entschlafenen (1Thess 4,13f.16) an der Vollendung teilnehmen werden. Wie in 5,21 ist der erhöhte Endzeitherrscher (durch die Macht seines Wortes) Auferwecker zum ewigen Leben. Mit einem kleinen Zusatz (“und sie ist schon da“) funktioniert der Evangelist diese Verheißung zu einer Gegenwartsaussage über das Wirken des Gesandten um. Dreimal hat er den Gedanken der im gekommenen Sohn vergeschichtlichten Parusieaussage formuliert (208).

Der Gesandte besitzt die Befähigung zum Ausüben des Endgerichts. Der Sohn hat für seine Sendung die Ausstattung des Lebens vom Vater erhalten (5,26) und hat Auftrag und Vollmacht, als Menschensohn das Gericht zu vollziehen (5,27). So fallen Sendung und Gerichtsvollzug zusammen (209).

Der Vers 5,30 ohne 28f passt als Abschluss vorzüglich. Der Gedanke der Gerichtsrede ohne 5,28f ist in voller Harmonie mit Joh 3; 11; 12; 14. Darum plädieren viele Exegeten dafür, Joh 5,28f sei nachgetragen. Das ist die exegetisch und systematisch befriedigendste Lösung (209).

Der Evangelist hatte das Werk des Gesandten dadurch groß herausgestellt, dass er den endgerichtlichen Trennungsprozess allein in der Stellung des Menschen gegenüber dem Gesandten verwirklicht sah. Dabei hatte er zwei Probleme bekommen: (1) Wie steht es mit der Verbindlichkeit der Lebensführung der Glaubenden? Und (2) soll die Welt nur sich selbst überlassen werden, wenn die Glaubenden “in die Höhe gezogen“ werden (12,32)? Der Bearbeiter korrigiert (5,28f): (1) Kein Mensch ist aus der Gottesbeziehung mit ihren Folgen für die Lebensführung entlassen. Das Endgericht wird solche Verbindlichkeit einfordern. (2) Die Geschichte bleibt nicht sich selbst überlassen. An ihrem Ende steht Gottes letztes Wort durch seinen Sohn (210).