2.4 Jakobus und Petrus

Als Paulus ca. zwei Jahre nach seiner Berufung vor Damaskus 15 Tage lang Petrus besuchte, um ihn kennenzulernen, traf er neben diesem keinen anderen Apostel mehr außer „Jakobus, den Bruder des Herrn“ (Gal 1,18f). Petrus scheint damals noch der erste Mann gewesen zu sein, aber schon bei diesem frühen Besuch muss Jakobus vermutlich als Sprecher der Herrnverwandten – eine eigenständige Bedeutung besessen haben. Paulus erinnert sich an die Begegnung mit ihm und er hat ihn auch zu den Aposteln gerechnet. 14 Jahre später steht Jakobus an der Spitze der drei Säulen (Gal 2,1.9). Es hat offenbar ein Wechsel stattgefunden. Nach Apg 2-11 ist Petrus unangefochten der Sprecher der Jünger. Von Jakobus ist überhaupt nicht die Rede. Die Verfolgung der Urgemeinde in Jerusalem unter Agrippa I. (12,1), bei der Petrus verhaftet wird, gibt Lukas Anlass, Jakobus einzuführen. Am Ende des legendären Berichts von der Befreiung des Petrus verabschiedet sich Petrus von der Gemeinde: „Verkündigt dies dem Jakobus und den Brüdern“ (12,17). Lukas fügt hinzu: „Und er ging an einen anderen Ort“. Damit verschwindet Petrus, um nur noch einmal auf dem Apostelkonzil aufzutauchen (576f).

Zwischen der Verfolgung unter Agrippa I. und dem ’Konzil’ muss es in Jerusalem einschneidende Veränderungen gegeben haben. Jakobus hat mit den Ältesten die Leitung in Jerusalem übernommen. Mit Petrus verschwinden auch die Apostel, um Jakobus und dem neuen Gremium Platz zu machen. Wurden die Zwölf unter Führung des Petrus wegen ihrer liberalen Haltung durch die Verfolgung unter Agrippa I. vertrieben (sie hatten ja zum engsten Jüngerkreis Jesu gehört), während der gesetzesstrenge Jakobus und die ihm gleichgesinnten Ältesten in den Vordergrund rückten (577f)?

In Gal 2,7 erscheint Petrus als Beauftragter der Judenmission, sein Aufenthalt in Antiochien, der 1Kor und die Petrus-Rom-Tradition zeigen, dass er außerhalb Palästinas auf Reisen war. Die Existenz der Kephaspartei in Korinth und die spätere Petrusüberlieferung legen es nahe, dass er mehr und mehr zum Heidenmissionar wurde.

Dass die judenchristlichen Anhänger des Jakobus die Übernahme der Führungsrolle durch ihn mit der Berufung auf die Autorität des Kyrios, etwa eine Sonderoffenbarung, begründeten, ist naheliegend. Diese Primatsansprüche müssen eine geschichtliche Wurzel haben, die einerseits auf die charismatische Ausstrahlung des leiblichen Bruders Jesu zurückweist, andererseits aber in einer Autorisierung durch seinen zur Rechten Gottes erhöhten Bruder begründet war, die wahrscheinlich aus der besonderen Epiphanie des Auferstandenen 1Kor 15,7 hergeleitet wurde (578).

Das Proprium des in den Westen ausweichenden Petrus war die Jesusüberlieferung. Darin war er einem Jakobus und Paulus voraus. Erst der Johanneskreis macht ihm dieses Proprium, die größte Nähe zum irdischen Jesus, streitig – eine Generation nach dem Tode der ersten Führer der Gemeinde. Markus und die von ihm ausgehende synoptische Tradition trägt petrinisches Gepräge. Petrus ist darum darin vorherrschend. Die Familie Jesu hatte dagegen keinen derartigen Anteil an der Jesusüberlieferung. Trotz seiner überragenden Rolle im palästinischen Judenchristentum und darüber hinaus wurde diese Führungsposition des Herrenbruders nicht mehr in die synoptische Tradition, den Bedürfnissen der Gemeinde entsprechend, hineingelesen. Im 4. Evangelium wird der Vorrange des Petrus einerseits noch hervorgehoben, aber zugleich durch die rätselhafte Gestalt des Lieblingsjüngers überboten und damit bestritten (579).

Die Tatsache, dass Petrus in der Apg zum Begründer der gesetzesfreien Heidenmission werden kann, wie auch sein Verhalten in Antiochien, zeigen, dass er kein Gesetzeseiferer war. Wahrscheinlich war er aufgrund seiner laxen Haltung gegenüber dem Ritualgesetz für die Jerusalemer Gemeinde nicht mehr als Leiter tragbar gewesen, nachdem sich seit der Verfolgung unter Agrippa I. und durch den wachsenden Zelotismus in Judäa die Situation für die Judenchristen wesentlich verschlechtert hatte. Jakobus verschaffte sich dagegen durch seine charismatische und zugleich gesetzesstrenge Frömmigkeit, die ihm den Ehrennamen „der Gerechte“ einbrachte, Respekt, weit über die Grenzen der judenchristlichen Gemeinde hinaus (579).

Der Märtyrertod des Jakobus zusammen mit anderen Gemeindegliedern und die acht Jahre später erfolgte Zerstörung Jerusalems zerbrach den bisherigen Einfluss des palästinischen Judenchristentums auf die überwiegend heidenchristliche Kirche der Diaspora, die jetzt zu einer Kirche der Heiden wurde, auch wenn der theologische Einfluss judenchristlicher Autoren (Mt, Hebr, Corpus Johanneum, Apk) noch über eine Generation bestimmend war. Der Kampf um die Gesetzesfrage war auch für sie im heidenchristlichen Sinne ausgestanden. Die ’Hellenisten’ und Paulus hatten an diesem Punkt über Jakobus gesiegt (580f).

Bei Jakobus waren die strenge Bindung an einen Ort und die überregionale Autorität miteinander verbunden gewesen. Charisma und Leitungsamt bildeten bei ihm eine untrennbare Einheit. Sollte diese Institution des monarchischen Episkopats, aus dem Osten kommend, sich erst allmählich im Westen durchgesetzt haben? Dann läge die Frage nahe, ob die monarchische Gemeindeleitung durch eine charismatische Autorität, die von einem Kreis von Presbytern umgeben ist, nicht ihren Ursprung in Jerusalem hat. In diesem Fall wäre Jakobus vielleicht die entsprechende Vorstufe für das monarchische Bischofsamt in der Kirche (581f).