2.3 Jakobus und Paulus

Sicher ist, dass Jakobus für die Geschichte des Urchristentums der ersten 30 Jahre eine wesentlich größere Bedeutung zukommt, als es die sehr sporadische Erwähnung in den ntl Quellen erahnen lässt (570).

a. Jakobus war nicht jener extreme Vertreter einer intolerant gesetzesstrengen Haltung. Vielmehr zeigt er sich als das Haupt der Jerusalemer Gemeinde trotz aller persönlichen Gesetzesfrömmigkeit als ein Mann des Ausgleichs, der die Einheit der messianischen Jesusgemeinde aufrecht zu erhalten suchte. Das für Jakobus und Paulus gemeinsame christologische Grundbekenntnis blieb das entscheidende Band: (1Kor 15,3) „Dass Christus gestorben ist für unsere Sünden... (4) und dass er begraben worden ist und dass er auferstanden ist... (5) und dass er gesehen worden ist von Kephas... (7) und dass er gesehen worden ist von Jakobus... (11) Seien es nun ich oder jene, so verkündigen wir [alle] und so habt ihr geglaubt“. Es ist das Kerygma von Christus und seinem Heilswerk, dem alle selbst in der Kontroverse verpflichtet sind, das die Einheit der Kirche begründet (570).

b. In dem pln Bericht (Gal 2) über das ’Apostelkonzil’ und über den Zwischenfall in Antiochien ist Jakobus an der Spitze der drei Säulen, d.h. er ist die führende Autorität in Jerusalem. Dies bedeutet, dass noch vor den beiden anderen Säulen seine Person maßgeblich an der Übereinkunft beteiligt war, die das Apostolat des Barnabas und Paulus zu den „Völkern“ anerkannte und der „gesetzesfreien“ Heidenmission grünes Licht gab. Ohne seine Zustimmung wäre es nicht zu dieser Übereinkunft gekommen. Die Christusgläubigen aus den Völkern erhalten durch den gemeinsamen Beschluss, auch ohne sich beschneiden zu lassen, den vollen Anteil an dem dem endzeitlichen Gottesvolk zugesprochenen Heil. Die buchstäbliche Beobachtung der Mosetora war für ihn so nicht mehr ’heilsnotwendig’. Woran ihm liegt, ist die Einheit der Kirche aus Juden und Heiden trotz ihrer vorgegebenen heilsgeschichtlich bedingten Verschiedenheit, freilich unter Anerkennung des Vorrangs der judenchristlichen Muttergemeinde in Palästina. Darum verknüpft er mit „der Hand der Gemeinschaft“, die er Barnabas und Paulus reicht, die Bitte um die Kollekte für „die Armen“ in Jerusalem. (Obwohl Paulus die Freiwilligkeit der Übernahme betont Gal 2,6-10, handelt es sich doch um eine richtige Auflage, die den Heidenchristen von der Muttergemeinde gemacht wird) (570f). 

Die judenchristliche palästinische Gemeinde war damals noch nicht grundsätzlich auf die Heidenchristen angewiesen. Sie hätte auch als rein jüdisch-messianische Sondergruppe existieren können. Die seit der Verfolgung durch Agrippa I. (vgl. 1Thess 2,14f) angefochtene Situation der Judenchristen in Jerusalem wäre durch eine Distanzierung von der gesetzesfreien Heidenmission nur erleichtert worden, und die Schwierigkeiten, die sich gerade aus der pln Mission ergaben, die mehr und mehr unter den Verdacht der Apostasie geriet, hätte man sich erspart (571).

c. Der Unterschied zwischen Paulus und Jakobus besteht darin, dass Paulus – obwohl Judenchrist – auch für sich selbst die Einhaltung der Tora nicht mehr als verbindlich betrachtete, da er, der ehemalige Pharisäer und Eiferer für das Gesetz, durch die Christusvision vor Damaskus die Gewissheit erhalten hatte, dass die Gerechtsprechung vor Gott nicht durch die Erfüllung der Gebote der Mosetora, sondern allein durch den Glauben, das bedingungslose Vertrauen in die Heilstat Christi, vermittelt würde. Danach konnte Paulus seine je und je ebenfalls vollzogene Gesetzesbeachtung in einer konkreten Situation aus dem missionarischen Aspekt des Dienstes (1Kor 9,20ff) oder aber der Agape (1Kor 8; Röm 14) begründen.

Die schroffe Kritik des Paulus an Petrus in Antiochien Gal 2,11f geht davon aus, dass Petrus wie die anderen Judenchristen in der gemischten Gemeinde ihr ’liberales’ Verhalten nach dem Eintreffen von Sendboten des Jakobus änderten und die bisherige Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen aufgaben. Damit zwangen sie die Heidenchristen, wider bessere Einsicht jüdische Gesetzesbräuche aufzunehmen, um die Tischgemeinschaft wiederherzustellen, und stellten eben dadurch die allein durch den Glauben an Christus begründete Heilsgewissheit in Frage (571).

Sehr wahrscheinlich war es für Jakobus in der strengen jüdischen Lebensgemeinschaft Jerusalems eine selbstverständliche Forderung, dass Judenchristen – wie jeder fromme Jude – auch die rituellen Gebote der Tora einzuhalten hätten. Schon der bloße Verdacht, dass sie wie Apostaten lebten, hätte ein Fortbestehen der Judenchristen in Jerusalem als geschlossene Gemeinde unmöglich gemacht (572).

d. Dass Jakobus grundsätzlich ein Mann des Ausgleichs war, zeigt das sog. Aposteldekret, das das mit dem Zwischenfall in Antiochien aufgebrochene Problem nachträglich durch einen für Judenchristen noch tragbaren Kompromiss bereinigte. Die Heidenchristen sollten, um die gestörte Tischgemeinschaft mit den Judenchristen in den Gemeinden wiederherzustellen, gewisse kultische Mindestforderungen einhalten. Möglicherweise rät auch Paulus in 1Kor 8 und Röm 14 zu deren Einhaltung, freilich mit ganz anderer Begründung: um der Liebe willen, aus Rücksicht auf die Schwachen. Paulus dürfte das Dekret als solches nicht als verbindlich betrachtet haben. Deutlich wird an diesen Vorgängen, dass Jakobus an der Einheit der Kirche zwischen Juden und Heiden mehr lag als an einer klaren Abgrenzung gegenüber allen Nichtjuden, obgleich eine derartige scharfe Grenzziehung die angefochtene Situation der judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem und Judäa verbessert hätte. Das Aposteldekret bedeutete von seiner Seite aus ein Entgegenkommen, durch das die bedrohte Einheit wiederhergestellt und gefestigt werden sollte (572f).

e. Diese vermittelnde, auf die innere Einheit der missionarisch wachsenden Kirche hin ausgerichtete Haltung des Herrenbruders hat ihre relative Entsprechung in der Einstellung des Paulus gegenüber Jerusalem, das für ihn der Ausgangspunkt des Heils bleibt, und das er trotz großer Gefahren mit der Kollekte aufsucht. In diesem Zusammenhang kann der stereotype Sprachgebrauch des Paulus im Blick auf die Jerusalemer Gemeinde, die er „die Heiligen“ nennt (1Kor 16,1; 2Kor 8,4; 9,1.12; Röm 15,24f.31) und die Bedeutung von Röm 15,26 nicht genug hervorgehoben werden: „Die in Mazedonien und Achaja haben willig eine gemeinsame Gabe zusammengelegt für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem. Sie haben es willig getan und sind auch ihre Schuldner. Denn wenn die Heiden an ihren geistlichen Gütern Anteil bekommen haben, ist es recht und billig, dass sie ihnen auch mit leiblichen Gütern Dienst erweisen“.

Auch Jakobus hat trotz aller Gerüchte über den abtrünnigen Heidenmissionar nicht für Paulus die Tür zugeworfen. Auch er wollte die Einheit des wahren endzeitlichen Gottesvolkes, einschließlich der pln, konsequent gesetzesfreien Missionsgemeinden nicht von seiner Seite aus zerstören (573).

Paulus suchte die Jerusalemer Urgemeinde auf trotz aller Gefahren und Differenzen, weil er die Einheit der messianischen Gemeinde demonstrieren wollte, und weil Jerusalem auch für ihn als Ort der Muttergemeinde ganz besondere Bedeutung besaß (574).

Für Jakobus musste die Situation noch schwieriger gewesen sein. Wirkliche ’Freiheit vom Gesetz’ war im jüdischen Palästina für Juden nicht praktizierbar. Die Gemeinde konnte sich auf die Dauer nicht dem Verdacht einer laxen Gesetzespraxis aussetzen. Einen offenkundigen Abtrünnigen hätte sie zurückweisen müssen. Der zweijährige Prozess gegen Paulus in Caesarea musste auch die Judenchristen in Judäa in den Augen ihrer jüdischen Mitbürger schwer belasten. Es mag ein gewisser Zusammenhang bestehen zwischen dem Martyrium des Jakobus im Jahr 62 und der Hinrichtung des Paulus im Jahr 64. Die Anklage gegen Paulus lautete: Bruch des Gesetzes und Entweihung des Tempels (Apg 21,28; 24,6). Auch Jakobus starb als Gesetzesbrecher (574f)!

Dass Paulus geborene Juden direkt zum Abfall vom Gesetz aufgefordert haben soll, lässt sich aus seinen Briefen nicht belegen. In 1Kor 7,17-20 betont er, dass jeder in dem Stand bleiben soll, in den er berufen wurde: auch und gerade als Jude. Die Erfüllung bestimmter Gebote der Tora um der Liebe willen zum jüdischen Bruder war für ihn Gehorsam gegenüber dem „Gesetz Christi“ (575).

Für die palästinischen Judenchristen, die in einer geschlossenen Volksgruppe lebten, war das Festhalten an den Geboten der Tora die selbstverständliche, gottgewollte Lebensform, auch dann, wenn sie ihr Heil vor allem anderen durch den stellvertretenden Sühnetod und die Auferstehung Jesu begründeten und im Tempel nur noch die Gebetsstätte und nicht mehr den Ort zur Sühne für Israel sahen. Sie blieben innerhalb der heilsgeschichtlich gewachsenen Solidargemeinschaft Israels.

Offenbar hat Jakobus seine charismatische Autorität in Jerusalem für die Einheit von Juden- und Heidenchristen eingesetzt, weil er sich – der leibliche Bruder des Herrn – nicht nur für die Judenchristen in Judäa, sondern für alle Gemeinden verantwortlich sah (575f).